Franz Mehring 19021105 Neues über die Märzrevolution

Franz Mehring: Neues über die Märzrevolution

5. November 1902

[Die Neue Zeit, 21. Jg. 1902/03, Erster Band, S. 161-165. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 20-24]

Seit langen Jahren ist die wohlgesinnte Geschichtsschreibung bemüht, die Revolution des 18. März als einen überflüssigen und zwecklosen Putsch darzustellen, da alles, was sie erreicht habe, schon vorher durch die preußische Krone bewilligt worden sei, und ihre einzige Wirkung darin bestanden habe, den eben zwischen König und Volk geschlossenen Frieden zu vergiften.

An und für sich ist dies einfältige Gerede keiner ernsthaften Beachtung wert; es steht mit den einfachsten Elementen jeder wissenschaftlichen Geschichtsauffassung in unversöhnlichem Widerspruch. Eine ernsthafte Seite erhält es aber dadurch, dass es sich gewissermaßen in der Komik überschlägt, mit anderen Worten, dass die Urheber dieser Geschichtsklitterung selbst das historische Material herbeischaffen, wodurch sie das Gegenteil dessen beweisen, was sie behaupten. Sie tun das natürlich nicht mit Absicht, aber ein Schelm gibt mehr, als er hat. Die „urkundliche Wahrheit", die sie aus den nur ihnen zugänglichen Quellen beziehen, aus staatlichen Archiven, aus fürstlichen Korrespondenzen und so weiter, lässt sich mit den loyalsten Anstrengungen nicht so verdrehen, dass die reaktionären Tendenzmärchen über den 18. März dadurch nicht viel mehr entkräftet als bestärkt werden.

So veröffentlicht der Professor Rachfahl im Novemberheft der „Preußischen Jahrbücher" den Anfang eines Aufsatzes über die Märzrevolution, worin er „neue Quellen" zu ihrer Geschichte eröffnet. Diese Quellen entfließen einem Sammelband des Berliner Archivs, der in der Tat manche interessante Seite zu enthalten scheint. Nach den Angaben Rachfahls ist er von dem Stadtrat Nobiling zusammengestellt worden, der im Jahre 1848 eine gewisse Rolle in Berlin gespielt hat; neben einer Darstellung, die Nobiling selbst von den Ereignissen dieses Jahres entwirft, enthält der Band noch mancherlei andere Berichte von Persönlichkeiten, die unmittelbar, auf der Seite der Regierung, an den Ereignissen des 18. März beteiligt gewesen sind, des Polizeipräsidenten v. Minutoli, des Generals v. Prittwitz, der die Garderegimenter in dem Barrikadenkampf kommandierte, des Rittmeisters v. Manteuffel, des späteren Feldmarschalls, und anderer mehr. Leider gibt Herr Rachfahl nur Auszüge aus dem Bande, um die von ihm vertretene loyale Auffassung der Märztage zu erläutern, auf die es uns natürlich nicht weiter ankommt; immerhin genügen diese Auszüge aber, um zu bestätigen, dass dem 18. März die vollen Ehren einer historischen Revolution gebühren.

Durch aller jener Zeugen Mund wird die völlige moralische und politische Deroute der Klassen bekundet, die über dem vormärzlichen Preußen geherrscht haben. Selbst das „herrliche Kriegsheer" war innerlich zerrüttet und konnte seine dumpfe Angst vor dem Herannahen einer neuen Zeit nur noch durch das Massakrieren harmloser Spießbürger betätigen. In Übereinstimmung mit dem Polizeipräsidenten v. Minutoli bekräftigt Nobiling, der selbst Landwehrmajor und übrigens „gemäßigter Konstitutioneller", also etwa das war, was man heute einen Nationalliberalen nennt, dass die blutigen, tagelangen, gänzlich unprovozierten Attacken des Militärs auf die Bevölkerung den Barrikadenkampf hervorgerufen haben. So wollten die junkerlichen Offiziere des bekanntlich „unpolitischen" Heeres die Bewegung im Keime ersticken, die von der Pariser Februarrevolution nach Deutschland herüber geflutet war. An der Spitze dieser Offiziere stand aber der Prinz von Preußen, der damalige Thronfolger und spätere deutsche Kaiser. Die Art, wie er sich bei den militärischen Massakern vordrängte, missfiel sogar dem General v. Prittwitz, der sonst ein vormärzlicher Reaktionär vom reinsten Wasser war. Er schreibt: „Die gespannteste Aufmerksamkeit auf die Sache selbst sowie die regste Teilnahme an dem Ergehen und Benehmen der Truppen ließ den Prinzen von Preußen hierbei in die erste Reihe treten, so dass die vielfältigen Sendungen seiner Adjutanten auf die Kommandantur recht unbequem wurden." Prittwitz gibt denn auch zu, dass die „Missstimmung" der Barrikadenkämpfer gegen den Prinzen von Preußen ihre triftigen Ursachen gehabt haben, während nach der Darstellung der loyalen Historiker dieser edle und liebreiche Fürst nur durch gewissenlose Demagogen in einen ganz ungerechten Verdacht gekommen ist, der ihn dann zur Flucht aus Berlin gezwungen habe.

Die blutigen Massaker friedlicher Staatsbürger waren jedoch die einzige Aktion, deren das vormärzliche Regiment noch fähig war. Sonst zeigte es durch die grenzenloseste Verwirrung, dass es reif und überreif für den Gnadenstoß sei. Wie immer in solchen Fällen schwankte es hin und her zwischen stumpfsinniger Ableugnung jeder Gefahr und wahnsinniger Aufregung über die gleichgültigsten Nebendinge. Der Minister von Bodelschwingh, die rechte Hand des Königs in den vierziger Jahren, spielte sich auf die Vogel-Strauß-Politik hinaus; er zuckte ungläubig die Achseln, als Nobiling ihm beweglich vorstellte, dass „sogar die unbedingte Treue und Ehrfurcht gegen das Königshaus geschwunden sei"; er meinte, eine besondere politische Verstimmung sei in der besitzenden Bürgerschaft nicht vorhanden. „Bedenklich sei allerdings, dass in diesen Tagen der Aufregung gar keine Vergehen gegen das Eigentum vorgekommen seien", aber politisch sei die große Masse nicht gefährlich. Ein in mehr als einer Beziehung so charakteristisches Wort, wie es je von einem verblendeten Gewalthaber am Vorabend einer Revolution geäußert worden ist, charakteristisch namentlich auch in dem Punkte, dass diese Leute, die jede siegreiche Revolution unter unermesslichem Aufwand sittlicher Entrüstung auf das angebliche Konto von Dieben und Gaunern zu setzen pflegen, in ihrem Kämmerlein das erste Anzeichen revolutionärer Bewegungen gerade darin sehen, dass die Diebe und Gauner spurlos verschwinden.

Das Gegenstück zu dem Minister des Innern bildete der Berliner Polizeipräsident v. Minutoli. Er sah lauter revolutionäre Gespenster, lange ehe die Revolution da war. Freilich, so arg wie später sein Nachfolger Hinckeldey, der den König mit den wahnwitzigsten Märchen über die von Franzosen, Polen und Juden angestiftete Revolution in den Wahnsinn jagte1, hat es Minutoli nicht getrieben; diese Polizeimärchen hat er stets als das gekennzeichnet, was sie waren, und sogar die wirklichen Ursachen des Straßenkampfes richtig erkannt, weshalb er denn auch sehr bald als Polizeipräsident in allerhöchste Ungnade fiel. Er hat selbst den Aufstand genau für den Tag vorhergesagt, an dem er ausgebrochen ist. Allein wenn man diesem Prophetenruhm näher tritt, so zerfließt er wie ein Nebel, der doch nur einem Polizeigehirn entsteigen konnte. Als der Prinz Albrecht am 14. oder 15. März seinen Adjutanten, den Rittmeister v. Manteuffel, zum Polizeipräsidenten mit der Frage sandte, wie es um die Revolution stehe, erklärte dieser, das käme auf Rutenberg an, den Hauptleiter der Verschwörung. Am 17. März meldete Minutoli an den König: „Es ist alles ruhig, aber Rutenberg ist verschwunden, und das ist wichtig. Ich will gleich fort und ihn aufsuchen." Eine gleichlautende Äußerung des Polizeipräsidenten von demselben Tage gibt Nobiling in der Form wieder, Rutenberg wäre verschwunden, was höchst bedenklich sei; dann sollte am folgenden Tage gewiss die Revolution ausbrechen. Diese Prophezeiung ist eingetroffen, aber man wird zugeben, dass der Ruhm des Propheten deshalb nicht groß ist.

Wer war nämlich dieser fürchterliche Rutenberg? Ein ehemaliger Lehrer am Kadettenkorps, der sich später zu Bruno Bauer und den „Freien" hielt und auch mit dem jungen Marx befreundet war. Marx brachte ihn im Jahre 1842 an die „Rheinische Zeitung", um bald zu gestehen: „… er ist gänzlich impotent. Über kurz oder lang wird man ihm den Weg weisen."2 Aber mit ihrem üblichen Scharfblick sah die Polizei in Rutenberg den bösen Dämon der „Rheinischen Zeitung" und wies ihn im November 1842 aus Köln aus, wozu Marx bemerkte: „… Rutenberg hatte bei der ungeheuren Dummheit unserer Staatsvorsehung das Glück, für gefährlich zu gelten, obgleich er niemandem gefährlich war, als der .Rheinischen Z.' und sich selbst."3 Seitdem hatte Rutenberg das harmloseste Literatenleben in Berlin geführt, und selbst in den Märztagen ergab er sich der denkbar harmlosesten Beschäftigung, indem er mit Zabel gemeinsam die „National-Zeitung" gründete. Aber mit angstvoller Spannung hing das vormärzliche Regiment an jeder Bewegung dieses unheimlichen Dämons, der bloß einen Ausflug nach dem Grunewald oder nach Treptow zu machen brauchte, um die Grundfesten von Thron und Altar erzittern zu lassen.

Die Angst vor Rutenberg hörte in dieser verkommenen Gesellschaft selbst dann noch nicht auf, als wirklich schon auf den Barrikaden gekämpft wurde. Einer Deputation der städtischen Körperschaften, die am Nachmittag des 18. März beim König erschien, sagte dieser zornig: „Ein Herr Rutenberg leitet die ganze Verschwörung… Lassen Sie sich doch nicht von diesem Rutenberg oder von diesen Emissären verleiten." Als darauf der Stadtverordnete Schauß schüchtern einzuwenden wagte, es gäbe keine Emissäre in Berlin, erwiderte der König „in festem Tone", dass Herr Schauß selbst ein Emissär sei, wenn er ihre Existenz zu bestreiten wage. Es versteht sich, dass diesem heldenkühnen Vorkämpfer der deutschen Bourgeoisie nach solcher Äußerung allerhöchster Ungnade nichts übrig blieb, als in Ohnmacht zu fallen, aus der ihn die Prinzessin von Preußen mit einem Riechfläschchen zu erwecken bemüht war; „die Prinzessin war offenbar wie im Fieber und wusste nicht, was sie tat", fügt eine der Hofschranzen bei, die über diese Szene berichten.

Man kann lange in der Geschichte der Revolutionen suchen, bis man eine bis dahin herrschende und nunmehr von ihrem Sturze bedrohte Klasse in so abgeschmackter und alberner Verfassung entdeckt, wie die altpreußische Herrlichkeit in den Märztagen von 1848 war. Um sie halbwegs zur Räson zu bringen, war die Gewaltkur des Barrikadenkampfes eine absolute Notwendigkeit, und selbst sie reichte gerade nur aus, durch die armselige Angst um Haut und Beutel den „hohen Herrschaften" einigen politischen Verstand beizubringen. Auch dafür ist, gleichzeitig mit den Enthüllungen der „Preußischen Jahrbücher", ein dokumentarischer Beweis von der „Deutschen Rundschau" geliefert worden in Briefen des Prinzen Friedrich Wilhelm, des späteren Kaisers Friedrich, der als Jüngling von 16 Jahren die Märzrevolution erlebt hat.

Namentlich ein Brief vom 22. März, den der Prinz an einen Jugendfreund gerichtet hat, gibt ein geradezu trostloses Bild davon, wie es in dem jungen Gemüt aussah, aus dem die deutsche Bourgeoisie dann vierzig Jahre lang ihre illusionären Hoffnungen geschöpft hat. Eine mächtige Angst vor der „Kanaille" und dabei keine Spur von Besserung; „es steckt alles voller Spione und Emissäre, dass man sich mit jedem Wort in acht nehmen muss", aber „meine meisten Sachen waren schon und sind in Sicherheit, vieles auch schon in meinen Händen". Ja, wenn nur die „Sachen" in Sicherheit sind! So derb die Lektion war, so hatte sie doch noch lange nicht genug gefruchtet.

Ebendeshalb ist es den Besiegten der Märzrevolution gelungen, wieder emporzukommen. Aber ihre dienstwilligen Federn bemühen sich vergebens, den leuchtenden Tag des 18. März aus dem Buche der Geschichte zu streichen. Das Gedächtnis der Helden, die an diesem Tage gekämpft und mit ihrem Blute einen großen historischen Fortschritt besiegelt haben, ist durch das klassenbewusste Proletariat längst vor ihren Griffen gesichert; so mag es sich erklären, dass sie auf den verzweifelten Gedanken verfallen sind, wenigstens die Herz- und Kopf-, die Rat- und Tatlosigkeit zu übertünchen, die am 18. März die herrschenden Klassen gezeigt haben. Ein verzweifelter Gedanke in der Tat, denn noch hat jeder Versuch dieser Art damit geendet, die Mohren, die gewaschen werden sollen, desto schwärzer erscheinen zu lassen und in einem lehrreichen Einzelfall die allgemeine Wahrheit aufzuzeigen, dass unterdrückte Klassen niemals etwas von ihren Unterdrückern erlangen, als was sie von ihnen erkämpfen, ertrotzen, erzwingen.

In solchen Kämpfen wechseln die Waffen, aber die Taktik bleibt immer dieselbe. Es wäre deshalb töricht, an dieser Taktik zu zweifeln, weil sich die Waffen der Märzrevolution überlebt haben.

1 Die notorische Revolutionsfurcht und Kommunistenangst Friedrich Wilhelms IV. wurde von der preußischen politischen Polizei, insbesondere von Hinckeldey (1805 bis 1856, preußischer Regierungsbeamter, seit 1848 Polizeipräsident von Berlin), mit allen Mitteln geschürt, wie namentlich durch Marx' und Engels' Enthüllungen über den Kommunistenprozess zu Köln offenkundig wurde (siehe Marx/Engels: Werke, Bd. 8). Friedrich Wilhelm IV., schon seit Jahren krank und geistesschwach, musste 1857 wegen Geistesgestörtheit die Regentschaft seinem Bruder Wilhelm überlassen.

2 Marx an Arnold Ruge in Dresden. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 27, S. 407.

3 Marx an Arnold Ruge in Dresden. In: Ebenda, S. 411.

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