Franz Mehring 18990926 Vilagos und Arad

Franz Mehring: Vilagos und Arad

26. September 1899

[Der wahre Jacob, Nr. 344, 26. September 1899. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 153-160]

Mit der Entthronung der habsburgischen Dynastie war die ungarische Revolution auf ihren Gipfel gelangt. Freilich auf einen Gipfel, von dem oft gesagt worden ist, dass hinter ihm der Abgrund gegähnt habe. In der Tat gingen die Dinge nun reißend schnell abwärts; am 14. April 1849 wurde die Entthronung der Habsburger in Debreczin beschlossen, am 13. August kapitulierte das letzte ungarische Heer bei Vilagos, am 6. Oktober endeten die ungarischen Generale, denen nicht die Flucht über die türkische Grenze gelungen war, in Arad am Galgen.

Gleichwohl ist es durchaus irrig zu sagen, dass der Beschluss des ungarischen Reichstags vom 14. April die Ursache alles Übels gewesen sei. Am wenigsten ließ er sich von dem „rechtlichen" Standpunkt aus anfechten, von dem aus er am häufigsten angefochten worden ist; nachdem die Wiener Politik unzählige Male die alt und neu verbrieften Rechte der ungarischen Nation mit Füßen getreten hatte, gab es keine gerechtere Notwehr, als dass diese Nation sich ihrer treulosen Bedränger entledigte. Aber auch politisch war der Beschluss ganz unanfechtbar, sintemalen in allen Revolutionen die kühnsten Schritte immer zugleich die klügsten sind. Nicht dass sie mit diesem Beschlusse zu weit gegangen wären, ließ sich den Ungarn vorwerfen, sondern umgekehrt, dass sie nicht so weit gingen, die Konsequenzen ihres richtigen Entschlusses zu ziehen. Diese Konsequenzen bestanden darin, ihre siegreichen Fahnen über die Grenzen zu tragen und noch einmal im östlichen Europa einen revolutionären Brand zu entzünden. Verzichteten sie darauf, so war mit der Entthronung der habsburgischen Dynastie allerdings nur ein halbes Werk getan, das wie alle revolutionären Halbheiten mit einem ganzen Siege der Reaktion enden musste.

Niemand belehrte die aufständischen Ungarn darüber nachdrücklicher als die europäische Gegenrevolution. Am 1. Mai kündigte die amtliche Zeitung in Wien die russische Intervention zugunsten Österreichs an. Es hieß in dem Artikel: „Der Aufstand in Ungarn hat seit einigen Monaten eine solche Ausdehnung genommen, und er zeigt in seiner dermaligen Phase so entschieden den Charakter einer Vereinigung aller Kräfte der europäischen Umsturzpartei, dass das Interesse sämtlicher Staaten ein gemeinschaftliches ist, die österreichische Regierung in dem Kampfe gegen die Auflösung aller gesellschaftlichen Ordnung zu unterstützen." Die einfachen Daten zeigen schon, dass der demütigende Bittgang der österreichischen Regierung zur russischen Knute nicht erst durch die Entthronung der habsburgischen Dynastie veranlasst worden war, wie reaktionäre Geschichtsklitterer oft behauptet haben; die Zeit vom 14. April bis zum 1. Mai genügte kaum, um einen Kurier zwischen Olmütz und St. Petersburg hin- und her zu senden. Tatsächlich antichambrierte die Wiener Politik schon lange beim Zaren in der sicheren Erkenntnis erstens, dass sie selbst zu ohnmächtig sei, um die ungarische Revolution zu dämpfen, und zweitens, dass ein siegreiches Vordringen dieser Revolution das östliche Europa und zunächst Polen in revolutionäre Flammen setzen, Väterchen also in seinem eigensten Interesse zu allen konterrevolutionären Liebesdiensten bereit sein würde.

Je offener sowohl das österreichische wie das russische Kabinett erklärte, dass die ungarische Revolution zu einer brennenden Gefahr für die europäische Gegenrevolution geworden sei, desto klarer lag vor den Ungarn der einzige Weg der Rettung, den es für sie gab. Sie mussten tun, wovor ihre Todfeinde so heillose Angst hatten, sie mussten die revolutionäre Propaganda über die ungarischen Grenzen tragen. Wiederholten sie dagegen unter ungleich erschwerenderen Umständen den Fehler, den sie bereits im Herbste 1848 begangen hatten, schlossen sie sich in ihren eigenen Grenzen ein, so war ihre Niederlage nur eine Frage der Zeit. Denn der österreichisch-russischen Heeresmacht, die sich in der Stärke von nahe an 300.000 Mann und 600 Geschützen gegen sie heran wälzte, hatten sie kaum halb so viele Streitkräfte entgegenzusetzen.

Zunächst war die militärische Lage für die Ungarn sehr günstig. Vor dem Juni konnte die russische Hilfe nicht mobil gemacht werden, und Ende April war das österreichische Heer aus dem Lande gejagt, bis auf einige Besatzungen, die von selbst kapitulieren mussten, sobald die aufständischen Ungarn auf Wien vordrangen. Dass dies geschehen würde, erwartete alle Welt; die österreichische Regierung flehte schon den Zaren an, so schnell als möglich ein russisches Heer nach Wien zu senden. Gleichwohl geschah nicht das Selbstverständliche und Aussichtsreiche; vielmehr wandten sich die siegreichen Ungarn von ihrer unbezwinglichen Festung Komorn, von wo aus sie leicht nach Österreich vorbrechen konnten, auf ihre eigene Landeshauptstadt zurück, um die improvisierte Festung Ofen zu belagern, deren österreichischer Kommandant, der General Hentzi, froh gewesen wäre, wenn man ihn unbehelligt gelassen hätte. Jedoch verteidigte er sich geschickt und tapfer, nachdem er einmal angegriffen worden war; erst am 21. Mai wurde Ofen erstürmt, wobei Hentzi fiel. Einen Augenblick noch umstrahlte der Schimmer eines großen Erfolges die ungarischen Waffen, und unter allgemeinem Jubel hielt der neue Gouverneur Kossuth am 6. Juni seinen feierlichen Einzug in Pest.

Der scheinbare Erfolg war die tatsächliche Niederlage der ungarischen Revolution. Mit der militärisch und politisch gleich wertlosen Eroberung Ofens waren kostbare Wochen vertrödelt, war der günstige Augenblick zum Marsche auf Wien versäumt, war dem geschlagenen österreichischen Heere die nötige Zeit gegönnt worden, sich zu reorganisieren. Die Schuld an diesem entscheidenden Missgriff haben sich Kossuth und Görgey wechselseitig zugeschoben. Görgey, der sich durch seine hervorragende militärische Befähigung zum Oberbefehlshaber des Heeres emporgeschwungen hatte, will erst durch einen formellen Befehl Kossuths und gegen sein militärisches Gewissen zur Belagerung Ofens gezwungen worden sein, während Kossuth behauptet, dass sein wirklicher Befehl, Görgey solle mit 30.000 Mann nach Österreich vorstoßen und nur 10.000 Mann zur Umschließung Ofens zurücklassen, von Görgey in gerade umgekehrtem Sinne ausgeführt worden sei. Da Görgey sehr bald zeigte, dass er sich auch an die formellsten Befehle der Regierung nicht kehrte und übrigens ein sehr ehrgeiziger, eifersüchtiger und nichts weniger als revolutionärer Charakter war, so trifft ihn sicherlich die Hauptschuld an dem ungeheuren Fehler, der die ungarische Revolution zum Untergange verdammte. Aber auch Kossuth hat keineswegs alles getan, was in seiner Macht stand, um die Dinge von vornherein in die richtige Bahn zu leiten; er scheint erst allmählich zu der Einsicht gelangt zu sein, dass die Ungarn mit der Belagerung Ofens den Siegespreis aus der Hand gegeben hatten.

Der Gegensatz zwischen Görgey und Kossuth beherrschte nunmehr den Gang der ungarischen Revolution, natürlich aber nicht in dem Sinne, dass, wenn Görgey einige Fehler weniger und Kossuth einige Tugenden mehr besessen hätte, alles zum besten bestellt gewesen wäre. Vielmehr hätte dieser Gegensatz sich überhaupt nicht entwickeln und am wenigsten so tief greif ende Folgen haben können, wenn der ungarischen Nation auf ihrer damaligen Kulturstufe nicht doch die Fähigkeit revolutionären Denkens und Handelns gefehlt hätte, die sechzig Jahre früher von der französischen Nation bewährt wurde. Szemere hatte allerdings als Ministerpräsident unter dem Gouverneur Kossuth ein „revolutionär-demokratisch-republikanisches" Ministerium gebildet, jedoch war es keineswegs einheitlich zusammengesetzt, und die Gesinnung seiner meisten Mitglieder entsprach sehr wenig seinem stolzen Namen. Kossuth selbst war nicht einmal Republikaner und spielte sich während der wenigen Wochen, die er als Gouverneur in Pest verlebte, ziemlich unverhüllt als Kronprätendent auf; so ließ er sich, um den Glanz der Exekutive aufrechtzuerhalten, eine Zivilliste von 300.000 Gulden auswerfen und, sehr charakteristischerweise, in Silber oder österreichischen Banknoten auszahlen, nicht aber in „Kossuthnoten", dem vom Aufstand ausgegebenen Papiergeld. Görgey nun gar war nichts als ein militärisch befähigter, aber auch militärisch beschränkter Kopf, dem sein persönliches Interesse über alles ging; neben dem Oberkommando beanspruchte und erhielt er auch noch das Kriegsministerium, obgleich er dadurch zu einem steten Wechsel seines Aufenthalts zwischen Komorn und Pest gezwungen wurde, wodurch natürlich die Verwaltung beider Ämter sehr erschwert wurde. Was von diesen hervorragendsten Führern der ungarischen Revolution galt, traf mehr oder minder auch auf die meisten ihrer Generale und Minister zu; sobald sie das Heft in Händen hatten, begannen unter ihnen die verhängnisvollsten Eifersüchteleien und Zänkereien.

Der Verzicht auf die revolutionäre Offensive schlug nun aber auch lähmend auf die Massen der Bevölkerung zurück. Sie glaubte den Versicherungen der Regierung, dass die nationale Unabhängigkeit mit der Vertreibung der Österreicher aus Ungarn erreicht sei, und so verursachte die Kunde des russischen Einmarsches einen panischen Schrecken. Vergebens suchte Kossuth die durch Schuld der Führer erstickte revolutionäre Stimmung der Nation wieder durch allerlei scheinrevolutionäre Maßregeln zu erwecken: Die Anordnung eines allgemeinen Bet-, Buß- und Fasttags, die Aufforderung zu einem religiösen Kreuzzuge gegen die Russen, der Befehl, durch Verwüstung des eigenen Landes den Vormarsch der Feinde zu hemmen, wirkten um so ernüchternder und verstimmender, je sicherer man schon des dauernden Erfolges gewesen war. Was wirklich zu erreichen gewesen wäre, das Aufgebot und die Organisation des allgemeinen Landsturms, wurde wieder durch die heillose Verwirrung vereitelt, die im Schoße der Militär- und Zivilverwaltung herrschte.

Die österreichisch-russische Gegenrevolution verstand sich besser auf ihren Vorteil. Sie verabredete ihren Feldzugsplan dahin, dass ein russisches Heer unter dem Oberbefehl des Feldmarschalls Paskiewitsch über die Karpaten eindringen, während sich die Österreicher unter dem Befehl des Feldzeugmeisters Haynau von Preßburg über Raab auf Pest vorschieben sollten. Haynau war ein Bastard des Kurfürsten von Hessen, ein geschickter Soldat, aber ein moralisches Scheusal. In Italien hatte er sich als ein ehr- und schamloser Wüterich erwiesen, und nun marschierte er gegen die ungarische Revolution mit unbeschränkten Vollmachten und bluttriefenden Proklamationen, in denen jedes Wort ein Henkerbeil und jeder Satz ein Galgen war. Aber er war der Mann zu halten, was er verhieß.

Mitte Juni begannen die Feindseligkeiten von neuem. Görgey suchte von dem festen Stützpunkte Komorn aus das Vordringen der Österreicher aufzuhalten; er lieferte ihnen eine Reihe von Gefechten und Schlachten, jedoch nicht mit seinem früher bewährten Geschick und mit dem schließlichen Erfolge, dass die österreichischen Truppen am 28. Juni Raab besetzten. Nun meldete Görgey der Regierung, die Straße von Raab nach Pest sei nicht mehr zu halten, die Hauptstadt sei keinen Tag mehr sicher, die Regierung möge sich an die Theiß zurückziehen. Er übertrieb die Gefahr, um sich jeder lästigen Aufsicht zu entziehen; er begann jetzt seine Karten aufzudecken und offen nach der Diktatur zu streben; bei seiner politischen Schwachköpfigkeit bildete er sich ein, dann glücklich mit den Feinden, namentlich mit den Russen, verhandeln zu können.

Die Regierung ihrerseits entschloss sich, noch einmal zu versuchen, was im vorigen Winter gelungen war: nämlich den Krieg zu verschleppen, die ungarischen Streitkräfte an der Theiß zusammenzuziehen und den günstigen Augenblick abzuwarten, wo ihnen wieder ein Vordringen möglich sein würde. So gering auch die Aussichten des Gelingens sein mochten, es war immerhin die verständigste Kriegführung, die noch übrigblieb. Längst erbittert über Görgeys Eigenmächtigkeiten, suchte die Regierung ihn seiner Ämter zu entheben, als er sich ihrem Plan durch seine taktischen Manöver widersetzte. Allein damit stieß sie auf den Widerstand der Donauarmee, die Görgey so oft zum Siege geführt hatte; sie musste sich darein fügen, ihm den Befehl über dies Heer zu lassen, während er auf das Kriegsministerium und den Oberbefehl über alle ungarischen Streitkräfte verzichtete. Es blieb ihm aber auch so noch allzu reiche Gelegenheit, seinen bösen Willen zu bekunden; durch zwecklose Hin- und Herzüge verstand er, die Vereinigung seines Heeres mit den anderen Truppen zu hindern, die von der Regierung an der Theiß zusammengezogen wurden.

Gegenüber diesem Durcheinander im Lager der ungarischen Revolution hatten ihre Gegner verhältnismäßig leichtes Spiel, trotz der Tapferkeit, womit die ungarischen Truppen kämpften. Nach einer Reihe kleinerer Niederlagen wurde die Theißarmee am 9. August bei Temesvar entscheidend aufs Haupt geschlagen. 50.000 Ungarn mit 120 Geschützen, unter Berns wie immer kluger und tapferer Führung, erlagen der Übermacht von 70.000 Österreichern und Russen mit 150 Kanonen. Nun war Görgey endlich an sein Ziel gelangt, wenn auch erst, nachdem es wertlos geworden war. Die einzige Macht der Nation befand sich in seinen Händen, und niemand konnte ihm die Diktatur mehr streitig machen, aber er selbst konnte mit der Diktatur auch nicht mehr anfangen, als sich den Feinden auf Gnade und Ungnade zu überliefern.

In Arad, wohin die Regierung geflüchtet war, erließ Kossuth am 11. August eine Proklamation, worin er dem General Arthur Görgey die „oberste Zivil- und Militärgewalt" übertrug und ihn „vor Gott, der Nation und der Geschichte" dafür verantwortlich machte, dass er diese Gewalt nach seiner besten Kraft zur Rettung der nationalen und sittlichen Selbständigkeit des Vaterlandes verwenden werde. Freilich darf nicht übersehen werden, dass Kossuth in derselben Proklamation den erfolgreichen Kampf der Selbstverteidigung gegen die große Übermacht der vereinigten Österreicher und Russen für unmöglich erklärte und dass die Proklamation, womit Görgey die Diktatur übernahm, in ganz unverhüllter Weise von der Fortsetzung des Kampfes abriet. Es war keine Überraschung im Sinne eines heimlichen Verrats, dass Görgey noch am selben Tage mit dem russischen General Rüdiger anknüpfte, ihm die unbedingte Waffenstreckung seiner Truppen anbot und nur verlangte, dass die Russen ihn von den Österreichern abschneiden sollten, an die er sich unter keinen Bedingungen ergeben werde.

Demgemäß streckten am 13. August nachmittags auf der Ebene bei Vilagos 23.000 Mann vor den Russen die Waffen, unter ihnen 11 Generale und 1400 Offiziere, außerdem erbeuteten die Russen 129 Geschütze, 29 Fahnen und 31 Standarten als Trophäen. Triumphierend meldete Paskiewitsch dem Zaren: „Ungarn liegt zu den Füßen Ew. Majestät." Görgey erhielt von dem russischen Feldmarschall die nötigen Reisemittel, um sich als „Internierter" nach Klagenfurt zu begeben; die anderen Offiziere und Mannschaften wurden sofort dem Henker Haynau ausgeliefert.

Mag nun aber auch Görgey kein Verräter im groben Sinne des Wortes gewesen sein und mag auch Kossuth in mancher Beziehung nicht weniger verschuldet haben als er, so hatte es doch seinen guten Sinn, dass die ungarische Nation bis zu Kossuths vor wenigen Jahren erfolgtem Tode ihn stets in Ehren gehalten, aber dem noch lebenden Görgey niemals verziehen hat. Soweit einzelne Personen den Untergang der ungarischen Revolution verschuldet haben, trägt Görgey die entscheidende und hauptsächliche Schuld. Es mag richtig sein, wenn er die Kapitulation von Vilagos den „erschütternd wahren Ausdruck der Situation" genannt hat, aber diese Situation hatte er durch seinen persönlichen Ehrgeiz und seine politische Kurzsichtigkeit in erster Reihe verschuldet und sie bei Vilagos selbst noch zuungunsten der Nation dadurch beträchtlich verschärft, dass er sich darauf kaprizierte, nur vor den Russen zu kapitulieren. Die von ihm gehegte und in seinem Heere genährte Illusion, dass der Zar sich bei Österreich für die ungarische Unabhängigkeit verwenden werde, war einfach kindisch, und wenn es seine eitle Laune befriedigen mochte, die verhassten Österreicher vor den Russen zu demütigen, so hat eine Reihe seiner tapfersten Waffengefährten dafür am Galgen büßen müssen.

Zunächst musste sich der österreichische Rachedurst gedulden. Wenn sich auch die kleineren ungarischen Truppenabteilungen, die es noch im Lande gab, nach der Kapitulation von Vilagos bald ergaben, so behauptete sich doch Klapka vorläufig in dem uneinnehmbaren Komorn. Er hielt die Fahne der ungarischen Revolution noch lange Wochen aufrecht unter tapferer Verteidigung und glücklichen Ausfällen; erst am 2. Oktober kapitulierte er, nachdem er seinen Mannschaften freien Abzug erstritten hatte.

Nun aber hielt nichts mehr die Hyäne Haynau zurück, sich auf ihre wehrlosen Opfer zu stürzen. Am 6. Oktober, dem Todestage Latours, sollte der ehemalige Ministerpräsident Batthyanyi, den nicht einmal im Sinne des mörderischen Kriegsrechts der Schein einer Schuld traf, am Galgen sterben; nur ein Selbstmordversuch, durch den er sich in der Nacht vor der Hinrichtung schwer verwundete, war die notgedrungene Ursache, dass er zu Pulver und Blei „begnadigt" wurde. An demselben Tage wurden in Arad dreizehn hohe Offiziere hingeschlachtet, neun am Galgen und vier durch die Kugeln des Standrechts; sie hatten sich in Vilagos mit Görgey ergeben, der allein von den gefangenen Häuptern der Revolution der Kugel und dem Strange entging. In ganz Ungarn regneten noch jahrelang harte Strafurteile und Güterkonfiskationen; auch seiner viehischen Lieblingsneigung, ehrbare Frauen peitschen zu lassen, frönte Haynau nunmehr in Ungarn wie ehedem in Italien; über 50.000 Landeskinder wurden in das österreichische Heer untergesteckt. In völliger Wehrlosigkeit wurde das schöne Land gründlicher als je von der Wiener Kamarilla bis auf die Knochen geplündert.

Mit dem Falle der ungarischen Revolution endete die europäische Revolution, die im Februar 1848 ihren Weltgang angetreten hatte. In anderthalb Jahren voll der gewaltigsten Ereignisse hatte sich eine Umwälzung vollzogen, die durch die brutalsten Mittel der Gewaltpolitik nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte. Ihre heilsamen Folgen haben sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt weitererstreckt und werden sich noch tief in das kommende Jahrhundert erstrecken. Ihre Kämpfer und ihre Opfer, die einst wie wilde Tiere um die bewohnte Erde gejagt wurden, leben heute in dankbarem Gedächtnis aller, die der modernen Gesittung vorankämpfen, während ihre Besieger und Verfolger an den Schandpfahl der Geschichte genagelt sind, von dem sie weder das Gebot der Könige noch das Gebet der Priester mehr befreien kann.

Indem aber das klassenbewusste Proletariat der Gegenwart der großen Revolutionsjahre 1848 und 1849 gedenkt, schöpft es gleichermaßen aus ihrem Gelingen wie aus ihrem Misslingen die trostreiche Zuversicht, dass es vorwärts geht – trotz alledem und alledem. So gewiss sich der historisch berechtigte Kern der bürgerlichen Revolution durchgesetzt hat und sich durchzusetzen fortfährt, so gewiss wird die proletarische Revolution mit unwiderstehlicher Gewalt vorwärtsschreiten. Aber sie ist frei und wird frei bleiben von den jähen Schicksalswechseln der bürgerlichen Revolution, deren letzter Grund darin lag, dass diese Revolution immer nur eine halbe Revolution sein konnte. In diesem ernsten und tiefen Sinne hat die Arbeiterklasse sich der revolutionären Zeit vor fünfzig Jahren erinnert.

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