Franz Mehring 18980323 Nachklänge zur Märzfeier

Franz Mehring: Nachklänge zur Märzfeier

23. März 1898

[Die Neue Zeit, 16. Jg. 1897/98, Zweiter Band, S. 1-4. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 15-19]

Die Feier der Märzrevolution ist so verlaufen, wie sie nach der tatsächlichen Lage der Dinge verlaufen musste. Ehrlich, offen und rückhaltlos hat sich das Proletariat zu den Märzkämpfern bekannt und sonst keine Klasse der Bevölkerung. Der bürgerliche Liberalismus schaukelte hin und her mit einigem Wenn und Aber oder auch mit vielem Wenn und Aber, je nach seinen verschiedenen Schattierungen. Die junkerliche Reaktion fluchte das Blaue vom Himmel herunter über das „Gesindel" von Barrikadenkämpfern, während die ultramontane Reaktion eine gewisse Zurückhaltung bekundete aus dem einleuchtenden und erhebenden Grunde, weil sie die Massen nicht reizen mag im Augenblick, wo sie den Massen einen verräterischen Streich zu spielen gedenkt.

Drastisch trat die Stellung der Parteien in der improvisierten Debatte hervor, die der Reichstag dem revolutionären Gedenktage widmete. Sie wurde von sozialdemokratischer Seite angeschnitten, aber das eigentliche Verdienst, sie zu einem warnenden Fanal für die kommenden Reichstagswahlen gemacht zu haben, gebührt den Junkern und den Junkergenossen, die sich vor besinnungsloser Wut nicht zu fassen wussten, nachdem im Reichstag ein ehrendes Wort über den Ehrentag der Nation gesprochen worden war. Die alte Lüge, die schon vor drei Wochen an dieser Stelle signalisiert wurde, die Lüge, als wäre, was trotz alledem durch den Barrikadenkampf erreicht worden ist, auch ohne solch heroisches Mittel und dann sogar erst recht erreicht worden, war das stroherne Schwert, womit die Rechte focht. Bebel hat im Reichstag darauf geantwortet, soweit es notwendig war; nun nochmals das Gerede einer historischen Kritik zu unterwerfen ist vollkommen überflüssig. Schon deshalb, weil die Verbreiter dieser Geschichtslüge durchaus nicht an gutgläubiger Naivität kranken.

Unbesehen in sie einzustimmen, dazu war Herr v. Bennigsen ein zu gebildeter und, wir wollen hoffen, auch ein zu ehrlicher Mann. Aber ebenso wenig konnte er der historischen Wahrheit die Ehre geben, und so erfand er ein Mittelding. Nach ihm hat der Schwerpunkt der Märzrevolution nicht im Barrikadenkämpfe, sondern in dem Frankfurter Parlamente gelegen. Neu ist diese Ansicht freilich auch nicht; sie war das Schibboleth, unter dem sich vor vierzig Jahren der Nationalverein auftat, den Herr v. Bennigsen leitete. Seitdem der Nationalverein ebenso elenden Bankerott gemacht hat wie vor ihm die Frankfurter Nationalversammlung, war das Gaukelbild nur wieder aus dem Gesichtskreise der Lebenden verschwunden, bis es in der neulichen Rede des Herrn v. Bennigsen seine fröhliche Urständ feierte. Und darin hat ja Herr v. Bennigsen durchaus recht: Das Frankfurter Parlament wollte von einem Barrikadenkampfe, von einer gewaltsamen Revolution ebenso wenig etwas wissen wie sein nachgeborenes Kind, der Nationalverein. Bennigsens Irrtum besteht nur in der Annahme, dass der Schwatzklub in der Paulskirche ohne die Barrikadenkämpfe in Wien und Berlin überhaupt auf der Welt gewesen wäre und dass er trotz seines Abscheus vor Barrikadenkämpfen irgend etwas in der Welt ausgerichtet haben soll.

Herr v. Bennigsen würde die Geschichtsforschung um die kostbarsten Perspektiven bereichern, wenn er die Möglichkeit nachweisen wollte, dass die Machthaber in Berlin und Wien je die allgemeinen Wahlen zum Frankfurter Parlament angeordnet hätten, ohne dass sie durch den 13. und den 18. März auf den Trab gebracht worden wären. Ließen doch sogar die „liberalen" Minister Camphausen und Hansemann in Berlin noch nach dem 18. März die preußischen Abgeordneten zum Frankfurter Parlament durch die feudal-städtische Körperschaft des Vereinigten Landtags wählen, und bedurfte es doch der sehr energischen Drohung der bewegten Volksmassen, nötigenfalls die Lektion des 18. März zu wiederholen, um das allgemeine, gleiche, geheime, wenn auch indirekte Wahlrecht durchzusetzen. Nein, das Frankfurter Parlament war ein Kind der Barrikadenkämpfe in Wien und Berlin; das ist sein einziger Ruhm, wie es seine unvergängliche Schande ist, von seinem ersten bis zu seinem letzten Atemzuge seine Abstammung verraten zu haben. Eben durch diesen Verrat wurde es der verächtliche Schwatzklub, als der es in der Geschichte fortlebt, trotz aller Bewunderung, die Herr v. Bennigsen ihm spenden mag.

Der historische Sinn des 18. März fand seinen zutreffenden Ausdruck, als die siegreichen Volkskämpfer den besiegten König Friedrich Wilhelm IV. zur demütigenden Huldigung vor ihren Toten zwangen. Sie und sie allein hatten die vormärzliche Reaktion erschlagen und begraben, dem leidtragenden Königtum blieb nur die Zeremonie übrig, die Erde auf den Sarg zu schütten. Das mag sehr despektierlich klingen, und doch war es die Auffassung des reaktionären Junkertums selbst unter dem frischen Eindrucke des 18. März. Nicht einmal nur des erschreckten, um Haut und Beutel zitternden Junkertums, das in der Adresse des Vereinigten Landtags an den König von den „Heldenherzen" der Barrikadenkämpfer sprach, sondern auch der keineswegs zahlreichen Junker, die eine leidliche Haltung zu bewahren wussten. Einer dieser Junker sagte am 2. April 1848 im Vereinigten Landtage: „Ich bin einer der wenigen, welche gegen die Adresse stimmen werden, und ich habe um das Wort nur deshalb gebeten, um diese Abstimmung zu motivieren und Ihnen zu erklären, dass ich die Adresse, insoweit sie ein Programm der Zukunft ist, ohne weiteres akzeptiere, aber aus dem alleinigen Grunde, weil ich mir nicht anders helfen kann – nicht freiwillig, sondern durch den Drang der Umstände getrieben, tue ich es. Denn ich habe meine Ansicht seit sechs Monaten nicht gewechselt. Ich will glauben, dass dieses Ministerium (nämlich das liberale Ministerium Camphausen-Hansemann) das einzige ist, welches uns aus der gegenwärtigen Lage einem geordneten und gesetzmäßigen Zustande zuführen kann, und aus diesem Grunde werde ich demselben meine geringe Unterstützung überall widmen, wo es nur möglich ist. Was mich aber veranlasst, gegen die Adresse zu stimmen, sind die Äußerungen von Freude und Dank für das, was in den letzten Tagen geschehen ist; die Vergangenheit ist begraben, und ich bedauere es schmerzlicher als viele von Ihnen, dass keine menschliche Macht imstande ist, sie wieder zu erwecken, nachdem die Krone selbst die Erde auf ihren Sarg geworfen hat. Aber wenn ich dies, durch die Gewalt der Umstände gezwungen, akzeptiere, so will ich doch nicht aus meiner Wirksamkeit auf dem Vereinigten Landtage mit der Lüge scheiden, dass ich für dies danken und mich freuen soll über das, was ich mindestens für einen irrtümlichen Weg halten muss." Das war vom junkerlichen Standpunkt aus ehrlich und offen gesprochen, so ehrlich und offen, dass sich die heutigen Junker und auch Herr v. Bennigsen daran ein Muster nehmen sollten. Klarer konnte nicht gesagt werden, dass Krone und Junkertum durch die Barrikadenkämpfer auf einen Weg getrieben worden waren, den sie aus freiem Antriebe nun und nimmer beschritten hätten. Und wenigstens für die konservativen und nationalliberalen Kritiker der Märzrevolution ist dieser Junker, der mit Ach und Weh, aber doch ganz verständig die Märzrevolution zu taxieren wusste, eine Autorität allerersten Ranges: Er hieß Otto v. Bismarck-Schönhausen.

Sicherlich werden die tendenziösen Fälscher der Märzrevolution durch Bismarcks Zeugnis so wenig bekehrt werden, wie wir seines Zeugnisses bedürfen, um die historische Wahrheit über die Märzrevolution bekräftigt zu sehen. Dennoch führt gerade dies Zeugnis in den Mittelpunkt des ganzen Streites über die Märzrevolution ein. Weshalb gab Bismarck am 2. April im Vereinigten Landtag so rückhaltlos der historischen Wahrheit die Ehre?

Sicherlich nicht, weil ihn eine unwiderstehliche Wahrheitsliebe beseelte. Vor dem 18. März war er die komische Person sogar dieser feudal-ständischen Körperschaft gewesen, gerade weil er die preußische Geschichte von seinem junkerlichen Interessenstandpunkt aus in der lächerlichsten Weise zu verrenken pflegte. Und wir tun ihm wohl kein Unrecht mit der Annahme, dass er, wenn er heute sich über die Märzrevolution äußern sollte, genau in demselben Tone sprechen würde wie die Junker und Junkergenossen im Reichstag. Die lichten Augenblicke, die er in der ersten Zeit nach dem 18. März verriet, entsprangen den derben, ehrlichen und gesunden Prügeln, die seine Klasse von den Volksmassen besehen hatte. Anders ist dieser Sorte überhaupt nicht Logik und Vernunft beizubringen, und hierin liegt die praktische Bedeutung des Streites über die Märzrevolution. Was tut es dem glorreichen Andenken der Märzkämpfer, ob einige hundert oder einige tausend junkerliche Strohköpfe über sie schimpfen? Und wer glaubt an die kühne Utopie, diesen Strohköpfen auf dem Wege sachlicher Diskussion die richtige Ansicht über die historischen Triebkräfte des preußisch-deutschen Reiches beibringen zu können? Wie weiland der Bismarck des Vereinigten Landtags, verstehen sie die historische Dialektik erst, wenn sie den Daumen auf ihrem Auge und das Knie auf ihrer Brust spüren. All ihre Lügerei über den 18. März hat ihren Ursprung darin, dass ihnen gelungen ist, einen großen Teil der Macht wiederzuerobern, die ihnen die Märzkämpfer aus der Hand geschlagen hatten, und insoweit ist diese Lügerei allerdings für die Gegner der Junker viel beschämender als für die Junker selbst.

Analog steht es mit der Bewunderung, die Herr v. Bennigsen dem Frankfurter Parlamente widmet. Er ist der Typus der ängstlichen und zaghaften Bourgeoisie, die sich von je und je eingebildet hat, durch parlamentarische Schwatzhaftigkeit die Junker aus ihren realen Machtpositionen verdrängen zu können, und es begreift sich, dass er am heftigsten für die hilfloseste Schwatzbude schwärmt, die es gegeben hat, solange moderne Parlamente existieren. Bei Herrn v. Bennigsen ist es noch viel weniger als bei den reaktionären Junkern Mangel an Einsicht und Verstand, was ihn den wirklichen Zusammenhang der Märzrevolution so arg verkennen lässt, sondern ihn verblendet eben auch sein Klasseninteresse vollständig.

Man könnte nun sagen, nach dieser Auffassung betrachte das klassenbewusste Proletariat die Märzrevolution gleichfalls vom Standpunkt seines Klasseninteresses aus. Und das ist auch in gewissem Sinne ganz richtig. Erst seitdem es eine revolutionäre Arbeiterbewegung in Deutschland gibt, ist das historische Verständnis der Märzrevolution in die Massen gedrungen. Der Unterschied ist nur der, dass die proletarischen Klasseninteressen, die Lassalle schon in seinem „Arbeiterprogramm" nachgewiesen hat, mit den historischen Fortschritten der Zivilisation zusammenfallen, dass sie also das historische Verständnis des Proletariats nicht verblenden, sondern schärfen.

Die Arbeiterklasse braucht sich über die Märzrevolution keine Illusionen zu machen und macht sich auch keine Illusionen darüber. Sie marschiert auf anderen Wegen zu anderen Zielen, aber sie hat von den Märzkämpfern gelernt, dass die unterdrückten Klassen von den unterdrückenden nichts zu erwarten haben, als was sie ihnen durch die eigene Kraft abzutrotzen wissen. Diese Erkenntnis wird sie sich nimmermehr rauben lassen durch alles noch so pompöse Geschwätz über den reichen Segen, der sich aus den königlichen und junkerlichen Füllhörnern über die deutsche Nation ergossen haben würde, wenn der störende „Zufall" der Märzrevolution nicht dazwischengekommen wäre.

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