Genf

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Vor dem zweiten Parteitag

In Genf zogen wir in die Vorstadt, in die Arbeitersiedlung Secheron. Wir mieteten dort ein ganzes Häuschen, in dem sich unten eine große Küche mit Steindiele und oben drei kleine Zimmerchen befanden. Die Küche war zugleich unser Empfangsraum. Die fehlenden Möbel ersetzten wir durch Bücher- und Geschirrkisten. Ignat (Krassikow) nannte unsere Küche gelegentlich im Scherz eine „Schmugglerspelunke". Sie war stets gedrängt voll. Wollte man mit jemand allein sprechen, so musste man schon in den nebenan gelegenen Park oder ans Seeufer gehen.

Allmählich trafen auch schon die Delegierten ein. Es kamen Dementjews. Kostja (die Frau Dementjews) verblüffte Wladimir Iljitsch durch ihre bis ins einzelne gehenden Kenntnisse des Transportwesens. „Sie ist der reinste Transportfachmann – wiederholte er –, das lasse ich mir gefallen, das ist kein Geschwätz." Es kam Ljubow Nikolajewna Radtschenko, der ich persönlich sehr nahe stand. Die Unterhaltungen nahmen kein Ende. Später trafen die Delegierten aus Rostow ein, Gussew und Lockermann, sodann Semljatschka, Schottmann (Berg), „Onkelchen" und „Jüngling" (Dimitrij Iljitsch). Jeden Tag kam irgendwer. Man sprach mit den Delegierten über das Programm und den „Bund" und hörte, was sie erzählten. Martow ging überhaupt nicht mehr von uns weg. Er wurde nicht müde, mit den Delegierten zu plaudern. Auch Trotzki traf ein und wurde herangezogen. Wir quartierten bei ihm den neu angekommenen Petersburger Delegierten Schottmann „zur Bearbeitung" ein.

Man musste den Delegierten den Standpunkt des „Juschny Rabotschij" klarmachen, der sich unter der Firma einer eignen populären Zeitung das Recht auf eine Sonderstellung vorbehalten wollte. Man musste ihnen klarmachen, dass eine illegale populäre Zeitung niemals zur Massenzeitung werden oder mit Massenverbreitung rechnen könne. Für den Standpunkt Wladimir Iljitschs und Martows in dieser Frage trat Trotzki auf, dagegen Plechanow. Die Versammlung der eingetroffenen Delegierten und die Diskussion zwischen Plechanow und Trotzki fand im Café Landold statt.

Den Delegierten, von denen die meisten den „Juschny Rabotschij" von Russland her kannten, erschien Trotzkis Standpunkt als der richtigere. Plechanow war außer sich.

In der Redaktion der „Iskra" begannen allerlei Differenzen. Die Lage wurde unerträglich. Die Redaktion teilte sich für gewöhnlich in zwei Dreiergruppen: Plechanow, Axelrod und Sassulitsch auf der einen, Lenin, Martow und Potressow auf der andern Seite. Wladimir Iljitsch stellte erneut den Antrag, den er bereits im März eingebracht hatte, ein siebentes Mitglied, Trotzki, in die Redaktion aufzunehmen. Die Aufnahme scheiterte an dem kategorischen Einspruch Plechanows. Wladimir Iljitsch kam einmal von einer Redaktionssitzung aufs äußerste aufgebracht heim. „Weiß der Teufel, was das ist! – sagte er –, niemand hat den Mut, Plechanow entgegenzutreten. Schau dir Vera Iwanowna an! Plechanow schimpft über Trotzki, und da sagt sie: ,Ach, George, der hat ja nur so eine laute Stimme!' – Das ist unerträglich!"

Vor dem Parteitag hatte man zeitweilig Krassikow kooptiert: man brauchte ein siebentes Redaktionsmitglied. Im Zusammenhang damit begann Wladimir Iljitsch, die Frage eines Dreierkopfes zu erwägen. Das war eine sehr heikle Frage, und mit den Delegierten wurde darüber nicht gesprochen. Es war eben zu schwer, einzugestehen, dass die Redaktion der „Iskra" in ihrer bisherigen Zusammensetzung arbeitsunfähig geworden war.

Die Delegierten beklagten sich über die Mitglieder des Organisationskomitees: dem einen warfen sie Schroffheit und Nachlässigkeit vor, einem andern Passivität. Daneben schimmerte die Unzufriedenheit durch, dass die „Iskra" zu sehr nach dem Kommando strebe. Aber es hatte trotz allem den Anschein, als ob keine Meinungsverschiedenheiten bestünden und die Sache nach dem Parteitag ausgezeichnet weiter gehen würde.

Die Delegierten trafen alle ein, nur Claire und Kurz waren nicht gekommen.

Der zweite Parteitag

Ursprünglich sollte der Parteitag in Brüssel stattfinden. Die ersten Sitzungen fanden auch tatsächlich dort statt. In Brüssel lebte damals Kolzow, ein alter Anhänger Plechanows. Er übernahm es, die ganze Sache zu organisieren. Es erwies sich jedoch als nicht so einfach, den Parteitag in Brüssel abzuhalten. Die Delegierten sollten sich nach Eintreffen bei Kolzow melden. Aber kaum waren die ersten vier Russen bei Kolzows angekommen, als deren Vermieterin erklärte, dass sie keine weiteren Besuche mehr dulden werde, und wenn auch nur noch ein Besucher dazukomme, so müssten sie unverzüglich die Wohnung räumen. So stand denn Frau Kolzow den ganzen Tag an der nächsten Straßenecke, um die Delegierten abzufangen und sie in den sozialistischen Gasthof, er hieß, glaube ich, „Zum Goldenen Hahn", zu dirigieren.

Die Delegierten schlugen im „Goldenen Hahn" ihr lärmendes Quartier auf, und Gussew sang abends, wenn er ein Gläschen Kognak getrunken hatte, mit so mächtiger Stimme Opernarien, dass sich unter den Fenstern des Gasthofes eine Menge ansammelte. Wladimir Iljitsch liebte Gussews Gesang sehr. Besonders gern hörte er das Lied „Nicht in der Kirche sind wir getraut".

Bei diesem Parteitag war man etwas zu vorsichtig ans Werk gegangen. Um die Tagung geheim zu halten, sollte sie auf Anregung der belgischen Genossen in einem riesigen Mehlspeicher stattfinden. Durch unser Eindringen scheuchten wir aber nicht nur die Ratten, sondern auch die Polizei auf. Man munkelte von russischen Revolutionären, die sich zu irgendwelchen geheimen Beratungen versammelt hätten.

Auf dem Parteitag waren 43 Delegierte mit beschließender und 14 mit beratender Stimme anwesend. Im Vergleich zu den heutigen Kongressen, wo Hunderttausende von Parteimitgliedern durch zahlreiche Delegierte vertreten sind, scheint dieser Parteitag klein. Aber damals schien er groß: am ersten Parteitag im Jahre 1898 hatten doch insgesamt nur 9 Personen teilgenommen. Man fühlte, dass man in diesen fünf Jahren ein mächtiges Stück vorwärts gekommen war. Vor allem bestanden die Organisationen, die die Delegierten entsandt hatten, schon nicht mehr nur halb auf dem Papier; sie waren bereits wirklich formiert und mit der sich breit entfaltenden Arbeiterbewegung verbunden.

Wie sehr hatte Wladimir Iljitsch diesen Parteitag herbeigesehnt! Sein ganzes Leben lang – bis zu seinem Tode – maß er den Kongressen der Partei außerordentliche Bedeutung bei. Der Parteitag war für ihn die höchste Instanz, auf dem alles Persönliche wegfallen musste. Auf dem Parteitag musste alles offen ausgesprochen, nichts durfte vertuscht werden. Zu den Parteitagen bereitete sich Iljitsch daher immer besonders sorgfältig vor und überlegte seine Reden bis ins Einzelne. Die heutige Jugend weiß nicht, was es bedeutet, jahrelang auf die Möglichkeit warten zu müssen, die grundlegendsten Fragen des Programms gemeinsam mit der gesamten Partei besprechen zu können. Sie hat keine Vorstellung davon, mit welchen Schwierigkeiten die Einberufung eines illegalen Parteitages in jener Zeit verbunden war. Sie wird deshalb das Verhalten Iljitschs zu den Parteitagen auch kaum voll verstehen können.

Ebenso ungeduldig wie Iljitsch wartete auch Plechanow auf den Parteitag. Plechanow eröffnete die Tagung. Das große Fenster des Mehlspeichers neben der improvisierten Tribüne war mit rotem Stoff verhängt. Alles war erregt. Plechanows Rede klang feierlich. Man spürte in ihr ein unverfälschtes Pathos. Wie hätte es auch anders sein können! Die langen Jahre der Emigration schienen in der Vergangenheit zu versinken. Er war wieder dabei, er eröffnete den Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands.

Seinem Wesen nach war der zweite Parteitag ein konstituierender. Auf ihm wurden die grundlegenden theoretischen Fragen aufgeworfen und das ideologische Fundament der Partei geschaffen. Auf dem ersten Parteitag war nur der Name der Partei und ein Manifest über ihre Gründung angenommen worden. Ein Programm hatte die Partei bis zum zweiten Parteitag noch nicht. Die Redaktion der „Iskra" arbeitete das Programm aus. Es wurde in der Redaktion lange besprochen. Jedes Wort, jeder Satz wurde begründet, erwogen und heiß umstritten. Zwischen dem Münchner und dem in der Schweiz lebenden Teil der Redaktion wurde monatelang über das Programm korrespondiert. Diese Diskussionen schienen vielen Praktikern rein internen Charakter zu tragen. Sie glaubten, es komme gar nicht darauf an, ob irgendein „mehr oder weniger" im Programm stehen werde oder nicht.

Wladimir Iljitsch und ich erinnerten uns gelegentlich eines Vergleichs, den Leo Tolstoi an einer Stelle bringt: er sieht einmal von weitem einen Mann in Hockstellung sitzen und sinnlos mit den Händen fuchteln. Zuerst hält er ihn für einen Verrückten. Als er aber näher herangeht, stellt er fest, dass der Mann am Rinnstein sein Messer schleift. – So ist es auch mit theoretischen Diskussionen. Hört man sie nur von fern, so scheint der Streit gar keinen Sinn zu haben; vertieft man sich aber in die Sache, so sieht man, dass es um das Allerwesentlichste geht. So war es auch bei der Programmdiskussion.

Als die Delegierten in Genf zusammenkamen, wurde mit ihnen am meisten und eingehendsten die Frage des Programms besprochen. Auf dem Parteitag verlief diese Frage dann am glattesten.

Auf dem zweiten Parteitag wurde noch eine Frage von ungeheurer Wichtigkeit behandelt, das war die Frage des „Bund". Auf dem ersten Parteitag war beschlossen worden, dass der „Bund" ein Teil der Partei, wenn auch ein autonomer, sein solle. Während der fünf Jahre, die seit dem ersten Parteitag verflossen waren, gab es eigentlich keine Partei als einheitliches Ganzes, und der „Bund" führte ein Sonderdasein. Er wollte diese Sonderstellung nunmehr befestigen und zur SDAPR im Verhältnis der Föderation bleiben. Der Untergrund dieses Verhaltens war der: der „Bund" spiegelte die Stimmung der Handwerker der jüdischen Städtchen wider und interessierte sich deshalb sehr viel mehr für den ökonomischen als für den politischen Kampf. Deshalb sympathisierte er auch viel mehr mit den Ökonomisten als mit der „Iskra". Die Frage drehte sich darum: sollte es im Lande eine einheitliche, starke Arbeiterpartei geben, die die Arbeiter aller auf dem Territorium Russlands wohnenden Nationalitäten eng umschloss, oder sollte es einige nach Nationalitäten getrennte Arbeiterparteien im Lande geben? Es handelte sich um den internationalen Zusammenschluss innerhalb des Landes. Die „Iskra“-Redaktion trat für den internationalen Zusammenschluss der Arbeiterklasse ein, der „Bund" für die nationale Getrenntheit und für ein lediglich freundschaftliches Vertragsverhältnis zwischen den nationalen Arbeiterparteien Russlands.

Die Frage des „Bund" wurde mit den eingetroffenen Delegierten eingehend besprochen und gleichfalls mit übergroßer Mehrheit im Sinne der „Iskra" entschieden.

Später hat die Tatsache der Spaltung viele Genossen übersehen lassen, dass der zweite Parteitag prinzipielle Fragen von allergrößter Wichtigkeit aufgeworfen und entschieden hat.

Wladimir Iljitsch fühlte sich bei der Behandlung dieser Fragen Plechanow besonders nahe. Plechanows Rede, die darauf hinauslief, dass das grundlegendste demokratische Prinzip der Satz sein müsse: „Höchstes Gesetz ist das Wohl der Revolution" und dass unter dem Gesichtspunkt dieses Grundprinzips sogar das Prinzip des allgemeinen Wahlrechts betrachtet werden müsse – machte auf Wladimir Iljitsch tiefen Eindruck. Er erinnerte sich ihrer, als 14 Jahre später vor den Bolschewiki die Frage der Auflösung der Konstituante in ihrem ganzen Ausmaß stand.

Auch die andere Rede Plechanows, über die Bedeutung der Volksbildung, die „eine Garantie für die Rechte des Proletariats" ist – stand voll und ganz mit Wladimir Iljitschs Ansichten in Einklang.

Auch Plechanow fühlte sich auf dem Parteitag Lenin nahe.

In seiner Entgegnung an Akimow, einen verbissenen Anhänger des „Rabotscheje Djelo", der darauf aus war, Plechanow und Lenin zu entzweien, sagte Plechanow scherzend: „Napoleon hatte die Passion, seine Marschälle von ihren Frauen zu scheiden. Manche Marschälle willfahrten ihm auch, obwohl sie ihre Frauen liebten. – Genosse Akimow ähnelt in dieser Hinsicht Napoleon: er will mich unter allen Umständen von Lenin scheiden. Aber ich werde mehr Charakter zeigen als die Marschälle Napoleons. Ich werde mich nicht von Lenin scheiden lassen, und ich hoffe, dass auch er sich von mir nicht zu scheiden beabsichtigt."

Wladimir Iljitsch lachte und schüttelte verneinend den Kopf.

Bei der Besprechung des ersten Punktes der Tagesordnung (Konstituierung des Parteitags) kam es bei der Frage der Hinzuziehung eines Vertreters der Gruppe „Kampf" (Rjasanow, Newsorow, Gurewitsch) zu einem Zwischenfall. Das Organisationskomitee trat als geschlossene Gruppe mit einem eignen Vorschlag auf dem Parteitag auf. Es handelte sich dabei gar nicht um die Gruppe „Kampf", sondern darum, dass das Organisationskomitee seine Mitglieder gegenüber dem Parteitag durch eine besondere Disziplin zu binden suchte. Das Organisationskomitee versuchte, als geschlossene Gruppe, als Einheit aufzutreten, die vorher unter sich beschließt, wie sie abstimmen soll. Auf diese Weise wäre die höchste Instanz für das Parteitagsmitglied eine Gruppe gewesen und nicht der Parteitag selbst. Wladimir Iljitsch schäumte geradezu vor Empörung. Aber er war es nicht allein, der Genossen Pawlowitsch (Krassikow) unterstützte, der sich gegen diesen Versuch wandte; auch Martow und andere ergriffen seine Partei.

Das Organisationskomitee wurde zwar vom Parteitag aufgelöst, aber der Zwischenfall war doch bezeichnend und verhieß für die Zukunft allerlei Komplikationen. Übrigens trat der Zwischenfall zeitweilig zurück vor den ungeheuer wichtigen, grundlegenden Fragen der Stellung des „Bund" in der Partei und der Programmfrage. In der Frage des „Bund" traten sowohl die Redaktionsmitglieder der „Iskra" wie das Organisationskomitee und die Delegierten der Ortsgruppen ganz geschlossen auf. Jegorow (Lewin), ein Vertreter des „Juschny Rabotschij" und Mitglied des Organisationskomitees, trat ebenfalls mit aller Entschiedenheit gegen den „Bund" auf. Plechanow machte ihm in der Pause allerlei Komplimente und sagte, dass man seine Rede in allen Ortsgruppen veröffentlichen müsse.

Zu Beginn des Parteitags trat Trotzki mit großem Erfolg auf. Er wurde damals allgemein als eifriger Anhänger Lenins angesehen und man gab ihm sogar den Spitznamen „Lenins Knüttel". Wladimir Iljitsch selbst dachte damals am wenigsten daran, dass Trotzki schwankend werden würde. Der „Bund" wurde völlig mattgesetzt. Man stellte ein für allemal die These auf, dass die nationalen Besonderheiten die Einheit der Parteiarbeit, die Geschlossenheit der sozialdemokratischen Bewegung nicht beeinträchtigen dürften.

Bald musste man nach London übersiedeln. Die Brüsseler Polizei begann die Delegierten zu schikanieren und wies Semljatschka und noch jemand sogar aus. Darauf machten sich alle auf den Weg. In London förderten Tachtarjews die Abhaltung des Parteitags auf jede Weise. Die Londoner Polizei machte uns keine Schwierigkeiten.

Die Frage des „Bund" wurde weiter behandelt. Darauf ging man, während in der Kommission die Programmfrage behandelt wurde, zum 4. Punkt der Tagesordnung über, zur Frage der Bestätigung des Zentralorgans. Als Zentralorgan wurde, unter alleinigem Widerspruch der Anhänger des „Rabotscheje Djelo", einstimmig die „Iskra" anerkannt. Der „Iskra" wurde warmer Beifall gespendet. Ja, Popow (Rosanow), ein Vertreter des Organisationskomitees, sprach sogar davon, dass „wir auf dem Parteitag eine einheitliche Partei vor uns sehen, die in hervorragendem Maße durch die Tätigkeit der ,Iskra' geschaffen worden ist".

Wenn wir die Redaktion der ,Iskra' nicht bestätigen – wandte Akimow ein –, was sollen wir denn bestätigen –, etwa den Namen?" „Wir bestätigen nicht den Namen, Genosse Akimow, sondern das Banner, das Banner, um das unsere Partei sich faktisch zusammengeschlossen hat!" – erwiderte ihm Trotzki. Das war in der zehnten der insgesamt 37 Sitzungen.

Allmählich zogen sich über dem Parteitag Wolken zusammen. Drei Genossen sollten in das Zentralkomitee gewählt werden. Es gab noch keinen Grundkern eines ZK. Unbestritten war die Kandidatur GIjobows (Noskows), der sich als unermüdlicher Organisator bewährt hatte. Die zweite unbestrittene Kandidatur wäre die von Claire (Krschischanowski) gewesen, wenn er auf dem Parteitag anwesend gewesen wäre. Er war aber nicht zugegen. Für ihn und Kurz (Lengnik) musste in Abwesenheit, auf Grund von „Vertrauen", abgestimmt werden, was recht unbequem war. Dabei gab es auf dem Parteitag zu viele „Generäle" als Kandidaten für das ZK. Darunter Jacques (Stein, Alexandrowa), Fonin (Krochmal), Stern (Kostja, Rosa Gabelstadt), Popow (Rosanow), Jegorow (Lewin). Sie alle kandidierten für zwei Sitze im Dreimännerkollegium des ZK. Zudem kannten alle einander nicht nur als Parteiarbeiter, sondern auch aus persönlichem Verkehr. Da bestand ein ganzes Netz von persönlichen Sympathien und Antipathien.

Je näher die Wahlen heranrückten, desto gespannter wurde die Atmosphäre. Die Gruppen „Bund" und „Rabotscheje Djelo" erhoben hartnäckig die Beschuldigungen, man wolle das Kommando an sich reißen und seinen Willen von einem ausländischen Zentrum aus diktieren u. ä. m. Das stieß zwar zunächst auf geschlossenen Widerstand, verfehlte aber doch auf die Dauer seine Wirkung auf die schwankenden Zentristen nicht, vielleicht sogar, ohne dass es diesen Genossen zum Bewusstsein kam. Wessen Kommando fürchtete man denn? Etwa das von Martow, Sassulitsch, Potressow oder Axelrod? Natürlich nicht. Man fürchtete das Kommando Lenins und Plechanows. Und man wusste sehr wohl: die Frage der Zusammensetzung, die Frage der revolutionären Arbeit in Russland, werde nicht Plechanow, der der praktischen Arbeit fern stand, sondern Lenin entscheiden.

Der Parteitag bestätigte die Richtung der „Iskra", aber die Bestätigung der Redaktion stand noch aus.

Wladimir Iljitsch machte den Vorschlag, die Redaktion der „Iskra" aus drei Personen zusammenzusetzen. Von diesem Vorschlag hatte Wladimir Iljitsch vorher Martow und Potressow in Kenntnis gesetzt. Als die Delegierten ankamen, vertrat Martow ihnen gegenüber den Standpunkt, dass die Redaktion am besten aus drei Mann zusammengesetzt werde. Damals verstand er noch, dass das Triumvirat vor allem gegen Plechanow gerichtet war. Als Wladimir Iljitsch den Zettel mit dem Vorschlag der Redaktionszusammensetzung Plechanow übergab, sagte Plechanow kein Wort dazu und steckte den Zettel, nachdem er ihn gelesen hatte, schweigend in die Tasche. Er hatte verstanden, um was es ging, aber er nahm es hinA. Da es sich um die Partei handelte, war sachliche Arbeit erforderlich.

Martow verkehrte am meisten von allen Redaktionsmitgliedern in den Kreisen des Organisationskomitees. Man redete ihm sehr bald ein, dass das Triumvirat gegen ihn selbst gerichtet sei und dass er durch seinen Eintritt Sassulitsch, Potressow und Axelrod verraten werde. Axelrod und Sassulitsch waren in höchster Aufregung.

In dieser Atmosphäre nahm die Auseinandersetzung über den § 1 des Statuts besonders scharfen Charakter an. Lenin und Martow gingen in der Frage des § 1 des Parteistatuts politisch und organisatorisch auseinander1. Sie hatten auch früher oft Differenzen, aber diese Differenzen waren eben innerhalb eines engen Kreises geblieben und daher rasch aus der Welt geschafft. Jetzt aber traten die Meinungsverschiedenheiten vor dem Parteitag zutage, und alle, die der „Iskra", Plechanow und Lenin grollten, bemühten sich, die Differenz zu einer großen prinzipiellen Frage aufzubauschen.

Man fing an, Lenin wegen des Artikels „Womit beginnen" und wegen der Broschüre „Was tun?" anzugreifen, man stellte ihn als ehrgeizigen Streber hin u. ä. m. Wladimir Iljitsch trat auf dem Parteitag mit aller Schärfe auf. In seiner Broschüre „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte rückwärts", schrieb er:

Ich kann nicht umhin, mich aus diesem Anlass eines Gesprächs mit einem Delegierten des ,Zentrums' zu erinnern. ,Welch drückende Atmosphäre herrscht auf diesem Parteitag' – klagte er mir –; ,welch erbitterter Kampf, welche Hetze des einen gegen den andern, welch schroffe Polemik, welch unkameradschaftliches Verhalten!' – ,Welch herrliche Sache ist unser Parteitag' – erwiderte ich. – ,Das ist offener, unverhüllter Kampf. Die Meinungen wurden offen ausgesprochen. Die Nuancen sind hervorgetreten. Die Gruppen beginnen sich voneinander abzugrenzen. Die Hände haben sich erhoben. Die Beschlüsse sind gefasst. Eine Etappe ist zurückgelegt. Vorwärts! So liebe ich es. Das ist Leben! Das ist etwas anderes als der endlose langweilige Phrasenschwall der Intellektuellen, der nicht ein Ende nimmt, weil eine Frage entschieden, sondern einfach, weil man vom Reden müde geworden ist.' Der Genosse aus dem ,Zentrum' schaute mich verwundert an und zuckte die Achseln. Wir redeten verschiedene Sprachen."

Diese Antwort ist Iljitsch, wie er leibt und lebt.

Seit Beginn des Parteitags waren seine Nerven aufs Äußerste angespannt. Die belgische Arbeiterin, bei der wir in Brüssel logierten, bedauerte ständig, dass Wladimir Iljitsch die schönen Radieschen und den holländischen Käse verschmähte, die sie ihm morgens vorsetzte. Aber er dachte schon nicht mehr ans Essen. In London erreichte das seinen Höhepunkt. Er schlief überhaupt nicht mehr und war schrecklich aufgeregt.

Auf eine Spaltung war niemand gefasst.

Ein Gespräch mit Trotzki fällt mir da ein.

So scharf Wladimir Iljitsch auch in der Diskussion auftrat, so im höchsten Maße unparteiisch war er als Vorsitzender. Er ließ sich auch nicht die mindeste Ungerechtigkeit gegenüber dem Gegner zuschulden kommen. Plechanow war darin ganz anders. Wenn Plechanow den Vorsitz führte, liebte er es, durch besonderen Witz zu glänzen und den Gegner damit zu reizen. Nach so einem Witz Plechanows – er sagte, glaube ich, Pferde könnten zwar nicht reden, aber Esel beschäftigten sich leider damit – trat Trotzki einmal an mich heran und sagte: „Reden Sie doch Wladimir Iljitsch zu, den Vorsitz zu übernehmen. Plechanow wird es sonst noch zur Spaltung bringen".

Es lag jedoch nicht daran, wer den Vorsitz führte.

Die große Mehrheit der Delegierten halte zwar in der Frage der Stellung des „Bund" innerhalb der Partei, in der Frage des Programms, in der Frage der Anerkennung der Richtung der „Iskra" als ihr Banner keine Meinungsverschiedenheiten. Trotzdem fühlte man schon im Verlauf des Parteitags einen bestimmten Riss, der sich gegen Ende der Tagung vertiefte. Ernsthafte Meinungsverschiedenheiten, die die gemeinsame Arbeit gestört und unmöglich gemacht hätten, gab es eigentlich auf dem zweiten Parteitag noch nicht, sie waren vorerst noch latent, sozusagen nur potentiell vorhanden. Und doch zerfiel der Parteitag bereits deutlich in zwei Lager. Viele machten dafür nur die Taktlosigkeit Plechanows, Lenins „Tobsucht" und Ehrgeiz, Pawlowitschs Gehässigkeit und die Vera Sassulitsch und Axelrod widerfahrene Ungerechtigkeit verantwortlich. Sie schlossen sich deshalb den Beleidigten an und übersahen über den Personen die Sache selbst. So auch Trotzki. Der Kern der Sache war aber der, dass die Genossen um Lenin viel mehr Nachdruck auf die Grundsätze legten, sie wollten sie unbedingt verwirklichen, wollten die ganze Arbeit damit durchtränken. Die andere Gruppe hingegen war mehr kleinbürgerlich gesinnt; sie war zu Kompromissen, zu prinzipiellen Zugeständnissen bereit und schaute mehr auf die Personen.

Bei den Wahlen nahm der Kampf äußerst scharfe Formen an. Einige dieser Auftritte vor den Wahlen sind mir noch gegenwärtig. So warf Axelrod Baumann (Sorokin) Mangel an sittlichem Empfinden vor und führte irgendeine Klatschgeschichte aus der Verbannung an. Baumann schwieg, aber in seine Augen waren Tränen getreten.

Ein anderes Bild. Deutsch stellte Gljebow (Noskow) aufgebracht für irgend etwas zur Rede. Dieser hob den Kopf und sagte ärgerlich mit aufblitzenden Augen: „Halten Sie doch Ihre Zunge mehr im Zaum, Papachen!"

Der Parteitag ging zu Ende. In das ZK wurden Gljebow, Claire und Kurz gewählt, wobei sich von 44 beschließenden Stimmen 20 der Abstimmung enthielten. In die Redaktion des Zentralorgans wurden Plechanow, Lenin und Martow gewählt. Martow lehnte die Mitarbeit an der Redaktion ab.

Die Spaltung war da.

Nach dem zweiten Parteitag

Nach dem Parteitag kehrten wir nach Genf zurück. Dort begann eine schwierige Zeit. Zunächst war Genf überflutet von Emigranten aus den anderen ausländischen Kolonien; darunter waren Mitglieder der Liga, die die Fragen stellten: „Was war denn auf dem Parteitag los? Worum ging der Streit? Weshalb die Spaltung?"

Plechanow war dieser Fragen schon ganz überdrüssig. Er erzählte einmal: „N. N. ist angekommen. Er fragt und fragt und wiederholt dabei immer wieder: ,Ich komme mir vor wie Buridans Esel.' ,Warum gerade Buridans?' frage ich ihn."

Auch aus Russland trafen Genossen ein. Unter anderem Jerema aus Petersburg, an den Wladimir Iljitsch vor einem Jahr seinen Brief an die Petersburger Organisation gerichtet hatte. Jerema ergriff sofort für die Menschewiki Partei. Bei uns führte er sich ein, indem er eine erztragische Miene aufsetzte und sich mit den Worten an Wladimir Iljitsch wandte: „Ich bin Jerema." Dann legte er gleich los, dass die Menschewiki recht hätten. Ein Mitglied des Kiewer Komitees kam immer wieder mit der Frage, welche Veränderungen der Technik denn die Spaltung auf dem Parteitag hervorgerufen hätten. – Ich machte große Augen. Eine so primitive Auffassung des Verhältnisses von „Basis" und „Überbau" war mir noch nicht vorgekommen, ich hatte nicht für möglich gehalten, dass es so etwas geben könne.

Leute, die uns bislang mit Geld unterstützt, ihre Wohnung zu Zusammenkünften zur Verfügung gestellt hatten oder dergleichen, lehnten ihre Hilfe unter dem Einfluss der Agitation der Menschewiki nunmehr ab. Einmal kam eine alte Bekannte von mir mit ihrer Mutter nach Genf, um ihre Schwester zu besuchen. Wir hatten als Kinder so herrlich miteinander gespielt – Wanderer und Wilde, die auf Bäumen hausten –, dass ich mich riesig über ihre Ankunft freute. Inzwischen war sie ein älteres Mädchen geworden, das einem ganz fremd war. Wir kamen darauf zu sprechen, dass ihre Familie die Sozialdemokraten immer unterstützt hatte. „Wir können euch unsere Wohnung jetzt nicht mehr zur Verfügung stellen – erklärte sie. – Die Spaltung zwischen den Bolschewiki und Menschewiki hat uns ganz und gar nicht gefallen. Diese persönlichen Zänkereien schaden der Sache sehr." Iljitsch und ich wünschten diese „Sympathisierenden" zum Teufel, die sich keiner Organisation anschlossen und sich einbildeten, durch ihre Wohnungen und ihre Pfennige den Lauf der Dinge in unserer proletarischen Partei beeinflussen zu können!

Wladimir Iljitsch unterrichtete sogleich Claire und Kurz in Russland von dem Vorgefallenen. Die russischen Genossen seufzten, wussten aber keinen brauchbaren Rat. Sie schlugen z. B. allen Ernstes vor, Martow solle nach Russland kommen, sich in irgendeinem verborgenen Winkel hinsetzen und populäre Broschüren schreiben. Man beschloss, Kurz ins Ausland zu berufen.

Als Gljebow nach dem Parteitag den Vorschlag machte, die alte Redaktion zu kooptieren, widersprach Wladimir Iljitsch dem nicht mehr. Lieber die alte Plage als Spaltung. Die Menschewiki lehnten ihre Mitarbeit ab. Wladimir Iljitsch machte den Versuch, sich mit Martow zu verständigen, er schrieb an Potressow und suchte ihn davon zu überzeugen, dass es keinen Grund zu einem Bruch gäbe. Er schrieb auch an Kalmykowa (die Tante) über die Spaltung und legte ihr dar, wie alles gekommen war. Er wollte immer noch nicht daran glauben, dass es keinen Ausweg mehr geben sollte. Die Beschlüsse des Parteitages sabotieren und die Arbeit in Russland, die Stoßkraft der eben gebildeten russischen Partei aufs Spiel setzen zu wollen, das erschien ihm Wahnsinn, er hielt es kaum für möglich. In manchen Augenblicken erkannte er ganz klar, dass der Bruch unvermeidlich war. Einmal begann er, Claire in einem Brief darzulegen, dass Claire sich von der Situation, wie sie war, gar kein rechtes Bild machen könne. Man müsse sich darüber Rechenschaft ablegen, dass die alten Beziehungen sich von Grund auf geändert hätten; die alte Freundschaft mit Martow sei aus, man müsse sie vergessen, nunmehr beginne der Kampf. Wladimir Iljitsch hat diesen Brief nicht beendet und nicht abgesandt. Es fiel ihm sehr schwer, mit Martow zu brechen. Die Zeit der Petersburger Arbeit, die Zeit der Zusammenarbeit in der alten „Iskra" hatte sie innig verbunden. Martow war ein äußerst empfindlicher Mensch, der vermöge seines Feingefühls Iljitschs Gedanken zu erfassen und talentvoll zu entwickeln vermochte. Später bekämpfte Wladimir Iljitsch die Menschewiki erbittert, aber jedes Mal, wenn Martow seine Linie auch nur ein wenig ausrichtete, wurde sein früheres Verhältnis zu Martow wieder wach. So z. B. 1910, als Martow und Wladimir Iljitsch in Paris zusammen in der Redaktion des „Sozialdemokrat" arbeiteten. Wie manchmal berichtete Wladimir Iljitsch erfreut, wenn er aus der Redaktion kam, dass Martow für die richtige Linie eintrete und sogar gegen Dan Stellung nehme. Und wie erfreut war Wladimir Iljitsch über Martows Verhalten in den Julitagen (viel später, schon in Russland), weniger aus dem Grund, weil es den Bolschewiki besonders nützlich gewesen wäre, als deshalb, weil Martow eine Haltung gezeigt hatte, wie sie sich für einen Revolutionär geziemte.

Die meisten bolschewistischen Parteitagsdelegierten kehrten zur Arbeit nach Russland zurück. Die Menschewiki reisten nicht alle zurück, ja Dan kam sogar noch hinzu. Im Auslande wuchs die Zahl ihrer Anhänger.

Die Bolschewiki, die in Genf zurückblieben, hielten regelmäßige Sitzungen ab. In diesen Versammlungen war Plechanow am unversöhnlichsten. Er machte Witze und ermunterte die andern.

Endlich traf das ZK-Mitglied Kurz alias Wassiljew (Lengnik) in Genf ein. Er fühlte sich ganz erdrückt von den Intrigen, die in Genf herrschten. Er hatte gleich eine Unmenge zu tun, um Konflikte zu schlichten, Leute nach Russland zu dirigieren usw.

Die Menschewiki hatten bei den Emigranten im Auslande Erfolg. Sie beschlossen deshalb, den Bolschewiki eine Schlacht zu liefern. Es sollte nämlich ein Kongress der „Liga der russischen Sozialdemokraten im Auslande" einberufen werden, um den Bericht Lenins, ihres Delegierten zum zweiten Parteitag, entgegenzunehmen. Dem Vorstand der Liga gehörten damals Deutsch, Litwinow und ich an. Deutsch war es, der die Einberufung des Kongresses der Liga forderte, Litwinow und ich waren dagegen. Es war uns klar, dass der Kongress unter den obwaltenden Umständen mit einem großen Skandal enden würde. Da erinnerte sich Deutsch, dass Wjatscheslaw, der in Berlin wohnte, und Litaisen, der sich in Paris aufhielt, noch dem Vorstand angehörten. Beide hatten zwar faktisch an der Arbeit des Vorstands der Liga in letzter Zeit keinen unmittelbaren Anteil genommen, waren aber offiziell nicht aus dem Vorstand ausgeschieden. Sie wurden zur Abstimmung herangezogen und stimmten für den Kongress.

Kurz vor dem Kongress der Liga erlitt Wladimir Iljitsch einen Unfall. In Gedanken versunken, fuhr er mit seinem Fahrrad gegen einen Straßenbahnwagen und hätte sich beinahe ein Auge ausgeschlagen. Verbunden und blass ging er zum Kongress der Liga. Die Menschewiki griffen ihn mit wütendem Hass an. Ich entsinne mich noch der wüsten Szene, als Dan, Krochmal und andere mit wutverzerrten Gesichtern aufsprangen und wie toll mit ihren Pultdeckeln klapperten.

Auf dem Kongress der Liga waren die Menschewiki zahlenmäßig stärker als die Bolschewiki, zudem gab es unter ihnen mehr „Generäle". Die Menschewiki brachten eine Satzung der Liga durch, die aus der Liga einen Stützpunkt des Menschewismus machte. Sie sicherte den Menschewiki einen eigenen Verlag zu, und machte sie vom ZK unabhängig. Kurz (Wassiljew) bestand im Namen des ZK auf einer Abänderung der Satzung, und da die Liga sich dem nicht unterwarf, erklärte er sie für aufgelöst.

Plechanows Nerven hielten den von den Menschewiki heraufbeschworenen Skandal nicht aus. Er erklärte: „Ich kann doch nicht auf die eigenen Genossen schießen."

In der Versammlung der Bolschewiki forderte Plechanow, man solle nachgeben. „Es gibt Momente – meinte er –, wo sogar die Selbstherrschaft zum Nachgeben gezwungen ist." „Dann sagt man eben auch, dass sie schwankt", erwiderte Lisa Knunianz, worauf ihr Plechanow einen bösen Blick zuwarf.

Um den Frieden in der Partei zu reiten – wie er sagte –, beschloss Plechanow, die alte Redaktion der „Iskra" zu kooptieren. Wladimir Iljitsch schied aus der Redaktion aus mit der Erklärung, er lehne die Mitarbeit nicht ab und verlange nicht einmal, dass man sein Ausscheiden aus der Redaktion bekanntgebe. Plechanow solle versuchen, Frieden herbeizuführen, er werde dem Frieden in der Partei nicht im Wege sein. In einem Brief an Kalmykowa hatte Wladimir Iljitsch kurz vorher geschrieben: „Man kann in keine schlimmere Sackgasse geraten, als wenn man sich von der Arbeit entfernt." Durch sein Ausscheiden aus der Redaktion betrat er diesen Weg, das war ihm klar. Die Opposition verlangte noch die Kooptierung ihrer Vertreter in das ZK, zwei Plätze im Vorstand und die Anerkennung der Rechtmäßigkeit der Beschlüsse des Kongresses der Liga. Das ZK war einverstanden, zwei Vertreter der Opposition in das ZK zu kooptieren, ihr einen Platz im Vorstand einzuräumen und die Liga allmählich zu reorganisieren. Ein Frieden kam nicht zustande. Plechanows Nachgeben war Wasser auf die Mühle der Opposition. Plechanow verlangte, dass noch ein zweites ZK-Mitglied, Ru (Konjaga – sein richtiger Name war Galperin), aus dem Vorstand ausscheide, um den Menschewiki Platz zu machen. Wladimir Iljitsch war lange unschlüssig, ob er dieser neuen Konzession zustimmen sollte. Ich weiß noch, wie wir zu dritt – Wladimir Iljitsch, Konjaga und ich – eines Abends am Ufer des Genfer Sees standen. Der See stürmte, Konjaga redete auf Wladimir Iljitsch ein, in seinen Austritt einzuwilligen. Endlich entschloss sich Wladimir Iljitsch dazu, zu Plechanow zu gehen und ihm zu sagen, dass Ru aus dem Vorstand ausscheiden werde.

Martow gab die Broschüre „Der Belagerungszustand" heraus. Sie strotzte von den unglaublichsten Beschuldigungen. Auch Trotzki ließ eine Broschüre erscheinen, „Bericht der sibirischen Delegation'', in der er die Ereignisse völlig im Sinne Martows beleuchtete. Plechanow wurde als eine Schachfigur in der Hand Lenins dargestellt u. dgl. m.

Wladimir Iljitsch begann, eine Erwiderung an Martow zu schreiben, die Broschüre „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte rückwärts". Darin analysierte er die Ereignisse auf dem Parteitag eingehend.

Indessen war auch in Russland der Kampf entbrannt. Die Delegierten der Bolschewiki erstatteten Bericht über den Parteitag. Das Programm, das der Parteitag angenommen hatte, und die meisten Resolutionen des Parteitags wurden in den Ortsgruppen mit großer Befriedigung aufgenommen. Um so weniger verstand man die Haltung der Menschewiki. In Resolutionen wurde gefordert, dass jeder sich den Beschlüssen des Parteitags zu fügen habe. Von unseren Delegierten setzte sich in dieser Zeit „Onkelchen" besonders energisch ein. Als alte Revolutionärin konnte sie einfach nicht begreifen, wie man sich dem Parteitag gegenüber so disziplinlos verhalten könne. Sie und andere Genossen aus Russland schrieben ermunternde Briefe. Die Komitees stellten sich eins nach dem andern auf den Boden der Parteimehrheit.

Kurz darauf traf Claire ein. Er hatte keine Vorstellung davon, welche Kluft indessen zwischen den Bolschewiki und den Menschewiki entstanden war. Er glaubte, dass man Bolschewiki und Menschewiki noch miteinander versöhnen könne, und ging zu Plechanow, um sich mit ihm auszusprechen. Er sah aber ein, dass ein Ausgleich völlig unmöglich war, und reiste in gedrückter Stimmung ab. Wladimir Iljitsch verfinsterte sich noch mehr.

Anfang 1904 kamen Zilja Selikson, ein Vertreter der Petersburger Organisation, „Baron" (Essen) und der Arbeiter Makar nach Genf. Alle drei waren Anhänger der Bolschewiki. Wladimir Iljitsch kam häufig mit ihnen zusammen. Sie sprachen nicht nur über die Auseinandersetzungen mit den Menschewiki, sondern auch über die Arbeit in Russland. „Baron", damals noch ein ganz junger Bursche, war hingerissen von der Arbeit in Petersburg.

Wir bauen die Organisation jetzt auf kollektiven Grundlagen auf – sagte er. – Wir haben einzelne Kollektive gebildet: ein Kollektiv der Propagandisten, eins der Agitatoren, eins der Organisatoren."

Wladimir Iljitsch hörte zu.

Aus wie viel Leuten setzt sich das Kollektiv der Propagandisten zusammen?" fragte er.

Vorläufig aus mir allein", erwiderte „Baron" etwas verlegen.

Etwas wenig – bemerkte Iljitsch –. Und das Kollektiv der Agitatoren?"

Baron" errötete bis über beide Ohren und antwortete: „Vorläufig auch nur aus mir allein."

Iljitsch lachte ungestüm. Auch „Baron" lachte mit. Iljitsch verstand es immer, durch wenige Fragen, die die verwundbarste Stelle berührten, aus dem Wust von schönen Schemata und effektvollen Berichten die reale Wirklichkeit herauszuschälen.

Später trafen Olminski (Michail Stepanowitsch Alexandrow), der sich den Bolschewiki anschloss, und „Swerka" ein.

Swerka" hatte sich aus der Verbannung in die Freiheit gerettet. Sie war voll fröhlicher Energie und steckte damit ihre ganze Umgebung an. Sie zeigte keine Spur irgendwelcher Zweifel, irgendwelcher Unschlüssigkeit. Sie lachte jeden aus, der wegen der Spaltung den Kopf hängen ließ. Die Auseinandersetzungen im Auslande berührten sie anscheinend gar nicht. Zu dieser Zeit kamen wir auf den Einfall, bei uns in Secheron einmal wöchentlich „jours fixes'" zu veranstalten, um die Bolschewiki einander näher zu bringen Bei diesen jours fixes kam es zwar zu keiner „richtigen" Aussprache, aber sie trugen doch dazu bei, die durch die ganze Auseinandersetzung mit den Menschewiki hervorgerufene Depression zu vertreiben. Wie lustig klang es, wenn „Swerka" forsch einen „Wanjka" zu singen begann, und der lange kahlköpfige Arbeiter Jegor in den Gesang einstimmte. Einmal ging Jegor zu Plechanow, um sich mit ihm von Herzen auszusprechen; er legte dafür sogar einen Kragen um. Aber er kam enttäuscht und deprimiert von Plechanow zurück. „Sei nicht traurig, Jegor „– tröstete ihn „Swerka" –, „singe mit ,Wanjka', wir schaffen es schon." Iljitsch wurde zusehends munterer. „Swerkas" Forschheit und Frische zerstreute seine trübe Stimmung.

Bogdanow tauchte auf. Wladimir Iljitsch kannte damals seine philosophischen Arbeiten noch wenig, und als Menschen kannte er ihn gar nicht. Man sah ihm an, dass er ein Mitarbeiter vom Format der ZK-Mitglieder war. Sein Übergang auf die Seite der Bolschewiki war ausschlaggebend. Er war nur für kurze Zeit ins Ausland gekommen. In Russland hatte er weitgehende Verbindungen. Die Periode des ausweglosen Streites hatte ein Ende genommen.

Am schwersten fiel es Wladimir Iljitsch, endgültig mit Plechanow zu brechen.

Im Frühjahr lernte Wladimir Iljitsch einen alten Revolutionär kennen, den Volksrechtler Nathanson und dessen Frau. Nathanson war ein ausgezeichneter Organisator vom alten Schlag. Er kannte sehr viele Menschen, wusste jeden vorzüglich einzuschätzen und verstand gleich, wozu er sich eignete und zu welcher Aufgabe man ihn gebrauchen konnte. Was Wladimir Iljitsch besonders überraschte, war, dass er nicht nur die Zusammensetzung seiner eigenen, sondern auch die unserer sozialdemokratischen Organisationen ausgezeichnet kannte, besser als viele unserer damaligen ZK-Mitglieder. Er wohnte in Baku und war mit Krassin, Postalowski und anderen bekannt. Wladimir Iljitsch hielt es für möglich, Nathanson für die Sozialdemokratie zu gewinnen. Nathanson stand dem sozialdemokratischen Standpunkt sehr nahe. Später hörte ich von jemand, wie dieser alte Revolutionär geweint haben soll, als er in Baku zum ersten Male in seinem Leben eine grandiose Demonstration sah. In einem Punkt konnte Wladimir Iljitsch mit Nathanson nicht übereinkommen. Und zwar war Nathanson mit der damaligen Stellung der Sozialdemokratie zur Bauernschaft nicht einverstanden. Der Roman mit Nathanson dauerte etwa zwei Wochen. Nathanson war mit Plechanow gut bekannt, er stand mit ihm auf Du. Wladimir Iljitsch sprach einmal mit Nathanson über unsere Parteiangelegenheiten, über die Spaltung. Nathanson erbot sich, mit Plechanow zu reden. Er kam irgendwie betreten von Plechanow zurück. Man müsse nachgeben, meinte er.

Der Roman mit Nathanson war aus. Wladimir Iljitsch ärgerte sich über sich selbst, dass er mit dem Mitglied einer fremden Partei über die Angelegenheiten der Sozialdemokratie gesprochen hatte, dass Nathanson als eine Art Vermittler fungiert hatte. Er ärgerte sich über sich selbst und ärgerte sich über Nathanson.

Inzwischen führte das ZK in Russland eine zweideutige versöhnlerische Politik, aber die Komitees waren für die Bolschewiki. Es blieb nichts anderes übrig, als sich auf Russland zu stützen und einen neuen Parteitag einzuberufen.

Als Antwort auf die Julideklaration des ZK, die Wladimir Iljitsch die Möglichkeit nahm, seinen Standpunkt zu verteidigen und mit Russland in Verbindung zu bleiben, trat Wladimir Iljitsch aus dem ZK aus. Die Gruppe der Bolschewiki, insgesamt 22 Mann, nahm eine Resolution an, die die Notwendigkeit aussprach, einen dritten Parteitag einzuberufen.

Wladimir Iljitsch und ich packten unsere Rucksäcke und gingen für einen Monat ins Gebirge. „Swerka" hatte sich uns angeschlossen und wanderte anfangs mit uns. Sie blieb aber bald zurück. „Ihr sucht euch stets eine Gegend aus, wo man keiner Katze begegnet. Ich kann aber nicht ohne Menschen sein" – sagte sie. In der Tat wählten wir immer die abgelegensten Pfade, mitten durchs Dickicht, möglichst weit von Menschen entfernt. So vagabundierten wir einen ganzen Monat. Wir wussten heute nicht, wo wir morgen sein würden. Abends fielen wir todmüde ins Bett und schliefen sofort ein.

Wir hatten wenig Geld und ernährten uns meist von Käse und Eiern. Dazu tranken wir Wein oder Quellwasser. Zu Mittag aßen wir nur selten. In einem sozialdemokratischen Wirtshaus trafen wir einmal einen Arbeiter, der uns den Rat gab: „Essen Sie nie mit den Touristen, sondern mit den Fuhrleuten, Chauffeuren und Tagelöhnern; das ist doppelt so billig und viel sättigender." Das taten wir denn auch. Der kleine Beamte, der Ladenbesitzer und ähnliche Leute, die es der Bourgeoisie nachmachen möchten, verzichten lieber auf eine Wanderung, als dass sie sich mit Hausangestellten an einen Tisch setzen. Dieses Spießertum steht in Europa überall in Blüte. Das Wort Demokratie führt man dort dauernd im Mund, aber sich mit den Hausangestellten nicht bei sich zu Hause, sondern in einem eleganten Hotel an einen Tisch setzen zu sollen – das geht über die Kräfte des Spießers, der etwas werden will. Wladimir Iljitsch machte es ein besonderes Vergnügen, im Bedientenraum zu Mittag zu essen, er aß dort mit besonderem Appetit und lobte das billige und nahrhafte Mittagessen. Danach schnallten wir wieder unsere Rucksäcke auf und wanderten weiter. Die Rucksäcke waren recht schwer: Wladimir Iljitsch hatte ein schweres französisches Wörterbuch in seinem Rucksack, und in meinem lag ein ebenso schweres französisches Buch, das ich kürzlich zum Übersetzen bekommen hatte. Aber weder das Wörterbuch noch mein Buch wurden auch nur ein einziges Mal während unserer Wanderung aufgeschlagen. Wir schauten nicht ins Wörterbuch, wir betrachteten lieber die von ewigem Schnee bedeckten Berge, die blauen Seen, die stürmischen Wasserfälle.

Nach einem Monat, den wir auf diese Weise zubrachten, kamen Wladimir Iljitschs Nerven wieder ins Gleichgewicht. Als hätte er sich mit dem Wasser aus einem Bergquell gewaschen und das ganze Spinngewebe kleinlichen Gezänks von sich abgestreift. Den August verbrachten wir zusammen mit Bogdanow, Olminski und Perwuchin in einem entlegenen Dörfchen in der Nähe des Lac de Brêt. Mit Bogdanow verabredeten wir den Arbeitsplan. Bogdanow beabsichtigte, Lunatscharski, Stepanow und Basarow zur literarischen Arbeit heranzuziehen. Wir fassten ins Auge, ein eigenes Organ im Ausland herauszugeben und in Russland die Agitation für den Parteitag zu entfalten.

Iljitsch wurde ganz vergnügt, und abends, wenn er von Bogdanow nach Hause kam, ertönte ein ungestümes Bellen – Iljitsch neckte im Vorbeigehen den Kettenhund.

Als wir im Herbst nach Genf zurückkehrten, zogen wir aus dem Vorort mehr ins Zentrum. Wladimir Iljitsch trat der „Société de Lecture" bei, die über eine riesige Bibliothek mit vorzüglichen Arbeitsbedingungen verfügte. Es gab dort eine Menge Zeitungen und Zeitschriften in französischer, englischer und deutscher Sprache. Man konnte dort sehr ungestört arbeiten; die Mitglieder des Vereins – meist alte Professoren – benutzten die Bibliothek nur wenig. Iljitsch stand ein ganzer Raum zur Verfügung. Er konnte dort schreiben, auf und ab gehen, seine Artikel überlegen, jedes beliebige Buch vom Regal nehmen. Er konnte sicher sein, dass hierher kein russischer Genosse kommen und erzählen werde, dass die Menschewiki das und das gesagt, dieses und jenes gemacht hätten. Hier konnte er nachdenken, ohne abgelenkt zu werden, und es gab so manches, worüber man nachdenken musste.

Russland hatte den japanischen Krieg begonnen, der die ganze Morschheit der Zarenmonarchie besonders krass zum Vorschein kommen ließ. Im japanischen Krieg wünschten nicht nur die Bolschewiki eine Niederlage Russlands, auch die Menschewiki und sogar die Liberalen waren Defätisten Eine Welle der Empörung ging durch das Volk. Die Arbeiterbewegung war in eine neue Phase eingetreten. Die Nachrichten über Massenkundgebungen, die trotz der Polizeiverbote veranstaltet wurden, über direkte Zusammenstöße der Arbeiter mit der Polizei häuften sich.

Angesichts der heranwachsenden revolutionären Massenbewegung konnten einen die kleinen fraktionellen Streitigkeiten schon längst nicht mehr so aufregen wie noch vor kurzem, obwohl diese Streitigkeiten manchmal ganz wilde Formen annahmen. Einmal traf z. B. der Bolschewik Wassiljew aus dem Kaukasus ein und wollte ein Referat über die Lage in Russland halten.

Obwohl es sich nicht um die Versammlung einer Parteikörperschaft handelte, sondern nur um ein öffentliches Referat, zu dem jedes beliebige Parteimitglied Zutritt hatte, verlangten die Menschewiki die Wahl eines Präsidiums. Der Versuch der Menschewiki, aus jedem Referat eine Art Wahlkampf zu machen, war der Versuch, die Bolschewiki „auf demokratische Weise" mundtot zu machen. Beinahe wäre es zu einem Handgemenge, zu einem Kampf um die Kasse gekommen. Natalja Bogdanowa (Bogdanows Frau) wurde sogar der Mantel zerrissen, und jemand kam zu Fall und verletzte sich. Aber all das regte einen jetzt viel weniger auf als früher.

Jetzt dachte alles an Russland. Man empfand die ungeheure Verantwortung für die Arbeiterbewegung, die sich in Petersburg, in Moskau, in Odessa und anderen Städten Russlands entwickelte.

Sämtliche Parteien – die Liberalen, die Sozialrevolutionäre – begannen ihr wahres Gesicht besonders deutlich zu zeigen. Auch die Menschewiki entpuppten sich. Jetzt trat das, was Bolschewiki und Menschewiki trennte, ganz deutlich hervor.

In Wladimir Iljitsch lebte der tiefste Glaube an den Klasseninstinkt des Proletariats, an seine schöpferische Kraft, an seine geschichtliche Mission. Dieser Glaube war bei Wladimir Iljitsch nicht auf einmal entstanden, er erwuchs in ihm in jenen Jahren, als er die Marxsche Theorie des Klassenkampfes studierte und durchdachte, als er die russische Wirklichkeit studierte, als er im Kampf mit der Weltanschauung der alten Revolutionäre lernte, dem Heldenmut individueller Kämpfer die Kraft und das Heldentum des Klassenkampfes entgegenzusetzen. Es war das kein blinder Glaube an eine unbekannte Macht, es war die tiefe Überzeugung von der Kraft des Proletariats, von seiner gewaltigen Rolle für die Befreiung der Werktätigen, eine Überzeugung, die auf tiefer Sachkenntnis beruhte, auf gewissenhaftestem Studium der Wirklichkeit. Die Tätigkeit unter den Petersburger Arbeitern hatte diesen Glauben an die Macht der Arbeiterklasse zu lebendigen Gestalten werden lassen.

Ende Dezember begann die bolschewistische Zeitung „Wperjod"2 zu erscheinen. In die Redaktion wurden außer Iljitsch Olminski und Orlowski berufen. Bald kam ihnen Lunatscharski zu Hilfe. Seine von Pathos getragenen Artikel und Reden brachten die damalige Stimmung der Bolschewiki besonders gut zum Ausdruck.

Die revolutionäre Bewegung in Russland wuchs, und zugleich wuchs auch unsere Korrespondenz mit Russland. Sie kam bald bis auf dreihundert Briefe im Monat. Wie viel Material für Iljitsch! Er verstand es, die Briefe der Arbeiter zu lesen. Ich entsinne mich noch eines Briefes von Arbeitern der Odessaer Steinbrüche. Ein kollektiver Brief, von einigen urwüchsigen Handschriften geschrieben, ohne Subjekt und Prädikat, ohne Punkte und Kommas, aber er atmete unerschöpfliche Energie, Bereitschaft zum Kampf bis zum Letzten, bis zum Sieg, ein Brief, farbenprächtig durch jedes seiner naiven und überzeugten, unerschütterlichen Worte. Ich weiß nicht mehr, wovon in diesem Brief die Rede war, aber ich erinnere mich noch deutlich seines Aussehens, des Papiers, der vergilbten Tinte. Wladimir Iljitsch las diesen Brief immer wieder, und dann ging er tief in Gedanken auf und ab. Die Arbeiter der Odessaer Steinbrüche hatten sich die Mühe nicht umsonst gemacht, als sie den Brief an Iljitsch schrieben, sie schrieben dem Genossen, dem sie schreiben mussten, der sie am besten verstanden hat.

Einige Tage nach dem Schreiben von den Arbeitern der Odessaer Steinbrüche kam ein Brief von einer jungen Propagandistin aus Odessa, Tanjuscha mit Namen, die gewissenhaft und ausführlich über eine Versammlung der Odessaer Handwerker berichtete. Iljitsch las auch diesen Brief und setzte sich sogleich hin, um Tanjuscha zu antworten: „Haben Sie Dank für den Brief, schreiben Sie häufiger. Für uns ist jede Mitteilung außerordentlich wichtig, die die alltägliche Arbeit beschreibt. Wir bekommen verteufelt wenig solche Mitteilungen."

Fast in jedem Brief bat Iljitsch die russischen Genossen dringend, ihm mehr Verbindungen zu geben. „Die Stärke einer revolutionären Organisation besteht in der Zahl ihrer Verbindungen", heißt es in einem Brief an Gussew. Er bat Gussew, das ausländische Zentrum der Bolschewiki mit der Jugend zu verbinden. „Eine ganz idiotische, philisterhafte, Oblomowsche Furcht vor der Jugend besteht bei uns", schreibt er. Alexej Andrejewitsch Preobraschenski, einen alten Bekannten in Samara, der damals auf dem Lande wohnte, bat er in einem Brief um Verbindungen mit den Bauern. Er drang darauf, dass die Arbeiterbriefe von den Petersburger Genossen dem ausländischen Zentrum nicht nur im Auszug bekanntgegeben, sondern ungekürzt eingesandt würden. Die Revolution näherte sich und wuchs. Das sah Iljitsch am deutlichsten aus diesen Arbeiterbriefen. Das Jahr 1905 stand vor der Tür.

A Plechanow hatte verstanden, worum die Sache ging. Aber er wusste nicht, wie sich die Sache auf dem Parteitag entwickeln, welche Situation sich dort ergeben würde. N. K.

1 Lenin: „Mitglied der Partei ist, wer an einer Organisation der Partei teilnimmt." Martow: „…wer unter der Kontrolle der Partei arbeitet."

2 Zu deutsch: „Vorwärts".

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