Aus Russland ins Ausland

Aus Russland ins Ausland (Ende 1907)

Lenin musste sich tiefer nach Finnland begeben. Im Landhaus „Wasa" (in Kuokkala) blieben nur noch Bogdanows, Innokenti (Dubrowinski) und ich. In Terijoki hatten bereits Haussuchungen stattgefunden; wir rechneten auch damit. Natalja Bogdanowa und ich veranstalteten ein „Großreinemachen", sortierten die verschiedenen Archive, sonderten das Wertvolle aus und übergaben es finnischen Genossen, die es versteckten; das Übrige wurde verbrannt. Das taten wir so eifrig, dass ich einmal erstaunt bemerkte, dass der Schnee um unsere „Wasa" herum mit Asche bedeckt war. Nebenbei gesagt, hätten die Gendarmen, wenn sie erschienen wären, wahrscheinlich trotzdem ein gutes Geschäft gemacht: allzu viel hatte sich in der „Wasa" angesammelt. Wir mussten an besondere Vorsichtsmaßregeln denken. Einmal kam frühmorgens die Besitzerin des Hauses angelaufen und erzählte, dass in Kuokkala Gendarmen aufgetaucht seien; sie nahm, soviel sie tragen konnte, allerhand illegale Papiere mit, um sie bei sich zu verstecken. Alexander Alexandrowitsch Bogdanow und Innokenti schickten wir in den Wald spazieren, und wir selbst blieben im Haus, um die Gendarmen zu erwarten. Aber dieses Mal kam die „Wasa" nicht dran; es wurden Mitglieder der Kampftruppen gesucht.

Die Genossen hatten Iljitsch weiter fort von der Grenze geschickt – er lebte damals in Agelby, einem kleinen Ort in der Nähe von Helsingfors, bei zwei finnischen Schwestern. Er fühlte sich fremd in dem wunderbar sauberen und kalten, auf finnische Art gemütlich eingerichteten, mit Spitzenvorhängen vor den Fenstern geschmückten Zimmerchen, wo alles seinen Platz hatte, wo hinter der Wand immer lautes Lachen ertönte, Klavierspiel und Schwatzen in finnischer Sprache herüber schallte. Iljitsch schrieb ganze Tage an seiner Arbeit über die Agrarfrage und überdachte sorgfältig die Erfahrungen der verflossenen Revolution. Stundenlang wanderte er – auf den Zehenspitzen, um seine Wirtinnen nicht zu stören – aus einer Ecke in die andere. Ich war einmal bei ihm in Agelby.

Da die Polizei aber bereits in ganz Finnland nach Iljitsch fahndete, musste er ins Ausland fahren. Es war klar, dass die Reaktion jahrelang dauern würde. Es war notwendig, schleunigst in die Schweiz zu verschwinden. Obgleich wir nicht die geringste Lust dazu hatten, blieb uns doch kein anderer Ausweg. Ja, auch die Herausgabe des „Proletari" musste ins Ausland verlegt werden, da sein Erscheinen in Finnland unmöglich wurde. Lenin sollte bei der ersten Gelegenheit nach Stockholm fahren und mich dort erwarten. Ich musste in Petersburg meine kranke alte Mutter unterbringen, verschiedene Geschäfte ordnen, die Verbindungen verabreden und konnte Iljitsch erst dann nachreisen

Während ich mit alldem beschäftigt war, wäre Iljitsch bei der Überfahrt nach Stockholm fast umgekommen. Die Sache war die, dass man ihm so gründlich nachgespürt hatte, dass er die übliche Reiseroute, von Abo mit dem Dampfer, nicht benutzen konnte, da das seine sichere Verhaftung bedeutet hätte.1 Es waren schon Fälle von Verhaftungen beim Besteigen des Dampfers vorgekommen. Einer der finnischen Genossen riet, den Dampfer auf der nächsten Insel zu besteigen. Das war insofern ungefährlich, da die russische Polizei dort keine Verhaftungen vornehmen konnte, man musste aber bis zu der Insel etwa drei Werst zu Fuß über das Eis gehen, und die Eisdecke war ungeachtet des Monats Dezember nicht überall zuverlässig. Es fand sich keiner, der sein Leben riskieren wollte, kein Führer war aufzutreiben. Endlich entschlossen sich zwei angeheiterte finnische Bauern, denen letzten Endes schon alles gleich war, Iljitsch zu führen. Und während sie nun nachts über das Eis wanderten, wären Iljitsch und sie fast umgekommen – an einer Stelle begann das Eis unter ihren Füßen zu weichen, und sie retteten sich nur mit knapper Not.

Der finnische Genosse Borgo (der später von den Weißen erschossen wurde), durch den ich nach Stockholm kam, erzählte mir, wie gefährlich der gewählte Weg war, und dass nur der Zufall Iljitsch vor dem Tode gerettet hatte. Und Lenin erzählte, dass er, als das Eis unter seinen Füßen zu weichen begann, dachte: „Ach, auf welche blöde Weise kann man zugrunde gehen." Die russischen Bolschewiki, Menschewiki und Sozialrevolutionäre gingen wieder ins Ausland. Auf demselben Dampfer fuhren Dan, Lidia Ossipowna Zederbaum und zwei Sozialrevolutionäre mit mir nach Schweden.

Nachdem wir einige Tage in Stockholm verbracht hatten, reisten wir über Berlin nach Genf. In Berlin hatten am Tage vor unserer Ankunft bei Russen Haussuchungen stattgefunden, auch Verhaftungen waren vorgenommen worden. Darum riet uns Genosse Awramow, ein Mitglied der Berliner Gruppe, der uns vom Bahnhof abholte, nicht zu irgend jemandem in die Wohnung zu gehen; er schleifte uns den ganzen Tag von einem Café ins andere. Den Abend verbrachten wir bei Rosa Luxemburg. Der Stuttgarter Kongress, auf dem Wladimir Iljitsch und Rosa Luxemburg in der Frage des Krieges solidarisch aufgetreten waren, hatte sie einander sehr nahe gebracht. Das war im Jahre 1907; schon auf dem Kongress hatten sie gesagt, dass der Kampf gegen den Krieg nicht nur den Kampf um den Frieden zum Ziel haben müsse, sondern auch die Ablösung des Kapitalismus durch den Sozialismus. Die durch einen Krieg hervorgerufene Krise müsse man unbedingt zur Beschleunigung des Sturzes der Bourgeoisie ausnutzen. In seiner Charakterisierung des Stuttgarter Kongresses schrieb Iljitsch: „Der Stuttgarter Kongress hat in einer ganzen Reihe bedeutsamster Fragen eine deutliche Gegenüberstellung des opportunistischen und des revolutionären Flügels der internationalen Sozialdemokratie vollzogen und diese Fragen im Geiste des revolutionären Marxismus gelöst."2 Die gleiche Haltung auf dem Stuttgarter Kongress trug dazu bei, dass die Unterhaltung an jenem Abend besonders freundschaftlich verlief.

In dem Hotel, in dem wir abgestiegen waren, kamen wir abends beide krank an. Weißer Schaum stand uns vor dem Mund, und eine große Schwäche hatte uns befallen. Wie sich später herausstellte, hatten wir uns auf unserer Wanderung von einem Restaurant ins andere eine Fischvergiftung zugezogen. Man musste in der Nacht einen Arzt holen. Wladimir Iljitsch war als finnischer Koch und ich als amerikanische Staatsbürgerin gemeldet, und darum holte der Bediente einen amerikanischen Arzt. Dieser untersuchte Wladimir Iljitsch und sagte, dass die Sache sehr ernst sei, untersuchte mich und meinte: „Na, Sie werden mit dem Leben davonkommen!" Dann verschrieb er eine Menge Arznei und forderte, da er wohl fühlte, dass mit uns etwas nicht ganz stimmte, einen wahnsinnigen Preis für die Visite. Wir mussten ein paar Tage im Bett bleiben und schleppten uns halb krank nach Genf, wo wir am 7. Januar 1908 (25. Dezember 1907) ankamen. Iljitsch schrieb später an Gorki, dass wir uns unterwegs „erkältet" hätten.

Genf sah trist aus. Nicht eine Schneeflocke, kalter, schneidender Nordwind. Es wurden Ansichtskarten mit Fotografien des bei den Kaigittern des Genfer Sees in der Luft gefrorenen Wassers verkauft. Die Stadt sah tot und öde aus. Von unseren Genossen lebten damals in Genf nur Micha Zchakaja, W. A. Karpinski und Olga Rawitsch. Michail Zchakaja hauste in einem kleinen Zimmerchen und richtete sich mühsam im Bett auf, als wir kamen. Das Gespräch kam nicht in Fluss. Karpinskis wohnten damals in einer russischen Bibliothek, der ehemaligen Kuklinbibliothek, die Karpinski leitete. Als wir zu ihnen kamen, hatte Karpinski gerade einen äußerst starken Anfall von Migräne, er kniff deswegen immer die Augen zusammen, alle Fensterläden waren geschlossen, da das Licht ihn nervös machte. Als wir von Karpinskis durch die öden, uns so fremd gewordenen Straßen Genfs gingen, meinte Iljitsch: „Ich habe das Gefühl, als ob wir hierher gekommen sind, um uns ins Grab zu legen."

So fing unsere zweite Emigration an; sie war viel schwerer als die erste.

1 Die Dampfer von Finnland nach Schweden verkehrten auch im Winter, mit Hilfe eines Eisbrechers. Anm. d. russ. Red.

2 W. I. Lenin: Über Deutschland und die deutsche Arbeiterbewegung, Dietz Verlag, Berlin 1957, S. 162.

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