Franz Mehring 19080214 Zur Geschichte der Dreiklassenwahl

Franz Mehring: Zur Geschichte der Dreiklassenwahl1

14. Februar 1908

[Die Neue Zeit, 26. Jg. 1907/08, Erster Band, S. 717-720. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 161-165]

Unter dem Titel „Die Geschichte des preußischen Wahlrechtes" hat H. v. Gerlach eine ziemlich umfangreiche Schrift (252 Seiten, im Buchverlag der Naumannschen „Hilfe") erscheinen lassen. Der Titel ist allzu anspruchsvoll; in Wirklichkeit enthält die Arbeit nur „amtliches" Material zur Geschichte der Dreiklassenwahl; als ehemals preußischer Regierungsassessor denkt H. v. Gerlach: Quod non est in actis, non est in mundo, was nicht in den Akten ist, das ist nicht in der Welt.

Seine Schrift ist etwa in der Weise abgefasst, wie ähnliche Materialiensammlungen des ehemals preußischen Regierungsassessors Eugen Richter abgefasst zu sein pflegten; sie enthält manches brauchbare und auch für uns verwertbare Material, bleibt aber durchaus an der Oberfläche der Dinge haften, wobei es dann auch nicht einmal in dieser Beschränkung ohne den einen oder den anderen Irrtum abgeht. So sagt H. v. Gerlach auf Seite 59 mit Recht, es fehle nie ein Puttkamer, wenn es sich um reaktionäre Ausschreitungen handle, aber wenn er den Demminer Landrat v. Puttkamer, der zur Zeit der neuen Ära allerlei reaktionäre Streiche verübte, und den späteren Minister v. Puttkamer sozialistengesetzlichen Andenkens für verschiedene Personen hält, so übersieht er, dass zwei solche Prachtexemplare reaktionärer Bosheit zu stellen selbst die Kraft der Familie Puttkamer übersteigt. Es war dieselbe Person.

Dieser Irrtum ist sehr nebensächlich, und wir führen ihn nur an, um zu zeigen, wie misslich es ist, sich bloß an „amtliche" Quellen zu halten. Ungleich verhängnisvoller tritt die von Gerlach gepriesene „Güte und Zuverlässigkeit" seines „Materials" in anderen Punkten hervor. So beginnt er seine Darstellung mit den Worten:

In revolutionären Zeiten arbeitet alles rasch, auch die Gesetzgebung. Am 18. März 1848 war das alte absolutistische Preußen zusammengebrochen, und schon am 2. April legte das Ministerium dem zweiten Vereinigten Landtag den Entwurf eines fast rein demokratischen Wahlgesetzes vor. Auch die aristokratische Ständeversammlung unterlag so sehr dem Drucke der öffentlichen Meinung, dass ihr ganz wenige Tage genügten, um die Grundlage ihrer eigenen Existenz abzuschwören und das neue System auf das Fundament der Volkswahl zu stellen."

Der Druck der öffentlichen Meinung" – in der Tat! Trotz des 18. März und dank dem Verrate, den die Bourgeoisie schon am Morgen nach dem 18. März an dem Proletariat verübte, das den Sieg auf den Barrikaden erfochten hatte, dachte die Regierung durchaus noch nicht an die Verleihung des allgemeinen Wahlrechts. Erst als am 22. März eine große Deputation aus Schlesien den König mit dem Abfall dieser Provinz bedrohte, falls er nicht das allgemeine Wahlrecht gewähre, beeilte sich der treffliche Monarch, durch eine schleunigst in einem Extrablatt verbreitete Kabinettsorder ein „volkstümliches, auf Urwahlen gebildetes alle Interessen des Volkes umfassendes Wahlgesetz" zu verheißen. Darauf kam an den Vereinigten Landtag ein Entwurf, der das allgemeine, gleiche, geheime, wenn auch indirekte Wahlrecht enthielt.

Auf Seite 2 erzählt uns nun Herr v. Gerlach, an diesem „fast rein demokratischen Wahlgesetz" habe der Vereinigte Landtag doch noch „zwei Verbesserungen" angebracht. Er habe das Wahlrecht nicht an einen einjährigen, wie die Regierung wollte, sondern an einen halbjährigen Wohnsitz geknüpft, und er habe den Vorschlag der Regierung gestrichen, wonach das Wahlrecht allen denen vorenthalten bleiben sollte, die „ohne eigenen Hausstand in einem dienenden Verhältnis Lohn oder Kost bezögen". Diese Bestimmungen richteten sich nicht nur gegen die Dienstboten, wie H. v. Gerlach annimmt, sondern auch gegen einen großen Teil des damaligen Proletariats. In einer mächtigen Volksversammlung, die am 2. April unter den Zelten tagte, protestierte der Schlosser Krause „im Namen der gesamten Fabrikarbeiter" dagegen; „sehen Sie sich die Totenlisten an; die Arbeiter haben am 18. März den Sieg davongetragen". In ähnlicher Weise sagte eine von dieser Versammlung beschlossene Adresse an den König: „Majestät! Wir haben uns als Männer gezeigt, wir haben im Kampfe für die Freiheit die Waffen zu führen gewusst." Diese Adresse überbrachte der Schlosser Krause an der Spitze einer Arbeiterdeputation dem damaligen Ministerpräsidenten Camphausen, der ihr die „weitestgehende Berücksichtigung" ihrer Forderungen versprach. So sind jene „Verbesserungen" in das Wahlgesetz vom 8. April 1848 gekommen, nicht aber durch die Einsicht des Vereinigten Landtags, der in seiner vollkommenen Kopflosigkeit nur tat, was die Regierung von ihm verlangte.

Mit der allgemeinen Redensart, dass in „revolutionären Zeiten" alles „rasch" arbeite, ist nichts gesagt; es kommt darauf an, wie in „revolutionären Zeiten" gearbeitet wird, und die eben angeführten Einzelheiten haben heute ungleich größeres Interesse als alles „amtliche" Material, das H. v. Gerlach auf vielen Seiten zusammenträgt.

Hören wir ihn jedoch noch eine Strecke weiter! Er sagt, die Herrlichkeit des ersten frei gewählten preußischen Parlaments habe nur einige Monate gedauert. Schon im Herbst sei die Berliner Versammlung von Militär auseinandergetrieben, am 5. Dezember sei dann eine Verfassung und am 6. Dezember ein neues Wahlgesetz oktroyiert worden, das sich jedoch nur durch eine „völlig harmlose" Verschlechterung von dem Wahlgesetz des April unterschieden habe. Es heißt dann wörtlich, mit Auslassung der „amtlichen" Salbadereien, bei H. v. Gerlach:

Also selbst nach der völligen Niederringung der Revolution im Zeichen der Militärdiktatur wagte man in Preußen von 1848 weder am gleichen noch am geheimen Wahlrecht zu rütteln!… Niemand wurde das Wahlrecht genommen, der es am 8. April besessen hatte.

Das radikale Wahlgesetz vom 6. Dezember 1848 hatte eine recht zahme Kammer ergeben. Trotzdem wurde sie nach wenigen Monaten auseinandergejagt. Die Reaktion fühlte sich eben so stark, dass sie überhaupt durch keine wirkliche Volksvertretung mehr beengt sein wollte. Nur noch ein Scheinparlament sollte bestehen bleiben. Um dies zu schaffen, veranlasste die Reaktion den ganz in ihrer Hand befindlichen König Friedrich Wilhelm IV., die Verordnung vom 30. Mai 1849 zu oktroyieren. Das öffentliche Dreiklassenwahlrecht, das noch heute gilt, war damit Gesetz für Preußen geworden …

An der Wiege des Dreiklassenwahlrechts stand der Verfassungsbruch. Das materielle Unrecht, das es all die Jahrzehnte hindurch dem preußischen Volke zugefügt hat, hat zur Grundlage eine formelle Rechtswidrigkeit gröblichster Art. Das Dreiklassenwahlrecht ist nicht nur widersinnig, wie es Bismarck genannt hat, sondern auch widerrechtlich … Niemand weiß zu sagen, woher das Dreiklassenwahlrecht eigentlich gekommen ist. Mit einem Male war es da."

Die „Güte und Zuverlässigkeit" dieses „amtlichen" Materials ist wirklich staunenswert. Die siegreiche Gegenrevolution wagt das allgemeine Wahlrecht nicht anzutasten; sie oktroyiert sogar im Dezember 1848 ein „radikales Wahlgesetz", aber ein halbes Jahr später beschließt die Reaktion, auf jede wirkliche Volksvertretung zu verzichten, und mit einem Male ist die Dreiklassenwahl da, niemand weiß woher.

Tatsächlich eskamotierte bereits das „radikale Wahlgesetz" vom 6. Dezember das allgemeine Stimmrecht, indem es eine nach starkem Zensus wählbare Erste Kammer einrichtete mit dem Rechte, die Beschlüsse der Zweiten Kammer, die nach dem allgemeinen Stimmrecht gewählt werden sollte, einfach lahmzulegen. Das steht sogar in den Akten, es steht in dem „radikalen Wahlgesetz" selbst, ohne dass H. v. Gerlach eine Silbe davon erwähnt. Die neugewählte Zweite Kammer mochte nun „recht zahm" sein, war aber radikal genug, die Annahme der deutschen Reichsverfassung von der Regierung zu verlangen. Um die Durchführung dieser Reichsverfassung brachen im Frühjahr 1849 bekanntlich die letzten bewaffneten Erhebungen des Volkes aus. Die preußische Regierung versuchte nun ihren berüchtigten Leichenraub an der Revolution, indem sie den Regierungen der Mittel- und Kleinstaaten Waffenhilfe gegen revolutionäre Aufstände versprach, wenn sie dafür die preußische Vorherrschaft in Deutschland anerkennen würden. So kam am 26. Mai 1849 zunächst zwischen Preußen, Hannover und Sachsen die sogenannte Unionsakte2 zusammen, ein noch gräulich verschlechterter Abklatsch der deutschen Reichsverfassung, die von der Frankfurter Nationalversammlung beschlossen worden war, und dieser „Unionsakte" war das Dreiklassenwahlrecht angehängt als Ersatz für das allgemeine Stimmrecht der Reichsverfassung. Einen Tag nach der Veröffentlichung der „Unionsakte" und ihres Wahlgesetzes wurde dann dies Wahlgesetz, eben die Dreiklassenwahl, für den preußischen Staat oktroyiert unter der höhnischen Begründung, die preußische Regierung wolle damit einen Beweis ihrer Bundestreue geben und auch in diesem Punkte dem Volke die Öffentlichkeit nicht vorenthalten.

So geheimnisvoll, wie H. v. Gerlach meint, ist der Ursprung der Dreiklassenwahl also nicht. Im Dezember 1848 stand die Sache für die Gegenrevolution noch sehr brenzlig; sie eskamotierte das allgemeine Wahlrecht, aber in einer Form, die es scheinbar fortbestehen ließ, und es wird den seligen Manteuffel im Grabe freuen, dass er heute noch einen so prominenten Führer des Liberalismus wie H. v. Gerlach dadurch täuscht. Ein halbes Jahr darauf war die Gegenrevolution erstarkt genug, um auch auf den guten Schein zu verzichten, zumal im Schatten der „Unionsakte", die den materiellen Bourgeoisinteressen eine gewisse Befriedigung versprach. Die eigentliche Bourgeoisie erklärte sich auf der Gothaer Versammlung3 auch sofort für einverstanden, während das demokratische Kleinbürgertum zunächst einen schwachen Protest erließ, der nach zehn Jahren schon so verhallt war, dass Herr v. Unruh, der letzte Präsident der Berliner Versammlung, die im November 1848 mit Waffengewalt gesprengt worden war, feierlich erklären konnte, die Dreiklassenwahl sei gesetzliches Landesrecht, jeder Versuch aber, das Wahlgesetz vom 8. April 1848 wiederherzustellen, würde ein infamer Staatsstreich sein.

Auch davon ist bei H. v. Gerlach nichts zu lesen. Doch würde es uns viel zu weit führen, alle Lücken seiner Schrift auszufüllen oder alle ihre Schiefheiten einzurenken. Sie ist eine echt freisinnige Leistung, voll hoher sittlicher Entrüstung über eine „Reaktion", die wie Hegels absolute Idee irgendwo im Weltall ihr unheimliches Dasein fristet und voll mancherlei Zitate und Zitätchen, die mit anmutigem Witze den Fürsten Bülow und ähnliche Junker abzutrumpfen gestatten. Das mag schon etwas sein, aber viel ist es nicht, und wenn der Dreiklassenwahl nicht anders aufgespielt wird, so mag sie sich wohl noch eines allzu langen Daseins erfreuen.

1 Das reaktionäre Dreiklassenwahlrecht, zum Beispiel in Preußen für die Landtagswahlen bis 1918 gültig, war ein indirektes System: Die Urwähler jedes Wahlbezirkes wurden nach der Höhe der von ihnen entrichteten Steuern in drei Klassen eingeteilt, deren jede die gleiche Anzahl von Wahlmännern wählte; diese wählten die Abgeordneten.

2 Gemeint ist der Bündnisvertrag zwischen Preußen, Sachsen und Hannover über die Errichtung einer Union (auch Dreikönigsbündnis genannt). Mit dieser Union bezweckte die preußische Reaktion ein föderatives Kleindeutschland unter preußischer Oberherrschaft, wobei durch militärisches Vorgehen den Demokraten ihr Einfluss auf die unitarischen Bestrebungen in Deutschland genommen werden sollte (Denkschrift der preußischen Regierung vom 9. Mai über die Unionspläne). Am 28. Mai legte die preußische Regierung der Unionsakte die Entwürfe einer reaktionären Verfassung und des Dreiklassenwahlrechtes bei, das am 30. Mai in Preußen als „gutes Beispiel" eingeführt wurde. Die Union löste sich ein halbes Jahr später wieder auf, da die süddeutschen Kleinstaaten den Beitritt verweigerten.

3 Vertreter der liberalen Gruppierungen der Frankfurter Nationalversammlung kamen vom 26. bis 28. Juni 1849 in Gotha zu Beratungen zusammen. Sie stimmten den preußischen Verfassungs- und Wahlgesetzentwürfen zu und beschlossen, Wahlen zum Reichstag zu befürworten.

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