1894-1898 Im Herbst 1894 las Wladimir Iljitsch in unserem Zirkel seine Arbeit „Die Freunde des Volkes"1 vor. Ich entsinne mich noch, wie diese Schrift uns alle packte. Sie zeigte mit ungewöhnlicher Klarheit das Ziel des Kampfes. „Die Freunde des Volkes" gingen dann, auf dem Hektographen vervielfältigt, unter der Marke „Gelbe Heftchen" von Hand zu Hand. Der Verfasser war nicht genannt. Sie drangen in ziemlich breite Kreise und haben ohne Zweifel auf die damalige marxistische Jugend einen starken Einfluss ausgeübt. Als ich im Jahre 1896 in Poltawa weilte, charakterisierte P. P. Rumjanzew, damals aktiver Sozialdemokrat und gerade aus dem Gefängnis entlassen, die „Freunde des Volkes" als die beste, stärkste und umfassendste Formulierung des Standpunktes der revolutionären Sozialdemokratie. Im Winter 1894/95 lernte ich Wladimir Iljitsch schon näher kennen. Er war in den Arbeiterzirkeln hinter dem Newski-Tor tätig, und ich selbst war dort bereits im vierten Jahr Lehrerin an der Smolensker Sonntagsabendschule und kannte das Leben dieses Stadtteils recht gut. Eine ganze Anzahl von Arbeitern aus Wladimir Iljitschs Zirkel waren auch meine Schüler in der Sonntagsabendschule: Babuschkin, Borowkow, Gribakin, Arseni und Philipp Bodrow, Schukow u. a. Die Sonntagsschule bot damals eine vortreffliche Möglichkeit, die Lebensweise, die Arbeitsbedingungen, die Stimmungen der Arbeitermassen weitgehend kennen zu lernen. Die Smolensker Schule wurde von 600 Personen besucht, nicht gerechnet die technischen Abendkurse und die ihr angeschlossene Frauen- und die Obuchowschule. Die Arbeiter brachten den „Lehrerinnen" unbegrenztes Vertrauen entgegen: Der finstere Wächter der Gromowschen Holzlager zeigte der Lehrerin mit strahlendem Gesicht die Geburt eines Sohnes an. – Ein tuberkulöser Textilarbeiter wünschte ihr dafür, dass sie ihm Schreiben und Lesen beigebracht, einen schmucken Bräutigam. – Ein Arbeiter, der einer Sekte angehörte und sein ganzes Leben lang Gott gesucht hatte, schrieb voll Befriedigung, er habe erst in der Passionswoche von Rudakow, der auch die Abendschule besuchte, erfahren, dass es Gott gar nicht gibt. Da sei ihm ein Stein vom Herzen gefallen, denn man könne sich nichts Schlimmeres denken, als ein Sklave Gottes zu sein. Dem könne man nirgends hin entrinnen. Da sei man doch noch lieber ein Sklave von Menschen, denn Menschen könne man wenigstens bekämpfen. Ein Tabakarbeiter, der sich jeden Sonntag bis zur Bewusstlosigkeit betrank und derart vom Tabakgeruch durchtränkt war, dass es einem schwindlig wurde, wenn man sich über sein Heft beugte, schrieb mit krakeliger Schrift unter Weglassung der meisten Vokale, sie hätten gerade ein dreijähriges Mädchen auf der Straße gefunden und in ihre Wohnbaracke mitgenommen; eigentlich müsste man es ja zur Polizei bringen, aber es dauere ihn zu sehr. – Ein ehemaliger Soldat mit einem Holzbein kam und erzählte, dass ein gewisser Michaila, der ein Jahr vorher am Kursus teilgenommen hatte, sich bei der Arbeit verhoben habe und gestorben sei. „Er hat noch im Sterben an Sie gedacht, Ihnen einen Gruß bestellt und Ihnen ein langes Leben gewünscht." – Ein Textilarbeiter, der mit Leib und Seele dem Zaren und dem Popen ergeben war, warnte vor „dem Schwarzen, der sich dauernd in der Gorochowaja2 herumtreibt". – Ein älterer Arbeiter räsonierte: er könne sein Amt als Kirchenältester auf keinen Fall niederlegen; die Popen führten das Volk zu schlimm hinters Licht, und man müsse auf sie aufpassen. Im übrigen wolle er von der Kirche aber gar nichts wissen, und er habe die „Entwicklungsphasen" ganz genau verstanden … usw. u. ä. m. Die Arbeiter, die der Organisation angehörten, kamen in die Schule, um sich die einzelnen Leute anzusehen und sich zu merken, wen man zum Zirkel heranziehen oder in die Organisation einführen könne. Für sie waren die Lehrerinnen schon nicht mehr alle gleich. Sie konnten schon ganz gut unterscheiden, welche politische Vorbildung eine jede hatte. Hatten sie eine Lehrerin als „die ihrige" erkannt, so machten sie sich ihr durch irgendeine Äußerung bemerkbar. Zum Beispiel ließen sie bei der Besprechung der Heimindustrie die Bemerkung fallen: „Der Heimgewerbetreibende ist der Konkurrenz der Großindustrie nicht gewachsen". Oder sie warfen die Frage auf: „Welcher Unterschied besteht zwischen einem Petersburger Arbeiter und einem Bauern aus Archangelsk?" Wenn sie der Lehrerin begegneten, grüßten sie sie auf eine besondere Art, und in ihrem Gruß und Blick war ausgedrückt: „Wir haben dich erkannt! Du gehörst zu uns!" Alles was in ihrem Wohnviertel vorkam, brachten diese Arbeiter in der Schule sogleich zur Sprache; sie wussten, dass die Lehrerinnen es an die Organisation weitergaben. Es bestand eine stillschweigende Vereinbarung. In der Schule konnte man eigentlich über alles reden, obwohl es selten eine Klasse ohne Spitzel gab. So heikle Worte, wie „Zar", „Streik" und dgl. musste man natürlich vermeiden. Im übrigen konnte man die grundlegendsten Fragen berühren. Offiziell bestand das Verbot, über irgend etwas zu sprechen, was außerhalb des Unterrichtsgegenstandes lag. Einmal wurde ein sogenannter Wiederholungskursus geschlossen, weil dort, wie der unverhofft kontrollierende Inspektor feststellte, Dezimalbrüche erklärt wurden, während das Programm nur erlaubte, die vier einfachen Rechnungsarten durchzunehmen. Ich wohnte damals auf dem Alt-Newski in einem Hause mit Durchgangshof. Wladimir Iljitsch besuchte mich gewöhnlich Sonntags nach dem Unterricht im Zirkel, und wir unterhielten uns dann endlos miteinander. Ich hing damals mit Leib und Seele an meiner Arbeit in der Abendschule und hätte aufs Essen verzichten können, wenn ich nur von der Schule und den Schülern und von den Betrieben unseres Stadtteils: Semjannikow, Tornton, Maxwell u. a. sprechen konnte. Wladimir Iljitsch interessierte sich für jede kleine Einzelheit der Lebensweise, des Alltagslebens der Arbeiter. Er suchte sich an Hand der einzelnen Züge ein Gesamtbild vom Leben der Arbeiter zu machen und die Stelle zu entdecken, bei der man ansetzen musste, um mit der revolutionären Propaganda besser an die Arbeiter heranzukommen. Damals kannten die meisten Intellektuellen die Arbeiter nur wenig. Die Intellektuellen besuchten ab und zu die Zirkel und hielten vor den Arbeitern eine Art Vortrag. Lange Zeit hindurch wurde in den Zirkeln Engels' „Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats"' in handschriftlicher Übersetzung „durchgenommen". Wladimir Iljitsch las mit den Arbeitern Marx' „Kapital"' und erläuterte es ihnen. Den zweiten Teil des Unterrichts füllte er aber stets mit Fragen an die Arbeiter über ihre Arbeit und ihre Arbeitsbedingungen aus. Er zeigte den Arbeitern, wie ihr Leben mit der gesamten Struktur der Gesellschaft zusammenhing und legte ihnen dar, wie und auf welchem Wege man die bestehende Ordnung ändern könne. Die Verknüpfung von Theorie und Praxis – das war das Besondere an Wladimir Iljitschs Arbeit in den Zirkeln. Allmählich begannen auch andere Mitglieder unseres Kreises, diese Methode anzuwenden. Als im Jahr darauf die Wilnaer Broschüre „Über Agitation" herauskam, war der Boden für eine Flugblattagitation bereits vollständig vorbereitet; man brauchte nur zur Tat zu schreiten. Die Methode der Agitation auf dem Boden der Alltagsnöte der Arbeiter schlug tiefe Wurzeln in unserer Parteiarbeit. Ich habe die ganze Zweckmäßigkeit dieser Methode erst viel später vollkommen begriffen, als ich als Emigrantin in Frankreich lebte und beobachten konnte, wie die französische Sozialistische Partei während eines Riesenstreiks der Postbeamten völlig abseits stand und sich in den Streik gar nicht einmischte. Das sei Sache der Gewerkschaften. Die Partei habe sich nur mit dem politischen Kampf zu befassen. Die Notwendigkeit, den ökonomischen und den politischen Kampf miteinander zu verbinden, war den französischen Genossen gänzlich unklar. Viele Petersburger Genossen, die die Wirkung der Flugblattagitation sahen, begeisterten sich für diese Arbeitsmethode so, dass sie ganz vergaßen, dass sie nur eine, aber nicht die einzige Methode der Arbeit unter den Massen ist, und gerieten dadurch auf den berüchtigten Abweg des „Ökonomismus"3. Wladimir Iljitsch ließ die andern Arbeitsmethoden niemals außer acht. 1895 schrieb er die Broschüre „Erläuterung des Gesetzes über die in den Betrieben von den Arbeitern erhobenen Geldstrafen". Er gab darin ein glänzendes Beispiel, wie man an den Durchschnittsarbeiter jener Zeit herangehen musste, um ihn, anknüpfend an seine Nöte, Schritt für Schritt auf die Notwendigkeit des politischen Kampfes hinzuweisen. Vielen Intellektuellen schien diese Broschüre langweilig und weitschweifig. Aber die Arbeiter lasen sie mit Begeisterung; sie sprach ihre Sprache und war ihnen verständlich. (Die Broschüre wurde in einer Geheimdruckerei hergestellt und unter den Arbeitern verbreitet.) Wladimir Iljitsch studierte damals aufmerksam die Fabrikgesetze. Er war der Meinung, dass man den Arbeitern durch eine Erläuterung dieser Gesetze den Zusammenhang ihrer Lage mit der Staatsordnung besonders leicht klarmachen könne. Spuren dieses Studiums finden sich in einer ganzen Reihe von Artikeln und Broschüren, die er damals für Arbeiter schrieb, so in der Broschüre „Das neue Fabrikgesetz", in den Artikeln „Über Streiks", „Über Gewerbegerichte" usw. Der Verkehr mit den Arbeiterzirkeln blieb natürlich nicht unbemerkt. Es setzte eine starke Bespitzelung ein. Von allen Mitgliedern unserer Gruppe verstand sich Wladimir Iljitsch am besten auf konspirative Arbeit: er kannte sämtliche Durchgangshöfe und verstand es ausgezeichnet, die Spitzel irrezuführen. Er lehrte uns die Methode, sich durch Punkte und Zeichen, die mit unsichtbarer Tinte in Bücher zwischen die Zeilen geschrieben wurden, zu verständigen und erfand alle möglichen Decknamen. Man merkte ihm in allem die gute Schule der Narodowolzi an. Er sprach nicht ohne Grund mit solcher Hochachtung von dem alten Narodowolze Michailow, der wegen seiner konspirativen Routine den Spitznamen „Hausmeister" hatte. Die Verfolgung nahm ständig zu, und Wladimir Iljitsch bestand darauf, dass man einen Nachfolger bestimme, der nicht bespitzelt wurde und dem alle Verbindungen übergeben werden sollten. Da ich als am wenigsten verdächtig galt, so wurde ich zur „Nachfolgerin" bestimmt. Am ersten Osterfeiertag fuhren wir zu fünf oder sechs Personen zur „Osterfeier" in den Vorort „Zarskoje Selo" hinaus, wo ein Mitglied unserer Gruppe, Silwin, als Hauslehrer tätig war. Während der Fahrt taten wir so, als würden wir einander nicht kennen. Wir berieten den ganzen Tag darüber, welche Verbindungen wir aufrechterhalten sollten. Wladimir Iljitsch lehrte uns chiffrieren. Wir chiffrierten fast ein halbes Buch voll. Aber o weh! Später konnte ich diese ersten gemeinsam hergestellten Chiffrierungen nicht mehr entziffern. Nun, wir konnten uns trösten: als es zum Dechiffrieren kam, waren die meisten dieser Verbindungen bereits aufgeflogen. Wladimir Iljitsch beschäftigte sich damit, die „Verbindungen" mit größter Sorgfalt zu sammeln und überall Leute ausfindig zu machen, die für die revolutionäre Arbeit von irgendeinem Nutzen sein konnten. Ich erinnere mich, dass einmal auf Wladimir Iljitschs Veranlassung eine Besprechung von Vertretern unserer Gruppe (Wladimir Iljitsch und, soviel ich weiß, Krschischanowski) mit einer Gruppe von Lehrerinnen der Sonntagsschule stattfand. Fast alle wurden später Sozialdemokratinnen. Unter ihnen befand sich auch Lydia Michailowna Knipowitsch, ein altes Mitglied der Narodnaja Wolja, die einige Zeit darauf zu den Sozialdemokraten übertrat. Die alten Parteiarbeiter entsinnen sich ihrer. Als Mensch von ungeheurer revolutionärer Standhaftigkeit, streng gegen sich selbst und gegen andere, ausgezeichnete Menschenkennerin, vorzügliche Kameradin, die alle, mit denen sie zusammenarbeitete, mit Liebe und Sorgfalt umgab, lernte Lydia Wladimir Iljitsch sogleich als Revolutionär schätzen. Sie übernahm die Verbindung zur Druckerei der Narodowolzi: sie führte die Unterhandlungen, vermittelte die Manuskripte, nahm die gedruckten Broschüren in Empfang, brachte die Literatur in Körben zu ihren Bekannten und organisierte die Verteilung derselben an die Arbeiter. Als sie auf Anzeige eines Setzers der Druckerei verhaftet wurde, wurden bei den verschiedenen Bekannten Lydias zwölf Körbe mit Literatur beschlagnahmt. Die Narodowolzi druckten damals massenhaft Broschüren für die Arbeiter: „Die Arbeitszeit", „Wovon ein jeder lebt", die Broschüre Wladimir Iljitschs „Über Geldstrafen", „König Hunger" usw. Zwei Narodowolzi, die damals in der Lachta-Druckerei arbeiteten, Schapowalow und Katanskaja, stehen heute in den Reihen der Kommunistischen Partei. Lydia Michailowna lebt nicht mehr. Sie verbrachte die letzten Jahre ihres Lebens in der Krim und starb dort im Jahre 1920, als die Krim in der Hand der Weißen war. In ihrer Sterbestunde verlangte sie phantasierend nach ihren kommunistischen Genossen. Sie starb mit dem Namen der ihr teuren Kommunistischen Partei auf den Lippen. Unter den Lehrerinnen, die an dieser Zusammenkunft teilnahmen, befanden sich, glaube ich, u. a. auch P. F. Kudeli und A. I. Meschtscherjakowa, die beide heute Mitglieder der Partei sind. Hinter dem Newski-Tor war auch Alexandra Michailowna Kalmykowa, eine ausgezeichnete Referentin, als Lehrerin tätig. (Ich erinnere mich noch der Vorträge, die sie für Arbeiter über das Staatsbudget hielt.) Sie besaß eine Buchhandlung auf dem Litejny. Auch Wladimir Iljitsch wurde damals mit Alexandra Michailowna gut bekannt. Struve war ihr Zögling, und auch Potressow, der Struves Schulkamerad war, ging in ihrem Hause ein und aus. Später unterhielt Alexandra Michailowna auf eigene Kosten die alte „Iskra" bis zum zweiten Parteitag. Als Struve zu den Liberalen überging, schloss sie sich ihm nicht an, sondern trat entschieden auf die Seite der „Iskra"-Organisation. Unter uns hieß sie „Tante". Für Wladimir Iljitsch hatte sie viel übrig. Auch sie lebt nicht mehr. Die beiden letzten Jahre lag sie, ans Bett gefesselt, im Sanatorium von Djetskoje Selo4, ohne aufstehen zu können. Manchmal kamen die Kinder aus den benachbarten Kinderheimen zu ihr zu Besuch. Sie pflegte ihnen von Iljitsch zu erzählen. Im Frühjahr 1924, nach Lenins Tod, schrieb sie mir, man müsse Wladimir Iljitschs Artikel aus dem Jahre 1917 als besonderes Buch herausgeben, jene Artikel voll glühender Leidenschaft, jene hinreißenden Aufrufe, die damals auf die Massen so ungeheuer wirkten. 1922 schrieb Wladimir Iljitsch an Alexandra Michailowna einige warme Grußzeilen, wie nur er sie zu schreiben verstand. Alexandra Michailowna war mit der Gruppe „Befreiung der Arbeit"5 eng verbunden. Als Vera Sassulitsch 1899 nach Russland kam, richtete Alexandra Michailowna sie illegal ein und traf sich ständig mit ihr. Unter dem Einfluss der wachsenden Arbeiterbewegung und der Artikel und Bücher der Gruppe „Befreiung der Arbeit", unter dem Einfluss der Petersburger Sozialdemokraten, rückte Potressow mehr nach links und für eine Zeitlang auch Struve. Nach einer Reihe von vorbereitenden Versammlungen begann man, die Basis für eine gemeinsame Arbeit zu finden. Man dachte an eine gemeinsame Herausgabe eines Sammelbandes unter dem Titel „Materialien zur Charakteristik unserer wirtschaftlichen Entwicklung". Von unserer Gruppe gehörten Wladimir Iljitsch, Starkow und Stepan Iwanowitsch Radtschenko der Redaktion an, von der anderen Gruppe – Struve, Potressow und Klasson. Das Schicksal des Sammelbandes ist bekannt. Er wurde von der zaristischen Zensur verbrannt. Während des Frühjahrs 1895, vor seiner Auslandsreise, ging Wladimir Iljitsch häufig zu Potressow in den Oserny Pereulok6, um die Arbeit rechtzeitig zum Abschluss zu bringen. Den Sommer 1895 brachte Wladimir Iljitsch im Auslande zu. Er hielt sich teils in Berlin auf, wo er die Arbeiterversammlungen besuchte, teils in der Schweiz, wo er zum ersten Mal mit Plechanow, Axelrod und Vera Sassulitsch zusammentraf. Voll neuer Eindrücke kehrte er zurück und brachte aus dem Auslande einen Koffer mit doppeltem Boden mit, in dem illegale Literatur versteckt war. Sogleich begann eine tolle Hetzjagd auf Wladimir Iljitsch. Man beobachtete ihn, man beobachtete seinen Koffer. Eine Cousine von mir arbeitete damals im „Adresstisch"7. Einige Tage nach Wladimir Iljitschs Ankunft teilte sie mir mit, dass während ihres Nachtdienstes ein Kriminalbeamter gekommen sei, die Ordner durchgesehen (im „Adresstisch" wurden die Adressen dem Alphabet nach in Ordnern gesammelt) und dabei geprahlt habe: „Wir sind dem wichtigen Staatsverbrecher Uljanow auf die Spur gekommen. Schon den Bruder hat man gehenkt. Er ist aus dem Auslande zurückgekehrt und wird uns diesmal nicht entkommen." Meine Cousine wusste, dass ich Wladimir Iljitsch kannte und beeilte sich, es mir mitzuteilen. Natürlich benachrichtigte ich sogleich Wladimir Iljitsch. Wir mussten erhöhte Vorsicht walten lassen. Aber es gab kein Zaudern mehr, die Arbeit wuchs ständig. Wir führten eine Arbeitsteilung durch und verteilten die Arbeit nach Bezirken. Wir begannen Flugblätter zu verfassen und herauszugeben. Ich weiß noch, dass Wladimir Iljitsch das erste Flugblatt für die Arbeiter des Semjannikowski-Betriebes verfasste. Technische Hilfsmittel hatten wir damals überhaupt noch keine. Das Flugblatt wurde in Druckschrift mit der Hand geschrieben und von Babuschkin verbreitet. Von unsern vier Exemplaren wurden zwei von den Aufsehern aufgefunden, die beiden andern gingen von Hand zu Hand. Auch in andern Bezirken wurden Flugblätter verbreitet. So wurde ein Flugblatt für die Arbeiterinnen der Tabakfabrik Laferme auf der Wassiljewski-Insel8 hergestellt. Die Genossinnen A. A. Jakubowa und S. P. Newsorowa (Krschischanowskaja) nahmen zu folgender Verbreitungsmethode Zuflucht. Sie rollten die Flugblätter zu Röhrchen zusammen, so dass man sie bequem einzeln fassen konnte, brachten sie in der gerafften Schürze unter und gingen, sobald die Sirene ertönte, den Arbeiterinnen, die in Haufen aus den Toren der Fabrik strömten, eilends entgegen, und vorüber hastend steckten sie den erstaunten Arbeiterinnen die Flugblätter in die Hand. Das Flugblatt hatte Erfolg. Die Flugblätter und Broschüren rüttelten die Arbeiter auf. Da wir schon über eine illegale Druckerei verfügten, beschlossen wir, noch eine populäre Zeitschrift, „Rabotscheje Djelo"9 herauszugeben. Wladimir Iljitsch bereitete sorgfältig Material für sie vor. Jede Zeile ging durch seine Hände. Ich erinnere mich an eine Zusammenkunft in meiner Wohnung, wo Saporoschez mit großer Begeisterung berichtete, wie es ihm geglückt war, Material über die Verhältnisse in der Schuhfabrik hinter dem Moskauer Tor zu erlangen. „Für jede Kleinigkeit gibt es Geldstrafe“ – erzählte er –, „setzt jemand den Absatz schief an, gleich gibt's Strafe!" Wladimir Iljitsch lachte darauf: „Na, für einen schiefen Absatz hat man eigentlich auch Strafe verdient!" Alles Material sammelte und prüfte Wladimir Iljitsch aufs Sorgfältigste. Ich weiß noch, wie das Material über die Fabrik Tornton zusammenkam. Es wurde beschlossen, meinen Schüler Krolikow, einen Aussortierer im Tornton-Betrieb, zu mir kommen zu lassen – Krolikow war früher schon einmal aus Petersburg ausgewiesen worden – und bei ihm nach einer von Wladimir Iljitsch gegebenen Anweisung alle erforderlichen Auskünfte einzuziehen. Krolikow kam in einem eleganten Pelzmantel, den er sich irgendwo geliehen hatte, und brachte ein ganzes Heft voll Informationen mit, die er mündlich noch ergänzte. Die Informationen waren äußerst wertvoll. Wladimir Iljitsch stürzte sich geradezu darauf. Später ging ich mit Appolinaria Alexandrowna Jakubowa in die Werkswohnungen des Tornton-Betriebes. Wir hatten uns Kopftücher umgebunden, um uns das Aussehen von Arbeiterinnen zu geben. Wir besuchten sowohl das Quartier der Unverheirateten wie das der Familien. Grauenvolle Verhältnisse! Nur auf Grund so gesammelten Materials schrieb Wladimir Iljitsch seine Korrespondenzen und Flugblätter. Man muss sich sein Flugblatt an die Arbeiter und Arbeiterinnen des Tornton-Betriebes einmal ansehen. Welch eine bis ins einzelne gehende Kenntnis der Verhältnisse! Und was für eine Schule war das für alle Genossen, die damals mitarbeiteten! Da lernte man, „auf Kleinigkeiten zu achten"! Und wie tief prägten sich solche Kleinigkeiten dem Bewusstsein ein! Unsere Zeitschrift „Rabotscheje Djelo" erblickte das Licht der Welt nicht. Am 8. Dezember fand in meiner Wohnung eine Sitzung statt, in der die druckfertige Nummer endgültig verlesen wurde. Sie war in zwei Exemplaren vorhanden. Das eine Exemplar nahm Wanjejew zur nochmaligen Durchsicht an sich, das andere blieb bei mir. Am nächsten Morgen ging ich zu Wanjejew, um das korrigierte Exemplar abzuholen, aber das Dienstmädchen sagte mir, Wanjejew sei am Vorabend ausgezogen. Vorher hatte ich mit Wladimir Iljitsch verabredet, dass ich mich, falls etwas Unvorhergesehenes einträfe, bei seinem Bekannten Tschebotarjew nach ihm erkundigen würde. Tschebotarjew war zugleich ein Kollege von mir in der Haupt-Eisenbahnverwaltung, in der ich damals angestellt war. Wladimir Iljitsch aß bei ihm zu Mittag und ging dort täglich ein und aus. Tschebotarjew kam nicht zum Dienst. Ich ging zu ihm in die Wohnung. Wladimir Iljitsch war nicht zum Mittagessen gekommen. Es war klar: er war verhaftet worden. Am Abend stellte es sich heraus, dass noch viele andere Mitglieder unserer Gruppe verhaftet worden waren. Das Exemplar des „Rabotscheje Djelo", das ich in Besitz hatte, brachte ich zu Nina Alexandrowna Gerd, meiner Schulkameradin und späteren Frau Struves, zur Aufbewahrung. Um weitere Verhaftungen zu vermeiden, beschlossen wir, das „Rabotscheje Djelo" vorläufig nicht erscheinen zu lassen. Diese Petersburger Periode der Tätigkeit Wladimir Iljitschs war eine Zeit außerordentlich wichtiger Arbeit, obwohl sie nach außen hin wenig in Erscheinung trat. Er selbst hat sie so charakterisiert. Sie brachte keine äußeren Effekte. Es handelte sich nicht um Heldentaten, sondern darum, die enge Verbindung mit den Massen herzustellen, an die Massen heranzukommen. Wir mussten lernen, ihre besten Bestrebungen zum Ausdruck zu bringen. Wir mussten lernen, sie zu verstehen und uns ihnen verständlich zu machen. Es kam darauf an, sie auf unsere Seite zu bringen. Aber gerade während dieser Wirksamkeit in Petersburg reifte Wladimir Iljitsch zum Führer der Arbeitermassen heran. Als ich nach der Verhaftung unserer Genossen zum ersten Mal in die Schule kam, nahm Babuschkin mich in den Winkel unter der Treppe beiseite und übergab mir ein von den Arbeitern verfasstes Flugblatt über die Verhaftung. Das Flugblatt trug einen rein politischen Charakter. Babuschkin bat mich, es vervielfältigen zu lassen und es ihm zur Verbreitung zurückzugeben. Wir hatten vorher nie davon gesprochen, dass ich mit der Organisation in Verbindung stand. Ich gab das Flugblatt an unsere Genossen weiter. Ich erinnere mich an diese Zusammenkunft, sie fand in der Wohnung St. Iw. Radtschenkos statt. Alle übriggebliebenen Mitglieder der Gruppe waren versammelt. Nach Verlesung des Flugblatts rief Ljachowski: „Wie können wir so ein Flugblatt drucken, es ist ja rein politisch gehalten!" Das Flugblatt war aber ohne Zweifel von den Arbeitern selbst, aus eigener Initiative geschrieben, sie hatten gebeten, es unbedingt zu drucken, und deshalb beschlossen wir, es zu vervielfältigen. So geschah es auch. Die Verbindung mit Wladimir Iljitsch wurde sehr bald hergestellt. Damals durfte man den Untersuchungsgefangenen Bücher bringen, soviel man wollte; sie wurden recht oberflächlich durchgesehen, so dass die winzigen Pünktchen mitten in den Buchstaben oder die kaum merklich veränderte Tönung einer Seite des Buches, auf der mit Milch geschrieben war, schwerlich wahrgenommen werden konnten. Wir vervollkommneten die Technik konspirativer Korrespondenz bald. Bezeichnend war Wladimir Iljitschs Sorge für die gefangenen Genossen. Jeder Brief in die Freiheit enthielt stets eine Reihe von Aufträgen, die die Inhaftierten betrafen: dieser bekommt gar keinen Besuch, man muss ihm eine „Braut" besorgen; jenem muss man durch Verwandte beim Besuch ausrichten lassen, dass er in dem und dem Buch der Gefängnisbibliothek, auf der und der Seite, Mitteilungen finden wird. Ein dritter muss warme Schuhe haben usw. Er korrespondierte mit sehr vielen gefangenen Genossen, für die dieser Briefwechsel ungeheure Bedeutung hatte. Wladimir Iljitschs Briefe atmeten frischen Mut und sprachen von Arbeit. Wer einen solchen Brief bekam, vergaß, dass er im Gefängnis saß und begann selbst zu arbeiten. Ich erinnere mich lebhaft an den Eindruck, den seine Briefe machten. (Im August 1896 wurde auch ich verhaftet.) Die mit Milch geschriebenen Briefe kamen Sonnabends zusammen mit den Büchern an. Man sieht nach den verabredeten Zeichen und überzeugt sich davon, dass das Buch einen Brief enthält. Um 6 Uhr gab es kochendes Wasser, und später führte die Aufseherin die Kriminellen zur Kirche. Diese Zeit benutzt man, um den Brief in lange Streifen zu zerschneiden, man gießt Tee auf, und sobald die Aufseherin fort ist, taucht man die Streifen in den heißen Tee – der Brief kommt zum Vorschein. (Im Gefängnis war es unbequem, Briefe an einer brennenden Kerze zu entwickeln, Wladimir Iljitsch verfiel deshalb darauf, sie in heißem Wasser zu entwickeln.) Welche Frische atmete solch ein Brief, mit welch packendem Interesse las er sich! Wie Wladimir Iljitsch in der Freiheit Mittelpunkt der ganzen Arbeit war, so war er es auch im Gefängnis im Verkehr mit den Genossen draußen. Abgesehen von dieser Tätigkeit arbeitete er auch sonst viel im Gefängnis. Er bereitete sein Werk „Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland" vor. Wladimir Iljitsch bestellte durch legale Briefe das nötige statistische Material. „Schade, man hat mich zu früh herausgelassen, ich hätte das Buch noch besser durcharbeiten müssen. In Sibirien wird es schwierig sein, Bücher zu bekommen", meinte er scherzhaft. Wladimir Iljitsch arbeitete im Gefängnis nicht nur an dem Buch „Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland". Er verfasste auch Flugblätter und illegale Broschüren; er entwarf das Programm für den ersten Parteitag (dieser fand zwar erst 1898 statt, war aber schon früher geplant); er erörterte Fragen, die in der Organisation diskutiert wurden. Um nicht beim Schreiben ertappt zu werden, knetete Wladimir Iljitsch kleine Milch-Tintenfässchen aus Brot, die er sofort in den Mund steckte, sobald es am Guckloch knarrte. „Heute habe ich sechs Tintenfässchen aufgegessen", scherzte er am Schluss eines Briefes. So sehr Wladimir Iljitsch sich auch zu beherrschen vermochte, so sehr er sich dem Zwang einer bestimmten Ordnung fügen konnte, offenbar übermannte auch ihn die Trübsal des Gefängnisses. In einem Brief machte er folgenden Vorschlag. Wenn sie zum Spaziergang geführt wurden, konnten sie aus einem Korridorfenster einen Augenblick lang ein Stückchen Bürgersteig der Spalernaja-Straße sehen. Er dachte sich nun aus, dass ich und Appolinaria Alexandrowna Jakubowa zu einer bestimmten Stunde kommen und uns an dieser Stelle hinstellen sollten; er könnte uns dann mal sehen. Appolinaria konnte aus irgendwelchen Gründen nicht kommen, aber ich ging einige Tage lang hin und stand lange Zeit auf diesem Fleckchen. Aber der Plan scheint nicht geglückt zu sein, ich weiß nicht mehr, warum nicht. Während Wladimir Iljitsch im Gefängnis saß, nahm die Arbeit draußen dauernd an Umfang zu, die Arbeiterbewegung wuchs spontan. Durch die Verhaftung Martows, Ljachowskis und anderer büßte die Gruppe noch mehr Kräfte ein. Es traten wohl neue Genossen in die Gruppe ein, aber das waren schon ideologisch weniger geschulte Elemente, und zum Lernen war keine Zeit. Die Bewegung wollte bedient sein; sie erforderte eine Unmenge Kräfte; alles ging für die Agitation drauf; an Propaganda war nicht zu denken. Die Flugblattagitation hatte großen Erfolg. Die Flugblätter wurden oft in Eile, ohne genügende Kenntnis der konkreten Bedingungen verfasst. Der Weberstreik im Jahre 1896 stand unter dem Einfluss der Sozialdemokraten und stieg vielen in den Kopf. Es entstand der Boden, auf dem der Ökonomismus seine Blüten treiben konnte. Ich weiß noch, wie Silwin uns einmal in einer Versammlung im Walde von Pawlowsk (ich glaube, es war Anfang August) den Entwurf eines Flugblatts vorlas. Dort hatte sich an einer Stelle ein Satz eingeschlichen, der die Arbeiterbewegung direkt auf den nur ökonomischen Kampf beschränkte. Silwin las diese Stelle vor, stockte und rief lachend: „Na, da habe ich was angerichtet, wie konnte mir das nur unterlaufen!" Der Satz wurde gestrichen. Im Sommer 1896 ging die Lachta-Druckerei hoch. Es gab keine Möglichkeit mehr, Broschüren zu drucken. Den Gedanken an eine Zeitschrift musste man für lange Zeit zurückstellen. Während des Streiks von 1896 schlossen sich zwei Gruppen uns an: die Tachtarew-Gruppe, bekannt unter dem Namen die „Affen", und die Tschernyschew-Gruppe, auch die „Hähne" genannt. (Am 12. August traf uns neues Unheil. Fast alle „Alten" und die besten Elemente der „Hähne" wurden verhaftet.) Aber solange die „Dekabristen"10 im Gefängnis saßen und die Verbindung mit der Freiheit aufrechterhielten, ging die Arbeit noch in der alten Weise weiter. Als Wladimir Iljitsch aus dem Gefängnis entlassen wurde, war ich noch inhaftiert. Trotz der Benommenheit, die jeden aus dem Gefängnis Entlassenen umfängt, trotz der endlosen Kette von Zusammenkünften brachte Wladimir Iljitsch es doch fertig, ein Briefchen über den Gang der Sache zu schreiben. Meine Mutter berichtete, dass er sich im Gefängnis sogar erholt habe und sehr lustig sei. Ich wurde bald nach der Wetrowa-Affäre aus der Haft entlassen. (Die politische Gefangene Wetrowa verübte in der Festung Selbstmord durch Verbrennung.) Die Polizei entließ damals eine ganze Anzahl Frauen aus dem Gefängnis. Ich durfte bis zur Beendigung des Verfahrens in Petersburg bleiben; man hängte mir nur einige Spitzel an, die mir auf Schritt und Tritt nachgingen. Ich fand die Organisation im kläglichsten Zustand vor. Von den früheren Mitarbeitern waren nur Stepan Iwanowitsch Radtschenko und seine Frau übriggeblieben. Radtschenko konnte wegen der konspirativen Bedingungen zwar selbst nicht arbeiten, blieb aber Mittelpunkt der Organisation und hielt die Verbindungen aufrecht. Er hielt auch den Kontakt mit Struve aufrecht. Struve heiratete bald darauf die Sozialdemokratin Nina Alexandrowna Gerd. Er selbst zählte sich damals auch zu den Sozialdemokraten. Er war für die Arbeit in einer Organisation, noch dazu einer illegalen, völlig ungeeignet, aber es schmeichelte ihm natürlich, dass wir uns mit ihm berieten. Er verfasste sogar das Manifest für den ersten Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Im Winter 1897/98 war ich im Auftrage von Wladimir Iljitsch ziemlich oft bei Struves. Struve gab damals das „Nowoje Slowo"11 heraus. Auch sonst verband mich vieles mit Nina Alexandrowna. Ich versuchte, mir über Struve ein Urteil zu bilden. Er war damals aufrichtiger Sozialdemokrat, aber es befremdete mich, dass er nur ein Bücherwissen besaß und fast überhaupt kein Interesse für den „lebendigen Strom des Lebens" hatte, ein Interesse, das bei Wladimir Iljitsch in so hohem Maße vorhanden war. Struve besorgte mir eine Übersetzung und übernahm es, sie zu redigieren. Offenbar war ihm diese Arbeit aber lästig, er ermüdete schnell. (Wladimir Iljitsch und ich saßen stundenlang bei ähnlicher Arbeit. Wladimir Iljitsch arbeitete ganz anders. Er gab sich der Arbeit ganz hin, auch wenn es nur eine Übersetzungsarbeit war.) Struve las zur Erholung gern die Gedichte von Fet12. Jemand hat in seinen Erinnerungen behauptet, Wladimir Iljitsch habe Fet gern gehabt. Das stimmt nicht. Fet ist ein erzreaktionärer Verfechter der Leibeigenschaft, der keinen fortschrittlichen Gedanken aufzuweisen hat. Struve dagegen liebte Fet wirklich. Wladimir Iljitsch gegenüber verhielt sich Struve damals ohne Zweifel sehr gut. Auch Tugan-Baranowski kannte ich. Ich war mit seiner Frau, Lydia Karlowna Dawydowa (der Tochter der Herausgeberin des „Boschi Mir"13), zusammen zur Schule gegangen und verkehrte eine Zeitlang bei ihnen. Lydia Karlowna war eine sehr kluge und gute, wenn auch willenlose Frau. Sie war klüger als ihr Mann. Bei der Unterhaltung mit ihm empfand man immer das fremde Element. Einmal wandte ich mich mit einer Sammelliste für einen Streik an ihn. (Ich glaube, es war der in Kostroma14.) Ich bekam zwar etwas – ich weiß nicht mehr, wie viel –, musste aber einen Vortrag über mich ergehen lassen über das Thema: „Es sei doch unverständlich, warum man Streiks unterstützen solle, ein Streik sei kein genügend wirksames Mittel im Kampfe gegen die Unternehmer." Ich nahm das Geld und machte, dass ich fortkam. Ich teilte Wladimir Iljitsch alles mit, was ich zu sehen und zu hören bekam. Über die Arbeit der Organisation gab es allerdings nur wenig zu schreiben. Zur Zeit des Parteitages umfasste sie nur vier Personen: Stepan Iwanowitsch Radtschenko, seine Frau Ljubow Nikolajewna, Sammer und mich. Wir delegierten Stepan Iwanowitsch zum Parteitag. Aber nach seiner Rückkehr erzählte er uns von dem, was dort vorgegangen war, nur sehr wenig. Ich wurde zu drei Jahren Verbannung im Gouvernement Ufa verurteilt. Ich bat, mich in das Dorf Schuschenskoje, im Kreise Minussinsk, zu schicken, wohin Wladimir Iljitsch verbannt war, und begründete es damit, dass ich seine „Braut" wäre. 1 Der genaue Titel lautet: „Was lind die Volksfreunde und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten?" 2 Straße, in der sich das Haus der Ochrana (politische Polizei) befand. 3 Opportunistische Strömung in der russischen Sozialdemokratie, die die Bewegung auf den Kampf um rein wirtschaftliche Forderungen beschränken wollte. 4 Zu deutsch: Kinderdorf, früher Zarskoje Selo (Zarendorf). 5 „Befreiung der Arbeit" war eine sozialdemokratische Organisation, die 1883 von Plechanow, Axelrod, Vera Sassulitsch, Leo Deutsch und Ignatow gegründet wurde und bis zum 2. Parteitag (1903) bestand, auf dem die Gruppe, im Zusammenhang mit der Gründung einer einigen Partei, ihr selbständiges Bestehen aufgab. Die Gruppe hat in der Geschichte der russischen Sozialdemokratie, deren Tätigkeit sie eine theoretische Begründung gab, eine außerordentlich wichtige Rolle gespielt. 6 Eine Straße, zu deutsch: Seeweg. 7 Einrichtung der russischen Polizeiverwaltung, ähnlich unserm ..Meldeamt". 8 Fabrikviertel in Petersburg. 9 Zu deutsch: „Die Arbeitersache". 10 „Dekabristen" nannte man scherzhaft die Gruppe von Genossen, die im Dezember 1895 verhaftet worden waren. 11 Zu deutsch: „Das neue Wort." Legale marxistische Zeitschrift, an der auch Lenin eine Zeitlang mitarbeitete. 12Lyrischer Dichter, lebte 1820-1892. 13 Zu deutsch: „Die Welt Gottes". 14 Stadt in Zentralrussland. |