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N. K. Krupskaja 19130400 Familie und Schule

N. K. Krupskaja: Familie und Schule

[Erschienen in Swobodnoje Wospitanie 1913/14 Nr. 7, Nachdruck in N. K. Krupskaja Pedagogitscheskie Sotschinenija, Tom 1, Moskwa 1957, S. 209-218, deutsch in Sozialistische Pädagogik, Band 4, Berlin 1967, S. 27-36]

Mein erster Traum ist“, sagte Ellen Key in ihrem berühmten Buch „Das Jahrhundert des Kindes“, „dass der Kindergarten und die Kleinkinderschule überall durch den häuslichen Unterricht ersetzt wird.“A „Aber als ein großes Unglück betrachte ich die zunehmende Neigung, die Krippe, den Kindergarten und die Schule als den idealen Erziehungsplan anzusehen. In jeder Diskussion über die Arbeitsmöglichkeiten der Frau im öffentlichen Leben wird nun hervorgehoben, dass dieser Plan die Mütter von der Pflege der Kinder – und die Kinder von der schlechten Pflege der Mütter!! – befreien und den Frauen Arbeitsmöglichkeiten außerhalb des Hauses geben wird.“B

Es ist vollkommen wahr, dass unter den jetzigen Verhältnissen, mit unzähligen außer Hause arbeitenden, für ihre Pflichten schlecht vorbereiteten Müttern, die Krippe und der Kindergarten für viele Kinder ein Segen war und es immer noch ist. Und irgendein Typus des Kindergartens wird vielleicht immer als Notbehelf für besondere Verhältnisse nötig sein, z. B. bei dem Mangel an Spielkameraden für ein Kind, bei der Unlust oder der Unfähigkeit einer Mutter, selbst zu erziehen, einer Unfähigkeit, die gewöhnlich die Folge einer allzu beweglichen, allzu willensschwachen oder allzu schwermütigen Veranlagung ist.“C

In vielen Fällen kann man noch Mary Wollstonecrafts vor hundert Jahren getanem Ausspruch beipflichten: ,dass, wenn die Kinder nicht schon physisch von ihren unwissenden Müttern gemordet worden sind, sie psychisch durch die Unfähigkeit der Mütter, zu erziehen, zugrunde gerichtet werden; dass, nachdem die Mütter in den sechs ersten Jahren, in denen die ganze Charakterentwicklung der Kinder bestimmt wird, dieselben den Händen der Dienstboten überlassen haben …, … man die Kinder der Schule übergibt, die die Unarten zähmen soll, die die Wachsamkeit der Mutter hätte verhüten können, und die sie mit Mitteln zähmt, die ihrerseits den Grund zu aller Art von Lastern legen!' Aber zu glauben, weil solche Fälle noch häufig sind, weil es immer Mütter ohne erzieherische Fähigkeiten geben wird, dass die Mehrzahl der Frauen zu Erzieherinnen nicht herangebildet werden könnte, wenn der Entwicklung der Frau einmal dieses Ziel gesetzt würde, das wäre doch eine übereilte Annahme! Eine neue Generation erzogener Mütter zu bilden, die unter anderem die Kinder vom Kindergartensystem befreien sollen, das ist eine der Aufgaben der Zukunft.“D

Dadurch, dass man die Kinder schon im Alter von zwei und drei Jahren in Herden behandelt, sie in Herden auftreten, nach einem Plan arbeiten, dieselben kleinen, dummen und unnützen Arbeiten machen lässt; – dadurch glaubt man jetzt Menschen zu bilden, während man tatsächlich Nummern exerziert! Hat man selbst als Kind am Strande oder im Walde gespielt, in einem geräumigen Kinderzimmer oder in einer Bodenrumpelkammer, und andere Kinder so spielen gesehen, dann weiß man, welchen hundertfachen Wert ein solches freies Spiel für die Vertiefung der Seele, für die Unternehmungslust und die Fantasie hat, im Vergleiche mit den von Erwachsenen angeordneten und unterbrochenen Spielen und Beschäftigungen. Diese gewöhnen die Kinder, sich in Herden zu unterhalten – eine Gewohnheit, die zu den geistigen Pöbelzeichen gehört –, anstatt sich allein in der Einsamkeit zu vergnügen; und sie eifert sie an, Überflüssigkeiten hervorzubringen und sich noch dazu einzubilden, dass das ,Arbeiten' sind! Die Kinder zu lehren, all die unzähligen Unnötigkeiten zu verabscheuen, die jetzt das Leben entstellen und verkünsteln, sie zu lehren, dasselbe zu vereinfachen und seine großen Werte zu suchen – das soll die Aufgabe der Erziehung sein. Das Kindergartensystem ist jedoch im Gegenteil eines der geeignetsten Mittel, um schwache Dilettanten und zähe ,Herdenmenschen' heranzubilden!“E

Ist bis auf weiteres oder auch in Zukunft ein Kindergarten nötig, so lasse man ihn ein Platz für die Kinder sein, wo diese dieselbe Freiheit wie Kätzchen oder Hündchen haben, für sich selbst zu spielen, sich selbst etwas auszudenken, und wo sie nur mit Mitteln versehen werden, etwas auszuführen, und mit Kameraden, um mit ihnen zu spielen. Man lasse eine kluge Frau daneben sitzen und zusehen und nur dann eingreifen, wenn die Kinder im Begriffe sind, sich selbst oder einander Schaden zuzufügen; sie gebe ihnen hier und da eine Handreichung, erzähle ihnen ein Märchen oder lehre sie ein lustiges Spiel, aber sei im übrigen anscheinend ganz passiv, jedoch unermüdlich aktiv in der Beobachtung der Charakterzüge und der Anlagen, die das Spiel nur in dieser freien Form offenbart. In gleicher Weise sollte die Mutter die Spiele der Kinder beobachten, ihre Behandlung der Spielkameraden, ihre Neigungen und soviel Material als möglich sammeln, während sie sich so wenig als möglich einmischt. Diese andauernde, allseitige, anstrengende, passive Beobachtung verschafft schließlich der Mutter eine halbwegs genaue Kenntnis des Kindes; ganz lernt ein Wesen niemals das andere kennen, nicht einmal, wenn es ihm das Leben gegeben hat, nicht einmal, wenn es ihm täglich aufs Neue das Leben schenkt, um das volle Glück der geistigen Mutterschaft zu erreichen! Es ist eine treffende Äußerung, dass, sowie man das Gebären eines Kindes als das Zeichen der physischen Reife ansieht, das Erziehen eines Kindes das der psychischen Reife ist. Aber durch den Mangel an psychologischer Einsicht verbleiben die meisten Eltern ihr ganzes Leben lang unreif. Sie können die besten Grundsätze, die eifrigste Pflichttreue gepaart mit einer Starblindheit gegen die Natur der Kinder haben, gegen die wirklichen Ursachen ihrer Handlungen und gegen die verschiedenen Verbindungen, die gewisse Eigenschaften miteinander eingehen.“F

Um nur ein paar der gröbsten Irrtümer zu erwähnen, so wird oft das kleine Kind, das voll Interesse seine eigene Identität im Spiegel studiert, gefallsüchtig genannt; das Kind, das – aus Furcht oder Verwirrung bei einer harten oder unverstandenen Anrede – nicht antwortet oder gehorcht, trotzig. Das Kind, das seine Handlungen in jenen kleinen Dingen, in denen das Gedächtnis täglich die Erwachsenen im Stich lässt, nicht erklären kann, wird als lügnerisch angesehen, und wenn es, bevor es einen Begriff des Eigentumsrechtes hat, maust, erklärt man es für diebisch. Das Kind, das sagt, es wisse, dass es schlimm sei und wolle es sein, wird als frech und verhärtet betrachtet – während dies gerade eine Selbsterkenntnis und einen Charakter zeigt, an die man mit bestem Resultat appellieren könnte. Das Kind, das, in Gedanken versunken, die kleinen Dinge des Alltagslebens vergisst, nennt man gedankenlos. Und selbst wenn das Kind wirklichen Eigensinn oder Lügenhaftigkeit oder Trägheit zeigt, werden diese Fehler als etwas Losgelöstes behandelt, während sie doch oft nur von einem anderen, tiefer liegenden Fehler verursacht sind, gegen den man sich zu richten hätte, oder von einer guten Eigenschaft, die man zerstören kann, wenn man den Fehler mit ungeeigneten Mitteln bekämpft.“G

Aber auch jene Eltern, die mit mehr psychologischer Einsicht als die früherer Zeiten die Kinder jetzt beobachten, sind außerstande, sie zu studieren, wenn diese vom zartesten Alter an dem Kindergarten und der Schule angehören. Aus dem Mangel an Einsicht leiten sich dann die Irrtümer her, die ihrerseits den oft tiefen Antagonismus zwischen Kindern und Eltern veranlassen, der jetzt so viele Häuslichkeiten verbittert. Nur die Mutter und der Vater, die mit Ehrfurcht vor der Individualität ihrer Kinder eine das ganze Leben hindurch rege Beobachtung derselben verbinden, können den jetzt typischen Irrtum vermeiden, Weintrauben vom Dornenbusch zu verlangen, anstatt sich mit der Hagebutte zu begnügen! Nicht schaffen zu können, wo es keinen Stoff zum Schaffen gibt, aber fähig zu sein, die Eigenschaften zu entwickeln, die man in dem Naturgrund seines Kindes entdeckt, das ist die Resignation und der Optimismus, den einsichtsvolles psychologisches Studium mit sich bringen wird. Und das wird vielen – für Eltern wie Kinder gleich peinlichen – Bemühungen in jenen Richtungen, in denen die Energie unbelohnt bleibt, Einhalt tun.“H

Aber das Studium der Psychologie eines Kindes, begonnen bei seiner Geburt, fortgesetzt bei seinen Spielen, seiner Arbeit, seiner Ruhe, ein tägliches, vergleichendes Studium, verlangt einen ganzen Menschen. Es ist nur für eine Person möglich, die einige wenige Kinder unter ihrer Obhut hat; in Herden ist es unmöglich, um so unmöglicher, als das Kind in der Herde dieser mehr oder weniger gleicht, was die Beobachtung noch erschwert.“I

Der Kindergarten ist nur eine Fabrik, und dass die Kinder dort ,modellieren' lernen, anstatt nach eigenem Geschmack ihre Lehmkuchen zu bilden, ist typisch für das, was das kleine Menschenmaterial selbst durchmacht. Von dem Erdgeschoss der Fabrik werden dann die gedrechselten Gegenstände in das nächste Stockwerk hinaufgeschickt, die Schule, und aus dieser gehen sie dann – zwanzig aufs Dutzend hervor!“J

Solange es noch Großstädte gibt, muss man den armen Kindern dort zu den Möglichkeiten der Landkinder verhelfen, sich aus der sie umgebenden Welt Spielsachen zu machen, und durch die Obliegenheiten des eigenen Heims wirkliche ,Arbeit' zu erhalten, nicht die mit dem Ernst der Wirklichkeit ganz zusammenhanglose Spiel-,Arbeit' des Kindergartens.

Eine kluge Mutter oder Lehrerin entnimmt dem Kindergartensystem gerade so viel, dass sie die Kinder lehrt, die Natur und alles andere, was sie umgibt, zu beobachten, dass sie zuweilen ihre Tätigkeit mit dem einen oder anderen nützlichen Zweck verknüpft, ihr Vergnügen mit der einen oder anderen Erkenntnis.“K „Der Fröbelsche Satz: Lasst uns für die Kinder leben! muss in den inhaltsreicheren verwandelt werden: Lasst uns die Kinder leben lassen!“L

Und das bedeutet unter anderem, sie von der Dressur des Einlernens, von den Formen der Methodik, von dem Druck der Herde in den Jahren zu befreien, wo die stille, verborgene Seelenarbeit ebenso bedeutungsvoll ist wie das Wachsen des Samens in der Erde! Das Kindergartensystem ist hingegen das Hervortreiben des Samens auf einem Teller, wo er sich recht niedlich ausnimmt – bis auf weiteres!“M

„… und überhaupt ist es überall die Schule mit ihrem Kameraden- und Korpsgeist, die der öffentlichen Gewissenlosigkeit den Weg bahnt.“N „So gelangt die moderne Gesellschaft dahin, die Verbrechen aller vergangenen Zeitalter zu reproduzieren, sie auch durch im Privatleben gewissenhafte Menschen zu reproduzieren. Denn die großen Gewissenlosen, die die verbrecherische Richtung angeben, würden niemals die Masse in Bewegung setzen können, wenn sie nicht bis auf weiteres eben Masse wäre, dazu geschaffen, kollektiven Ehrgesetzen, kollektiven patriotischen Gefühlen, kollektiven Pflichtbegriffen zu folgen. Das Kind lernt gehorsam gegen seine Schule sein, loyal gegen seinen Kameradenkreis, ebenso wie später gegen seine Universität, sein Korps, sein Amt – lernt das früher, als gegen sein eigenes Gewissen, sein eigenes Rechtsgefühl, seine eigenen Impulse ehrlich zu sein. Es lernt ein Auge zudrücken, beschönigen, verleugnen, was der eigene Kameradenkreis, das eigene Korps, das eigene Land sündigt.“O

Und so erhält die Welt ihre Dreyfusaffären und ihre Transvaalkriege. Will man Menschen erzielen, nicht Masse, dann gilt es wirklich, das Erziehungsprogramm des großen Staatsmannes Stein zu befolgen, nämlich ,alle jene Impulse zu entwickeln, von denen Wert und Stärke des Menschen abhängen!!‘ Und das geschieht nur, wenn man schon so früh wie möglich das Kind die Freiheit und die Gefahr der eigenen Wahl lehrt, das Recht und die Verantwortung des eigenen Willens, die Bedingungen und Aufgaben der eigenen Prüfung – all das also, dem schon der Kindergarten unbewusst entgegenarbeitet, und das nur ein Heim hervorarbeiten kann. Jedes Individuum allein seinem Gewissen gegenüberzustellen, das ist das höchste Resultat der Erziehung. Und das schließt keineswegs aus, dass dasselbe Individuum Schritt für Schritt das Glück und das Bedürfnis erfahren kann, ein dienender Teil eines Ganzen zu sein, zuerst im Hause, dann im Kameradenkreis, im Vaterlande und schließlich in der Welt.“P „Der Unterschied ist der, dass der Mensch in dem einen Falle eine lebende Zelle wird, die bei dem Aufbauen lebender Formen mitwirkt, im anderen Falle ein Ziegelstein, mit dem gebaut wird!“Q

Aber nicht nur in Bezug auf Entwicklung zu Individualität, sondern ebenso sehr in Bezug auf Gefühlskultur stehen Kindergarten und Schule hinter dem Elternhause zurück. In seinem geschlossenen kleinen Kreis kann das Gefühl innig werden; da kann sich die Zärtlichkeit durch die Handlungen entwickeln, die die Wirklichkeiten des häuslichen Lebens verlangen, während der Kindergarten und später die Schule die Kinder von den natürlichen, privaten Pflichten befreien und ihnen gewisse Forderungen eintrichtern, die in Herden erfüllt werden können. Da kommt das Kind in eine Menge oberflächliche Verhältnisse, und dies hat wieder die Veräußerlichung des Gefühls zur Folge, die die große Gefahr des in zartem Alter beginnenden Schullebens ist, so wie ein zu einseitiges häusliches Leben die Gefahr mit sich bringt, das Gefühl allzu sehr zu konzentrieren. Darum ist die häusliche Erziehung in den Jahren, wo das Gefühl seine Konsistenz, seine lebensentscheidende Kultur erhält, von ebenso großem Gewicht, wie später ein gutes Kameradenleben, wenn die Kinder das zwölfte Jahr überschritten haben. Alle intellektuelle Ausbildung nach den vortrefflichsten Methoden, alle sozialen Gefühle sind wertlos, wenn sie nicht als Grundlage die Kultur des individuellen Gefühls haben. Man muss irgendwo im Körper ein Herz besitzen, um auch im Kopfe ein wirkliches Gleichgewicht zu haben. Und nur derjenige, welcher gelernt hat, einige wenige so tief zu lieben, dass er für sie sterben kann, wird imstande sein, für viele schön zu leben.“R

Dieser Auszug aus Ellen Keys Buch „Das Jahrhundert des Kindes“ enthält sehr viele richtige Äußerungen, er zeugt von feiner Beobachtungsgabe und Liebe zum Kind, doch die Grundeinstellung ist falsch.

Ellen Key ist der Meinung, die Familienerziehung müsse in Zukunft bis zum zwölften Lebensjahr dauern, weil sie mehr zur Entwicklung der Individualität des Kindes beitrage als die Schulerziehung.

In ihrer Kritik am System der Kindergärten und der Schule, die die lebendige Seele im Kinde morden, hat Ellen Key in den meisten Fällen recht. Die jetzigen Kindergärten und Schulen sind sehr schlecht. Sie müssen durch gute ersetzt werden, in denen die Kinder von Menschen geleitet werden, die die Kinder innig lieben, ihre Persönlichkeit zu achten verstehen, über die notwendigen Kenntnisse verfügen und pädagogisches Fingerspitzengefühl besitzen. Die Schule muss eine freie Schule sein, in der die Kinder nicht geprügelt und gestraft werden und in der man es auch versteht, ihre Individualität nicht zu vergewaltigen. Die Schule muss den Kindern die Möglichkeit zu schöpferischer Arbeit und froher Gemeinschaft mit anderen Menschen geben. Sie muss durch tausend Fäden mit dem wirklichen Leben und mit der Familie verbunden sein.

Doch bei ihrer Kritik an den jetzigen Kindergärten und Schulen wünscht Ellen Key nicht, die jetzigen schlechten Schulen durch gute zu ersetzen, sie will sie durch die Familie ersetzen. Nicht etwa durch die jetzige Familie. O nein! Ellen Key weiß zu genau, was die gegenwärtige Familie vom pädagogischen Standpunkt darstellt. Darüber berichtet sie viel in ihrem Buch. Sie will die Schulerziehung durch die Erziehung in einer Idealfamilie, der Familie der Zukunft, ersetzen, in der sich die Mutter zwölf Jahre lang ausschließlich dem Kind widmen kann, in der sie über die erforderliche Vorbildung, die nötige Selbstbeherrschung usw. usf. verfügt. Hier begeht Ellen Key einen methodologischen Fehler. Bei einem Vergleich zwischen Schule und Familie muss man die jetzige reale Schule mit der jetzigen realen Familie oder aber die Schule der Zukunft so, wie sie sein muss, mit der Familie der Zukunft vergleichen. Dieser methodologische Fehler macht sich im ganzen Verlauf der Betrachtung fühlbar und verzerrt die Perspektive vollständig.

Ellen Key hat große Angst vor „Herdengeist“. Herdengeist beruht auf zwei Momenten: Nachahmungstrieb und sozialem Instinkt. Nachahmungstrieb ist mit Schwäche des Intellekts verbunden. Das Kind wird stets irgend jemand nachahmen: den älteren Bruder, einen stärkeren oder klügeren Kameraden, die Mutter, den Vater und andere. Oft ahmt es etwas nach, was nach unserem Dafürhalten diese Nachahmung gar nicht wert ist, was das Kind aber interessiert und angezogen hat. Nachahmung ist für das Kind eine ebensolche Notwendigkeit wie selbständiges Schöpfertum. Auch darin zeigt sich die Individualität des Kindes. Einem Erwachsenen erscheint Nachahmen oft als alberne Nachäfferei, für das Kind aber bedeutet es eine Arbeit, an der es seine Kräfte erprobt. Natürlich bildet das Nachahmen nur eine Übergangsstufe. In dem Maße, wie sich Bewusstheit und Wille entwickeln, lässt der Nachahmungstrieb nach. Wenn die Kinder in der Schule einander nachahmen, so folgt daraus nicht, dass der Kameradenkreis die Ursache für den Nachahmungstrieb ist und das Kind zwölf Jahre lang fern von den Kameraden erzogen werden muss. Das kann bewirken, dass die sozialen Instinkte in ihm verkümmern. Sozialer Instinkt bedeutet Mitgefühl mit anderen Menschen und die Fähigkeit, sie zu verstehen. Gemeinsam gewonnene Eindrücke bringen die Schüler einander näher. Je mannigfaltiger und tiefer diese gemeinsam gewonnenen Eindrücke sind, desto stärker ist die geistige Annäherung. Bei entsprechenden Voraussetzungen überträgt sich dieser soziale Instinkt später von dem engen Kameradenkreis auf den weiten Kreis der Menschen überhaupt. Das lebendige Gefühl der geistigen Solidarität gegenüber den Mitmenschen ist ein großes Glück und eine große Kraft. Der Individualität des Kindes schadet der soziale Instinkt nicht im geringsten. Oft werden die sozialen Instinkte des Kindes durch die Familie nicht gefördert, sondern sogar erstickt. Pierre Lotis Roman, in dem er seine Kindheit schildert, enthält einige literarisch sehr schöne und eindrucksvolle Seiten, auf denen er über den Kampf erzählt, den er als Kind durchmachte. Von ferne sah er die Küstenstadt mit ihrem pulsierenden Leben, und unwiderstehlich zog es ihn auf die Straße, um sich unter die Menge zu mischen und sich von ihr fortreißen zu lassen. Doch er liebte seine Mutter und wollte ihr keinen Kummer bereiten. Deshalb unterdrückte er jenen Instinkt, der aus ihm einen großen Schriftsteller hätte machen können. Er wurde keiner. Bei ihm gibt es wundervolle Meeresschilderungen, Beschreibungen von tropischen Ländern und Seestädten der Bretagne. Er schildert die Erlebnisse eines Matrosen, aber von sozialen Fragen hat er keine Ahnung, seine Menschen sind gute Mütter, Ehefrauen, Ehemänner und Söhne, gute oder schlechte, doch das ist alles … Loti wuchs in einem sehr guten Elternhaus auf, er trat sehr spät in die Schule ein und fühlte sich dort völlig fremd. Doch die Familie hat die Kräfte, die in seiner Seele schlummerten, nicht entwickelt, sondern erstickt.

Korpsgeist bedeutet Verzerrung des sozialen Instinkts unter dem Einfluss der gesellschaftlichen Verhältnisse, seine Beschränkung auf einen engen äußeren Rahmen. Auch in der Schule herrscht zuweilen natürlich Korpsgeist, doch er ist kein unbedingtes Zubehör der Schule, sondern die Folge einer schlechten Organisation. Hier kann man nicht Schule und Familie einander gegenüberstellen, denn man darf nicht vergessen, dass die Familie ebenfalls eine Art Korps ist, das seine besonderen Interessen hat. Oft stehen die Interessen der Familie zu den Interessen anderer Menschen im Widerspruch, das Kind muss also wählen, und schwerlich wird jemand behaupten können, dass es durch die übergroße Liebe zur Mutter oder zu den Angehörigen nicht gezwungen wird, hin und wieder zu heucheln. Das Kind befindet sich oft in einer sehr tragischen Lage, die in der kindlichen Seele große Verheerung anrichtet. Ellen Key irrt sich sehr, wenn sie meint, die Familienerziehung vermöge besser als die Schulerziehung das Kind seinem Gewissen gegenüberzustellen.

Ellen Key glaubt, die Familie befreie das Kind von dem geistigen Joch des Kameradenkreises, von dem Joch der kameradschaftlichen Ethik. Das Joch der Familie ist manchmal weitaus stärker. Die Familie ist nicht imstande, das Kind in solche Verhältnisse zu versetzen, dass es von keiner fremden Ethik beeinflusst wird. Vermutlich nimmt das Kind doch am Leben der Familie teil und hat die gleichen Interessen. Es ist auch nicht so, dass nur Vater und Mutter das Kind beobachten, sondern das Kind beobachtet auch sie, während sie sich ausruhen, bei der Arbeit und bei Vergnügungen. Es beobachtet, wie sie sich zu anderen Menschen verhalten, und erkennt sehr bald, was sie lieben, was sie nicht lieben, was sie für schlecht halten und was sie für gut halten. Und je mehr ein Kind Vater und Mutter liebt, desto uneingeschränkter wird es sie als sein sittliches Vorbild betrachten, wird es ständig seine Individualität den Angehörigen zuliebe vergewaltigen. Das geschieht oft in Familien, in denen ein sehr liebevolles Verhältnis zwischen den Familienmitgliedern besteht und das Kind der Last der intensiven, stündlichen geheimen Beaufsichtigung erliegt. In der Schule fühlt es sich freier, mehr als Mensch.

Ellen Key irrt sich auch, wenn sie meint, das Wichtigste bei der Familienerziehung sei, die Individualität des Kindes zu kennen und es entsprechend seiner Individualität zu behandeln. Das ist natürlich wesentlich.

Vom erzieherischen Standpunkt aber noch viel wichtiger ist die gesamte Art und Weise des Familienlebens. Sind die Familienmitglieder aufgeschlossene, feinfühlige Menschen, haben sie weitgehende gesellschaftliche Interessen und ist die Familie durch die Arbeit zu einer einmütigen Gemeinschaft vereinigt, dann wird die Familie einen guten Einfluss auf das Kind ausüben. Führt sie aber ein untätiges Leben, jagt nur dem Vergnügen nach, kennt keine hohen Ideale und ist nur von gefühllosem Egoismus beseelt, dann wird auch eine allseitige Beobachtung der Individualität des Kindes nicht helfen… Familienerziehung bedeutet für die Eltern vor allem Selbsterziehung. Das gleiche gilt auch hinsichtlich der Liebe zur Arbeit. Nicht jede Familie ist imstande, das Kind zur Arbeit zu erziehen. In reichen Familien ist dies nur in Ausnahmefällen möglich. Aber sogar in einer armen Familie ist es jetzt nicht immer möglich. Damit die Arbeit der Familienmitglieder einen erzieherischen Einfluss auf das Kind ausübt, ist es notwendig, dass sie vor den Augen des Kindes verrichtet wird und das Kind selbst daran teilnimmt. Zahlreiche Werktätige aber müssen jetzt entsprechend den Bedingungen der Produktion außer Hause arbeiten, und zwar nicht nur die Väter, sondern auch die Mütter. Außerdem wird der Bereich der Hauswirtschaft immer enger. Früher wurde zu Hause sowohl gesponnen als auch gewebt und die gesamte Kleidung angefertigt. Man kochte Seife, stellte Kerzen her, mästete Geflügel und legte Vorräte an. Heute beschränkt sich die städtische Hauswirtschaft immer mehr auf das Reinigen der Zimmer, Essenkochen und Kleidernähen. Natürlich muss das Kind alles erlernen, was für das Hauswesen erforderlich ist, aber nicht nur das. Hilfe erhält die Familie durch die Arbeitsschule, die eine Umwälzung im ganzen System der Schule herbeiführt. Die freie Arbeitsschule stellt ein engeres Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern sowie zwischen den Kindern untereinander her, ersetzt die offiziellen Schulbeziehungen durch sehr persönliche Beziehungen, ermöglicht die freie Entfaltung der kindlichen Individualität, weckt die schöpferischen Kräfte des Kindes und befreit es sowohl vom Joch einer übermäßigen heftigen Liebe als auch vom Joch einer seelenlosen Schulroutine… Übrigens ist eine solche Schule vorerst noch die Schule meiner Träume.

A Ellen Key: Das Jahrhundert des Kindes. Fünfzehnte Auflage. S. Fischer Verlag, Berlin 1912, Seite 261.

B Ebenda.

C Ebenda, Seite 262.

D Ebenda, Seite 262/263.

E Ebenda, Seite 263/264.

F Ebenda, Seite 264/265.

G Ebenda, Seite 265/266.

H Ebenda, Seite 266/267.

I Ebenda, Seite 267.

J Ebenda, Seite 268.

K Ebenda.

L Ebenda, Seite 269.

M Ebenda.

N Ebenda.

O Ebenda, Seite 269/270.

P Ebenda, Seite 270.

Q Ebenda, Seite 270/271.

R Ebenda. Seite 271/272.

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