Nadeschda Krupskaja: Wie ich Marxistin wurde (aus den Erinnerungen, 1922, 1,31-37) [Nach Sozialistische Pädagogik, Band I, Berlin 1967, S. 138-141] Es ist schon lange her, einunddreißig Jahre. Ich war damals zweiundzwanzig Jahre alt und wünschte mir nichts sehnlicher als eine geschlossene Weltanschauung. Im Elternhaus hörte ich von früher Kindheit an, wie auf mannigfache Weise an der bestehenden Ordnung und besonders am Vorgehen der Zarenregierung Kritik geübt wurde. Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre verkehrten einige Narodowolzen bei uns. Ich erinnere mich noch an den 1. März. Damals erwartete ich irgend etwas Außergewöhnliches und konnte vor Aufregung die ganze Nacht nicht schlafen. Ich erinnere mich auch an den 3. April, den Tag, an dem die am Attentat vom 1. März Beteiligten hingerichtet wurden. Dann begannen die schweren Jahre der Reaktion. Mein Vater starb, wodurch sich die häuslichen Verhältnisse veränderten. Nirgends war ein lebendiges Wort zu hören, die damaligen Bücher gaben keine Antwort auf die mich bewegenden Fragen, und sie verhallten ungelöst. Ich wusste nicht, was ich lesen sollte. Bald las ich ein Buch über die Geschichte der Luftschifffahrt, bald „Die Niederländische Revolution“ von Motley, bald Reclus. Ich las alles, was mir in die Hände fiel, so dass keine gedankliche Verbindung zwischen dem Gelesenen bestand, das Gelesene nicht das Leben erfasste. Ich hatte eine gute Freundin aus einer sehr radikalen Familie, wir sprachen oft über politische und soziale Themen und beobachteten das Leben mit sehr aufmerksamen Augen, aber durch eigene Anstrengungen konnten wir nicht den rechten Weg finden, und Hilfe erhielten wir von niemandem. Manchmal kamen im Elternhaus meiner Freundin Bekannte zu Besuch, alles Radikale, unter ihnen waren auch alte Narodowolzen, die viel erlebt hatten. Ich betrachtete sie neugierig und ehrfürchtig, lauschte ihren Reden, doch daraus war nur Müdigkeit zu hören. Man sang „Dubinuschka“, „Komarika“ und „Von Land zu Land“. Fragte ich aber an einem solchen Abend einen der alten Narodowolzen, was man tun müsse, dann begann er mir die Theorie der „kleinen Dinge“ zu entwickeln. „Man darf nicht Unmöglichem nachjagen, darf nicht alles von Grund auf umstülpen wollen – das ist unmöglich, nicht nach Unerreichbarem darf man streben, sondern muss tun, was im Augenblick getan werden kann, das heißt, die Menschen belehren und ihnen helfen.“ Solche Rede aus dem Munde eines alten Narodowolzen, aus dem Munde eines Menschen, der wegen seines Kampfes gegen die Selbstherrschaft viele Jahre im Gefängnis gesessen hatte, wirkte niederdrückend angesichts der grausamen Reaktion, die alles erstickte. Hoffnungslosigkeit ging von seinen Ratschlägen und von allen diesen „gewesenen“ Leuten aus; sie waren gute Menschen, denen jedoch die Seele herausgenommen war. Ich war fast noch ein Kind, aber ich erkannte dies sehr gut. Nein, den Weg, den die Revolutionäre des 1. März eingeschlagen hatten, durfte man nicht gehen. Terror führte nicht zum Erfolg, und die ehemaligen Terroristen glaubten auch selbst nicht mehr daran. Was aber musste geschehen? Eines Tages kam ich zufällig in einen Zirkel, der sich um W. W. Wodowosow gebildet hatte. Es ging um die Agrarverhältnisse in Italien und um das Schicksal Irlands. Ich ließ mir kein einziges Wort entgehen, und heute erinnere ich mich noch, wer was gesagt hat, aber ich ging nicht mehr in diesen Zirkel, denn damals bestand für mich kein Zusammenhang zwischen der Agrarfrage in Italien und der Frage „Was tun?“. Einmal war ich auch noch in einem Literaturzirkel, in dem Micliailowski32 anwesend war. Aber dort wurde ausschließlich über Shakespeares „Macbeth“ gesprochen, und auch in diesen Zirkel ging ich nicht mehr. Nach Beendigung des Gymnasiums fiel mir der dreizehnte Band von Lew Tolstoi in die Hände, worin er die bestehende Ordnung einer schonungslosen Kritik unterzog. Einen besonders tiefen Eindruck hinterließ bei mir sein Aufsatz „Über Arbeit und Luxus“. Vielleicht las ich aus Tolstois Aufsätzen gar nicht das heraus, was er sagen wollte. „Aber was wird sein, wenn man den von Tolstoi gewiesenen Weg geht, auf jede Verwendung fremder Arbeitskraft verzichtet und überhaupt damit beginnt, sich selbst umzuerziehen? Vielleicht kann man auf diese Weise schneller ans Ziel gelangen, schneller das Glück des Volkes herbeiführen als durch Terror?“ Ich begann Maßnahmen zur Übersiedlung aufs Land zu treffen, doch die Sache zog sich in die Länge. Zu einer grundlegenden Änderung in meinem Leben kam es nicht. In jener Zeit fanden im „Posrednik“-Verlag Gespräche zwischen Tolstojanern und Radikalen statt; ich war vielleicht zweimal dort und ging jedes Mal enttäuscht wieder fort. Ich konnte die Tolstoische Lehre als Ganzes mit ihrem Nichtwiderstreben dem Bösen und mit ihrer religiösen Weltauffassung nicht akzeptieren. Im Herbst 1889 wurden in Petersburg die höheren Frauenlehrgänge eröffnet. Ich begann diese Lehrgänge in der Hoffnung, dort zu bekommen, was ich brauchte. Ich lernte Lehrgangsteilnehmerinnen kennen, die aus der Provinz kamen … Die meisten wollten nur studieren. Auch ich machte mich an das Studium. Ich studierte eifrig Mathematik und besuchte gleichzeitig Vorlesungen an der philologischen Fakultät. Aber ich konnte dort nur die Geschichtsvorlesungen von Platonow und die Psychologievorlesungen von Wwedenski hören. Das alles und dazu noch die Arbeit für den Lebensunterhalt erforderte natürlich viel Zeit, und Weihnachten war ich bereits fest entschlössen, die Lehrgänge aufzugeben. In dieser Zeit lernte eine meiner Freundinnen aus dem Gymnasium einen Kreis von Technologen kennen, und bei ihnen in der Wohnung traf sich die Jugend. Gleich vom ersten Tage an nahmen mich die neuen Interessen gefangen. Alle interessierten die gleichen Probleme, und zwar ebenso intensiv wie mich. Nach einer allgemeinen Versammlung, an der vierzig Personen teilnahmen, beschlossen wir, uns in Zirkel aufzuteilen. Ich trat dem ethischen Zirkel bei. Das war bereits Anfang 1890. Von Ethik war im Zirkel eigentlich wenig die Rede, man sprach über allgemeine Weltanschauungsfragen. In Verbindung mit den Beschäftigungen im Zirkel las ich Mirtows (Lawrows) Buch „Historische Briefe“. Ich las dieses Buch, ohne aufzuhören, und mit großer Bewegung. Es war das erste Buch, das die Fragen berührte, die mir keine Ruhe ließen, es handelte direkt von den Dingen, die ich unbedingt wissen wollte. Ich ließ die Lehrgänge sein und gab mich ganz den neuen Eindrücken hin. Im Zirkel hörte ich zum ersten Mal das Wort „Internationale“, ich erfuhr, dass es eine ganze Reihe von Wissenschaften gibt, die Fragen des gesellschaftlichen Lebens analysieren. Ich erfuhr auch, dass es eine politische Ökonomie gibt, zum erstenmal hörte ich die Namen Karl Marx und Friedrich Engels, hörte auch, dass einiges über das Leben der ersten Menschen bekannt ist und dass überhaupt die Urgesellschaft bestanden hat. Im Frühjahr trugen wir Schelgunow zu Grabe. Im gleichen Frühjahr ging ich zu S. N. Juschakow, der in der Familie meiner Freundin verkehrte, und bat ihn, mir den ersten Band des „Kapital" von Marx und noch einige andere Bücher zu geben, die mir von Nutzen sein würden … Der Marxismus gab mir das höchste Glück, das sich ein Mensch nur wünschen kann, nämlich das Wissen, welcher Weg gegangen werden muss, und die beruhigende Gewissheit von dem endgültigen Ausgang der Sache, der ich mein Leben geweiht habe. Wenn der Weg auch nicht immer leicht war, so habe ich doch nie daran gezweifelt, dass er richtig ist. Es gab vielleicht manchmal fehlerhafte Maßnahmen, anders konnte es auch nicht sein, doch die Fehler wurden korrigiert, und die Bewegung ging in breiter Front dem Ziel entgegen … Außer dem „Kapital“ las ich auch alle anderen Bücher, die mir Juschakow gegeben hatte. Viel habe ich aus Sieber „Beiträgen zur primitiven Kultur“ gelernt. Ich hatte das Gymnasium und die pädagogische Klasse beendet, eine Zeitlang an den höheren Lehrgängen studiert, aber niemals etwas über die Triebkräfte der Geschichte und über das Leben der Urgesellschaft gehört. Ganz neue Horizonte eröffneten sich mir. Natürlich war ich damals eine noch sehr unfertige Marxistin. Zu einer wirklichen Marxistin wurde ich erst im Winter 1890/1891. Im Herbst, als die studierende Jugend aus den Ferien zurückkehrte, wurde die Zirkeltätigkeit wieder aufgenommen. Es wurde die sogenannte „Allrussische Landsmannschaft“ gegründet, die in Petersburg rund 300 Mitglieder zählte. Jeder Zirkel entsandte seinen Vertreter in die zentrale Organisation. In dieser zentralen Organisation wurde ausschließlich über Organisationsformen der Studentenschaft, über Studentenbibliotheken und dergleichen gesprochen. Pflanzstätte des Marxismus war das Technologische Institut. Dort gab es zwei recht gebildete Marxisten, die Studenten Brusnew und Z)rwinski, die in den höheren Semestern studierten. Sie lenkten die Lektüre der studentischen Jugend des Technologischen Instituts in marxistische Bahnen, richteten deren Aufmerksamkeit auf die Arbeiterbewegung. An der Universität florierte der sogenannte „legale Marxismus“, der sich weniger für die Arbeiterbewegung als für die Formen der wirtschaftlichen Entwicklung interessierte, die ihm als selbstgenügende Formen erschienen. Die wirtschaftlichen Formen entwickeln sich angeblich in bestimmter Richtung, völlig unabhängig vom Willen und von der Teilnahme der Menschen. Der Kapitalismus sei zum Untergang verurteilt, in einem bestimmten Entwicklungsstadium sei dieser Untergang unausbleiblich, doch dazu brauche man keine Revolutionen zu machen, und die Arbeiter brauchten sich in diesen objektiven Entwicklungsprozess nicht einzumischen. In der Militärmedizinischen Akademie machten sich die Volkstümler45 breit. Ich trat einem marxistischen Zirkel bei. Ich las noch einmal das „Kapital“, diesmal aber bereits viel gründlicher. Das Gelesene wurde im Zirkel durchgearbeitet und besprochen. Wir hatten eine Frageliste, die uns bei der Arbeit gute Dienste geleistet hat. Gleichzeitig besuchte ich die Öffentliche Bibliothek und las dort alles, was auf den Marxismus Bezug hatte. Hauptsächlich wurden alte Zeitschriftenartikel sowie die Siebersche Darstellung des „Kapital“ gelesen. Es gab damals nur sehr wenig Literatur über den Marxismus. Außer dem „Kapital“ war nichts von Marx übersetzt, selbst das „Kommunistische Manifest“ gab es nicht; auch von Engels war nichts übersetzt. Engels’ „Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ wurde nach irgendwelchen handgeschriebenen Heftchen gelesen, in denen Mitte und Ende unvollständig waren. Um den „Anti-Dühring“ lesen zu können, setzte ich mich an die deutsche Sprache und habe die dazu aufgebrachte Zeit nicht bereut. Mein Wunsch war, möglichst bald aktiv an der Arbeiterbewegung teilzunehmen. Zunächst bat ich unsere Technologen, mir einen Arbeiterzirkel zu geben, da sie aber zu jener Zeit wenig Verbindung zu den Arbeitern hatten, konnten sie mir nicht helfen. Ich wollte versuchen, einen Zirkel bei den Narodowolzen zu bekommen, aber dort verlangte man von mir, Mitglied der „Narodnaja Wolja“-Partei zu werden. Doch ich konnte den Marxismus nicht verleugnen … Diese fünf Jahre, die ich in der Schule verbrachte, verknüpften meinen Marxismus mit dem praktischen Leben und verbanden mich für immer mit der Arbeiterklasse. |
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