Das Jahr 1905 In der Emigration Schon im November 1904 hatte Iljitsch in der Broschüre „Die Semstwokampagne und der Plan der ,Iskra'" und später im Dezember in den im „Wperjod" Nr. 1-3 veröffentlichten Artikeln geschrieben, dass die Zeit des wirklichen offenen Befreiungskampfes der Massen heranrücke. Er spürte das Herannahen eines revolutionären Ausbruchs deutlich. Aber es ist natürlich etwas anderes, dieses Herannahen nur zu spüren, als zu erfahren, dass die Revolution wirklich ausgebrochen ist. Als daher die Meldungen über den 9. Januar in Genf eintrafen, die Nachrichten über die konkrete Form, in der die Revolution begonnen hatte, war es, als ob die ganze Umwelt sich mit einem Schlage verändert hätte, als ob alles bis jetzt Gewesene irgendwie in eine ferne Vergangenheit rückte. Die Meldung von den Ereignissen des 9. Januar gelangte am nächsten Morgen nach Genf. Wladimir Iljitsch und ich waren gerade auf dem Wege zur Bibliothek und trafen unterwegs Lunatscharskis, die im Begriff waren, zu uns zu gehen. Ich sehe noch die Gestalt von Frau Lunatscharski, Anna Alexandrowna, vor mir. Sie konnte vor Aufregung kein Wort herausbringen und winkte nur unbeholfen mit dem Muff. Wir gingen in die Speisewirtschaft der Emigranten bei Lepeschinskis, wohin alle Bolschewiki, die die Mitteilung von den Petersburger Ereignissen erhalten hatten, instinktiv eilten. Man hatte allgemein das Bedürfnis, zusammen zu sein. Niemand sprach ein Wort. Jeder kämpfte mit seiner Erregung. Man stimmte spontan den Trauermarsch an: „Als Opfer seid ihr gefallen …" Die Gesichter trugen den Ausdruck der Sammlung. Alle bewegte das Bewusstsein: die Revolution hat bereits begonnen, die Netze des Glaubens an den Zaren sind zerrissen, der Zeitpunkt ist schon ganz nahe herangekommen, wo „die Willkür zerbricht und das Volk steht auf, das mächtige, kraftvolle, freie". Für uns begann jenes eigenartige Leben, das die ganze Genfer Emigration damals führte: von einer Ausgabe der lokalen Zeitung „Tribunka" bis zur andern. Iljitsch war mit allen seinen Gedanken in Russland. Bald darauf kam Gapon nach Genf. Er geriet zuerst unter die Sozialrevolutionäre1, und diese stellten die Sache so hin, als sei Gapon „ihr" Mann und als hätten sie auch die ganze Arbeiterbewegung in Petersburg ins Leben gerufen. Sie machten für Gapon eine riesige Reklame und hoben ihn in den Himmel. Gapon stand damals im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit. Die englische Zeitung „Times" zahlte ihm für jede Zeile horrende Summen. Einige Zeit nach Gapons Ankunft in Genf kam gegen Abend eine Dame zu uns und teilte Wladimir Iljitsch mit, Gapon möchte ihn gern einmal sprechen. Als Ort der Zusammenkunft vereinbarte man einen neutralen Boden, ein Café. Der Abend brach an. Iljitsch machte kein Licht und ging im Zimmer auf und ab. Gapon war ein lebendiges Stück der in Russland heranreifenden Revolution, mit den Arbeitermassen eng verbunden, ein Mensch, der großen Einfluss auf sie ausübte. Und deshalb regte diese Zusammenkunft Iljitsch auf. Ein Genosse hat sich einmal vor kurzem darüber empört: wie konnte Wladimir Iljitsch sich nur mit Gapon einlassen. Gewiss, man hätte Gapon einfach übergehen und von vornherein annehmen können, dass von einem Pfaffen nichts Gutes kommen kann. So verhielt sich z. B. Plechanow, der Gapon äußerst kalt empfing. Aber Iljitschs Stärke bestand ja eben darin, dass die Revolution für ihn lebendig war, dass er es verstand, in ihren Zügen zu lesen, sie in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit zu erfassen, dass er wusste und verstand, was die Massen wollten. Die Kenntnis der Masse gewinnt man aber nur durch Berührung mit ihr. Wie hätte Iljitsch an einem Manne vorbeigehen können, der der Masse so nahestand und solche Gewalt über sie hatte, wie Gapon. Als er von der Zusammenkunft heimkam, erzählte Wladimir Iljitsch, welchen Eindruck Gapon auf ihn gemacht hatte. Gapon war noch ganz umweht vom Atem der Revolution. Wenn er von den Petersburger Arbeitern erzählte, geriet er in Feuer, er schäumte über vor Entrüstung und Empörung über den Zaren und seine Helfershelfer. In dieser Empörung lag nicht wenig Naivität, aber um so unmittelbarer wirkte sie. Die Stärke dieser Empörung entsprach ganz der Empörung der Arbeitermassen. „Er muss nur lernen“ – sagte Wladimir Iljitsch –, „ich habe zu ihm gesagt: ,Hören Sie nicht auf Schmeicheleien, Väterchen! Lernen Sie, sonst werden Sie dorthin geraten', und ich zeigte unter den Tisch." Am 8. Februar schrieb Wladimir Iljitsch in Nr. 7 des „Wperjod": „Wir möchten nur wünschen, dass es Georgi Gapon, der den Übergang von den Vorstellungen des politisch unbewussten Volkes zu revolutionären Vorstellungen so jäh erlebt und mitempfunden hat, gelingen möge, sich die für den politisch Handelnden notwendige Klarheit der revolutionären Weltanschauung zu erarbeiten." Gapon hat sich diese Klarheit niemals erarbeitet. Er war der Sohn eines reichen ukrainischen Bauern und hat den Zusammenhang zu seiner bäuerlichen Familie und seinem Heimatdorfe lebenslänglich bewahrt. Er kannte die Nöte der Bauern gut, seine Sprache war schlicht und der grauen Arbeitermasse verständlich. Seine Herkunft, seine Verbundenheit mit dem Dorfe ist vielleicht eins der Geheimnisse seines Erfolgs. Aber es lässt sich schwer ein Mensch denken, der so völlig durchtränkt war mit pfäffischer Psychologie, wie Gapon. Er hatte bis dahin ein revolutionäres Milieu nie gekannt und war seiner ganzen Natur nach alles andere als ein Revolutionär. Er war ein schlauer Pfaffe, stets zu allen möglichen Kompromissen bereit. Aus seiner Entwicklung erzählte er einmal folgende Einzelheit: „Eine Zeitlang quälten mich Zweifel, mein Glaube war ins Wanken geraten. Ich wurde ganz krank davon und machte eine Reise in die Krim. Dort lebte zu jener Zeit ein Einsiedler, der im Ansehen stand, ein heiliges Leben zu führen. Ich reiste zu ihm, um meinen Glauben wieder zu festigen. Wie ich zu dem Einsiedler komme, steht er betend an einem Quell. Um ihn hat sich Volk versammelt, und er hält gerade den Gottesdienst ab. In dem Quell gibt es eine hufeisenförmige Vertiefung, die der Gaul des siegreichen heiligen Georgius hinterlassen haben soll. ,Das ist natürlich Unsinn, aber darauf kommt es auch nicht an – denke ich –, jedenfalls hat der Einsiedler einen tiefen Glauben.' Nach dem Gottesdienst gehe ich also zu ihm und bitte ihn um seinen Segen. Da legt er sein Priestergewand beiseite und sagt: ,Wir haben hier einen Laden mit Lichtern aufgemacht und ganz hübsch dabei verdient!' Da hatte ich nun meinen Glauben! Ich weiß nicht, wie ich lebendig nach Hause gekommen bin. Ein Freund von mir, der Maler Wereschtschagin, drang in mich: ,Leg doch die Priesterwürde nieder!' Aber ich entschied mich damals so: heute sind die Eltern im Dorf geachtet, der Vater ist Dorfältester und steht bei allen Leuten in hohem Ansehen. Lege ich aber mein Amt nieder, dann wird man ihm an den Kopf werfen: Dein Sohn ist ein Abtrünniger! So habe ich die Priesterwürde nicht niedergelegt." – In dieser Erzählung steckt der ganze Gapon. Er verstand nicht zu lernen. Auf Scheibenschießen und Reiten hat er nicht wenig Zeit verwandt, aber für Bücher hatte er nicht viel übrig. Er machte sich zwar auf Anraten von Iljitsch an die Lektüre der Plechanowschen Aufsätze, aber er tat es, wie man eine Pflicht erfüllt. Gapon verstand nicht, aus Büchern zu lernen. Aber er verstand auch nicht, aus dem Leben zu lernen. Die pfäffische Psychologie hatte seinen Blick ganz umnebelt. Er kehrte nach Russland zurück und glitt bald den Abgrund hinab. – Von den ersten Tagen der Revolution an war Iljitsch bereits die ganze Perspektive klar. Er begriff: die Bewegung werde lawinenartig anwachsen. Das revolutionäre Volk werde nicht auf halbem Wege stehenbleiben. Man werde es nicht aufhalten können. Die Arbeiter würden der Autokratie eine Schlacht liefern. Ob die Arbeiter dabei siegen oder ob sie besiegt werden würden, musste sich im Ausgang des Kampfes zeigen. Jedenfalls kam es darauf an, so gut wie irgend möglich gerüstet zu sein. Iljitsch hatte stets einen besonderen Instinkt, ein tiefes Verständnis dafür, was die Arbeiterklasse im gegebenen Augenblick bewegte. Die Menschewiki orientierten sich auf die liberale Bourgeoisie. Sie meinten, man müsse die liberale Bourgeoisie in Bewegung setzen, man müsse die Revolution „entfesseln" – Iljitsch aber wusste, dass die Arbeiterklasse bereits entschlossen war, den Kampf bis zu Ende zu führen. Und er war mit ihr. Er war sich darüber klar, dass man nicht auf halbem Wege stehenbleiben durfte. Das hätte eine solche Demoralisierung bedeutet, hätte die Kampfkraft der Arbeiterklasse so herabgesetzt und der Sache einen so großen Schaden zugefügt, dass man das unter keinen Umständen tun durfte. Und die Geschichte hat gezeigt: die Arbeiterklasse erlitt in der Revolution von 1905 zwar eine Niederlage, aber sie blieb unbesiegt, ihre Kampfbereitschaft wurde nicht gebrochen. Das begriffen jene nicht, die Lenin wegen seiner „Geradlinigkeit" angriffen und die nach der Niederlage nichts anderes zu sagen wussten, als dass man „nicht zu den Waffen hätte greifen dürfen". Wer seiner Klasse treu bleiben wollte, der konnte nicht anders als zu den Waffen greifen. Die Avantgarde durfte ihre kämpfende Klasse nicht im Stich lassen. Und darum rief Iljitsch unermüdlich die Avantgarde der Arbeiterklasse, die Partei, zum Kampfe, zur Organisation, zur Arbeit für die Bewaffnung der Massen auf. Darüber schrieb er im „Wperjod" und in seinen Briefen nach Russland. „Der neunte Januar 1905 hat den ganzen Vorrat gewaltiger revolutionärer Energie, die im Proletariat steckt, aber zugleich auch die ganze Mangelhaftigkeit der Organisation unserer Partei zutage treten lassen" – schrieb Wladimir Iljitsch Anfang Februar in dem Artikel „Müssen wir die Revolution organisieren?", von dem jede Zeile ein Appell ist, von Worten zu Taten überzugehen. Iljitsch hatte nicht nur alles gelesen und aufs Sorgfältigste durchdacht, was Marx und Engels über die Revolution und den Aufstand geschrieben haben. Er hatte gar manches Werk über Kriegskunst gelesen und die Technik und Organisation des bewaffneten Aufstandes nach allen Seiten hin erwogen. Er beschäftigte sich mit dieser Sache viel mehr, als man weiß, und seine Äußerungen über die Stoßtrupps während des Partisanenkrieges, über die Fünfer- und Zehnergruppen waren nicht Laiengeschwätz, sondern ein allseitig durchdachter Vorschlag. Der Beamte der „Société de Lecture" war Zeuge dessen, wie Tag für Tag früh morgens ein russischer Revolutionär in den Lesesaal kam. Er trug die billigen Hosen auf Schweizer Art zum Schutz vor dem Straßenschmutz umgeschlagen und vergaß sie nach dem Eintreten zurückzuschlagen. Er nahm das vom vorigen Tage liegengebliebene Buch über Barrikadenkampf, über die Technik des Angriffs, zur Hand, setzte sich an den gewohnten Platz an das Tischchen neben dem Fenster, strich mit der gewohnten Handbewegung das dünne Haar auf dem Kahlkopf zurecht und vertiefte sich in die Lektüre. Nur manchmal stand er auf, um ein großes Wörterbuch vom Regal zu nehmen und dort die Erklärung eines unbekannten technischen Ausdrucks aufzusuchen. Danach ging er auf und ab, setzte sich wieder an den Tisch und brachte rasch und konzentriert in kleiner Handschrift seine Notizen zu Papier. Die Bolschewiki machten alle Mittel und Wege ausfindig, um Waffen nach Russland zu transportieren. Aber was geschehen konnte, war ja nur ein Tropfen in einem Meer. In Russland (Petersburg) bildete sich ein Kampfkomitee, aber es kam nur langsam vorwärts. Iljitsch schrieb nach Petersburg: „In einer solchen Sache sind Schemata, Streitigkeiten und Unterhaltungen über die Fraktionen des Kampfkomitees und über seine Rechte am allerwenigsten am Platze. Hier ist ungestüme Energie und nochmals Energie erforderlich. Ich sehe mit Entsetzen, wahrhaftig, mit Entsetzen, dass man über ein halbes Jahr von Bomben redet und noch keine einzige gemacht hat. Und das reden die gescheitesten Leute. Geht zu der Jugend, Herrschaften! Das ist das einzige Mittel, das noch helfen kann. Sonst kommt ihr wirklich zu spät (ich sehe das an allem), und es wird bei euren ,gelehrten' Notizen, Plänen, Zeichnungen, Schemata, bei euren ausgezeichneten Rezepten bleiben, aber ohne Organisation, ohne lebendige Tat! … Lasst doch die Formalitäten! Pfeift doch auf alle Schemata! Schickt doch in Gottes Namen alle ,Funktionen, Rechte und Privilegien' zum Teufel …" Die Bolschewiki haben nicht wenig zur Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes beigetragen, sie haben vielfach ungeheuren Heldenmut an den Tag gelegt und jeden Augenblick ihr Leben eingesetzt. Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes – das war die Losung der Bolschewiki. Auch Gapon redete vom bewaffneten Aufstand. Bald nach seiner Ankunft trat er mit dem Vorschlag eines Kampfbündnisses zwischen den revolutionären Parteien auf. Wladimir Iljitsch würdigte Gapons Vorschlag in Nr. 7 des „Wperjod" (vom 8. Februar 1905) und beleuchtete die ganze Frage des Kampfbündnisses eingehend. Gapon übernahm es, die Petersburger Arbeiter mit Waffen zu versorgen. Er verfügte über allerlei Spenden, die bei ihm eingingen. Damit machte er in England Waffenkäufe. Endlich war die Sache so weit. Man machte ein Schiff, „Grafton", ausfindig, dessen Kapitän bereit war, Waffen mitzunehmen und sie auf einer der Inseln unweit der russischen Grenze auszuladen. Gapon hatte von illegalen Transportangelegenheiten keine Ahnung und stellte sich die Sache viel einfacher vor, als sie in Wirklichkeit war. Er besorgte sich von uns einen illegalen Pass und Beziehungen und brach nach Petersburg auf, um die Angelegenheit in die Wege zu leiten. Wladimir Iljitsch erblickte darin den Übergang von Worten zu Taten. Die Arbeiter brauchten dringend Waffen. Bei dem ganzen Unternehmen kam jedoch gar nichts heraus. Die „Grafton" fuhr auf eine Sandbank auf, und es erwies sich überhaupt als unmöglich, an die betreffende Insel heranzukommen. Aber auch in Petersburg konnte Gapon gar nichts ausrichten. Er war gezwungen, sich in elenden Arbeiterwohnungen verborgen zu halten und unter fremdem Namen zu leben. Jeder Verkehr war ungeheuer erschwert. Die Adressen der Sozialrevolutionäre, mit denen er Verabredungen über den Empfang des Transports treffen sollte, stellten sich als gar nicht vorhanden heraus. Die Bolschewiki waren die einzigen, die ihre Leute auf die Insel schickten. Das alles machte auf Gapon einen niederschmetternden Eindruck. Illegal leben und hungern müssen, ohne sich jemandem zeigen zu dürfen – das ist eben etwas ganz anderes, als ohne jedes Risiko in tausendköpfigen Versammlungen aufzutreten. Einen konspirativen Waffentransport konnten nur Männer organisieren, die eine ganz andere revolutionäre Schulung hinter sich hatten als Gapon, Männer, die zu jedem noch so großen Opfer bereit waren … Die andere Losung Iljitschs lautete: Unterstützung des Kampfes der Bauern um den Grund und Boden. Das sollte der Arbeiterklasse die Möglichkeit geben, sich in ihrem Kampfe auf die Bauernschaft zu stützen. Der Bauernfrage hat Wladimir Iljitsch stets viel Aufmerksamkeit gewidmet, obgleich er nur das Proletariat als konsequent revolutionäre Klasse betrachtete. Bei der Besprechung des Parteiprogramms für den zweiten Parteitag hatte Wladimir Iljitsch seinerzeit die Losung aufgestellt und mit Nachdruck vertreten, man müsste den Bauern die abgetrennten Bodenstücke zurückgeben, deren sie bei der Reform von 18612 verlustig gegangen waren. Um die Bauernschaft zu gewinnen, hielt er es für notwendig, eine den Bauern möglichst verständliche konkrete Forderung aufzustellen. Seinerzeit hatten die Sozialdemokratischen die Agitation unter den Arbeitern mit dem Kampf iür heißes Teewasser, für Verkürzung der Arbeitszeit und für rechtzeitige Auszahlung des Lohnes begonnen. Ebenso musste man auch die Bauernschaft um eine konkrete Losung organisieren. Das Jahr 1905 veranlasste Iljitsch, diese Frage zu revidieren. Gespräche mit Gapon, einem Manne bäuerlicher Herkunft, der noch mit dem Dorfe in Verbindung stand, Gespräche mit Matjuschenko, einem Matrosen vom „Potemkin", Gespräche endlich mit einer ganzen Anzahl von Arbeitern, die aus Russland kamen und in die Verhältnisse auf dem Lande guten Einblick hatten, brachten Iljitsch zu der Überzeugung, dass die Losung der Rückgabe der abgetrennten Bodenstücke nicht ausreiche und dass man eine umfassendere Losung aufstellen müsse: die Losung der Konfiskation des gesamten Großgrundbesitzes, einschließlich der Kron- und Kirchengüter. Nicht umsonst hatte Iljitsch seinerzeit die Statistiken so eifrig durchforscht und sich den ökonomischen Zusammenhang zwischen Stadt und Land, zwischen Groß- und Kleinindustrie, zwischen Arbeiterklasse und Bauerntum bis in alle Einzelheiten klargemacht. Er sah den Augenblick gekommen, wo dieser ökonomische Zusammenhang die Basis für den machtvollen politischen Einfluss des Proletariats auf die Bauernschaft abgeben musste. Ich erinnere mich noch folgender Szene: Gapon hatte einmal einen Aufruf verfasst und bat Wladimir Iljitsch, ihn sich anzuhören. Er hub an, den Aufruf mit großem Pathos vorzulesen. Der Aufruf strotzte von Flüchen gegen den Zaren. „Was brauchen wir einen Zaren“ – hieß es u. a. –, „soll doch die Erde nur einen Wirt haben, unsern Herrgott, und ihr alle sollt seine Pächter sein!" (Der Kampf um die Herabsetzung des Pachtzinses stand nämlich noch im Mittelpunkt der Bauernbewegung) Wladimir Iljitsch lachte auf, das Bild war wirklich zu naiv. Aber anderseits trat sehr plastisch hervor, wodurch Gapon bei der Masse Anklang fand. Selber ein Bauer, verstand er es, bei den noch halb mit dem Dorfe zusammenhängenden Arbeitern den von alters her eingewurzelten Bodenhunger zu entfachen. Wladimir Iljitschs Lachen machte Gapon verlegen. „Ist vielleicht etwas nicht richtig?“ – meinte er –, „sagen Sie es mir bitte, ich werde es korrigieren." Wladimir Iljitsch wurde sogleich wieder ernst. „Nein“ – sagte er –, „das hätte doch keinen Zweck! Ich habe eine ganz andere Art zu denken. Schreiben Sie nur in Ihrer Sprache, auf Ihre Art!" Noch eine andere Szene fällt mir ein. Es war nach dem dritten Parteitag, nach der Meuterei auf dem „Potemkin". Die Mannschaft des „Potemkin" war in Rumänien interniert worden und in furchtbare Not geraten. Gapon hatte damals viel Geld für seine Memoiren erhalten, und auch sonst flossen ihm allerlei Spenden für die Sache der Revolution zu. Er beschäftigte sich ganze Tage lang mit dem Einkauf von Kleidung für die „Potemkin"-Mannschaft. Einer der angesehensten Teilnehmer an der Meuterei auf dem „Potemkin", der Matrose Matjuschenko, kam nach Genf und freundete sich mit Gapon an; sie wurden fast unzertrennlich. Damals besuchte uns ein junger Genosse aus Moskau (sein Deckname ist mir entfallen), ein junger rotbäckiger Mann, Verkäufer in einer Buchhandlung, der erst unlängst zur Partei gekommen war. Er hatte einen Auftrag aus Moskau. Er erzählte, wie und warum er Sozialdemokrat geworden war, sprach des langen und breiten darüber, warum das Programm der sozialdemokratischen Partei richtig sei, und begann es mit dem Eifer eines Neubekehrten Punkt für Punkt vorzutragen. Wladimir Iljitsch langweilte sich etwas, ging in die Bibliothek und ließ mich mit dem jungen Mann allein. Ich lud ihn zum Tee ein und versuchte, aus ihm herauszuholen, was herauszuholen war. Der junge Mann fuhr fort, das Programm zu deklamieren. In diesem Augenblick kamen Gapon und Matjuschenko hinzu. Ich setzte auch ihnen Tee vor, während der junge Mann dabei war, die Theorie von den „abgetrennten Bodenstücken" darzulegen. Und als er nun zu beweisen begann, dass die Bauern nur bis zum Kampf um die abgetrennten Bodenstücke gehen dürften und nicht weiter, brausten Matjuschenko und Gapon auf: „Der ganze Boden muss dem Volke gehören!" Ich weiß nicht, wie die Sache geendet hätte, wenn Iljitsch nicht dazugekommen wäre. Er erfasste sogleich den Kern des Streites, ging aber nicht darauf ein, sondern nahm Gapon und Matjuschenko mit in sein Zimmer. Ich ließ den jungen Mann bald gehen. Auf der Dezember-Konferenz in Tammerfors brachte Iljitsch dann den Antrag ein, den Punkt der „abgetrennten Bodenstücke" ganz aus dem Programm zu streichen. Statt dessen wurde ein Punkt über die Unterstützung der revolutionären Maßnahmen der Bauernschaft einschließlich der Konfiskation des Großgrundbesitzes, der Kron-, Kirchen-, Kloster- und Apanagengüter aufgenommen. Der deutsche Sozialdemokrat Kautsky, der damals sehr großen Einfluss besaß, sah die Sache anders an. Er schrieb in der „Neuen Zeit", dass die städtische revolutionäre Bewegung in Russland in der Frage des Verhältnisses zwischen Bauerntum und Grundbesitzern neutral bleiben müsse. Heute ist Kautsky einer der größten Verräter an der Sache der Arbeiterklasse, aber damals galt er als revolutionärer Sozialdemokrat. Als ein anderer deutscher Sozialdemokrat, Bernstein, zu Ende der neunziger Jahre das Banner des Kampfes gegen den Marxismus erhob und zu beweisen begann, dass man die Marxsche Lehre revidieren müsse, dass in der Marxschen Lehre vieles veraltet und überholt sei, dass das Ziel (der Sozialismus) nichts und die Bewegung alles sei, – da trat Kautsky offen gegen Bernstein auf, um die Marxsche Lehre zu verteidigen. Potressow hatte seinerzeit Wladimir Iljitsch die deutsche Ausgabe von Kautskys Büchlein gegen Bernstein („Anti-Bernstein") in die Verbannung zugesandt. Es hatte Wladimir Iljitsch außerordentlich gefallen. Wir begannen, es für die Genossen in der Verbannung zu übersetzen und waren in zwei Wochen mit der Übersetzung fertig. Kautsky galt damals allgemein als der revolutionärste und konsequenteste Schüler von Marx. Seine Behauptung hatte Iljitsch deshalb stutzig und nachdenklich gemacht. Er nahm Kautsky sogar in Schutz, indem er zugab, dass Kautskys Behauptung für die westeuropäischen Verhältnisse vielleicht zutreffe, aber die russische Revolution könne nur siegen, wenn sie sich auf die Bauernschaft stütze. Kautskys Äußerung veranlasste Iljitsch jedoch, nachzuprüfen, ob Kautsky den Standpunkt von Marx und Engels richtig darlege. Wladimir Iljitsch studierte, wie Marx sich im Jahre 1846 zur Agrarbewegung in Amerika und wie Engels sich im Jahre 1885 zu Henry George verhalten hatte. Im April schrieb Wladimir Iljitsch bereits den Artikel: „Marx über die ,schwarze Umteilung' in Amerika". Dieser Artikel schließt mit den Worten: „Es wird wohl kaum ein zweites Land auf der Welt geben, wo das Bauerntum solche Leiden, solche Unterdrückung und Erniedrigung zu erdulden hat wie in Russland. Je hoffnungsloser diese Unterdrückung war, um so machtvoller wird jetzt sein Erwachen sein, um so unüberwindlicher sein revolutionärer Vorstoß. Sache des bewussten revolutionären Proletariats ist es, diesen Vorstoß mit allen Kräften zu unterstützen, damit in dem alten, verfluchten, feudalistisch-absolutistischen Sklaven-Russland kein Stein auf dem andern bleibt, damit eine neue Generation von freien und mutigen Menschen entsteht, ein neues republikanisches Land, in dem sich unser proletarischer Kampf für den Sozialismus in aller Freiheit entfalten kann." Das bolschewistische Zentrum befand sich in Genf an der Ecke der berühmten, von russischen Emigranten bewohnten Rue de Carouge und des Arve-Ufers. Hier waren die Räume der Redaktion und Expedition des „Wperjod", hier war der bolschewistische Mittagstisch von Lepeschinskis, hier wohnten Bontsch-Brujewitsch, Ljadow (Mandelstamms) und Iljins. Bei Bontsch-Brujewitschs gingen Orlowski, Olminski und andere dauernd ein und aus. Bogdanow verabredete sich bei seiner Rückkehr nach Russland mit Lunatscharski, worauf dieser ebenfalls nach Genf übersiedelte und in die Redaktion des „Wperjod" eintrat. Lunatscharski erwies sich als glänzender Redner und trug sehr viel zur Festigung der bolschewistischen Position bei. Seit dieser Zeit gewann Wladimir Iljitsch Lunatscharski sehr gern, freute sich stets, wenn er kam und hatte selbst noch während der Differenz mit der Gruppe „Wperjod" große Sympathie für ihn. Auch Anatolij Wassiljewitsch3 war in Iljitschs Gegenwart immer besonders angeregt und geistreich. Ich weiß noch, wie Anatolij Wassiljewitsch einmal nach seiner Rückkehr von der Front – ich glaube, es war 1919 oder 1920 – Wladimir Iljitsch seine Eindrücke beschrieb und wie Wladimir Iljitsch ihm mit glänzenden Augen zuhörte. Lunatscharski, Worowski und Olminski – welche Stütze war das für den „Wperjod"! – Die ganze Geschäftsführung lag in den Händen Wladimir Dimitrijewitsch Bontsch-Brujewitschs, eines Menschen, der unentwegt strahlte und allerhand großartige Pläne entwarf; er verwaltete die Druckerei. Fast jeden Abend kamen die Bolschewiki im Café Landold zusammen und saßen dort bis in die Nacht bei einem Schoppen Bier. Man besprach die Ereignisse in Russland und machte Pläne. Viele reisten ab, viele bereiteten sich zur Abreise vor. In Russland wurde für den dritten Parteitag agitiert. Seit dem zweiten Parteitag hatte sich so vieles verändert, das Leben hatte so viele neue Fragen aufgeworfen, dass ein neuer Parteitag unbedingt erforderlich war. Die Mehrzahl der Komitees sprach sich für einen Parteitag aus. Es wurde ein „Büro der Komitees der Mehrheit" gebildet. Das ZK hatte eine Reihe neuer Mitglieder, darunter auch Menschewiki, kooptiert. Es war in seiner Mehrheit versöhnlerisch und bremste die Einberufung des dritten Parteitags auf jede Weise ab. Nach dem Auffliegen des ZK in der Wohnung des Schriftstellers Leonid Andrejew in Moskau gaben die in Freiheit verbliebenen Mitglieder des ZK ihre Einwilligung zur Einberufung des Parteitags. Der Parteitag sollte in London tagen. Offensichtlich hätten die Bolschewiki auf ihm die Mehrheit gehabt. Deshalb blieben die Menschewiki der Tagung fern und beriefen ihre Delegierten zu einer Konferenz nach Genf. Von Mitgliedern des ZK kamen die Genossen Sommer (auch Mark oder Ljubimow genannt) und Winter (Krassin) zum Parteitag. Mark schaute sehr finster drein, Krassin dagegen machte den Eindruck, als wäre gar nichts passiert. Die Delegierten griffen das ZK wegen seiner versöhnlerischen Haltung heftig an. Mark hüllte sich in düsteres Schweigen. Auch Krassin schwieg, den Kopf in die Hand gestützt, aber sein Gesicht war so unerschütterlich, als gingen ihn all die giftigen Reden überhaupt nichts an. Als die Reihe an ihn kam, hielt er mit ruhiger Stimme eine Rede, ohne auf die Anschuldigungen das Geringste zu erwidern – und jedem wurde dabei klar, dass man darüber kein Wort mehr zu verlieren brauchte, dass Krassin versöhnlerisch gestimmt war, dass das vielmehr endgültig vorbei war, und dass er sich von nun ab in die Reihen der Bolschewiki eingliedern und mit ihnen bis zu Ende gehen werde. Die Parteimitglieder kennen heute die große und verantwortungsvolle Arbeit, die Krassin während der Revolution von 1905 bei der Bewaffnung von Arbeiterwehren, bei der Bereitstellung von Geschützen u. ä. m. geleistet hat. All das ging im Geheimen und ohne Aufsehen vor sich, aber es hat eine Menge Energie gekostet. Wladimir Iljitsch wusste von dieser Arbeit Krassins mehr als sonst jemand und schätzte ihn seit dieser Zeit stets sehr. Aus dem Kaukasus trafen vier Delegierte ein: Micha Zchakaja, Aljoscha Dschaparidse, Lehmann und Kamenew. Es gab aber nur drei Mandate. Wladimir Iljitsch forschte: „Wer hat denn von euch ein Mandat? Ihr hattet doch nur drei Mandate, seid aber vier Leute. Wer von euch hat die meisten Stimmen erhalten?" – Micha Zchakaja war ganz empört: „Glaubt ihr denn, dass wir im Kaukasus abstimmen? Bei uns werden alle Angelegenheiten kameradschaftlich entschieden. Man hat uns zu viert hergeschickt, und es kommt nicht darauf an, wie viel Mandate uns zugedacht sind." Micha war das älteste Parteitagsmitglied; er war damals 50 Jahre alt. Er wurde deshalb auch mit der Eröffnung des Parteitags beauftragt. Vom Komitee des Polessjegebietes4 war Ljowa Wladimirow anwesend. Wir hatten ihm mehrmals wegen der Spaltung nach Russland geschrieben, aber nie eine Antwort darauf bekommen. Als Antwort auf unsere Briefe, in denen wir ihn über das Auftreten der Martow-Gruppe unterrichteten, erhielten wir Mitteilungen, wie viel und welche Flugblätter verbreitet wurden, wo es in Polessje zu Streiks und Demonstrationen gekommen war usw. Auf dem Parteitag erwies sich Ljowa als aufrechter Bolschewik. Aus Russland waren noch Bogdanow, Postalowski (Wadim), P. P. Rumjanzew Rykow, Sammer, Semljatschka, Litwinow, Skrypnik, Bur, Schklowski, Kramolnikow und andere erschienen. Auf dem Parteitag zeigte es sich an allem, dass die Arbeiterbewegung in Russland in voller Entfaltung war. Es wurden Resolutionen gefasst über den bewaffneten Aufstand, über die provisorische revolutionäre Regierung, über die Stellung zur Taktik der Regierung am Vorabend des Umsturzes, über das offene Auftreten der SDAPR, über die Stellung zur Bauernbewegung, zu den Liberalen, zu den nationalen sozialdemokratischen Organisationen, über die Propaganda und Agitation, über den abgespaltenen Teil der Partei usw. Auf Antrag von Wladimir Iljitsch, der ein Referat über die Agrarfrage hielt, wurde der Punkt über die „abgetrennten Bodenstücke" in die Kommentare eingefügt und die Frage der Konfiskation des Großgrundbesitzes, einschließlich der Kron- und Kirchengüter, in den Vordergrund gestellt. Noch zwei Fragen waren für den dritten Parteitag charakteristisch – die Frage der zwei Leitungen und die Frage des Verhältnisses zwischen Arbeitern und Intellektuellen. Auf dem zweiten Parteitag überwogen Literaten und praktische Parteiarbeiter, die für die Partei in der einen oder andern Form viel geleistet hatten, aber mit den eben erst im Werden begriffenen russischen Organisationen nur durch sehr schwache Fäden verknüpft waren. Der dritte Parteitag zeigte bereits ein anderes Gesicht. Die Organisationen in Russland hatten inzwischen bereits feste Formen angenommen. Es gab illegale Komitees, die unter äußerst schwierigen konspirativen Bedingungen arbeiteten. Infolgedessen waren die Arbeiter fast nirgends an diesen Komitees beteiligt. Und doch übten die Komitees auf die Arbeiterbewegung großen Einfluss aus. Die Flugblätter, die „Anweisungen" der Komitees entsprachen der Stimmung der Arbeitermassen. Sie fühlten eine Führung. Die Komitees genossen daher große Popularität, wobei ihre Handlungen für die meisten Arbeiter in einen Schleier des Geheimnisvollen gehüllt waren. Nicht selten versammelten sich die Arbeiter zur Besprechung der grundlegenden Fragen der Bewegung gesondert von den Intellektuellen. Zum dritten Parteitag übersandten 50 Odessaer Arbeiter eine Erklärung über die grundlegenden Fragen, in denen Menschewiki und Bolschewiki auseinandergingen, mit der Bemerkung, dass auf der Versammlung, in der diese Frage besprochen wurde, nicht ein einziger Intellektueller zugegen gewesen sei. Die Komiteemitglieder waren gewöhnlich recht selbstbewusste Leute. Sie sahen eben den großen Einfluss, den die Arbeit der Komitees auf die Massen ausübte. Innerparteiliche Demokratie erkannten sie in der Regel nicht an. „Die Demokratie führt nur zu dauernden Reinfällen, und mit der Bewegung sind wir auch so verbunden" – lautete ihre Ansicht. Auf das „Ausland" sahen sie stets etwas verächtlich herab. „Die sticht der Hafer, darum machen sie nur Zänkereien! Man müsste sie mal in russische Bedingungen versetzen!" Das Übergewicht des Auslandes war ihnen sehr unerwünscht. Zugleich wollten sie aber auch keine Neuerungen. Sich den rasch wechselnden Bedingungen anpassen, das wollte und verstand das Komiteemitglied nicht. In der Periode von 1904/05 hatte auf den Schultern der Komiteemitglieder eine ungeheure Arbeit gelastet, aber an die Bedingungen der wachsenden legalen Möglichkeiten und des offenen Kampfes konnten sich viele von ihnen nur mit sehr großer Mühe anpassen. Auf dem Parteitag waren keine Arbeiter, jedenfalls keine irgendwie hervorragenden Arbeiter anwesend. Als „Babuschkin" figurierte nicht der Arbeiter Babuschkin selbst – der war damals in Sibirien –, sondern, soweit ich mich entsinne, der Genosse Schklowski. Statt dessen gab es auf dem Parteitag viele Komiteemitglieder. Ohne dieses Gesicht des dritten Parteitags zu beachten, lässt sich in den Parteitagsprotokollen vieles gar nicht verstehen. Aber nicht nur die Komiteemitglieder, sondern auch andere angesehene Mitarbeiter warfen die Frage auf, wie man „dem Ausland einen Zaum anlegen könne". An der Spitze der Opposition gegen das Ausland stand Bogdanow. Es wurde da manches Überflüssige geredet, aber Wladimir Iljitsch nahm sich das nicht besonders zu Herzen. Er war selber der Ansicht, dass die Bedeutung der Leute im Auslande infolge der sich entwickelnden Revolution von Stunde zu Stunde abnehme. Er wusste, dass er selber auch nicht mehr lange im Auslande bleiben würde. Er legte vor allem Wert darauf, dass das ZK das Zentralorgan auf dem Laufenden halte. (Das Zentralorgan sollte von jetzt ab „Proletarij" heißen und zunächst noch im Auslande erscheinen.) Er beantragte auch, dass zwischen dem ausländischen und dem russischen Teil des ZK periodische Zusammenkünfte organisiert würden. Heißer umstritten war die Frage der Einführung von Arbeitern in die Komitees. Wladimir Iljitsch trat besonders warm für die Aufnahme der Arbeiter in die Komitees ein. Auch Bogdanow, die „Ausländer" und die Literaten waren dafür. Aber die Komiteemitglieder waren dagegen. Wladimir Iljitsch regte sich auf, die Komiteemitglieder ebenfalls. Diese setzten schließlich durch, dass in dieser Frage kein Beschluss gefasst wurde: man konnte ja in der Tat auch nicht beschließen, dass man keine Arbeiter in die Komitees aufnehmen dürfe. In der Diskussion führte Wladimir Iljitsch aus: „Ich glaube, man muss die Sache großzügiger betrachten. Die Aufnahme von Arbeitern in die Komitees ist nicht nur eine pädagogische, sondern auch eine politische Aufgabe. Die Arbeiter haben soviel Klasseninstinkt, dass sie bei einiger politischer Schulung recht bald konsequente Sozialdemokraten sein werden. Ich wäre sehr dafür, dass in unsern Komitees auf je zwei Intellektuelle acht Arbeiter kämen. Wenn der in unsern Zeitschriften oft erteilte Rat, nach Möglichkeit Arbeiter in die Komitees aufzunehmen, sich als unzureichend erwiesen hat, so wäre es zweckmäßig, einen solchen Rat im Namen des Parteitags auszusprechen. In einem klaren und bestimmten Parteitagsbeschluss werdet ihr das gründlichste Argument gegen jede Demagogie besitzen: ,Dies ist der klar ausgesprochene Wille des Parteitages'!" Wladimir Iljitsch hatte schon vorher vielfach auf die Notwendigkeit hingewiesen, möglichst viele Arbeiter in die Komitees aufzunehmen. Schon in seinem „Brief an einen Petersburger Genossen", also bereits 1903, hatte er darüber geschrieben. Als er diesen Standpunkt nunmehr auf dem Parteitag vertrat, geriet er in Eifer und machte Zwischenrufe. Als Michailow (Postalowski) einwarf: „In der Praxis werden also an die Intellektuellen nur geringe Anforderungen gestellt, an die Arbeiter aber übermäßig hohe", rief Wladimir Iljitsch dazwischen: „Sehr richtig". Und sein Zwischenruf wurde von den Komiteeleuten im Chor übertönt: „Ganz falsch!" Als Rumjanzew ausführte: „Im Petersburger Komitee gibt es nur einen Arbeiter, obwohl wir schon seit 15 Jahren dort arbeiten", rief Wladimir Iljitsch: „Das ist ganz unerhört!" Und später, zum Schluss der Debatte, sagte Wladimir Iljitsch: „Ich konnte es nicht ruhig anhören, als man davon redete, es gäbe keine Arbeiter, die sich zu Komiteemitgliedern eigneten. Das heißt die Frage auf die lange Bank schieben! Offensichtlich herrscht in der Partei eine Krankheit. Man muss unter allen Umständen Arbeiter in die Komitees einführen." Wenn sich Iljitsch nicht allzu viel daraus machte, dass sein Standpunkt auf dem Parteitag mit solchem Krach durchfiel, so nur deshalb, weil er überzeugt war, dass die herannahende Revolution die Partei von der Unfähigkeit, die Komitees zu proletarisieren, radikal kurieren werde. Noch eine große Frage stand auf dem Parteitag zur Verhandlung: die Frage der Propaganda und Agitation. Ich entsinne mich, dass eine junge Odessaer Genossin einmal zu uns kam und klagte: „Die Arbeiter stellen an das Komitee unmögliche Anforderungen. Wir sollen unter ihnen Propaganda treiben. Ist es denn möglich? Wir können unter ihnen nur Agitation treiben!"A Auf Iljitsch machte die Mitteilung der Odessaer Genossin starken Eindruck. Sie wurde gewissermaßen der Anlass zur Diskussion über die Propaganda. Es stellte sich heraus – und das brachten sowohl Semljatschka, wie Micha Zchakaja und auch Desnitzki zum Ausdruck –, dass die alten Formen der Propaganda sich überlebt hatten. Die Propaganda war zur Agitation geworden. Mit dem ungeheuren Aufschwung der Arbeiterbewegung konnte die mündliche Propaganda und sogar die Agitation die Bedürfnisse der Bewegung in keiner Weise mehr befriedigen: man brauchte populäre Literatur, eine populäre Zeitung, Literatur für die Bauern, für die anderssprachigen Völkerschaften … Das Leben warf Hunderte neuer Fragen auf, die im Rahmen der bisherigen illegalen Organisation nicht zu lösen waren. Sie konnten nur durch die Herausgabe einer Tageszeitung in Russland selbst und durch eine breitangelegte legale Verlagstätigkeit gelöst werden. Einstweilen gab es aber noch keine Pressefreiheit. Es wurde beschlossen, in Russland eine illegale Zeitung herauszugeben und dort eine Gruppe von Literaten zu bilden, die die Aufgabe hatten, für populäre Literatur zu sorgen. Aber all das konnten natürlich nur Notbehelfe sein. Auf dem Parteitag wurde eingehend über den aufflammenden revolutionären Kampf gesprochen. Es wurden Resolutionen über die Ereignisse in Polen und im Kaukasus gefasst. „Die Bewegung wird breiter und breiter“ – berichtete der Delegierte aus dem Ural –, „die Zeiten, wo der Ural als ein rückständiges, verschlafenes Gebiet galt, unfähig, sich zu rühren, sind längst vorbei. Der politische Streik in Lysjwa, die zahlreichen Streiks in verschiedenen Betrieben, die mannigfachen Anzeichen revolutionärer Stimmung – der Agrar- und Fabrikterror, die verschiedenartigsten Formen kleiner spontaner Demonstrationen – all das sind Anzeichen dafür, dass der Ural vor einer großen revolutionären Bewegung steht. Sehr wahrscheinlich wird die Bewegung im Ural die Form des bewaffneten Aufstandes annehmen. Im Ural haben die Arbeiter die ersten Bomben geworfen und im Wotkin-Werk sogar Kanonen aufgestellt. Genossen, vergesst den Ural nicht!" Natürlich unterhielt sich Wladimir Iljitsch lange mit dem Ural-Delegierten. Der dritte Parteitag hatte die Kampffronten im Großen und Ganzen richtig aufgezeigt. Die Menschewiki lösten dieselben Fragen auf andere Weise. Wladimir Iljitsch beleuchtete den prinzipiellen Unterschied zwischen den Resolutionen des dritten Parteitags und den Resolutionen der menschewistischen Konferenz in seiner Broschüre „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution". Wir kehrten nach Genf zurück. Ich wurde zusammen mit Kamski und Orlowski in eine Kommission zur Redigierung der Parteitagsprotokolle gewählt. Kamski reiste bald darauf ab, und Orlowski war mit Arbeit überlastet. Die Prüfung der Protokolle wurde in Genf, wohin eine ganze Anzahl der Delegierten nach dem Parteitag kam, vorgenommen. Stenotypistinnen gab es damals noch nicht, auch keine besonderen Sekretäre. Das Protokoll wurde der Reihe nach von zwei Parteitagsteilnehmern geführt und nachher an mich abgegeben. Nicht alle Parteitagsteilnehmer waren gute Protokollführer. Auf dem Parteitag kam man natürlich nicht dazu, die Protokolle zu verlesen. In Genf wurde die Prüfung der Protokolle gemeinsam mit den Delegierten am Mittagstisch bei Lepeschinskis vorgenommen. Selbstredend fand jeder Delegierte, dass sein Gedanke nicht richtig wiedergegeben war, und wünschte Einfügungen zu machen. Das war aber nicht gestattet. Verbesserungen durften nur dann angebracht werden, wenn die andern Delegierten ihre Rechtmäßigkeit bestätigten. Die Arbeit war sehr schwierig. Es lief auch nicht ohne Zwischenfälle ab. Skrypnik (Schtschenski) verlangte, dass ihm die Protokolle nach Haus mitgegeben würden. Und als er darauf aufmerksam gemacht wurde, dass man die Protokolle dann allen Delegierten aushändigen müsste und zum Schluss nichts mehr von ihnen übrig bleiben würde, überreichte Skrypnik voll Empörung dem ZK einen mit Druckbuchstaben geschriebenen Protest gegen die Verweigerung der Aushändigung der Protokolle. Als die Arbeit in großen Umrissen fertig war, dauerte es noch geraume Zeit, bis Orlowski mit der Redigierung der Protokolle zu Ende war. Im Juli trafen die ersten Protokolle über die Sitzungen des neuen ZK ein. Es hieß darin: die Menschewiki in Russland seien mit der „Iskra"5 nicht einverstanden und würden ebenfalls einen Boykott durchführen. Die Frage der Unterstützung der Bauernbewegung habe das ZK zwar besprochen, aber vorläufig noch nichts darin unternommen; es wolle sich erst mit landwirtschaftlichen Sachverständigen beraten. Der Brief klang auffällig wortkarg. Der nächste Brief über die Arbeit des ZK war noch wortkarger. Iljitsch wurde nervös. Nachdem wir auf dem Parteitag russische Atmosphäre geatmet hatten, war die Isolierung von der russischen Arbeit noch schwerer zu ertragen. Mitte August bittet Wladimir Iljitsch das ZK in einem Brief, „nicht länger stumm zu bleiben" und sich nicht darauf zu beschränken, die Fragen unter sich zu besprechen. „Das ZK hat einen inneren Defekt", schreibt er an die russischen ZK-Mitglieder. In den folgenden Briefen schimpft er unbändig darüber, dass die Beschlüsse über die regelmäßige Information des Zentralorgans nicht eingehalten werde. In dem an „August" gerichteten September-Brief schreibt Iljitsch: „Es ist eine Utopie, volle Übereinstimmung im ZK oder unter seinen Beauftragten zu erwarten. Wir sind kein Zirkel mehr, lieber Freund, sondern eine Partei!" Und im gleichen Brief schreibt er als Antwort auf die entrüstete Mitteilung, dass unsere Leute Flugblätter von Trotzki gedruckt hätten, „… sie drucken Flugblätter von Trotzki … Das ist nicht schlimm, wenn die Flugblätter erträglich und korrigiert sind." In einem Briefe an Gussew vom 13. Oktober 1905 weist er auf die Notwendigkeit hin, neben den Vorbereitungen zum bewaffneten Aufstand auch den gewerkschaftlichen Kampf zu führen, aber in bolschewistischem Sinne, und auch auf diesem Gebiet den Menschewiki eine Schlacht zu liefern. Am Genfer Horizont erschienen bereits Vorboten der Pressefreiheit. Es suchten uns Verleger auf, die sich darum rissen, die im Auslande illegal erschienenen Broschüren legal herausgeben zu dürfen. Der „Burewestnik" in Odessa, der Verlag Malych und andere – sie alle stellten sich zur Verfügung. Das ZK riet davon ab, sich durch Verträge zu binden; es beabsichtigte, einen eignen Verlag zu gründen. Anfang Oktober sollte Iljitsch zu einer Tagung des ZK nach Finnland reisen, aber die politischen Ereignisse durchkreuzten den Plan. Wladimir Iljitsch bereitete sich auf seine Abreise nach Russland vor. Ich sollte noch einige Wochen in Genf bleiben, um alle Angelegenheiten zu regeln. Ich ordnete mit Iljitsch zusammen seine Papiere und Briefe, wir steckten sie in Kuverts, Iljitsch versah jedes Kuvert eigenhändig mit einer Aufschrift, und dann wurde alles in einen Koffer gepackt und dem Genossen Karpinski, glaube ich, zur Aufbewahrung gegeben. Dieser Koffer ist erhalten und wurde nach Iljitschs Tode an das Lenin-Institut abgeliefert. Er enthielt eine Menge Dokumente und Briefe, die auf die Geschichte der Partei ein helles Licht werfen. Im September schrieb Iljitsch an das ZK: „Zur Information teile ich die hiesigen Gerüchte über Plechanow mit. Er ist offensichtlich gegen uns erbittert wegen der Entlarvung vor dem Internationalen Büro. Er schimpft in Nr. 2 des ,Tagebuch des Sozialdemokraten' wie ein Kutscher. Bald heißt es, er wolle eine eigne Zeitung herausgeben, bald heißt es, er wolle zur ,Iskra' zurückkehren. Folglich muss sich das Misstrauen gegen ihn verstärken." Und am 8. Oktober fährt Wladimir Iljitsch fort: „Ich bitte dringend darum, den Gedanken an Plechanow fallen zu lassen und einen Delegierten der Bolschewiki zu wählen. Es wäre gut, Orlowski zu bestimmen." Als aber die Nachricht eintraf, dass die Möglichkeit bestünde, in Russland eine Tageszeitung herauszugeben, schrieb Wladimir Iljitsch, schon im Begriff abzureisen, an Plechanow einen herzlichen Brief, in dem er ihn zur Mitarbeit an der Zeitung aufforderte. „Die taktischen Differenzen werden von unserer Revolution selbst mit erstaunlicher Schnelligkeit hinweggefegt. Es bildet sich bereits der Boden, auf dem es am leichtesten sein wird, das Alte zu vergessen und sich in der Arbeit für eine lebendige Sache zusammenzufinden …" Am Schluss bat Iljitsch Plechanow um eine Zusammenkunft. Ich weiß nicht, ob es dazu gekommen ist. Wahrscheinlich aber nicht, denn das wäre wohl kaum in Vergessenheit geraten. Plechanow reiste im Jahre 1905 nicht nach Russland. Am 26. Oktober trifft Iljitsch schon genaue briefliche Verabredungen über seine Rückkehr nach Russland. „Eine gute Revolution haben wir in Russland, das muss man sagen!", heißt es dort. Und als Antwort auf die Frage über den Zeitpunkt des Aufstandes meint er: „Ich würde den Aufstand bis zum Frühjahr verschieben. Aber wir werden ja ohnehin nicht danach gefragt." 1 Eine „kleinbürgerlich-demokratische Richtung mit sozialrevolutionärem Aushängeschild", nach Lenins treffendem Ausdruck. Ihr Programm, 1905 veröffentlicht, ist ein Gemisch von Marxismus und Narodnikitum. Nach der Oktoberrevolution wurde sie zu einer konterrevolutionären Partei. 2 Die Reform von 1861 bestand in der Aufhebung der Leibeigenschaft. Die Bauern wurden freigelassen, aber gleichzeitig wurde ihnen ein bedeutender Teil des für ihre Wirtschaften unentbehrlichen Wald- und Weidelandes genommen und den Grundbesitzern zugeteilt. 3 Lunatscharski 4 Waldgebiet südlich von Grodno und Minsk. A Die Agitation bestand damals hauptsächlich in Aufrufen, die die Ereignisse ziemlich primitiv beleuchteten. Sie suchte weniger zu überzeugen, als gefühlsmäßig zu wirken. Propaganda erfordert, dass man jemanden überzeugt, Propaganda macht es notwendig, eine Frage logisch zu begründen, sie allseitig zu beleuchten. – Die Arbeiter verlangten, die Fragen klargelegt und allseitig beleuchtet zu haben. Die dazu erforderliche Literatur gab es damals noch nicht; sie war verboten. Was herausgegeben wurde, z. B. über Streiks, über die Bourgeoisie usw., erschien illegal. Illegale Literatur gab es sehr wenig. „Kurse" gab es natürlich erst recht nicht. Weder durften sich die Arbeiter versammeln, noch durften die Propagandisten zu ihnen reden; man wurde deswegen verhaftet. N. K. 5 Die „Iskra" war inzwischen ein menschewistisches Organ geworden. |