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N. K. Krupskaja 19111200 Zwei Typen der Organisierung des Schulwesens

N. K. Krupskaja: Zwei Typen der Organisierung des Schulwesens

[Erschienen in Swobodnoje Wospitanie 1911/12 Nr. 3, Nachdruck in N. K. Krupskaja Pedagogitscheskie Sotschinenija, Tom 1, Moskwa 1957, S. 161-166, deutsch in Sozialistische Pädagogik, Band 1, Berlin 1967, S. 214-220]

Die französische pädagogische Zeitschrift „Revue pédagogique“ brachte im September 1910 einen Artikel von Roger über „Die Elementarschulbildung auf der Brüsseler Ausstellung“.1 Mit Bezug auf die belgische Abteilung berichtete Roger, dass nach Auffassung des Ministers, der die Volksbildung in Belgien leitet, die Ausstellung von 1910 illustrieren sollte, wie man unter Einhaltung des eingeführten allgemeinen Lehrplans gleichzeitig diese oder jene Idee durchsetzen könne, die aus den verschiedenen Erwägungen den Schülern nahegebracht werden müsse. Diese Idee müsse den gesamten Unterricht durchdringen und in allen Klassen, vom Kindergarten bis zu den Klassen für Erwachsene, im Unterricht entwickelt werden.

Auf der Brüsseler Ausstellung wurde demonstriert, wie dieser Gedanke des belgischen Ministers in der Praxis verwirklicht wird. Im Interesse einer Entwicklung des Lebens in den Kolonien gab das Ministerium für die Lehrer die Losung aus, Liebe zu Reisen und Abenteuern bei den Kindern zu wecken sowie ihre Unternehmungslust und ihre Initiative zu entwickeln. Die Lehrer gingen sofort an die Arbeit und änderten ihre Unterrichtskonspekte. In jedes Gespräch flochten sie eine Erzählung, ein Beispiel oder eine Belehrung ein, die zum Ziel hatten, die Losung des Ministers in die Köpfe der Schüler einzuschmuggeln. Auch der Inhalt der Diktate wurde in entsprechender Weise modifiziert. Auf der Brüsseler Ausstellung waren eine Menge Lehrerkonspekte zu sehen, die die große Verlässlichkeit und Diszipliniertheit der belgischen Lehrerschaft unter Beweis stellten.

Die Ergebnisse eines derartigen Unterrichts waren allerdings auf der Ausstellung nicht zu sehen und konnten es auch nicht sein. Der Grad der Unternehmungslust und Initiative, der sich dank dieser Modifizierung der Konspekte bei den Schülern entwickelt hatte, konnte ja nicht festgestellt werden. Aber nur diese Ergebnisse hätten die Zweckmäßigkeit der Idee des belgischen Ministers beweisen können.

Als echter Franzose, und an den Bürokratismus und die Zentralisation des französischen Schulwesens gewöhnt, ist Roger von der Schnelligkeit und Präzision, womit der Schulmechanismus in Belgien arbeitet, und von der großartigen Dressur der belgischen Lehrer begeistert.

Einen unbefangenen Menschen graut es geradezu vor dieser mechanischen Massenbearbeitung der kindlichen Seelen und Hirne nach irgendeiner Schablone. Die Aufgabe heißt: in der und der Frist sind soundso viel Stück einer für einen bestimmten Bedarf (in diesem Falle für das Kolonialleben) geeigneten Ware herzustellen. Und sofort macht sich ein Heer geschulter Mitarbeiter an die Arbeit…

Was aber ist mit den Lehrern selbst, ihren Ansichten, ihren pädagogischen Erfahrungen und Überzeugungen? Wo ist das Lehrerkollegium? Wo die Bevölkerung? Wo ihre Teilnahme am Schulwesen, ihre Unterstützung der Schule? Wo ist die Stimme der Väter und Mütter? Über das alles ist kein Wort gesagt.

Nach Rogers Artikel zu urteilen, ist die Organisation des Volksbildungswesens in Belgien äußerst trostlos.

Unwillkürlich drängt sich ein Vergleich mit der Organisation des Volksbildungswesens in Amerika auf, einem Land, dessen Bevölkerung der Geist jenes europäischen Bürokratismus, der jede lebendige Tat unmöglich macht, jede persönliche Initiative erstickt, völlig fremd ist.

Am meisten überrascht den Europäer, dass es in Amerika kein Ministerium für Volksbildung gibt. Es besitzt nur ein Bureau of Education, das aber keine Verwaltungsrechte ausübt, weder leitet noch anordnet, sondern sich nur mit der Sammlung und Veröffentlichung statistischen Materials über das Schulwesen beschäftigt. Dieses Material wird in jährlichen Berichten wie in periodischen Veröffentlichungen bekanntgegeben und in Auszügen von der Tagespresse besprochen. Es enthält Mitteilungen über die Organisation des Erziehungswesens sowohl in den einzelnen Bundesstaaten als auch in anderen Ländern. An den Bericht schließen sich gewöhnlich erläuternde Hinweise des Erziehungskommissars an, der sich mit diesem oder jenem Aufruf an die Bevölkerung wendet und den Bürgern der amerikanischen Staaten Ratschläge erteilt, wie sie die Einführung und Erhaltung eines wirksamen Volksbildungssystems unterstützen und das Erziehungswesen im ganzen Lande fördern sollen.

Zwar steht an der Spitze jedes Staates ein besonderer Erziehungskommissar. In den meisten Fällen aber beschränkt sich seine Rolle darauf, als Vertreter des jeweiligen Staates in den Prüfungskommissionen vertreten u sein sowie die Schulstatistik zu bearbeiten. Doch auch da, wo er in der Rolle eines Leiters auftritt, tut er es eher als Experte denn als Verwaltungsmann.

Jeder Staat ist in Distrikte eingeteilt. Jeder Distrikt hat einen eigenen Regierungsinspektor, dessen Hauptfunktion es ist, die Lehramtskandidaten zu prüfen. Er hat auch die allgemeine Aufsicht über die Schulen des Distrikts. Nach allgemeiner Ansicht ist diese Beaufsichtigung ungenügend.

In Amerika gibt es also keine zentralisierte Leitung des Schulwesens von Seiten der Regierung.

Wer aber ist für die Ausarbeitung des Lehrplans und die Festlegung der Schulordnung in den amerikanischen Schulen verantwortlich? Das alles ist Aufgabe des von der Schulbehörde gewählten Schulinspektors. Die Schulbehörde ist eine gewählte Einrichtung. Früher wurde sie (durch allgemeine und gleiche Abstimmung) nur vom männlichen Teil der Bewohner eines Ortes gewählt; jetzt beteiligen sich auch Frauen und Mädchen, die ein gewisses Alter erreicht haben, an der Wahl. Der Schulbehörde obliegt die Einrichtung, Ausstattung und Erhaltung der Schulgebäude und die Beschaffung der Unterrichtsmittel; die Schulbehörde wählt auch den Schulinspektor und bestätigt die vom Inspektor empfohlenen Lehrkräfte oder ernennt sie selbst.

Alle Sitzungen der Schulbehörde sowie ihre Maßregeln sind öffentlich. Die Tätigkeit der Inspektoren und der Lehrer ist Gegenstand lebhafter Erörterungen sowohl Seitens der Presse als auch der Eltern. Von Zeit zu Zeit besuchen die Eltern die Unterrichtsstunden, wohnen Prüfungen* und Festen aller Art bei und haben Zusammenkünfte mit Lehrern und Schulleitern.

Im Allgemeinen erweist sich dieses Zusammenwirken von Lehrern und Eltern als ersprießlich. Das Interesse wendet sich auch nicht nur den Leistungen der eigenen Kinder zu, sondern erweitert sich häufig zu einem Bemühen, alle Erziehungsprobleme verstehen zu lernen und an ihrer Lösung mitzuarbeiten. So gewinnt die amerikanische Gemeindeschule eine weil über die Wirkenssphäre der deutschen Volksschule hinausgehende Bedeutung. Sie zieht alle Kreise der Bevölkerung in den Bereich ihrer Beeinflussung, macht Erwachsene zu Lernenden und wird hierdurch eine Bildungsanstalt auf breitester nationaler Grundlage.“ Das sagt ein deutscher Pädagoge, der die amerikanischen Schulen untersucht hat (Wilhelm Müller, „Amerikanisches Volksbildungswesen“, S. 12/13).2

In letzter Zeit nehmen die Elternvereinigungen in Amerika immer größeres Ausmaß an. Im Jahre 1904 entstanden in Boston erstmalig derartige Vereinigungen. 1907 bestanden schon in einem Fünftel aller Schuldistrikte Elternvereinigungen mit einer durchschnittlichen Mitgliederzahl von 300 bis 400. Bei Vorträgen über pädagogische Themen mit anschließenden Aussprachen waren oft 800 bis 900 Väter und Mütter anwesend. In Los Angeles, Kalifornien, gab es im gleichen Jahr schon 60 Elternvereinigungen, deren Vertreter bei den Sitzungen der pädagogischen Räte zugegen waren und an erzieherischen Bestrebungen jeder Art regen Anteil nahmen.

Besonders gute Ergebnisse wurden dort erzielt, wo es keine fremde Einmischung gab, wie zum Beispiel in Rochester; dort war die ganze Organisation den Bürgern selbst überlassen. In Rochester beteiligen sich die breitesten Bevölkerungskreise an den Elternorganisationen, und ihre Bemühungen führen zu glänzenden Ergebnissen.

In Amerika „kommt der Anstoß zu neuen Bewegungen häufig vom Volke, und Vereine ebnen denselben die Bahn … Vor allem sind in der neueren Zeit zwei Vereinigungen in den Vordergrund getreten, die National Educational Association und die Public Educational Education“3.

Wie bereits festgestellt wurde, obliegt die Organisation des Schulwesens nicht der Regierung, sondern der Bevölkerung selbst. Die Regierung überlässt diese Organisation dem Ermessen der Bevölkerung. Andererseits sind die Schulbehörden der einzelnen Staaten und Städte vollständig unabhängig voneinander. Infolge dieser Verhältnisse sowie der verschiedenartigen Bedingungen der einzelnen Staaten, ja der Städte und Dörfer, ging die Entwicklung des Schulwesens in Amerika sehr unterschiedlich vor sich. Die National Educational Association bringt eine geistige Einheit in die Arbeit der einzelnen Schulbehörden. Ihre Mitglieder kommen aus den verschiedensten Landesteilen. Selbstverständlich gibt es in Amerika Verbände, die die Berufsinteressen der Lehrer vertreten. Die National Educational Association verfolgt keine solchen Ziele. In ihren Reihen arbeiten Pädagogen aller Rangstufen, der gelehrte Universitätsprofessor neben der einfachen Dorfschullehrerin, kameradschaftlich zusammen. Das Wort hervorragender Pädagogen entzündet den Funken der Begeisterung in den Herzen der Hörer und festigt ihren Glauben, dass die Erziehung eine heilige Sache sei, für die ein jeder arbeiten muss, wie schwach seine Kräfte auch sein mögen.

Das Zusammenwirken der Lehrer bringt trotz der Mannigfaltigkeit der Bildungsanstalten der Neuen Welt und ihrer Ziele einen einheitlichen Zug, in den Unterricht. Auf den jährlichen Versammlungen der National Educational Association werden Erziehungsprobleme aller Art erörtert und da, wo es notwendig ist, Beschlüsse gefasst. Alle großen Zeitungen berichten ausführlich über diese Zusammenkünfte und nehmen Stellung zu den dort besprochenen Fragen. Auf diese Weise und auch durch die örtlichen Ausschüsse der Association gelangen die Ergebnisse dieser Beratungen vor die Schulbehörden, die die Weisungen der Zusammenkünfte häufig zur Richtschnur ihrer Arbeit machen.

Während der National Educational Association ausschließlich Lehrer und Lehrerinnen aller Rangstufen angehören, so besteht die Public Educational Association aus Personen, die zwar nicht selbst unterrichten, der Volksbildung aber große Bedeutung beimessen. Und wem könnte das Wohl und Wehe der heranwachsenden Generation wohl mehr am Herzen liegen als den Eltern und besonders den Müttern! Deshalb waren es zunächst vorwiegend Frauen, die Versammlungen veranstalteten, um die Beziehungen zwischen Schule und Elternhaus enger zu knüpfen.

Die Mitglieder der Public Educational Association befassen sich mit dem Studium der Kindesnatur und der Schulgesetzgebung, sie beraten über Ziele und Methoden der Erziehung. Sie wurden zu aktiven Mitarbeitern der Lehrer.

Gleichzeitig verfolgen sie aufmerksam die Tätigkeit dieser Lehrer und scheuen sich nicht, wenn es ihnen zweckmäßig erscheint, an deren Tätigkeit strenge Kritik zu üben.

Ziehen wir das Fazit aus dem, was über die Organisation des Schulwesens in Amerika gesagt wurde. Die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika legte die gesamte Organisation des Schulwesens in die Hände der Bevölkerung selbst. Mit Hilfe gewählter Schulbehörden organisiert die Bevölkerung die wirtschaftliche und unterrichtliche Seite. In den weitverbreiteten Veröffentlichungen des Bureau of Education, in der Tagespresse und in den Berichten der Lehrertagungen können die Mitglieder der Schulbehörde alle erforderlichen Hinweise für ihre Arbeit finden. Alle diese Informationen sind auch breiten Schichten der Bevölkerung zugänglich und ermöglichen es ihnen, eine bewusste Einstellung zur Tätigkeit der Schulbehörden einzunehmen. Die völlige Öffentlichkeit, in der sich die Tätigkeit der Schulbehörden vollzieht, ermöglicht eine Kontrolle dieser Tätigkeit; die Vereinigungen der Eltern und der am Erziehungswesen interessierten Personen aber ermöglichen die Durchführung dieser Kontrolle.

Wir brauchen nicht von den glänzenden Ergebnissen zu sprechen, die ein derartiges System mit sich bringt. Amerika ist berühmt durch seine Schulen, Unterrichtsmethoden, Bibliotheken usw. Wir stellen nur fest, dass eine freie Schule bei dem belgischen Organisationstyp des Schulwesens undenkbar ist und dass sie sich nur bei dem amerikanischen System, dem jede kleinliche Reglementierung fremd ist, breit entfalten kann.

Zum Schluss noch eine Bemerkung. Zur Zeit wird in Deutschland von besonders fortgeschrittenen Kreisen der Lehrerschaft (siehe die kürzlich erschienene Schrift von Heinrich Schulz4) die Frage aufgeworfen, es sei notwendig, ein Reichsschulgesetz zu erlassen, auf Grund dessen in ganz Deutschland nach ein und demselben Lehrplan usw. unterrichtet werde. Dieser Wunsch, alle Schulen über einen Kamm zu scheren, wird damit begründet, dass die Arbeiterkinder oft die Schule wechseln müssten, weil ihre Väter auf der Suche nach Arbeit gezwungen seien, ständig von einem Ort zum andern zu ziehen. Das Argument scheint beweiskräftig zu sein, doch nur auf den ersten Blick. Die Verfechter der Idee eines Reichsschulgesetzes begehen hier einen großen Fehler, indem sie die heutige nichtreformierte Schule, in der Lehrplan und Lehrer alles, die Individualität des Schülers aber nichts ist, als Normalschule betrachten. Natürlich wirkt es sich auf ein Kind sehr nachteilig aus, wenn jetzt in einer Schule in einer bestimmten Abteilung nur Arithmetik, in einer anderen Schule in der entsprechenden Abteilung aber außerdem noch Geometrie durchgenommen wird und wenn das Kind, da es einige geometrische Begriffe und Lehrsätze nicht kennt, ständig Vorwürfe zu hören bekommt und ihm die Mitarbeit in der Klasse unmöglich gemacht wird. In einer reformierten Schule aber, in der der Schüler und seine Entwicklung im Vordergrund stehen, werden der Lehrer und die Schulkameraden dem Neuling helfen, sich schnell zu orientieren und die anderen einzuholen. Es handelt sich immerhin um die Elementarschule, in der nur elementare und keine speziellen Kenntnisse erworben werden und in der es für den Schüler am wichtigsten ist, sich die Methoden zur Wissenserwerbung und die Fertigkeit zur Arbeit anzueignen. Damit also ein Arbeiterkind durch den Übergang von einer Schule in eine andere im Lernen nicht behindert wird, muss man keine Nivellierung aller Schulen anstreben, sondern eine Reform der Organisation des Schulwesens, indem man diese Organisation dem amerikanischen Typ angleicht, der den Aufbau und die Entwicklung der freien Schule ermöglicht.

1 Roger, Maurice, Die Elementarschulbildung auf der Brüsseler Ausstellung. In „Revue pédagogique, Paris 1910, S. 210/243 und Seite 333/362 (frz.).

* In Amerika muss jeder Lehrer, der sich um eine Anstellung an einem anderen Ort bewirbt, vor der örtlichen Prüfungskommission ein neues Examen ablegen, selbst wenn er auf eine langjährige Lehrtätigkeit zurückblicken kann. Weder Attestate noch Zeugnisse können den Bewerber vor diesem Examen befreien. Derartige Examen sind für die Lehrer vielleicht eine Belastung, doch sie zwingen sie, sich ständig um die Auffrischung ihres geistigen Rüstzeugs zu bemühen. (Fußnote N. K. Krupskajas.)

2 Wilhelm Müller, „Amerikanisches Volksbildungswesen. Verlegt bei Eugen Diederichs in Jena 1910.

3 Ebenda, Seite 101.

4 Gemeint ist offensichtlich die Schrift von Heinrich Schulz „Die Schulreform der Sozialdemokratie“, deren erste Auflage 1911 erschien.

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