Franz Mehring 18911209 Nemesis

Franz Mehring: Nemesis

9. Dezember 1891

[Die Neue Zeit, 10. Jg. 1891/92, Erster Band, S. 353-358. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 85-92]

In den bürgerlichen Klassen gärt und kocht es. Dank ihrer Feigheit ist in ihren öffentlichen Organen zwar nur wenig davon zu spüren, aber dafür sitzt der Pfeil um so tiefer in ihren Herzen. Es sind die Reden des Kaisers, welche es ihnen angetan haben, von der suprema lex regis voluntans1 an bis zu der Ansprache an die Garderekruten, in welcher der Kaiser den Gehorsam der angehenden Vaterlandsverteidiger bis zum – wenn es sein müsste, was Gott verhüten wolle! – Niederschießen der eigenen Eltern und Geschwister beanspruchte. Da geht die ganze, so mühsam aufgepäppelte Finte des Konstitutionalismus wieder einmal in die Scherben. Und diesmal hilft kein Kitten, in welchem die bürgerlichen Klassen sonst ja freilich schon Geduld und Übung genug erlangt haben. Sie wissen aus dreijähriger Erfahrung, dass der Kaiser, der nun einmal keine Puppe, sondern ein Mann sein will, bei der nächsten Gelegenheit das mühsam geflickte Prunkstück doch wieder vom Sockel stößt, und damit ist ihr Latein zu Ende. So schlägt denn ihre alleruntertänigste Gesinnung in jene blinde und verbissene Wut um, die dem wild gewordenen Philister eigentümlich ist.

Tatsächlich waltet in diesem Falle eine Nemesis, die auch nicht ein Quäntchen zu viel in die Schale der bürgerlichen Klassen wirft. Selbst im Frühling und Sommer 1848, als sie im preußischen Staate die unbestrittene Macht hatten, haben sie es nicht verstanden, sich mit der Krone, sei es auch nur friedlich-schiedlich, auseinanderzusetzen. Bei allem oppositionellen Trutze kannten die Mitglieder der preußischen Nationalversammlung, die noch dazu auf der Grundlage des allgemeinen Stimmrechts gewählt war, keinen höheren Genuss, als sich vom Hofe en Canaille behandeln zu lassen. Nichts bezeichnender dafür als eine wesentlich übereinstimmende Schilderung, welche Unruh, der letzte Präsident der Nationalversammlung, in seinen „Skizzen aus Preußens neuester Geschichte" und Peter Reichensperger, der einflussreichste Führer der Rechten, in seinen „Erlebnissen eines alten Parlamentariers aus dem Revolutionsjahre 1848" von einem Feste geben, durch welches der Hof die erste preußische Volksvertretung nicht sowohl bewirtete als verhöhnte. Herr Reichensperger, noch nach mehr als dreißig Jahren angenehm berührt von der damals erfahrenen Auszeichnung, schreibt: „Der Nationalversammlung wurde dann auch ein Beweis königlicher Huld zuteil, indem an sämtliche Mitglieder eine Einladung nach Potsdam ins Neue Palais zum 30. Juli erging. Ein Extrazug brachte die fast vollzählig Erschienenen zur Station Wildpark, wo eine entsprechende Zahl königlicher und privater Wagen ihrer wartete, um sie zunächst in fast zweistündiger Fahrt durch die königlichen Gärten zu führen, in denen sämtliche Fontänen sprangen. Das war sicherlich sehr schön und wohlgemeint, allein bei der Hitze des Tages wurde durch die Menge der Wagen ein entsetzlicher Staub aufgewirbelt, so dass schließlich die ganze Gesellschaft in einem schlechterdings nicht courfähigen Zustande der Kleider an der Schlossterrasse abgesetzt wurde. Die Hofdienerschaft kümmerte sich nicht um die Beseitigung dieses leicht vorherzusehenden Übelstandes, und es blieb nichts übrig, als dass einer hinter dem andern stehend das Ausklopfen und Putzen nach Kräften besorgte. Im Grottensaale des Palais erschienen dann Ihre Majestäten der König und die Königin, gefolgt von mehreren Prinzen des Hauses, und unterhielten sich eine Stunde lang freundlichst mit den durch den Präsidenten Grabow vorgestellten Abgeordneten, auch mit Waldeck." So Reichensperger, der noch, wie sein Verhalten in der Reaktionszeit der fünfziger und im kirchenpolitischen Konflikte der siebziger Jahre bewiesen hat, zu den charaktervollsten der bürgerlichen Parlamentarier gehört.

Ganz ähnlich, nur ausführlicher, schildert von Unruh die Hoffahrt des eben aus einer Revolution hervorgegangenen Parlaments. Er schreibt: „Die Versammlung erschien fast vollzählig, selbst die äußerste Linke, auch die meisten Polen. Am Wildpark verließ man die Eisenbahn, eine Reihe Wagen stand bereit, voran der bekannte Zeltwagen, welcher zu jedem Zuge nach und von der Eisenbahn fährt; dann zwei Hofequipagen, deren sich Hofbeamte in Geschäften zu bedienen pflegen; endlich eine Reihe zum Teil schlechter, gemieteter Privatfuhrwerke, zum Teil Droschken, ja anscheinend einige Charlottenburger Wagen, und doch zu wenige. Manche Abgeordnete mussten vorn beim Kutscher Platz nehmen." Folgt die Schilderung der staubigen Fahrt durch die Gärten. „Die Demokraten wurden zu Hoffiguren aus der Zeit Ludwigs XIV. eingepudert. Vom Hofe nahm niemand an diesem eigentümlichen Vergnügen teil." Dann im Neuen Palais die schon von Reichensperger geschilderte Szene des gegenseitigen Ausklopfens, während die Hofdienerschaft oder, wie Unruh sagt, „die im Vestibül stehenden Lakaien" grinsend zusehen. Der König und die Königin beobachten auch nach Unruh wenigstens die äußeren Formen der Höflichkeit, dagegen sehen die Prinzen, selbst die „beliebtesten", mit sprachlosem Staunen auf die seltsamen Gäste. Und doch, klagt Unruh: „Es ist einem bis dahin absolut monarchischen Staate so leicht, durch wenige Worte, durch ein freundliches Gesicht Herzen zu gewinnen." Endlich „nach drei bis vier Stunden Staub, Hitze und Durst" wird die Versammlung in eine „Seitengalerie" getrieben, um einige Erfrischungen einzunehmen. „Niemand vom Hofe, kaum ein Kammerherr, folgte in den Speisesaal." Danach die Rückfahrt, die unter noch traurigeren Umständen erfolgt als die Hinfahrt; ein Teil der Volksvertreter muss zu Fuß im Trabe nach dem entfernten Bahnhofe eilen, um die Abfahrt des Zuges nicht zu versäumen.

Da wir hier einmal von den Leistungen preußischer Hoflakaien gegenüber den parlamentarischen Vertretern der bürgerlichen Klassen sprechen, so mag noch gleich eine Szene erwähnt werden, die Biedermann als Augenzeuge in seinem Buche „Dreißig Jahre deutscher Geschichte" mitteilt, obwohl sie in etwas spätere Zeit fällt, in das Frühjahr 1849, als eine Deputation des Frankfurter Parlaments dem preußischen Könige die deutsche Kaiserkrone anbot. Biedermann erzählt: „Die Hofdienerschaft, die immer einen feinen Instinkt für die Stimmungen ihrer Herren hat, empfing und geleitete die Abordnung des deutschen Parlaments nur mit schlechtverhehlter Kälte. Als Präsident Simson während des Wartens im Vorraum ein Glas Wasser begehrte, bedauerte der Lakai, dass ein solches nicht zur Hand sei, und holte das Verlangte erst, als Simson sein Begehren in sehr bestimmtem Tone wiederholte." Nicht einmal ein Tropfen Wasser für die Kehle des „tönenden Rhapsoden", der im Auftrage der bürgerlichen Klassen einen Kaiser krönen wollte!

Doch kehren wir zu der preußischen Nationalversammlung von 1848 zurück. Nach fast sechsmonatlichem Tagen war sie endlich soweit, das Königtum von Gottes Gnaden, den Adel, die Titel und Orden abgeschafft zu haben, nämlich auf dem Papier. Derweil war ihr Schicksal in Wien entschieden worden, das wenigstens nach tapferem Kampfe fiel. General Wrangel stand mit Heeresmacht vor den Toren Berlins, „die Kugel im Lauf und mit haarscharf geschliffenen Schwertern"; General Graf Brandenburg wurde zum Ministerpräsidenten ernannt und beantwortete alle Feinheiten der konstitutionellen Doktrin, die ihm Herr von Unruh mit staatsmännischer Beredsamkeit auseinandersetzte, mit dem kategorischen Imperativ, er sei Soldat und habe die Befehle Seiner Majestät zu erfüllen. Nun raffte sich die Nationalversammlung zu einem für ihre Verhältnisse energischen Schritte auf. In einer fast drohenden, übrigens vortrefflich abgefassten Adresse – war sie doch der eleganten Feder Lothar Buchers entflossen, welche späterhin den Depeschen Bismarcks ihren stilistischen Ruhm erworben hat – wies sie den König auf die „unendlich traurigen, an das Geschick eines Nachbarstaates erinnernden Folgen" seines Tuns hin und beauftragte eine Deputation von fünfundzwanzig Mitgliedern, dem Könige die Adresse zu überreichen und zugleich über die Lage des Landes Bericht zu erstatten. Die Deputation, zu welcher u. a. Bucher, Rodbertus, von Kirchmann, Baumstark, Reichensperger gehörten, ging nach Sanssouci und wurde nach längeren Verhandlungen mit dem Flügeladjutanten von Manteuffel, dem späteren Feldmarschall, auch beim Könige vorgelassen. Herr von Unruh verlas die Adresse, worauf der König erst an seinen Degen schlug, dann der Deputation mit einer Gebärde, welche das Gegenteil von Hochachtung ausdrückte und in dem Register höfischer oder gar königlicher Sitten sonst noch nicht verzeichnet war, den Rücken kehrte und sich aus dem Zimmer zu bewegen begann. Der Präsident von Unruh schwieg, und so sagte Johann Jacoby: „Wir sind nicht bloß hierher gesandt, um Ew. Majestät eine Adresse zu überreichen, sondern auch, um Ihnen über die wahre Lage des Landes Auskunft zu geben." Der König ging ruhig weiter. Nun fragte Jacoby: „Gestatten Ew. Majestät uns Gehör?" Darauf der König, sich umwendend: „Nein." Und jetzt sprach Jacoby das bekannte Wort: „Das ist das Unglück der Könige, dass sie die Wahrheit nicht hören wollen." Darnach verschwand der König im Nebenraum.

Man hätte denken sollen, dass Jacoby von seinen Genossen beglückwünscht worden wäre, denn durch sein zwar nicht besonders tiefsinniges, aber der Situation vollkommen angemessenes Wort hatte er der Deputation wenigstens einigermaßen aus der peinlichen Lage geholfen, in welche sie durch das sonderliche Benehmen des Königs gebracht worden war. Aber nein! sobald der König das Zimmer verlassen hatte, stürzte die Mehrheit der Deputation mit wütenden Vorwürfen über Jacoby her, und kaum war der Flügeladjutant wieder eingetreten, als Rodbertus – er selbst hat sich dessen am nächsten Tage in der Nationalversammlung gerühmt, und wir zitieren seine Worte nach dem amtlichen, stenographischen Berichte – auf ihn zueilte und ihn „dringend bat, zu Seiner Majestät hineinzugehen und zu sagen, dass wir überzeugt seien, dass Seiner Majestät Gefühl die Adresse der Nationalversammlung und die letztgehörten Worte eines Deputierten zu unterscheiden wissen werde". Sicherlich eins der erheiterndsten Bilder aus der Geschichte der bürgerlichen Klassen; während der König die Schwerter schleifen und die Rosse satteln und die Kanonen laden lässt, um die Volksvertretung mit militärischer Gewalt auseinanderzusprengen, verklagen sich die Führer des Parlaments bei dem Adjutanten des Königs wegen Mangels an untertäniger Ehrfurcht! Aber auch damit noch nicht genug: In einem Gasthofe der Stadt Potsdam trat die Deputation nochmals zusammen und beschloss, im Interesse der dem Monarchen geschuldeten Ehrfurcht, „über die demselben in seinem Schlosse widerfahrene Ungebühr" zu schweigen. Ob dieser Beschluss, wie Reichensperger behauptet, nun gar noch „einstimmig" gefasst worden ist, erscheint allerdings fraglich, denn d'Ester, ein Mitglied der Deputation, teilte am nächsten Tage in der Nationalversammlung die betreffenden Vorgänge mit.

Wenige Tage später erfolgte der Staatsstreich durch Verlegung der Nationalversammlung in die Stadt Brandenburg. Während nun aber Lassalle und Marx in der Rheinprovinz zum bewaffneten Widerstande aufriefen, erklärte Waldeck in der „Majorsnacht", d. h. in der Beratung der Bürgerwehroffiziere darüber, ob sie dem einrückenden Wrangel gewaltsam Widerstand entgegensetzen sollten, er sei ein Mann des Rechts und verstehe nichts von militärischen Fragen, und widersprach Ziegler dem in dem Rumpfe der Nationalversammlung eingebrachten Antrage, das Heer von seinem Eide an den König zu entbinden, mit den Worten: „Die Disziplin ist die Mutter der Siege. Ich liebe das brave Heer, ich bewundere es, weil in ihm die schönsten Blätter der preußischen Geschichte wurzeln. Dass aber die Nationalversammlung einen Aufruf an das Heer erlässt und zur Auflösung der Disziplin unmittelbar auffordert, ist ein Verhalten, für das ich keinen Sinn finde. Bleiben wir in den Grenzen redlicher Mäßigung, seien wir edel, edel in wahren Mitteln der Verteidigung wie bisher, so bis an das Ende." Und das Ende war da, indem das bewunderte und geliebte Heer die letzten Trümmer der Versammlung auseinander warf …

Wir sind etwas ausführlicher über die Vorgänge von 1848 gewesen, weil die bürgerlichen Klassen damals immerhin in ihrer politischen Selbständigkeit gegenüber der Krone auf einen Höhepunkt gelangt waren, den sie später niemals wieder erreicht haben. Auch in der Konfliktszeit nicht. Man hat Lassalle auch von berufener Seite getadelt, weil er sich für die Einleitung seiner Arbeiteragitation keinen passenderen Zeitpunkt gewählt habe als den Moment eines heftigen Streits zwischen der Krone und dem Bürgertum. Allein man darf nicht übersehen, dass Lassalle die fortschrittliche Opposition bis in Herz und Nieren kannte und dass nicht nur er, sondern auch seine persönlichen Freunde aus der bürgerlichen Demokratie sich über die innere Hohlheit derselben vollkommen klar waren. So schrieb damals Walesrode in einem vertraulichen Briefe: „Ich behaupte nicht zu viel, wenn ich sage, noch niemals ist die öffentliche Meinung oder der politische Charakter des deutschen Volkes so jammervoll demoralisiert gewesen als in dem gegenwärtigen Momente. Es ist eine Charakterlosigkeit, die an Blödsinn streift. Sie brauchen nur einen Blick auf die soi-disant demokratische Berliner Tagespresse zu werfen, um zu wissen, woran Sie sind." Und ähnlich Ziegler: „Das Volk ist ganz unglaublich herunter; es hat fast ganz das Ehrgefühl verloren, und ich habe gesehen, wie es mit dem Maule schon wieder Hurra! rief, als es noch hinten die Striemen rieb, die ihm Hinckeldey und Westphalen gehauen. Es ist so herunter, dass die Ohrfeigen, die ihm durch die Regierung ohne Budget, durch die schlechte Behandlung seiner Vertreter appliziert sind, kaum von ihm gefühlt werden." Nach solchen Zeugnissen aus den bürgerlichen Klassen selbst lässt sich jener Vorwurf gegen Lassalle kaum aufrechterhalten.

Aber wenn die bürgerlichen Klassen in den fünfziger und sechziger Jahren immerhin noch eine gewisse Selbständigkeit gegenüber der Krone beobachteten, so hörte auch das mit dem Jahre 1871 auf. Von nun an trieben sie nicht nur mit dem Begriffe der Monarchie, sondern auch mit der Person des Monarchen einen Götzendienst, der seinesgleichen nur in dem byzantinischen Kaiserreiche gehabt hat. Wir müssten Bogen füllen, wenn wir auch nur die brennendsten Zeugnisse dieser Schmach aneinanderreihen wollten; ohnehin dürfen wir annehmen, dass die Leser der „Neuen Zeit" das unwürdige Treiben noch in frischem Gedächtnisse haben. Ein unwürdiges Treiben in der Tat, und um so unwürdiger, weil es sich bis in die äußerste bürgerliche Linke erstreckte. Als ein bürgerlich-radikales Blatt ein Jahr nach dem Tode Kaiser Wilhelms I. diesem Fürsten, ohne seinem persönlichen und politischen Charakter sonst irgend zu nahe zu treten und in durchaus parlamentarischer Sprache den Titel eines großen Volkskönigs bestritt, wurde es nicht nur durch das Sozialistengesetz2 verboten, sondern auch von der ganzen freisinnigen und volksparteilichen Presse in der schnödesten Weise verleugnet als ein aussätziges Glied am Leibe ihrer allezeit strammen Loyalität.

In dieser geistigen Atmosphäre, welche die bürgerlichen Klassen geschaffen und vor dem Richterstuhle der Geschichte zu vertreten haben, ist Kaiser Wilhelm II. aufgewachsen. Er war ein Knabe von elf Jahren, als das neue Deutsche Reich gegründet wurde; er war ein Jüngling von neunzehn Jahren, als das Sozialistengesetz erlassen wurde; er reifte zum Manne heran, als der gewaltige Posaunenschall vom sozialen Königtum morgens und abends von allen Türmen des Reichs geblasen wurde. Er ist ein Kind seiner Zeit, wie jeder Mensch, auch der mächtigste, ein Kind seiner Zeit ist. Nur dass die allgemeinen Eindrücke nicht nur den individuellen Charakter bilden, sondern auch von demselben gemäß seiner natürlichen Anlage umgebildet werden. Ein junger und kräftiger Mann denkt anders als eine verfaulende und verzweifelnde Klasse. Aus dem hohlen Götzendienste der bürgerlichen Klassen mit dem Königtum erwuchs dem Kaiser ein fester Glaube an seinen göttlichen Beruf: aus der feigen Angst der Bourgeoisie vor der Sozialdemokratie erwuchs ihm die Lust zum Kampfe mit der Arbeiterpartei; aus dem Gaukelspiele der Land- und Schlotjunker mit der „Sozialreform" erwuchs ihm die Neigung zu einem ernstlichen Versuche mit der Arbeiterschutzgesetzgebung3. Es sei gestattet, diese psychologische Entwicklung wenigstens an einem Falle bis ins einzelne zu verfolgen. Der Kaiser stand, wie gesagt, im empfänglichsten Jünglingsalter, als das Sozialistengesetz erlassen wurde. Damals scholl ihm von allen Seiten der Ruf entgegen, die Sozialdemokratie habe den Revolver Hödels und die Schrotflinte Nobilings geladen; damals las er in seinem Lieblingsschriftsteller Treitschke: „Der Mord, der feige Mord, schleicht um unser Herrscherhaus. Diese unnatürlichen Bluttaten und die lange Reihe frecher Majestätsbeleidigungen nachher stellen es außer Zweifel, dass man in Hunderten von Spelunken sich schon ergötzt haben muss an der Hoffnung, es werde besser werden, wenn man die Hohenzollern wie die Spatzen einen nach dem andern wegschösse. Der Gedanke ist infernalisch, dumm ist er nicht. Eine physische Unmöglichkeit steht nicht im Wege: Gegen den Meuchelmord vermag keine menschliche Wachsamkeit ganz zu schützen. Im Wege steht nur eins, woran diese Unseligen nicht glauben: die göttliche Führung der Weltgeschichte." Wie tiefen Eindruck diese und ähnliche Vorspiegelungen auf den Geist des Kaisers gemacht haben, beweist seine von seinem früheren Erzieher Hinzpeter öffentlich berichtete Äußerung, er könnte wohl bei einem Attentat auf den Tod getroffen werden, aber dann werde er seinen letzten Atem daran setzen, den Mörder Mann an Mann niederzuwerfen.

Gerade die kräftige Gesinnung, die aus diesen Worten spricht, musste dem Kaiser das Sozialistengesetz unerträglich machen. Insbesondere als er aus den Reichstagsverhandlungen durch eine sozialdemokratische Rede die ihm bis dahin unbekannte Tatsache erfuhr, dass er selbst auf Wegen und auf Stegen von geheimen Spitzeln umgeben sei. Eine derartige „göttliche Führung der Weltgeschichte" erschien ihm sowohl eines großen Kriegsherrn als auch eines tapferen Mannes unwürdig. Aus diesem Gesichtspunkte heraus erklärte er nach der Beseitigung Bismarcks dem Staatsrate, für die Sicherheit von Kaiser und Reich gegen die gewaltsamen Versuche der Sozialdemokratie habe er zu sorgen, und dafür stehe er ein, auch ohne Sozialistengesetz und sonstige Vorsichtsmaßregeln; die Gesetzgebung habe nur den berechtigten Beschwerden der Arbeiter abzuhelfen. Das letztere hat die Gesetzgebung nun zwar nicht getan; die bürgerlichen Klassen ließen vielmehr die von dem Kaiser in der Arbeiterschutzgesetzgebung genommenen Anläufe scheitern. Aber um so stärker entwickelte sich jene erste Gedankenreihe; es ist derselbe Faden und auch dieselbe Nummer, die von der Ansprache an die Garderekruten bis zu seiner Rede im Staatsrate und von der Rede im Staatsrate bis zu den Vorstellungen zurück läuft, welche die bürgerlichen Klassen in ihrem eigensüchtigen Interesse über die Attentate von Hödel und Nobiling erweckt haben.

Mögen sie jetzt ächzen und stöhnen unter der Geißel der Nemesis: Die Arbeiterklasse hat gar keinen Anlass, sich so oder so zu ereifern. Ihre Wege und Ziele liegen heute ebenso außerhalb jener Gedankenreihe wie im Jahre 1878 und auch schon im Jahre 1876, als der ältere Graf Eulenburg zuerst den „hauenden Säbel und die schießende Flinte" in die politische Aktion gegen die Arbeiterklasse einführte. Dazu kommt ein anderes. Taine schreibt irgendwo in seiner Darstellung der Französischen Revolution, für ein baufälliges Gemeinwesen trete der verhängnisvollste Augenblick immer ein, wenn ein wirklicher Versuch zu seiner Reparatur gemacht werde. Ein Gleiches gilt von der konstitutionellen Monarchie als der politischen Repräsentantin der kapitalistischen Gesellschaft, wenn ihr oberster Vertreter keine Puppe, sondern ein Mann sein will. Damit ist alles gesagt, sowohl über die bebende Wut, mit welcher die bürgerlichen, als auch über die ruhige Zuversicht, mit welcher die arbeitenden Klassen die Reden des Kaisers hören.

1 suprema lex regis voluntas (lat.) – Der Wille des Königs ist oberstes Gesetz.

2 Siehe dazu Franz Mehring: Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, Bd. 2 der „Gesammelten Schriften", Dietz Verlag, Berlin 1960, S. 484-509.

3 Gemeint ist die auf Anregung des Kaisers vom 15. bis 29. März 1890 erfolgte sogenannte „internationale Arbeiterschutzkonferenz" in Berlin sowie das am 6. Mai 1890 vom Reichstag verabschiedete „Arbeiterschutzgesetz", das die Bildung von Gewerbegerichten bestimmte.

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