Das Jahr 1905

Das Jahr 1905

In der Emigration

Schon im November 1904 hatte Iljitsch in der Broschüre „Die Semstwokampagne und der Plan der ,Iskra'"1 und später im Dezember in den im „Wperjod" Nr. 1 bis 3 veröffentlichten Artikeln geschrieben, dass die Zeit des wirklichen, offenen Befreiungskampfes der Massen heranrücke. Er spürte das Herannahen eines revolutionären Ausbruchs deutlich. Aber es ist natürlich etwas anderes, dieses Herannahen nur zu spüren, als zu erfahren, dass die Revolution wirklich ausgebrochen ist. Als daher die Meldungen über den 9. Januar in Genf eintrafen, die Nachrichten über die konkrete Form, in der die Revolution begonnen hatte, war es, als ob die ganze Umwelt sich mit einem Schlage verändert hätte, als ob alles bis jetzt Gewesene irgendwie in eine ferne Vergangenheit rückte. Die Meldung von den Ereignissen des 9. Januar gelangte am nächsten Morgen nach Genf. Wladimir Iljitsch und ich waren gerade auf dem Wege zur Bibliothek und trafen unterwegs Lunatscharskis, die im Begriff waren, zu uns zu gehen. Ich sehe noch Frau Lunatscharski, Anna Alexandrowna, vor mir. Sie konnte vor Aufregung kein Wort herausbringen und schwenkte nur unbeholfen ihren Muff. Wir gingen zu Lepeschinskis, die einen Mittagstisch für Emigranten eingerichtet hatten, wohin alle Bolschewiki, die die Mitteilung von den Petersburger Ereignissen erhalten hatten, instinktiv eilten. Man hatte allgemein das Bedürfnis, zusammen zu sein. Niemand sprach ein Wort. Jeder kämpfte mit seiner Erregung. Man stimmte spontan den Trauermarsch „Unsterbliche Opfer…" an. Die Gesichter trugen den Ausdruck der Sammlung. Alle bewegte das Bewusstsein: die Revolution hat bereits begonnen, die Netze des Glaubens an den Zaren sind zerrissen, der Zeitpunkt ist schon ganz nahe herangekommen, wo „die Willkür zerbricht und das Volk steht auf, das mächtige, kraftvolle, freie".

Für uns begann jenes eigenartige Leben, das die ganze Genfer Emigration damals führte: von einer Ausgabe der lokalen Zeitung „Tribunka"2 bis zur anderen.

Iljitsch war mit allen seinen Gedanken in Russland.

Bald darauf kam Gapon nach Genf. Er geriet zuerst unter die Sozialrevolutionäre, und diese stellten die Sache so hin, als sei Gapon „ihr" Mann und als hätten sie auch die ganze Arbeiterbewegung in Petersburg ins Leben gerufen. Sie machten für Gapon eine riesige Reklame und hoben ihn in den Himmel. Gapon stand damals im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit. Die englische Zeitung „Times" zahlte ihm für jede Zeile horrende Summen.

Einige Zeit nach Gapons Ankunft in Genf kam gegen Abend eine Dame aus dem Kreis der Sozialrevolutionäre zu uns und teilte Wladimir Iljitsch mit, Gapon möchte ihn gern einmal sprechen. Als Ort der Zusammenkunft vereinbarte man einen neutralen Boden, ein Café. Der Abend brach an. Iljitsch machte kein Licht und ging im Zimmer auf und ab.

Gapon war ein lebendiges Stück der in Russland heranreifenden Revolution, mit den Arbeitermassen eng verbunden, ein Mensch, dem sie grenzenloses Vertrauen schenkten. Und deshalb regte diese Zusammenkunft Iljitsch auf.

Ein Genosse hat sich vor kurzem darüber empört: Wie konnte Wladimir Iljitsch sich nur mit Gapon einlassen.

Gewiss, man hätte Gapon einfach übergehen und von vornherein annehmen können, dass von einem Pfaffen nichts Gutes kommen kann. So verhielt sich zum Beispiel Plechanow, der Gapon äußerst kühl empfing. Aber Iljitschs Stärke bestand ja eben darin, dass die Revolution für ihn lebendig war, dass er es verstand, in ihren Zügen zu lesen, sie in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit zu erfassen, dass er wusste und verstand, was die Massen wollten. Die Kenntnis der Masse gewinnt man aber nur durch Berührung mit ihr. Und darum interessierte es Iljitsch, wodurch Gapon Einfluss auf die Massen ausübte.

Als er von der Zusammenkunft heimkam, erzählte Wladimir Iljitsch, welchen Eindruck Gapon auf ihn gemacht hatte. Gapon war noch ganz umweht vom Atem der Revolution. Wenn er von den Petersburger Arbeitern erzählte, geriet er in Feuer, er schäumte über vor Entrüstung und Empörung über den Zaren und seine Helfershelfer. In dieser Empörung lag nicht wenig Naivität, aber um so unmittelbarer wirkte sie. Die Stärke dieser Empörung entsprach ganz der Empörung der Arbeitermassen. „Er muss nur lernen", sagte Wladimir Iljitsch. „Ich habe zu ihm gesagt:,Hören Sie nicht auf Schmeicheleien, Väterchen! Lernen Sie, sonst werden Sie dorthin geraten', und ich zeigte unter den Tisch."

Am 8. Februar schrieb Wladimir Iljitsch in Nr. 7 des „Wperjod":

Möge es G. Gapon, der den Übergang von den Anschauungen des politisch unbewussten Volkes zu revolutionären Anschauungen so tief erlebt und empfunden hat, gelingen, sich die für einen Politiker notwendige Klarheit der revolutionären Weltanschauung zu erarbeiten …“3

Gapon hat diese Klarheit niemals erreicht. Er war der Sohn eines reichen ukrainischen Bauern und hat die Beziehungen zu seiner bäuerlichen Familie und seinem Heimatdorfe sein Leben lang bewahrt. Er kannte die Nöte der Bauern gut, seine Sprache war schlicht und der grauen Arbeitermasse verständlich. Seine Herkunft, seine Verbundenheit mit dem Dorfe ist vielleicht eins der Geheimnisse seines Erfolgs. Aber es lässt sich schwer ein Mensch denken, der so völlig durchtränkt war mit pfäffischer Psychologie wie Gapon. Er hatte bis dahin ein revolutionäres Milieu nie gekannt und war seiner ganzen Natur nach alles andere als ein Revolutionär. Er war ein schlauer Pfaffe, stets zu allen möglichen Kompromissen bereit. Er erzählte einmal folgendes: „Eine Zeitlang quälten mich Zweifel, mein Glaube war ins Wanken geraten. Ich wurde ganz krank davon und machte eine Reise nach der Krim. Dort lebte zu jener Zeit ein Einsiedler, der im Ansehen stand, ein heiliges Leben zu führen. Ich reiste zu ihm, um meinen Glauben wieder zu festigen. Wie ich zu dem Einsiedler komme, steht er betend an einem Quell. Um ihn hat sich Volk versammelt, und er hält gerade den Gottesdienst ab. In dem Quell gibt es eine hufeisenförmige Vertiefung, die der Gaul des siegreichen heiligen Georgius hinterlassen haben soll. Das ist natürlich Unsinn, aber darauf kommt es auch nicht an, denke ich, jedenfalls hat der Einsiedler einen tiefen Glauben. Nach dem Gottesdienst gehe ich also zu ihm und bitte ihn um seinen Segen. Da legt er sein Priestergewand beiseite und sagt: ,Wir haben hier einen Laden mit Lichtern aufgemacht und ganz hübsch dabei verdient!' Da hatte ich nun meinen Glauben! Ich weiß nicht, wie ich lebend nach Hause gekommen bin. Ein Freund von mir, der Maler Wereschtschagin, drang in mich: ,Leg doch die Priesterwürde nieder!' Aber ich entschied mich damals so: Heute sind die Eltern im Dorf geachtet, der Vater ist Dorfältester und steht bei allen Leuten in hohem Ansehen. Lege ich aber mein Amt nieder, dann wird man ihm an den Kopf werfen: Dein Sohn ist ein Abtrünniger! So habe ich die Priesterwürde nicht niedergelegt."

In dieser Erzählung steckt der ganze Gapon.

Er verstand nicht zu lernen. Auf Scheibenschießen und Reiten hat er nicht wenig Zeit verwandt, aber für Bücher hatte er nicht viel übrig. Er machte sich zwar auf Anraten von Iljitsch an die Lektüre der Plechanowschen Aufsätze, aber er tat es, wie man eine Pflicht erfüllt. Gapon verstand eicht, aus Büchern zu lernen. Aber er verstand auch nicht, aus dem Leben zu lernen. Die pfäffische Psychologie hatte seinen Blick ganz getrübt. Er kehrte nach Russland zurück und glitt bald in den Abgrund der Provokateurtätigkeit hinab.

Von den ersten Tagen der Revolution an war Iljitsch bereits die ganze Perspektive klar. Er begriff: die Bewegung werde lawinenartig anwachsen. Das revolutionäre Volk werde nicht auf halbem Wege stehenbleiben. Die Arbeiter würden der Autokratie eine Schlacht liefern. Ob die Arbeiter dabei siegen oder ob sie besiegt werden würden, musste sich im Ausgang des Kampfes zeigen. Jedenfalls kam es darauf an, so gut wie irgend möglich gerüstet zu sein.

Iljitsch hatte stets einen besonderen Instinkt, ein tiefes Verständnis dafür, was die Arbeiterklasse im gegebenen Augenblick bewegte.

Die Menschewiki orientierten sich auf die liberale Bourgeoisie. Sie meinten, man müsse die liberale Bourgeoisie in Bewegung setzen, man müsse die Revolution „entfesseln" – Iljitsch aber wusste, dass die Arbeiterklasse bereits entschlossen war, den Kampf bis zu Ende zu führen. Und er war mit ihr. Er war sich darüber klar, dass man nicht auf halbem Wege stehenbleiben durfte. Das hätte eine solche Demoralisation bedeutet, hätte die Kampfkraft der Arbeiterklasse so herabgesetzt und der Sache einen so großen Schaden zugefügt, dass man das unter keinen Umständen tun durfte. Und die Geschichte hat gezeigt: die Arbeiterklasse erlitt in der Revolution von 1905 zwar eine Niederlage, aber sie blieb unbesiegt, ihre Kampfbereitschaft wurde nicht gebrochen. Das begriffen jene nicht, die Lenin wegen seiner „Geradlinigkeit" angriffen und die nach der Niederlage nichts anderes zu sagen wussten, als dass man „nicht zu den Waffen hätte greifen dürfen". Wer seiner Klasse treu bleiben wollte, der konnte nicht anders als zu den Waffen greifen. Die Avantgarde durfte ihre kämpfende Klasse nicht im Stich lassen.

Und darum rief Iljitsch unermüdlich die Avantgarde der Arbeiterklasse, die Partei, zum Kampf, zur Organisation, zur Arbeit für die Bewaffnung der Massen auf. Darüber schrieb er im „Wperjod" und in seinen Briefen nach Russland.

Der 9. Januar 1905 offenbarte den ganzen gigantischen Vorrat des Proletariats an revolutionärer Energie und die ganze Unzulänglichkeit der Organisation der Sozialdemokraten"4, schrieb Wladimir Iljitsch Anfang Februar in dem Artikel „Sollen wir die Revolution organisieren?", von dem jede Zeile ein Appell ist, von Worten zu Taten überzugehen.

Iljitsch hatte nicht nur alles gelesen und aufs sorgfältigste durchdacht, was Marx und Engels über die Revolution und den Aufstand geschrieben haben. Er hatte gar manches Werk über Kriegskunst gelesen und die Technik und Organisation des bewaffneten Aufstandes nach allen Seiten hin erwogen. Er beschäftigte sich mit dieser Sache viel mehr, als man weiß, und seine Äußerungen über die Stoßtrupps während des Partisanenkrieges, über die Fünfer- und Zehnergruppen waren nicht Laiengeschwätz, sondern ein allseitig durchdachter Vorschlag.

Der Angestellte der „Société de Lecture" war Zeuge, wie Tag für Tag frühmorgens ein russischer Revolutionär in den Lesesaal kam. Er trug die billigen Hosen auf Schweizer Art zum Schutz vor dem Straßenschmutz umgeschlagen und vergaß sie nach dem Eintreten zurückzuschlagen. Er nahm das vom vorigen Tage liegengebliebene Buch über Barrikadenkampf, über die Technik des Angriffs, zur Hand, setzte sich an den gewohnten Platz an das Tischchen neben dem Fenster, strich mit der gewohnten Handbewegung das dünne Haar auf dem Kahlkopf zurecht und vertiefte sich in die Lektüre. Nur manchmal stand er auf, um ein großes Wörterbuch vom Regal zu nehmen und dort die Erklärung eines unbekannten technischen Ausdrucks zu suchen. Danach ging er auf und ab, setzte sich wieder an den Tisch und brachte rasch und konzentriert in kleiner Handschrift seine Notizen zu Papier.

Die Bolschewiki machten alle Mittel und Wege ausfindig, um Waffen nach Russland zu transportieren. Aber was geschehen konnte, war ja nur ein Tropfen auf einen heißen Stein. In Russland (Petersburg) bildete sich ein Kampfausschuss, aber er kam nur langsam vorwärts. Iljitsch schrieb nach Petersburg:

In einer solchen Sache sind Schemas und weitschweifige Diskussionen über die Funktionen des Kampfausschusses und seine Rechte am allerwenigsten angebracht. Hier braucht man schäumende Energie und nochmals Energie. Ich sehe mit Entsetzen, wahrhaftig mit Entsetzen, dass man schon länger als ein halbes Jahr von Bomben spricht und noch keine einzige hergestellt hat! Und die davon sprechen, sind hochgelehrte Leute … Geht zur Jugend, Herrschaften! Das ist das einzige Allheilmittel. Sonst werdet ihr, weiß Gott, zu spät kommen (ich ersehe das aus allem) und mit allen euren ,gelehrten' Entwürfen, Plänen, Zeichnungen, Schemas und großartigen Rezepten, aber ohne Organisation, ohne lebendige Tat dasitzen. Geht zur Jugend. Gründet sofort Kampfgruppen, überall und allerorts, sowohl bei den Studenten als auch besonders bei den Arbeitern usw. usf. Trupps von 3 bis 10, bis zu 30 usw. Mann sollen sich unverzüglich formieren. Sie sollen sich unverzüglich selber bewaffnen, so gut jeder kann, mit Revolvern, Messern, petroleumgetränkten Lappen, um Feuer anzulegen usw. Diese Kampfabteilungen sollen sich unverzüglich Führer wählen und sich nach Möglichkeit mit dem Kampfausschuss des Petersburger Komitees in Verbindung setzen. Verlangt keinerlei Formalitäten, pfeift um Himmels willen auf alle Schemas, schickt um Gottes willen alle ,Funktionen, Rechte und Privilegien' zum Teufel."5

Und die Bolschewiki haben nicht wenig zur Vorbereitung des bewaffneten Aufstands beigetragen, sie haben vielfach ungeheuren Heldenmut an den Tag gelegt und jeden Augenblick ihr Leben eingesetzt. Vorbereitung des bewaffneten Aufstands – das war die Losung der Bolschewiki. Auch Gapon redete vom bewaffneten Aufstand.

Bald nach seiner Ankunft trat er mit dem Vorschlag eines Kampfbündnisses zwischen den revolutionären Parteien auf. Wladimir Iljitsch würdigte Gapons Vorschlag in Nr. 7 des „Wperjod" (vom 8. Februar 1905) und beleuchtete die ganze Frage des Kampfbündnisses eingehend.

Gapon übernahm es, die Petersburger Arbeiter mit Waffen zu versorgen. Er verfügte über allerlei Spenden, die bei ihm eingingen. Damit machte er in England Waffenkäufe. Endlich war die Sache soweit. Man machte ein Schiff, „Grafton", ausfindig, dessen Kapitän bereit war, Waffen mitzunehmen und sie auf einer der Inseln unweit der russischen Grenze auszuladen. Gapon hatte von illegalen Transportangelegenheiten keine Ahnung und stellte sich die Sache viel einfacher vor, als sie in Wirklichkeit war. Er besorgte sich von uns einen illegalen Pass, ließ sich Verbindungen nennen und brach nach Petersburg auf, um die Angelegenheit in die Wege zu leiten. Wladimir Iljitsch erblickte darin den Übergang von Worten zu Taten. Die Arbeiter brauchten dringend Waffen. Bei dem ganzen Unternehmen kam jedoch gar nichts heraus. Die „Grafton" fuhr auf eine Sandbank auf, und es erwies sich überhaupt als unmöglich, an die betreffende Insel heranzukommen. Aber auch in Petersburg konnte Gapon gar nichts ausrichten. Er war gezwungen, sich in elenden Arbeiterwohnungen verborgen zu halten und unter fremdem Namen zu leben. Es war sehr schwer, Verbindungen herzustellen. Die Adressen der Sozialrevolutionäre, mit denen er Verabredungen über den Empfang des Transportes treffen sollte, stellten sich als gar nicht vorhanden heraus. Die Bolschewiki waren die einzigen, die ihre Leute auf die Insel schickten. Das alles machte auf Gapon einen niederschmetternden Eindruck. Illegal leben und hungern müssen, ohne sich in der Öffentlichkeit zeigen zu dürfen – das ist eben etwas ganz anderes, als ohne jedes Risiko in tausendköpfigen Versammlungen aufzutreten. Einen konspirativen Waffentransport konnten nur Männer organisieren, die eine ganz andere revolutionäre Schulung hinter sich hatten als Gapon, Männer, die zu jedem noch so großen Opfer bereit waren …

Die andere Losung Iljitschs lautete: Unterstützung des Kampfes der Bauern um den Grund und Boden. Das sollte der Arbeiterklasse die Möglichkeit geben, sich in ihrem Kampfe auf die Bauernschaft zu stützen. Der Bauernfrage hat Wladimir Iljitsch stets viel Aufmerksamkeit gewidmet. Bei der Besprechung des Parteiprogramms für den II. Parteitag hatte Wladimir Iljitsch seinerzeit die Losung aufgestellt und mit Nachdruck vertreten, man müsste den Bauern die „Bodenabschnitte" zurückgeben, deren sie bei der Reform von 1861 verlustig gegangen waren.

Um die Bauernschaft zu gewinnen, hielt er es für notwendig, eine den Bauern möglichst verständliche konkrete Forderung aufzustellen. Seinerzeit hatten die Sozialdemokraten die Agitation unter den Arbeitern mit dem Kampf für heißes Teewasser, für Verkürzung der Arbeitszeit und für pünktliche Auszahlung des Lohnes begonnen. Ebenso musste man auch die Bauernschaft um eine konkrete Losung organisieren.

Das Jahr 1905 veranlasste Iljitsch, diese Frage zu revidieren. Gespräche mit Gapon, einem Manne bäuerlicher Herkunft, der noch mit dem Dorf in Verbindung stand, Gespräche mit Matjuschenko, einem Matrosen vom „Potjomkin", Gespräche endlich mit einer ganzen Anzahl von Arbeitern, die aus Russland kamen und in die Verhältnisse auf dem Lande guten Einblick hatten, brachten Iljitsch zu der Überzeugung, dass die Losung der Rückgabe der „Bodenabschnitte" nicht ausreiche und dass man eine umfassendere Losung aufstellen müsse: die Losung der Konfiskation des gesamten Großgrundbesitzes, einschließlich der Kron- und Kirchenländereien. Nicht umsonst hatte Iljitsch seinerzeit die Statistiken so eifrig durchforscht und sich den ökonomischen Zusammenhang zwischen Stadt und Land, zwischen Groß- und Kleinindustrie, zwischen Arbeiterklasse und Bauerntum bis in alle Einzelheiten klargemacht. Er sah den Augenblick gekommen, wo dieser ökonomische Zusammenhang die Basis für den machtvollen politischen Einfluss des Proletariats auf die Bauernschaft abgeben musste. Als konsequent revolutionäre Klasse betrachtete er nur das Proletariat.

Ich erinnere mich noch folgender Szene: Gapon hatte einmal einen Aufruf verfasst und bat Wladimir Iljitsch, ihn sich anzuhören. Er hub an, den Aufruf mit großem Pathos vorzulesen. Der Aufruf strotzte von Flüchen gegen den Zaren. „Was brauchen wir einen Zaren", hieß es unter anderem, „soll doch die Erde nur einen Herrn haben, unsern Herrgott, und ihr alle sollt seine Pächter sein!" (Der Kampf um die Herabsetzung des Pachtzinses stand nämlich noch im Mittelpunkt der Bauernbewegung.) Wladimir Iljitsch lachte auf, das Bild war wirklich zu naiv. Aber andererseits trat sehr plastisch hervor, wodurch Gapon bei der Masse Anklang fand. Selber ein Bauer, verstand er es, bei den noch halb mit dem Dorfe verbundenen Arbeitern den von alters her eingewurzelten Bodenhunger zu entfachen.

Wladimir Iljitschs Lachen machte Gapon verlegen. „Ist vielleicht etwas nicht richtig?" meinte er, „sagen Sie es mir bitte, ich werde es korrigieren." Wladimir Iljitsch wurde sogleich wieder ernst. „Nein", sagte er, „das hätte doch keinen Zweck! Ich habe eine ganz andere Art zu denken. Schreiben Sie nur in Ihrer Sprache, auf Ihre Art!"

Noch eine andere Szene fällt mir ein. Es war nach dem III. Parteitag, nach dem Aufstand auf dem „Potjomkin". Die Mannschaft des „Potjomkin" war in Rumänien interniert worden und in furchtbare Not geraten. Gapon hatte damals viel Geld für seine Memoiren erhalten, und auch sonst flossen ihm allerhand Spenden für die Sache der Revolution zu. Er beschäftigte sich ganze Tage lang mit dem Einkauf von Kleidung für die „Potjomkin"-Mannschaft. Einer der angesehensten Teilnehmer an dem Aufstand auf dem „Potjomkin", der Matrose Matjuschenko, kam nach Genf und freundete sich mit Gapon an; sie wurden fast unzertrennlich.

Damals besuchte uns ein junger Genosse aus Moskau (sein Deckname ist mir entfallen), ein junger rotbäckiger Mann, Verkäufer in einer Buchhandlung, der erst unlängst zur Partei gekommen war. Er hatte einen Auftrag aus Moskau. Er erzählte, wie und warum er Sozialdemokrat geworden war, sprach des langen und breiten darüber, warum das Programm der sozialdemokratischen Partei richtig sei, und begann es mit dem Eifer eines Neubekehrten Punkt für Punkt vorzutragen. Wladimir Iljitsch langweilte sich etwas, ging in die Bibliothek und ließ mich mit dem jungen Mann allein. Ich lud ihn zum Tee ein und versuchte, aus ihm herauszuholen, was herauszuholen war. Der junge Mann fuhr fort, das Programm darzulegen. In diesem Augenblick kamen Gapon und Matjuschenko hinzu. Ich setzte auch ihnen Tee vor, während der junge Mann dabei war, die Theorie von den „Bodenabschnitten" darzulegen. Und als er nun zu beweisen begann, dass die Bauern nur bis zum Kampf um die „Bodenabschnitte" gehen dürften und nicht weiter, brauste Matjuschenko auf: „Der ganze Boden muss dem Volke gehören!"

Ich weiß nicht, wie die Sache geendet hätte, wenn Iljitsch nicht dazugekommen wäre. Er erfasste sogleich den Kern des Streites, ging aber nicht darauf ein, sondern nahm Gapon und Matjuschenko mit in sein Zimmer. Ich ließ den jungen Mann bald gehen.

In der Bauernschaft stieg die Welle der revolutionären Bewegung an. Auf der Dezember-Konferenz in Tammerfors brachte Iljitsch dann den Antrag ein, den Punkt der „Bodenabschnitte" ganz aus dem Programm zu streichen.

Statt dessen wurde ein Punkt über die Unterstützung der revolutionären Maßnahmen der Bauernschaft einschließlich der Konfiskation der gutsherrlichen, fiskalischen, Kirchen-, Kloster- und Kronländereien aufgenommen.

Der deutsche Sozialdemokrat Kautsky, der damals sehr großen Einfluss besaß, sah die Sache anders an. Er schrieb in der „Neuen Zeit", dass die städtische revolutionäre Bewegung in Russland in der Frage des Verhältnisses zwischen Bauernschaft und Grundbesitzern neutral bleiben müsse.

Heute ist Kautsky einer der größten Verräter an der Sache der Arbeiterklasse, aber damals galt er als revolutionärer Sozialdemokrat. Als ein anderer deutscher Sozialdemokrat, Bernstein, zu Ende der neunziger Jahre das Banner des Kampfes gegen den Marxismus erhob und zu beweisen begann, dass man die Marxsche Lehre revidieren müsse, dass in der Marxschen Lehre vieles veraltet und überholt sei, dass das Ziel (der Sozialismus) nichts und die Bewegung alles sei – da trat Kautsky offen gegen Bernstein auf, um die Marxsche Lehre zu verteidigen. Kautsky galt damals allgemein als der revolutionärste und konsequenteste Schüler von Marx. Die Behauptung Kautskys erschütterte nicht die Überzeugung Iljitschs, dass die russische Revolution nur siegen könne, wenn sie sich auf die Bauernschaft stütze. Kautskys Äußerung veranlasste Iljitsch jedoch, nachzuprüfen, ob Kautsky den Standpunkt von Marx und Engels richtig darlege. Wladimir Iljitsch studierte, wie Marx sich im Jahre 1848 zur Agrarbewegung in Amerika und wie Engels sich im Jahre 1885 zu Henry George6 verhalten hatte. Im April schrieb Wladimir Iljitsch bereits den Artikel: „Marx über die amerikanische ,schwarze Umteilung'".

Dieser Artikel schließt mit den Worten:

Es dürfte kaum ein anderes Land auf der Welt geben, wo die Bauernschaft solche Leiden, solche Unterdrückung und Erniedrigung wie in Russland auszustehen hätte. Je finsterer diese Unterdrückung war, um so machtvoller wird jetzt das Erwachen, um so unwiderstehlicher der revolutionäre Ansturm der Bauern sein. Es ist Sache des klassenbewussten revolutionären Proletariats, diesen Ansturm mit allen Kräften zu unterstützen, damit er von dem alten, fluchbeladenen, leibeigenschaftlich-absolutistischen Russland der Sklaven nicht einen Stein auf dem anderen lässt, damit er eine neue Generation freier und kühner Menschen schafft, ein neues, republikanisches Land, in dem sich unser proletarischer Kampf für den Sozialismus frei entfalten kann."7

Das bolschewistische Zentrum befand sich in Genf an der Ecke der berühmten, von russischen Emigranten bewohnten Rue de Carouge und des Arve-Ufers. Hier waren die Räume der Redaktion und Expedition des „Wperjod", hier befand sich der von Lepeschinskis für die bolschewistischen Emigranten eingerichtete Mittagstisch, hier wohnten Bontsch-Brujewitsch, Ljadows (Mandelstams) und Iljins. Bei Bontsch-Brujewitsch gingen Orlowski, Olminski und andere dauernd ein und aus. Bogdanow hatte nach seiner Rückkehr nach Russland eine Aussprache mit Lunatscharski, worauf dieser ebenfalls nach Genf übersiedelte und in die Redaktion des „Wperjod" eintrat. Lunatscharski erwies sich als glänzender Redner und trug sehr viel zur Festigung der bolschewistischen Position bei. Seit dieser Zeit mochte Wladimir Iljitsch Lunatscharski sehr gern, freute sich stets, wenn er kam und hatte selbst noch während der Differenz mit der Gruppe „Wperjod" große Sympathie für ihn. Auch Anatoli Wassiljewitsch (Lunatscharski) war in Iljitschs Gegenwart immer besonders angeregt und geistreich. Ich weiß noch, wie Anatoli Wassiljewitsch einmal nach seiner Rückkehr von der Front – ich glaube es war 1919 oder 1920 – Wladimir Iljitsch seine Eindrücke schilderte und wie Wladimir Iljitsch ihm mit glänzenden Augen zuhörte.

Lunatscharski, Worowski und Olminski – welche Stütze war das für den „Wperjod"! Die ganze Geschäftsführung lag in den Händen Wladimir Dimitrijewitsch Bontsch-Brujewitschs, eines Menschen, der unentwegt strahlte und allerhand großartige Pläne entwarf; er verwaltete die Druckerei.

Fast jeden Abend kamen die Bolschewiki im Café Landolt zusammen und saßen dort bis in die Nacht bei einem Krug Bier. Man besprach die Ereignisse in Russland und machte Pläne.

Viele reisten ab, viele bereiteten sich zur Abreise vor.

In Russland wurde für den III. Parteitag agitiert. Seit dem II. Parteitag hatte sich so vieles verändert, das Leben hatte so viele neue Fragen aufgeworfen, dass ein neuer Parteitag unbedingt erforderlich war. Die Mehrzahl der Komitees sprach sich für einen Parteitag aus. Es wurde ein „Büro der Komitees der Mehrheit"F gebildet. Das ZK hatte eine Reihe neuer Mitglieder, darunter auch Menschewiki, kooptiert. Es war in seiner Mehrheit versöhnlerisch und bremste die Einberufung des III. Parteitags auf jede Weise ab. Nach dem Auffliegen des ZK in der Wohnung des Schriftstellers Leonid Andrejew in Moskau gaben die in Freiheit verbliebenen Mitglieder des ZK ihre Einwilligung zur Einberufung des Parteitags.

Der Parteitag sollte in London tagen. Offensichtlich hätten die Bolschewiki auf ihm die Mehrheit gehabt. Deshalb blieben die Menschewiki der Tagung fern und beriefen ihre Delegierten zu einer Konferenz nach Genf.

Von Mitgliedern des ZK kamen die Genossen Sommer (auch Mark oder Ljubimow genannt) und Winter (Krassin) zum Parteitag. Mark schaute sehr finster drein, Krassin dagegen machte den Eindruck, als wäre gar nichts passiert. Die Delegierten griffen das ZK wegen seiner versöhnlerischen Haltung heftig an. Mark hüllte sich in düsteres Schweigen. Auch Krassin schwieg, den Kopf in die Hand gestützt, aber sein Gesicht war so unerschütterlich, als gingen ihn all die giftigen Reden überhaupt nichts an. Als die Reihe an ihn kam, hielt er mit ruhiger Stimme eine Rede, ohne auf die Anschuldigungen das Geringste zu erwidern – und jedem wurde dabei klar, dass man darüber kein Wort mehr zu verlieren brauchte, dass Krassin versöhnlerisch gestimmt war, dass das vielmehr endgültig vorbei war und dass er sich von nun an in die Reihen der Bolschewiki eingliedern und mit ihnen bis zu Ende gehen werde.

Die Parteimitglieder kennen heute die große und verantwortungsvolle Arbeit, die Krassin während der Revolution 1905 bei der Organisierung, Bewaffnung und Ausbildung von Arbeiterwehren usw. geleistet hat. All das ging im geheimen und ohne Aufsehen vor sich, aber es hat eine Menge Energie gekostet. Wladimir Iljitsch wusste von dieser Arbeit Krassins mehr als sonst jemand und schätzte ihn seit dieser Zeit stets sehr.

Aus dem Kaukasus trafen vier Delegierte ein: Micha Zchakaja, Aljoscha Dschaparidse, Leman und Kamenew. Es gab aber nur drei Mandate. Wladimir Iljitsch forschte: „Wer hat denn von euch ein Mandat? Ihr hattet doch nur drei Mandate, seid aber vier Leute. Wer von euch hat die meisten Stimmen erhalten?" – Micha Zchakaja war ganz empört: „Glaubt ihr denn, dass wir im Kaukasus abstimmen? Bei uns werden alle Angelegenheiten kameradschaftlich entschieden. Man hat uns zu viert hergeschickt, und es kommt nicht darauf an, wie viel Mandate uns zugedacht sind." Micha war der älteste Teilnehmer am Parteitag. Er wurde deshalb auch mit der Eröffnung des Parteitags beauftragt. Vom Komitee des Polesjegebietes war Ljowa Wladimirow anwesend. Wir hatten ihm mehrmals wegen der Spaltung nach Russland geschrieben, aber nie eine Antwort darauf bekommen. Als Antwort auf unsere Briefe, in denen wir ihn über das Auftreten der Martow-Gruppe unterrichteten, erhielten wir Mitteilungen, wie viel und welche Flugblätter verbreitet wurden, wo es in Polesje zu Streiks und Demonstrationen gekommen war usw. Auf dem Parteitag erwies sich Ljowa als aufrechter Bolschewik.

Aus Russland waren noch Bogdanow, Postolowski (Wadim), Rumjanzew (P. P.), Rykow, Sammer, Semljatschka,Litwinow, Skrypnik, Bur (A. E. Essen), Schklowski, Kramolnikow und andere erschienen.

Auf dem Parteitag zeigte es sich an allem, dass die Arbeiterbewegung in Russland in voller Entfaltung war. Es wurden Resolutionen gefasst über den bewaffneten Aufstand, über die provisorische revolutionäre Regierung, über die Stellung zur Taktik der Regierung am Vorabend des Umsturzes, über das offene Auftreten der SDAPR, über die Stellung zur Bauernbewegung, zu den Liberalen, zu den nationalen sozialdemokratischen Organisationen, über die Propaganda und Agitation, über den abgespaltenen Teil der Partei usw.

Auf Antrag von Wladimir Iljitsch, der ein Referat über die Agrarfrage hielt, wurde der Punkt über die „Bodenabschnitte" in die Kommentare eingefügt und die Frage der Konfiskation der gutsherrlichen, Kron- und Kirchenländereien in den Vordergrund gestellt.

Noch zwei Fragen waren für den III. Parteitag charakteristisch – die Frage der zwei Zentren und die Frage des Verhältnisses zwischen Arbeitern und Intellektuellen.

Auf dem II. Parteitag überwogen Literaten und praktische Parteiarbeiter, die für die Partei in der einen oder andern Form viel geleistet hatten, aber mit den eben erst im Werden begriffenen russischen Organisationen nur durch sehr schwache Fäden verknüpft waren.

Der III. Parteitag zeigte bereits ein anderes Gesicht. Die Organisationen in Russland hatten inzwischen feste Formen angenommen. Es gab illegale Komitees, die unter äußerst schwierigen konspirativen Bedingungen arbeiteten. Infolgedessen waren die Arbeiter fast nirgends an diesen Komitees beteiligt. Und doch übten die Komitees auf die Arbeiterbewegung großen Einfluss aus. Die Flugblätter, die „Anweisungen" der Komitees entsprachen der Stimmung der Arbeitermassen; die Massen fühlten eine Führung. Die Komitees genossen daher große Popularität, wobei ihre Tätigkeit für die meisten Arbeiter in einen Schleier des Geheimnisvollen gehüllt waren. Nicht selten versammelten sich die Arbeiter zur Besprechung der grundlegenden Fragen der Bewegung gesondert von den Intellektuellen. Zum III. Parteitag übersandten fünfzig Odessaer Arbeiter eine Erklärung über die grundlegenden Fragen, in denen Menschewiki und Bolschewiki auseinandergingen, mit der Bemerkung, dass auf der Versammlung, in der diese Frage besprochen wurde, nicht ein einziger Intellektueller zugegen gewesen sei.

Die Komiteemitglieder waren gewöhnlich recht selbstbewusste Leute. Sie sahen eben den großen Einfluss, den die Arbeit der Komitees auf die Massen ausübte. Innerparteiliche Demokratie erkannten sie in der Regel nicht an. „Die Demokratie führt nur zu dauernden Reinfällen, und mit der Bewegung sind wir auch so verbunden", lautete ihre Ansicht. Auf das „Ausland" sahen sie stets etwas verächtlich herab. „Die sticht der Hafer, darum machen sie nur Zänkereien! Man müsste sie mal in russische Bedingungen versetzen!" Das Übergewicht des Auslandes war ihnen sehr unerwünscht. Zugleich wollten sie aber auch keine Neuerungen. Sich den rasch wechselnden Bedingungen anpassen, das wollte und verstand das Komiteemitglied nicht.

In der Periode von 1904/05 hatte auf den Schultern der Komiteemitglieder eine ungeheure Arbeit gelastet, aber an die Bedingungen der wachsenden legalen Möglichkeiten und des offenen Kampfes konnten sich viele von ihnen nur mit sehr großer Mühe anpassen.

Auf dem III. Parteitag waren keine Arbeiter, jedenfalls keine irgendwie in Erscheinung tretenden Arbeiter anwesend. Als „Babuschkin" figurierte nicht der Arbeiter Babuschkin selbst – der war damals in Sibirien –, sondern, soweit ich mich entsinne, der Genosse Schklowski. Statt dessen gab es auf dem Parteitag viele Komiteemitglieder. Ohne dieses Gesicht des III. Parteitages zu beachten, lässt sich in den Parteitagsprotokollen vieles gar nicht verstehen.

Aber nicht nur die Komiteemitglieder, sondern auch andere angesehene Parteiarbeiter warfen die Frage auf, wie man „dem Ausland einen Zaum anlegen könne". An der Spitze der Opposition gegen das Ausland stand Bogdanow. Es wurde da manches Überflüssige geredet, aber Wladimir Iljitsch nahm sich das nicht besonders zu Herzen. Er war selber der Ansicht, dass die Bedeutung der Leute im Ausland infolge der sich entwickelnden Revolution von Stunde zu Stunde abnehme. Er wusste, dass er selber auch nicht mehr lange im Ausland bleiben würde. Er legte vor allem Wert darauf, dass das ZK das Zentralorgan auf dem laufenden halte. (Das Zentralorgan sollte von jetzt an „Proletari" heißen und zunächst noch im Ausland erscheinen.) Er beantragte auch, dass zwischen dem ausländischen und dem russischen Teil des ZK periodische Zusammenkünfte organisiert würden.

Heißer umstritten war die Frage der Einführung von Arbeitern in die Komitees.

Wladimir Iljitsch trat besonders warm für die Aufnahme der Arbeiter in die Komitees ein. Auch Bogdanow, die „Ausländer" und die Literaten waren dafür. Aber die Komiteemitglieder waren dagegen. Wladimir Iljitsch regte sich auf, die Komiteemitglieder ebenfalls. Diese setzten schließlich durch, dass in dieser Frage kein Beschluss gefasst wurde: Man konnte ja in der Tat auch nicht beschließen, dass man keine Arbeiter in die Komitees aufnehmen dürfe.

In der Diskussion führte Wladimir Iljitsch aus: „Ich denke, die Sache muss weiter gefasst werden. Arbeiter in die Komitees aufzunehmen ist nicht nur eine pädagogische, sondern auch eine politische Aufgabe. Die Arbeiter haben Klasseninstinkt, und bei einiger politischer Übung werden sie ziemlich schnell standhafte Sozialdemokraten. Ich wäre sehr dafür, dass in unseren Komitees auf je 2 Intellektuelle 8 Arbeiter kämen. Wenn der Ratschlag, der in der Parteiliteratur erteilt wurde, nach Möglichkeit Arbeiter in die Komitees aufzunehmen, sich als ungenügend erwiesen hat, so wäre es zweckmäßig, dass dieser Ratschlag im Namen des Parteitags erteilt wird. Wenn ihr eine klare und bestimmte Direktive des Parteitags habt, so werdet ihr ein radikales Mittel zur Bekämpfung der Demagogie haben – den klar ausgesprochenen Willen des Parteitags."8

Wladimir Iljitsch hatte schon vorher vielfach auf die Notwendigkeit hingewiesen, möglichst viele Arbeiter in die Komitees aufzunehmen. Schon in seinem „Brief an einen Petersburger Genossen", also bereits 1903, hatte er darüber geschrieben. Als er diesen Standpunkt nunmehr auf dem Parteitag vertrat, geriet er in Eifer und machte Zwischenrufe. Als Michailow (Postolowski) einwarf: „In der Praxis werden also an die Intellektuellen nur geringe Anforderungen gestellt, an die Arbeiter aber übermäßig hohe", rief Wladimir Iljitsch dazwischen: „Sehr richtig." Und sein Zwischenruf wurde von den Komiteeleuten im Chor übertönt: „Ganz falsch!"

Als Rumjanzew ausführte: „Im Petersburger Komitee gibt es nur einen Arbeiter, obwohl wir schon seit 15 Jahren dort arbeiten", rief Wladimir Iljitsch: „Das ist ganz unerhört!"

Und später, zum Schluss der Debatte, sagte Wladimir Iljitsch: „Ich konnte nicht ruhig dasitzen, als man sagte, dass Arbeiter, die als Komiteemitglieder geeignet wären, nicht vorhanden seien. Die Frage wird verschleppt; offenbar gibt es in der Partei eine Krankheit. Man muss Arbeiter in die Komitees aufnehmen." Wenn sich Iljitsch nicht allzu viel daraus machte, dass sein Standpunkt auf dem Parteitag mit solchem Krach durchfiel, so nur deshalb, weil er überzeugt war, dass die herannahende Revolution die Partei von der Unfähigkeit, die Komitees mit Arbeitern zu durchsetzen, radikal kurieren werde.

Noch eine große Frage stand auf dem Parteitag zur Verhandlung: die Frage der Propaganda und Agitation.

Ich entsinne mich, dass eine junge Odessaer Genossin einmal zu uns kam und klagte: „Die Arbeiter stellen an das Komitee unmögliche Anforderungen. Wir sollen unter ihnen Propaganda treiben. Ist es denn möglich? Wir können unter ihnen nur Agitation treiben!"

Auf Iljitsch machte die Mitteilung der Odessaer Genossin starken Eindruck. Sie wurde gewissermaßen der Anlass zur Diskussion über die Propaganda. Es stellte sich heraus – und das brachten sowohl Semljatschka wie Micha Zchakaja und auch Desnizki zum Ausdruck –, dass die alten Formen der Propaganda sich überlebt hatten. Die Propaganda war zur Agitation geworden. Mit dem ungeheuren Aufschwung der Arbeiterbewegung konnte die mündliche Propaganda und sogar die Agitation die Bedürfnisse der Bewegung in keiner Weise mehr befriedigen: man brauchte populäre Literatur, eine populäre Zeitung, Literatur für die Bauern, für die anderssprachigen Völkerschaften …

Das Leben warf Hunderte neuer Fragen auf, die im Rahmen der bisherigen illegalen Organisation nicht zu lösen waren. Sie konnten nur durch die Herausgabe einer Tageszeitung in Russland selbst und durch eine breit angelegte legale Verlagstätigkeit gelöst werden. Einstweilen gab es aber noch keine Pressefreiheit. Es wurde beschlossen, in Russland eine illegale Zeitung herauszugeben und dort eine Gruppe von Literaten zu bilden, die die Aufgabe hatten, für eine populäre Zeitung zu sorgen. Aber all das konnten natürlich nur Notbehelfe sein.

Auf dem Parteitag wurde eingehend über den aufflammenden revolutionären Kampf gesprochen. Es wurden Resolutionen über die Ereignisse in Polen und im Kaukasus gefasst. „Die Bewegung wird breiter und breiter", berichtete der Delegierte aus dem Ural; „die Zeiten, wo der Ural als ein rückständiges, verschlafenes Gebiet galt, unfähig, sich zu rühren, sind längst vorbei. Der politische Streik in Lyswa, die zahlreichen Streiks in verschiedenen Betrieben, die mannigfachen Anzeichen revolutionärer Stimmung, der Agrar- und Fabrikterror, die verschiedenartigsten Formen kleiner spontaner Demonstrationen – all das sind Anzeichen dafür, dass der Ural vor einer großen revolutionären Bewegung steht. Sehr wahrscheinlich wird die Bewegung im Ural die Form des bewaffneten Aufstands annehmen. Im Ural haben die Arbeiter die ersten Bomben geworfen und im Wotkin-Werk sogar Kanonen aufgestellt. Genossen, vergesst den Ural nicht!" Natürlich unterhielt sich Wladimir Iljitsch lange mit dem Ural-Delegierten.

Der III. Parteitag hatte die Kampffronten im Großen und Ganzen richtig aufgezeigt. Die Menschewiki lösten dieselben Fragen auf andere Weise. Wladimir Iljitsch beleuchtete den prinzipiellen Unterschied zwischen den Resolutionen des III. Parteitags und den Resolutionen der menschewistischen Konferenz in seiner Broschüre „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution"9.

Wir kehrten nach Genf zurück. Ich wurde zusammen mit Kamski und Orlowski in eine Kommission zur Redigierung der Parteitagsprotokolle gewählt. Kamski reiste bald darauf ab, und Orlowski war mit Arbeit überlastet. Die Prüfung der Protokolle wurde in Genf, wohin eine ganze Anzahl der Delegierten nach dem Parteitag kam, vorgenommen. Stenotypistinnen gab es damals noch nicht, auch keine besonderen Sekretäre. Das Protokoll wurde der Reihe nach von zwei Parteitagsteilnehmern geführt und nachher an mich abgegeben. Nicht alle Parteitagsteilnehmer waren gute Protokollführer. Auf dem Parteitag kam man natürlich nicht dazu, die Protokolle zu verlesen. In Genf wurde die Prüfung der Protokolle gemeinsam mit den Delegierten am Mittagstisch bei Lepeschinskis vorgenommen. Selbstredend fand jeder Delegierte, dass sein Gedanke nicht richtig wiedergegeben war, und wünschte Einfügungen zu machen. Das war aber nicht gestattet. Verbesserungen durften nur dann angebracht werden, wenn die anderen Delegierten ihre Rechtmäßigkeit bestätigten. Die Arbeit war sehr schwierig. Es lief auch nicht ohne Zwischenfälle ab. Skrypnik (Schtschenski) verlangte, dass ihm die Protokolle nach Haus mitgegeben würden. Und als er darauf aufmerksam gemacht wurde, dass man die Protokolle dann allen Delegierten aushändigen müsste und zum Schluss nichts mehr von ihnen übrigbleiben würde, überreichte Skrypnik voll Empörung dem ZK einen mit Druckbuchstaben geschriebenen Protest gegen die Verweigerung der Aushändigung der Protokolle an ihn.

Als die Arbeit in großen Umrissen fertig war, dauerte es noch geraume Zeit, bis Orlowski mit der Redigierung der Protokolle zu Ende war.

Im Juli trafen die ersten Protokolle über die Sitzungen des neuen ZK ein. Es hieß darin: die Menschewiki in Russland seien mit der „Iskra" nicht einverstanden und würden ebenfalls einen Boykott durchführen.10 Die Frage der Unterstützung der Bauernbewegung habe das ZK zwar besprochen, aber vorläufig noch nichts darin unternommen; es wolle sich erst mit Agronomen beraten.

Der Brief klang auffällig wortkarg.

Der nächste Brief über die Arbeit des ZK war noch wortkarger. Iljitsch wurde nervös. Nachdem wir auf dem Parteitag russische Luft geatmet hatten, war die Losgelöstheit von der russischen Arbeit noch schwerer zu ertragen.

Mitte August bat Wladimir Iljitsch das ZK in einem Brief, „nicht länger stumm zu bleiben" und sich nicht darauf zu beschränken, die Fragen unter sich zu besprechen. „Das ZK hat einen inneren Defekt", schrieb er an die russischen ZK-Mitglieder.

In den folgenden Briefen schimpft er unbändig darüber, dass die Beschlüsse über die regelmäßige Information des Zentralorgans nicht eingehalten werden.

In dem an „August" gerichteten September-Brief schreibt Iljitsch:

Es ist eine Utopie, volle Übereinstimmung im ZK oder unter seinen Vertrauensleuten zu erwarten. Wir sind kein Zirkel mehr, lieber Freund, sondern eine Partei!"

In einem Briefe an Gussew vom 13. Oktober 1905 weist er auf die Notwendigkeit hin, neben den Vorbereitungen zum bewaffneten Aufstand auch den gewerkschaftlichen Kampf zu führen, aber in bolschewistischem Sinne, und auch auf diesem Gebiet den Menschewiki eine Schlacht zu liefern.

Am Genfer Horizont erschienen bereits Vorboten der Pressefreiheit. Es suchten uns Verleger auf, die sich darum rissen, die im Ausland illegal erschienenen Broschüren legal herausgeben zu dürfen. Der „Burewestnik" in Odessa, der Verlag Malych und andere – sie alle stellten sich zur Verfügung.

Das ZK riet davon ab, sich durch Verträge zu binden; es beabsichtigte, einen eigenen Verlag zu gründen.

Anfang Oktober sollte Iljitsch zu einer Tagung des ZK nach Finnland reisen, aber die politischen Ereignisse durchkreuzten den Plan. Wladimir Iljitsch bereitete sich auf seine Abreise nach Russland vor. Ich sollte noch einige Wochen in Genf bleiben, um alle Angelegenheiten zu regeln. Ich ordnete mit Iljitsch zusammen seine Papiere und Briefe; wir steckten sie in Kuverts; Iljitsch versah jedes Kuvert eigenhändig mit einer Aufschrift, und dann wurde alles in einen Koffer gepackt und dem Genossen Karpinski, glaube ich, zur Aufbewahrung gegeben. Dieser Koffer ist erhalten und wurde nach Iljitschs Tode an das Lenin-Institut abgeliefert. Er enthielt eine Menge Dokumente und Briefe, die auf die Geschichte der Partei ein helles Licht werfen.

Im September schrieb Iljitsch an das ZK:

Zur Information teile ich die hiesigen Gerüchte über Plechanow mit. Er ist offensichtlich gegen uns erbittert wegen der Entlarvung vor dem Internationalen Büro. Er schimpft in Nr. 2 des ,Dnewnik Sozial-Demokrata' wie ein Kutscher. Bald heißt es, er wolle eine eigne Zeitung herausgeben, bald heißt es, er wolle zur ,Iskra' zurückkehren. Folglich muss sich das Misstrauen gegen ihn verstärken."11

Und am 8. Oktober fährt Wladimir Iljitsch fort: „Ich bitte dringend: Gebt jetzt den Gedanken an Plechanow ganz auf und ernennt einen eigenen Delegierten von der Mehrheit.12 Nur dann werden wir völlig gesichert sein. Es wäre gut, Orlowski zu ernennen."13

Als aber die Nachricht eintraf, dass die Möglichkeit bestünde, in Russland eine Tageszeitung herauszugeben, schrieb Wladimir Iljitsch, schon im Begriff abzureisen, an Plechanow einen herzlichen Brief, in dem er ihn zur Mitarbeit an der Zeitung aufforderte. „Die taktischen Meinungsverschiedenheiten aber beseitigt unsere Revolution selbst mit erstaunlicher Geschwindigkeit… das alles wird einen neuen Boden schaffen, auf dem das Alte am ehesten vergessen werden und eine Einigung in der lebendigen Arbeit zu erzielen sein wird."14 Am Schluss bat Iljitsch Plechanow um eine Zusammenkunft. Ich weiß nicht, ob es dazu gekommen ist. Wahrscheinlich aber nicht, denn das wäre wohl kaum in Vergessenheit geraten. Plechanow reiste im Jahre 1905 nicht nach Russland. Am 26. Oktober trifft Iljitsch schon genaue briefliche Verabredungen über seine Rückkehr nach Russland. „Großartig ist unsere russische Revolution, weiß Gott!" schreibt er. Und als Antwort auf die Frage über den Zeitpunkt des Aufstands meintet: „Ich persönlich würde ihn am liebsten bis zum Frühjahr… aufschieben … Aber wir werden ja doch sowieso nicht gefragt."15

Wieder in Petersburg

Es war vereinbart, dass jemand nach Stockholm kommen und für Wladimir Iljitsch Papiere auf einen fremden Namen bringen sollte, mit denen er die Grenze passieren und sich in Petersburg niederlassen konnte. Der Betreffende jedoch kam und kam nicht, und Iljitsch musste dasitzen und „auf günstigen Wind harren", während in Russland die revolutionären Ereignisse ein immer breiteres Ausmaß annahmen. Er wartete zwei Wochen in Stockholm und traf Anfang November in Russland ein. Ich kam ungefähr zehn Tage nach ihm in Petersburg an, nachdem ich in Genf alle Angelegenheiten erledigt hatte. An meine Fersen hatte sich ein Spitzel geheftet, der sich in Stockholm mit demselben Dampfer eingeschifft hatte und dann im Zuge von Hangö nach Helsingfors mitfuhr.

In Finnland war die Revolution bereits in vollem Gang. Ich wollte ein Telegramm nach Petersburg aufgeben, aber eine lächelnde, gutgelaunte finnische Beamtin erklärte mir, dass sie kein Telegramm annehmen könne. Die Post- und Telegrafenangestellten ständen im Streik. In den Waggons wurden laute Unterhaltungen geführt, und ich kam mit einem finnischen Aktivisten16, der aus irgendeinem Grunde deutsch sprach, ins Gespräch. Er beschrieb die Erfolge der Revolution. „Die Spitzel", sagte er, „haben wir schon alle verhaftet und hinter Schloss und Riegel gesetzt." Mein Blick fiel auf den mich begleitenden Spitzel. „Aber es können neue kommen", lachte ich und blickte anzüglich auf meinen Schatten. Der Finne erriet den Zusammenhang. „Oh", rief er aus, „sagen Sie nur, wenn Sie einen bemerken, wir werden ihn gleich festnehmen!" Wir kamen zu einer kleinen Station. Mein Spitzel stand auf und verließ den Zug, der hier nur eine Minute Aufenthalt hatte. Das war das letzte, was ich von ihm sah …

Fast vier Jahre hatte ich im Ausland gelebt und hatte tödliche Sehnsucht nach Petersburg. Die Stadt kochte und brodelte jetzt, das wusste ich, und die Stille des Finnländischen Bahnhofs, wo ich den Zug verließ, stand in solch einem Gegensatz zu meinen Gedanken über Petersburg und die Revolution, dass es mir plötzlich schien, als hätte ich den Zug nicht in Petersburg, sondern in Pargolowo verlassen. Verwirrt wandte ich mich an einen dort wartenden Droschkenkutscher und fragte ihn: „Welche Station ist das?" Der wich geradezu zurück, sah mich dann spöttisch an und antwortete, die Arme in die Hüften stemmend: „Das ist keine Station, sondern die Stadt Sankt Petersburg!"

Am Bahnhof holte mich Pjotr Petrowitsch Rumjanzew ab. Er sagte mir, dass Wladimir Iljitsch bei ihm wohne, und wir fuhren zu seiner Wohnung irgendwo in der Peski. Pjotr Rumjanzew hatte ich zum ersten Mal bei der Beerdigung Schelgunows gesehen, damals war er jung, hatte einen Lockenkopf und ging an der Spitze der Demonstration und sang. 1896 traf ich ihn in Poltawa. Er stand im Mittelpunkt der Poltawaer Sozialdemokraten und war gerade aus dem Gefängnis entlassen worden, bleich und nervös. Er fiel durch seinen scharfen Verstand auf, besaß großen Einfluss und schien ein guter Genosse zu sein. 1900 traf ich ihn in Ufa, wohin er aus Samara gekommen war; er sah damals enttäuscht und müde aus. 1905 tauchte er wieder am Horizont auf: er war nun schriftstellerisch tätig, ein Mann in Position, hatte Bonvivant-Allüren, trat aber klug und sachlich auf. Er führte die Boykottkampagne gegen die Schidlowski-Kommission vorzüglich durch und erwies sich als zuverlässiger Bolschewik. Bald nach dem III. Parteitag wurde er ins ZK kooptiert. Rumjanzew hatte eine bequeme, gut eingerichtete Wohnung, und in der ersten Zeit lebte Iljitsch dort, ohne sich anzumelden.

Wladimir Iljitsch fühlte sich immer äußerst beengt, wenn er in fremden Wohnungen leben musste; es beeinträchtigte sogar seine Arbeitsfähigkeit. Nach meiner Ankunft beeilten wir uns, zusammenzuziehen, und mieteten, ohne uns anzumelden, in der erstbesten Pension auf dem Newski-Prospekt ein möbliertes Zimmer. Ich erinnere mich, dass ich viel mit den Zimmermädchen sprach; sie erzählten mir mit einer Menge lebendiger, sprechender Einzelheiten von dem, was in Petersburg vorging. Ich gab das natürlich sofort an Iljitsch weiter. Er äußerte sich anerkennend über meine Forscherfähigkeiten, und seit jener Zeit war ich sein eifriger Reporter. Gewöhnlich konnte ich mich, wenn wir in Russland lebten, viel freier bewegen als Wladimir Iljitsch und mit viel mehr Menschen sprechen als er. Nach zwei, drei Fragen, die er stellte, begriff ich schon, was er wissen wollte, und passte scharf auf. Und auch jetzt noch habe ich die Gewohnheit, jeden Eindruck in Gedanken für Iljitsch zu formulieren.

Am nächsten Tag schon hatte ich in dieser Beziehung eine ziemlich reiche Ausbeute. Ich suchte für uns eine Unterkunft und kam in der Troizki-Straße bei der Besichtigung einer leeren Wohnung mit dem Pförtner ins Gespräch. Er erzählte mir lange über das Dorf und den Gutsbesitzer daheim und dass das Land von den Herren auf die Bauern übergehen müsse.

Damals beschlossen wir, legal zu leben. Maria Iljinitschna besorgte uns irgendwo auf dem Gretscheski-Prospekt bei Bekannten eine Wohnung. Kaum hatten wir uns polizeilich gemeldet, so umringte auch schon ein ganzer Schwarm von Spitzeln das Haus. Der erschrockene Wirt schlief die ganze Nacht nicht, ging mit einem Revolver in der Tasche herum und war entschlossen, die Polizei mit der Waffe in der Hand zu empfangen. „Nun, zum Kuckuck mit ihm! Er wird uns noch ganz umsonst in eine Geschichte verwickeln", sagte Iljitsch. Wir beschlossen, unsere gemeinsame Wohnung aufzugeben und getrennt illegal zu leben. Man gab mir den Pass einer gewissen Praskowja Jewgenjewna Onegina, der mir die ganze Zeit als Ausweis diente. Wladimir Iljitsch wechselte einige Male den Pass

Als Wladimir Iljitsch nach Russland kam, erschien dort schon eine legale Tageszeitung – „Nowaja Schisn"17. Verleger war Maria Fjodorowna Andrejewa (die Frau Gorkis), Redakteur der Dichter Minski; die Mitarbeiter waren: Gorki, Leonid Andrejew, Tschirikow, Balmont, Teffi und andere. Als Mitarbeiter traten in die Redaktion auch eine Reihe Bolschewiki ein: Bogdanow, Rumjanzew, Roschkow, Goldenberg, Orlowski, Lunatscharski, Basarow, Kamenew und andere. Redaktionssekretär der „Nowaja Schisn" sowie auch aller späteren bolschewistischen Zeitungen jener Periode war Dmitri Iljitsch Leschtschenko, der zugleich für den lokalen Teil der Zeitung verantwortlich war und die Arbeit des Dumaberichterstatters und des Umbruchredakteurs bewältigte.

Der erste Artikel Lenins erschien am 10. November. Er begann mit den Worten: „Die Bedingungen für die Tätigkeit unserer Partei verändern sich von Grund aus. Die Versammlungs-, Koalitions- und Pressefreiheit ist erobert."18 Lenin beeilte sich, diese neuen Bedingungen für die Tätigkeit auszunutzen, und skizzierte sofort mit einigen kühnen Strichen die Grundlinien des „neuen Kurses": Der illegale Parteiapparat muss beibehalten werden. Es ist unbedingt notwendig, neben dem illegalen Parteiapparat immer mehr und mehr neue legale und halblegale Partei- (und sich an die Partei anlehnende) Organisationen zu schaffen. Man muss breite Arbeiterkader in die Partei einbeziehen. Die Arbeiterklasse ist instinktiv und elementar sozialdemokratisch gesinnt, und die mehr als zehnjährige Arbeit der Sozialdemokratie hat schon nicht wenig dazu beigetragen, diesen elementaren Instinkt in Bewusstsein zu verwandeln.

Ich habe auf dem III. Parteitag", schrieb Wladimir Iljitsch in einer Anmerkung zu diesem Artikel, „den Wunsch ausgesprochen, dass in den Parteikomitees auf etwa acht Arbeiter zwei Intellektuelle kommen sollen. Wie veraltet ist dieser Wunsch!

Jetzt wäre zu wünschen, dass in den neuen Parteiorganisationen auf ein Parteimitglied der sozialdemokratischen Intelligenz einige hundert sozialdemokratische Arbeiter kommen."19

Und, indem er sich an die Komiteeleute wandte, die befürchteten, dass die Partei in der Masse aufgehen könne, schrieb Iljitsch: „Malt keine Schreckbilder an die Wand, Genossen!"20 Die sozialdemokratische Intelligenz muss jetzt „ins Volk" gehen. „Jetzt wird sich die Initiative der Arbeiter selbst in einem Ausmaß zeigen, von dem wir gestern, als wir noch Konspiratoren und ,Zirkelveranstalter' waren, nicht einmal zu träumen wagten … Unsere Aufgabe besteht jetzt nicht so sehr darin, Normen für die Organisation auf den neuen Grundlagen aufzustellen, als vielmehr darin, die breiteste und kühnste Arbeit zu entfalten … Um die Organisation auf eine neue Grundlage zu stellen, ist ein neuer Parteitag unerlässlich."21

Das war der Inhalt des ersten „legalen" Artikels Lenins. Es war unbedingt notwendig, dem alten „Zirkelgeist" den Kampf anzusagen, er kam überall zum Vorschein.

Natürlich fuhr ich schon in den ersten Tagen nach meiner Ankunft hinter das Newski-Tor in die ehemalige Smolensker Sonntagsabendschule. Dort wurde schon nicht mehr „Erdkunde" und Naturkunde unterrichtet; in den von Arbeitern und Arbeiterinnen überfüllten Kursen wurde Propagandaarbeit durchgeführt. Parteipropagandisten hielten Vorträge.

An einen von ihnen kann ich mich noch erinnern. Ein junger Agitator erläuterte Engels' „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft". Die Arbeiter saßen da, ohne sich zu rühren, und waren redlich bemüht, sich die Ausführungen des Redners anzueignen. Keiner stellte Fragen. Im unteren Stockwerk richteten junge Parteigenossinnen für die Arbeiter einen Klub ein; sie waren dabei, die aus der Stadt mitgebrachten Gläser auf die Tische zu stellen.

Als ich Iljitsch von meinen Eindrücken erzählte, schwieg er nachdenklich. Er wollte etwas anderes – Aktivität der Arbeiter selbst. Man kann nicht sagen, dass sie nicht vorhanden war, aber sie kam auf den Parteiversammlungen nicht zum Vorschein. Die eigentliche Parteiarbeit und die Selbsttätigkeit der Arbeiter verliefen nebeneinander. Die Arbeiter hatten sich in diesen Jahren ungeheuer entwickelt. Ich spürte das immer besonders deutlich, wenn ich meine ehemaligen Schüler aus der Sonntagsschule traf. Einmal sprach mich auf der Straße ein Bäcker an, wie es sich herausstellte, einer meiner ehemaligen Schüler, der „Sozialist Bakin", der vor zehn Jahren auf dem Etappenweg in die Heimat verschickt worden war, weil er naiverweise mit dem Leiter der Fabrik Maxwell darüber zu diskutieren angefangen hatte, ob bei dem Übergang von zwei Spinnmaschinen auf drei die „Arbeitsintensität" steige. Jetzt war er ein völlig klassenbewusster Sozialdemokrat; wir unterhielten uns lange über die sich vollziehende Revolution, über die Organisierung der Arbeitermassen, und er erzählte mir über den Bäckerstreik.

Schon der erste Artikel Lenins, in dem er offen über den Parteitag und über den illegalen Parteiapparat schrieb, verwandelte die „Nowaja Schisn" in ein ausgesprochenes Parteiorgan. Es war selbstverständlich, dass die Mitarbeit solcher Leute wie Minski, Balmont und anderer nun undenkbar wurde und eine Abgrenzung sich als unumgänglich erwies. Die Zeitung ging vollständig in die Hände der Bolschewiki über. Sie wurde auch organisatorisch ein Parteiorgan und begann unter der Kontrolle und Leitung der Partei zu arbeiten.

Der nächste Artikel Lenins in der „Nowaja Schisn" war der Grundfrage der russischen Revolution – den gegenseitigen Beziehungen zwischen dem Proletariat und der Bauernschaft gewidmet. Nicht nur die Menschewiki verstanden diese Beziehungen falsch, sondern auch unter den Bolschewiki hatten noch einige Genossen die bekannte Abweichung in Bezug auf die „Bodenabschnitte". Diese „Bodenabschnitte", ursprünglich Ausgangspunkt der Agitation, wurden bei ihnen zum Selbstzweck, und sie hielten an ihnen noch fest, als das Leben es bereits möglich und nötig gemacht hatte, die Agitation und den Kampf auf einer ganz anderen Basis zu führen.

Der Artikel „Proletariat und Bauernschaft"22 war richtunggebend und gab eine klare Parteilosung: Das Proletariat Russlands kämpft zusammen mit der Bauernschaft um Boden und Freiheit, kämpft zusammen mit dem internationalen Proletariat und den Landarbeitern für den Sozialismus.

Diesen Standpunkt machten sich auch die Vertreter der Bolschewiki im Sowjet der Arbeiterdeputierten zu eigen. Der Sowjet der Arbeiterdeputierten war am 13. Oktober, als Wladimir Iljitsch noch im Ausland lebte, entstanden als ein Kampforgan des kämpfenden Proletariats. An das Auftreten Wladimir Iljitschs im Sowjet der Arbeiterdeputierten kann ich mich nicht mehr erinnern.23

Ich entsinne mich, dass einmal eine Versammlung in der „Freien Ökonomischen Gesellschaft" stattfand, an der viele Parteimitglieder teilnahmen, da sie erwarteten, dass Wladimir Iljitsch sprechen würde. Er sprach über die Agrarfrage. Dort lernte er Alexinski kennen. Fast alle Einzelheiten dieser Versammlung sind mir entfallen. Durch irgendeine graue Tür drängte sich Iljitsch dem Ausgang zu, nachdem er sich durch die Menschenmenge durchgezwängt hatte … Andere Genossen werden sich wahrscheinlich besser an jenen Abend erinnern können. Ich weiß nur noch, dass diese Versammlung im November stattfand und dass Wladimir Iwanowitsch Newski an ihr teilnahm.

Dass die Sowjets der Arbeiterdeputierten Kampforganisationen des sich erhebenden Volkes waren, das unterstrich Wladimir Iljitsch sogleich in seinen Novemberartikeln. Er hob damals auch den Gedanken hervor, dass einerseits eine zeitweilige revolutionäre Regierung nur im Feuer des revolutionären Kampfes erwachsen könne, und andererseits, dass die Sozialdemokratische Partei auf jede Art und Weise danach streben müsse, ihren Einfluss in den Sowjets der Arbeiterdeputierten zu sichern.

Da wir illegal lebten, wohnte ich getrennt von Iljitsch. Er arbeitete ganze Tage in der Redaktion, die ihr Standquartier nicht nur in den Räumen der „Nowaja Schisn" hatte, sondern auch in der konspirativen Wohnung Dmitri Iljitsch Leschtschenkos in der Glasowski-Straße, aber aus Gründen der Konspiration war es für mich nicht sehr angebracht, dorthin zu gehen. Wir sahen uns meistens in den Redaktionsräumen der „Nowaja Schisn", aber dort war Wladimir Iljitsch immer sehr beschäftigt. Erst als er, mit einem sehr guten Pass ausgestattet, an der Ecke Bassejnaja und Nadeschdinskaja wohnte, konnte ich ihn zu Hause besuchen. Man musste durch die Küche gehen und leise flüstern, aber man konnte sich trotzdem über alles unterhalten.

Einmal fuhr er von dort nach Moskau. Sofort nach seiner Rückkehr ging ich zu ihm. Die Menge Spitzel, die hinter allen Ecken hervorlugten, verblüffte mich. „Warum schnüffeln sie dir so nach?" fragte ich Wladimir Iljitsch. Er hatte nach seiner Ankunft das Haus noch nicht verlassen und wusste nichts davon. Ich begann den Koffer auszupacken und entdeckte dort unerwartet eine Brille mit großen blauen Gläsern. „Was ist das?" Es stellte sich heraus, dass man Wladimir Iljitsch in Moskau mit dieser Brille ausgeschmückt, ihm eine gelbe finnische Schachtel in die Hand gedrückt und ihn in letzter Minute in den Expresszug gesetzt hatte. Alle Polizeispürhunde warfen sich auf seine Fährte, da sie ihn scheinbar für einen „Expropriateur" hielten. Man musste schleunigst verschwinden. Arm in Arm gingen wir hinunter, als ob alles in schönster Ordnung wäre, schlugen die umgekehrte Richtung ein, als wir nötig hatten, wechselten drei Droschken, benutzten einen Durchgangshof und landeten bei Rumjanzew, nachdem wir uns auf diese Weise von der Meute befreit hatten. Wir übernachteten, glaube ich, bei Witmers, alten Bekannten von mir. Wir fuhren in einer Droschke an dem Haus vorbei, wo Wladimir Iljitsch wohnte: die Spitzel standen noch immer da. In diese Wohnung kehrte Iljitsch nicht wieder zurück. Nach ungefähr zwei Wochen schickten wir ein junges Mädchen dahin, das seine Sachen abholte und mit der Wirtin abrechnete.

In dieser Zeit war ich Sekretärin des ZK und spannte mich gleich gänzlich in diese Arbeit ein. Der andere Sekretär war Michail Sergejewitsch – M. J. Wainstein. Meine Gehilfin war Wera Rudolfowna Menschinskaja. Das war das ganze Sekretariat. Michail Sergejewitsch war mehr für die militärische Organisation zuständig und war immer mit der Erfüllung der Aufträge von Nikititsch (L. B. Krassin) beschäftigt. Mir oblagen die Treffs, die Verbindung mit den Komitees und mit den anderen Genossen. Man kann sich jetzt schwer vorstellen, auf welche primitive Weise das damalige Sekretariat des ZK arbeitete. An den Sitzungen des ZK nahmen wir, wenn ich mich recht erinnere, gewöhnlich nicht teil. Niemand war für uns „zuständig", Protokolle wurden nicht geführt, die chiffrierten Adressen bewahrten wir in Streichholzschachteln, in Bucheinbänden usw. auf. Wir mussten alles im Gedächtnis behalten. Eine Unmenge Menschen kam zu uns, wir mussten mit ihnen alles besprechen und sie mit allem Nötigen versehen: Literatur, Pässen, Instruktionen, Ratschlägen. Jetzt kann man sich gar nicht vorstellen, wie wir damals fertig wurden und wie wir, von niemandem kontrolliert, alles bestimmten und wie in „himmlischer Freiheit" lebten. Wenn ich mit Lenin zusammenkam, erzählte ich ihm alles ganz ausführlich. Die interessantesten Genossen mit den wichtigsten Angelegenheiten schickten wir direkt zu den Mitgliedern des ZK.

Der Zusammenstoß mit der Regierung kam immer näher. Iljitsch schrieb ganz offen in der „Nowaja Schisn", dass die Armee nicht neutral sein könne und dürfe, und er schrieb über die allgemeine Volksbewaffnung. Am 26. November wurde Chrustaljow-Nossar verhaftet. Trotzki trat an seine Stelle. Am 2. Dezember gab der Sowjet der Arbeiterdeputierten ein Manifest heraus mit dem Aufruf, die Zahlungen an den Fiskus zu verweigern. Am 3. Dezember wurden für den Abdruck dieses Manifestes acht Zeitungen verboten, darunter auch die „Nowaja Schisn". Als ich am 3., wie gewöhnlich mit illegalen Drucksachen beladen, zum „Treff" in die Redaktion ging, hielt mich an der Tür ein Zeitungsverkäufer an. „Nowoje Wremja", rief er laut, und flüsterte mir zwischen zwei Ausrufen zu: „In der Redaktion findet eine Haussuchung statt!" „Das Volk ist für uns", bemerkte Wladimir Iljitsch aus diesem Anlass

Mitte Dezember fand die Tammerforser Konferenz statt. Wie schade, dass die Protokolle dieser Konferenz nicht erhalten sind! Mit welchem Schwung wurde sie durchgeführt! Die Revolution hatte ihren Höhepunkt erreicht, jeder Genosse war von gewaltiger Begeisterung ergriffen, alle waren zum Kampf bereit. In den Pausen lernten sie schießen. Einmal waren wir auf einer finnischen Massenversammlung, die abends bei Fackellicht stattfand; die Feierlichkeit dieser Versammlung entsprach ganz der Stimmung der Delegierten. Wohl keiner von denen, die an der Konferenz teilgenommen haben, hat sie vergessen. Es waren dort Losowski, Baranski, Jaroslawski und viele andere. Mir sind diese Genossen in Erinnerung geblieben, weil ihre „Lokalberichte" so unerhört interessant waren.

Auf der Tammerforser Konferenz, an der nur Bolschewiki teilnahmen, wurde eine Resolution über die Notwendigkeit der sofortigen Vorbereitung und Organisierung des bewaffneten Aufstands angenommen.

In Moskau war dieser Aufstand schon in vollem Gang, und darum war diese Konferenz von kurzer Dauer. Wenn ich mich recht erinnere, sind wir zurückgekehrt unmittelbar vor dem Abtransport des Semjonowski-Regiments nach Moskau. Mir ist folgende Szene im Gedächtnis geblieben: Unweit der Troizki-Kirche geht mit finsterem Gesicht ein Soldat des Semjonowski-Regiments; neben ihm ein junger Arbeiter, der die Mütze abgenommen hat und leidenschaftlich auf den Soldaten einspricht und ihn um etwas bittet. An den ausdrucksvollen Gesichtern beider konnte man ablesen, worum es ging: Der Arbeiter bat den Soldaten, nicht gegen die Arbeiter vorzugehen; der Soldat aber schien nicht darauf einzugehen.

Das ZK rief das Petersburger Proletariat dazu auf, das Moskauer Proletariat, das sich erhoben hatte, zu unterstützen; aber eine einmütige Aktion kam nicht zustande. So war beispielsweise ein verhältnismäßig so rückständiger Bezirk wie der Moskauer aktionsbereit, und ein so fortgeschrittener wie der Newaer war es nicht. Ich erinnere mich, wie Stanislaw Wolski, der gerade in diesem Bezirk agitierte, damals ganz außer sich war. Er verfiel in eine äußerst düstere Stimmung und verzweifelte fast an der revolutionären Gesinnung des Proletariats. Er zog nicht in Betracht, wie erschöpft die Petersburger Arbeiter von den vorangegangenen Streiks waren, und vor allem nicht, dass sie fühlten, wie schlecht sie für den endgültigen Kampf mit dem Zarismus organisiert und wie schlecht sie bewaffnet waren. Und dass der Kampf auf Leben und Tod ging, sahen sie an Moskau.

1 Siehe W. I. Lenin: Werke, Bd. 7, S. 503-526.

2 Gemeint ist die Zeitung „Tribune de Genève", die in Genf in französischer Sprache erschien. Anm. d. russ. Red.

3 W. I. Lenin: Werke, Bd. 8, S. 154-

4 Ebenda, S. 155.

5 W. I. Lenin: Werke, Bd. 9, S. 342/343.

6 Henry George (1839-1897) – nordamerikanischer Ökonom und Bodenreformer.

7 W. I. Lenin: Werke, Bd. 8, S. 324.

F Da das versöhnlerisch-menschewistische ZK sich hartnäckig weigerte, einen Parteitag einzuberufen, und überhaupt nicht den Willen der Partei widerspiegelte, die in ihrer Mehrheit auf den Positionen der „Mehrheit" stand, wurde auf der „Beratung der 21" (August 1904) in Genf beschlossen, ein bolschewistisches Organ zum Kampf für die Einberufung des III. Parteitags zu gründen. Die auf dieser Beratung aufgestellten Kandidaten (Gussew, Bogdanow, Semljatschka, Litwinow, Ljadow) wurden dann auf drei illegalen Konferenzen in Russland – der „Nordkonferenz", der „Südkonferenz" und der „Kaukasischen Konferenz" – bestätigt. So wurde das „Büro der Komitees der Mehrheit" gegründet, das neben der Agitation zur Einberufung des III. Parteitags die praktische Arbeit in den bolschewistischen Organisationen in Russland leitete. N. K.

8 W. I. Lenin: Werke, Bd. 8, S. 405.

9 Siehe W. I. Lenin: Werke, Bd. 9, S. 1-130.

10 Es handelt sich um die Stellung der Sozialdemokratie zu der Kommission unter dem Vorsitz des Senators Schidlowski, die von der zaristischen Regierung nach dem 9. Januar geschaffen worden war, „um die Gründe für die Unzufriedenheit der Arbeiter in St. Petersburg und seinen Vororten unverzüglich zu klären und Maßnahmen zu ihrer Behebung ausfindig zu machen". Die Menschewiki befürworteten die Teilnahme an den Arbeiten dieser Kommission. Die Bolschewiki hingegen hielten es für notwendig, an den Wahlen der Wahlmänner teilzunehmen und dadurch, dass man klassenbewusste Arbeiter als Wahlmänner durchbrachte, der Kommission Forderungen vorzulegen, die sie nicht erfüllen würde, um auf diese Weise die Verlogenheit und Heuchelei der Politik der zaristischen Regierung vor den Augen der breiten Arbeitermassen zu entlarven. Es wurden unter anderem folgende Forderungen aufgestellt: öffentliche Kommissionssitzungen, Versammlungs- und Pressefreiheit, Freilassung der Verhafteten usw. Die Kampagne wurde von dem Petersburger Komitee unserer Partei mit großem Erfolg durchgeführt. Die Schidlowski-Kommission erlitt ein Riesenfiasko. Anm. d. russ. Red.

11 Lenin-Sammelband V, S. 507, russ.

12 Es geht hier um die Entsendung eines Vertreters in das Internationale Sozialistische Büro der II. Internationale. Anm. d. russ. Red.

13 W. I. Lenin: Werke, 4. Ausgabe, Bd. 34, S. 302, russ.

14 Ebenda, S. 316.

15 Ebenda, S. 311.

16 Aktivisten – „Finnische Partei des aktiven Widerstands" – eine radikale bürgerliche Partei Finnlands, die sich zum Ziel gesetzt hatte, die Autonomie Finnlands wiederherzustellen und sogar Finnland auf dem Wege des „aktiven Widerstands" völlig von Russland abzutrennen. Ihren Kampfmethoden nach näherten sich die Aktivisten den Sozialrevolutionären; zwischen ihnen war sogar eine formale Vereinbarung zustande gekommen. Nach der Revolution von 1905 traten die „Aktivisten" von der Bühne ab. 1917 standen sie auf Seiten der Weißen. Anm. d. russ. Red.

17 „Novaja Schisn“ (Neues Leben) – erste legale bolschewistische Tageszeitung, die vom 9. November bis 16. Dezember 1905 in Petersburg erschien.

18 W. I. Lenin: Werke, Bd. 10, S. 13

19 Ebenda, S. 20.

20 Ebenda, S. 16.

21 Ebenda, S. 20, 21 u. 13.

22 Ebenda, S. 24-28.

23 Lenin sprach auf der 17. Sitzung des Sowjets der Arbeiterdeputierten am 26. (13.) November zur Frage der Aussperrung, die die Kapitalisten als Antwort auf den von den Arbeitern eingeführten Achtstundentag in den Betrieben verhängt hatten. Die von Wladimir Iljitsch vorgeschlagene Resolution wurde am nächsten Tag auf der Sitzung des Exekutivkomitees des Sowjets der Arbeiterdeputierten angenommen. (Siehe W. I. Lenin: Werke Bd. 10, S. 35.) Anm. d. russ. Red.

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