Das Jahr 1919

Das Jahr 1919

Das Jahr 1919 war ein Jahr des erbitterten Bürgerkrieges, des Kampfes gegen Koltschak, Denikin und Judenitsch. Der Kampf spielte sich unter ungewöhnlich schwierigen Verhältnissen ab; Hunger und allgemeine Zerrüttung herrschten im Lande. Fabriken und Werke wurden stillgelegt, der Transport lag völlig danieder. Die Organisierung der Roten Armee war noch nicht abgeschlossen, die Truppen schlecht bewaffnet. Die Sowjetmacht hatte auch noch nicht allerwärts festen Fuß gefasst, sie war nicht genügend mit den Massen verwachsen. Die sowjetfeindlichen Parteien, alle diejenigen, die unter der alten Macht ein gutes Leben geführt hatten – die Handlanger der Gutsbesitzer und Kapitalisten, die Kulaken, Kaufleute usw. –, sie alle entfalteten eine wüste Hetze gegen die Bolschewiki, nutzten die Rückständigkeit und Unwissenheit der breiten Massen der Landbevölkerung aus und verbreiteten die unmöglichsten Gerüchte.

Doch der Name Lenins hatte bereits im ganzen Lande große Autorität. Lenin war gegen die Gutsbesitzer und Kapitalisten, er trat für den Frieden und für den Grund und Boden ein. Alle wussten, dass Lenin den Kampf um die Macht der Sowjets führte. Das war den werktätigen Massen in den entlegensten Winkeln Russlands bekannt. Lenin nahm nicht unmittelbar an den Kampfhandlungen teil, war nicht an der Front, aber die damals noch rückständigen Menschen, deren Gesichtskreis auf Grund ihres zurückgezogenen Lebens sehr beschränkt war, konnten sich nicht vorstellen, dass man auch ohne direkt dabei zu sein den Kampf leiten kann; es entstanden unzählige Legenden über Lenin. Die Fischer vom Baikalsee im fernen Sibirien erzählten beispielsweise, dass während der heißesten Kämpfe mit den Weißen – so etwa vor zehn Jahren – Lenin mit dem Flugzeug zu ihnen gekommen wäre und ihnen geholfen habe, mit dem Feind fertig zu werden. Im Nordkaukasus sprachen die Menschen davon, dass sie zwar Lenin nicht gesehen hätten, aber bestimmt wüssten, dass er in den Reihen der Roten Armee heimlich, damit es niemandem bekannt würde, gekämpft und ihnen zum Siege verholfen hätte.

Jetzt wissen es die Arbeiter und Kollektivwirtschaftsbauern, dass Lenin zwar nicht an den Fronten des Bürgerkrieges gewesen war, dafür aber mit all seinen Gedanken, mit seinem ganzen Herzen bei der Roten Armee weilte, ständig an sie dachte und für sie sorgte. Jetzt wissen sie es, dass er die gesamte Politik in die richtigen Bahnen lenkte. Er war Vorsitzender des Rates der Volkskommissare, vielfältig war seine Tätigkeit, und worin sie sich auch immer äußern mochte, stets war sie mit den Fragen des Bürgerkrieges, mit den Fragen des Kampfes um die Sowjetmacht verbunden. Am 13. März 1919 sprach Iljitsch auf einer Versammlung in Petrograd über Erfolge und Schwierigkeiten der Sowjetmacht. Er sagte:

Zum ersten Mal in der Geschichte wird eine Armee aufgebaut, die darauf beruht, dass die Sowjets und die Armee einander nahe, untrennbar nahe stehen, dass sie, kann man sagen, untrennbar miteinander verschmolzen sind. Die Sowjets vereinigen alle Werktätigen und Ausgebeuteten – und die Grundprinzipien des Armeeaufbaus sind die sozialistische Verteidigung und der bewusste Einsatz."1

Diese Interessengemeinschaft offenbarte sich in tausend Kleinigkeiten, und die Rotarmisten sahen die Sowjetmacht als ihre Macht an, als die Macht, die ihnen nahestand.

Iljitsch liebte es, bei offenem Fenster zu schlafen. Und jeden Morgen drangen die Worte des Liedes, gesungen von den jungen Rotarmisten, die im Kreml stationiert waren, zu uns: „Für die Sowjetmacht zu sterben, ist jeder stets bereit."

Iljitsch war sehr genau über die Lage an den Fronten orientiert, stand in unmittelbarer Verbindung mit den Fronten und leitete den ganzen Kampf, gleichzeitig verfolgte er auch mit großer Aufmerksamkeit, was die Massen über den Krieg sprachen. Ich hatte oft Gelegenheit, Gesprächen beizuwohnen, die Iljitsch mit den verschiedensten Menschen führte, und ich konnte feststellen, wie gut er es verstand, von jedem das zu erfahren, was er für wichtig hielt. Ihn interessierte die gesamte Situation, alles, was an den Fronten geschah.

Ich erinnere mich, einem Gespräch beigewohnt zu haben, wo Iljitsch von dem großen Misstrauen der Rotarmisten gegenüber den alten Militärspezialisten berichtet wurde. Die Rotarmisten begriffen sehr wohl, dass man zunächst bei den Militärspezialisten lernen müsste, aber doch waren sie stets auf der Hut, ließen nichts unbeachtet, selbst die Lebensweise und Lebensgewohnheiten dieser Leute nahmen sie unter die Lupe. Diese Vorsicht der Rotarmisten war verständlich. War doch der Abstand zwischen den Offizieren und Vorgesetzten des alten Regimes und den Soldaten sehr groß. Nachdem der Berichterstatter das Zimmer verlassen hatte, sprach Iljitsch mit mir darüber, dass die Kraft der Roten Armee in der engen Verbundenheit der Offiziere mit den Soldatenmassen liege. Wir erinnerten uns an die Bilder Wereschtschagins, die den Russisch-Türkischen Krieg von 1877/78 zum Thema hatten. Das waren herrliche Gemälde. Auf dem einen wird eine Schlacht dargestellt; die Offiziere verfolgen von einem entfernt liegenden Hügel den Verlauf der Schlacht. Das geschniegelte Offizierspack, in Handschuhen, beobachtet von einem geschützten Punkt aus, durch Feldstecher, wie ihre Soldaten in der Schlacht ihr Leben lassen. Als zehnjähriges Mädel führte mich damals mein Vater durch die Ausstellung der Werke Wereschtschagins, und da sah ich dieses Gemälde zum ersten Mal; es hatte mich so tief beeindruckt, dass es für immer in meinem Gedächtnis haftenblieb.

Iljitsch erhielt eines Tages einen Brief aus Woronesch, in dem Professor Dukelski forderte, die Rotarmisten mögen sich kameradschaftlicher gegenüber den Spezialisten verhalten. Als Antwort auf diesen Brief erschien ein Artikel Iljitschs in der „Prawda", in dem er ein kameradschaftliches Verhalten der Spezialisten gegenüber den Rotarmisten verlangte:

Seid kameradschaftlich zu den erschöpften Soldaten, zu den übermüdeten und durch die jahrhundertelange Ausbeutung erbitterten Arbeitern – dann wird die Annäherung zwischen den körperlich und den geistig Arbeitenden mit Riesenschritten vorankommen."2

Ich wohnte auch einmal einem Bericht des Genossen Lunatscharski bei, der von einer Reise an die Front zurückgekehrt war. Anatoli Wassiljewitsch war gewiss kein großer Fachmann auf dem Gebiet des Militärwesens. Aber Iljitsch verstand es durch seine Fragen, die einzelnen Erscheinungen so in Zusammenhang zu bringen und seine Ausführungen in eine bestimmte Richtung zu lenken, dass der Bericht äußerst interessant wurde. Iljitsch wusste sehr genau, wie man die einzelnen Menschen ausfragen müsse und worüber. Iljitsch unterhielt sich viel mit Arbeitern, die an die Front gingen, und mit solchen, die von der Front kamen. Er kannte die Rote Armee sehr genau, wusste, dass sie in der Hauptsache aus Bauern bestand. Und die Bauernschaft kannte er sehr gut, er kannte die Ausbeutung der werktätigen Bauern durch die Gutsbesitzer, kannte den Hass der Bauern gegen die Gutsbesitzer und wusste, dass die Bauernschaft eine gewaltige Triebkraft im Bürgerkrieg darstellte. Den Einzelbauern (damals waren alle Bauern Einzelbauern) idealisierte Iljitsch durchaus nicht, er wusste, wie stark in der Bauernschaft die kleinbürgerliche Mentalität verwurzelt war, wie schwer es den Bauern fiel, sich zu organisieren; er wusste, dass der Bauer jener Zeit im Grunde genommen in Bezug auf Organisation hilflos war.

Iljitsch wiederholte ständig, dass beim Aufbau des Sozialismus die Organisation das Kernproblem bilde; den Organisationsfragen maß er außerordentlich große Bedeutung bei und setzte seine Hoffnungen besonders auf die Arbeiterklasse, auf deren Organisationserfahrungen und enge Freundschaft mit den werktätigen Bauern. Iljitsch forderte, sich die gesamten Organisationserfahrungen der alten Armee, der alten Fachleute zu eigen zu machen und die Wissenschaft in den Dienst der Werktätigen des Sowjetlandes zu stellen.

Die Sowjetmacht hatte eine richtige Politik eingeschlagen.

In seiner Unterredung mit der ersten amerikanischen Arbeiterdelegation im September 1927 sagte Stalin:

Ist es etwa nicht bekannt, dass im Ergebnis des Bürgerkriegs die Okkupanten aus Russland hinausgeworfen, die konterrevolutionären Generale aber durch die Rote Armee vollends geschlagen wurden?

Hier zeigte es sich gerade, dass die Geschicke des Krieges letzten Endes nicht durch die Technik entschieden werden - mit Technik wurden Koltschak und Denikin von den Feinden der UdSSR reichlich versorgt –, sondern durch eine richtige Politik, durch die Sympathie und die Unterstützung der Millionenmassen der Bevölkerung (von mir hervorgehoben. N. K.).

War es ein Zufall, dass die Partei der Bolschewiki damals den Sieg davontrug? Natürlich war es kein Zufall."3

Die Politik der Sowjetmacht 1919 war gerichtet auf die stärkere Verbindung mit den Massen.

Wenn wir uns die Partei der Kommunisten nennen", sagte Iljitsch, „müssen wir begreifen, dass sich vor uns erst jetzt, nachdem wir die äußeren Hindernisse hinweg geräumt und die alten Institutionen zerschlagen haben, zum ersten Mal wirklich und in voller Größe die vordringliche Aufgabe der echten proletarischen Revolution erhoben hat: die Organisierung von Dutzenden und Hunderten Millionen von Menschen."4

Auf dem II. Gesamtrussischen Sowjetkongress im Oktober 1917 sprach Iljitsch davon, dass die Organisation das Wichtigste beim Aufbau des Sozialismus sei; und 17 Monate später, im März 1919, zur Zeit des VIII. Parteitages, als die Sowjetmacht bereits auf festen Füßen stand, rückten die Organisationsaufgaben in den Vordergrund. Alle Fragen, die Lenin auf dem VIII. Parteitag berührte, verband er eng mit Organisationsfragen. Er sprach über den Verwaltungsapparat, den Bürokratismus, über Kultur, wies darauf hin, dass die kulturelle Rückständigkeit den Aufbau des Sozialismus störe und die Heranziehung breiter Volksmassen zum Aufbau des Sozialismus hemme, den Kampf gegen die Überreste der Vergangenheit erschwere und die Ausrottung des Bürokratismus hindere. Er sprach über das Dorf, über die Notwendigkeit, den Einfluss des Proletariats nicht nur auf die Landarbeiter und die armen Bauern zu verstärken, sondern ihn auch auf die breiteste Schicht der Bauern, die Mittelbauern, auszudehnen, die von ihrer Hände Arbeit leben und keine fremde Arbeitskraft ausbeuten; er sprach darüber, wie man diese Schicht in eine Stütze der Sowjetmacht verwandeln und ihre Versorgung gewährleisten müsse; er sprach über die Genossenschaften und darüber, dass wir den Kommunismus aus nichts anderem erbauen können als aus dem, was uns der Kapitalismus als Erbe hinterlassen hat, und dass der Kommunismus nicht nur mit den Händen der Kommunisten auf gebaut werden kann, sondern dass man die alten Fachleute ausnutzen muss, dass man die Wissenschaft und die ganzen beim Aufbau des Kapitalismus gesammelten Erfahrungen ausnutzen und von der Bourgeoisie das nehmen muss, was wir brauchen.

Bei dieser ganzen Arbeit ist nicht nur wichtig, dass der Mensch es versteht, das richtige Kettenglied zu finden, um die ganze Kette herauszuziehen, sondern auch, wie er dieses Kettenglied anpackt und wie er es herauszieht.

Zwei Tage vor diesem Sowjetkongress starb der Vorsitzende des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees, Jakow Michailowitsch Swerdlow. Bei der Beisetzung hob Iljitsch besonders die Fähigkeit Swerdlows hervor, die Theorie mit der Praxis zu verbinden, er sprach von der moralischen Autorität und von dem organisatorischen Talent Swerdlows und unterstrich besonders die wertvolle Arbeit, die er als Organisator der breiten proletarischen Massen geleistet hat: „…. dieser Berufsrevolutionär hat niemals, keinen Augenblick die Verbindung mit den Massen verloren. Obwohl die Verhältnisse unter dem Zarismus ihn, wie jeden Revolutionär in der damaligen Zeit, vorwiegend zu illegaler, unterirdischer Arbeit zwangen, ging Genosse Swerdlow auch in dieser illegalen und unterirdischen Arbeit doch immer Schulter an Schulter, Seite an Seite mit den fortschrittlichen Arbeitern, die gerade zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Platz der früheren Generation von Revolutionären aus der Intelligenz einzunehmen begannen.

Gerade zu dieser Zeit schalteten sich fortschrittliche Arbeiter zu Dutzenden und Hunderten in die Arbeit ein und erzogen sich zu der Härte im revolutionären Kampf, ohne die, abgesehen von der festen Verbundenheit mit den Massen, eine erfolgreiche Revolution des Proletariats in Russland nicht möglich gewesen wäre."5

Auf dem VIII. Parteitag sollte J. M. Swerdlow den Bericht über die organisatorische Arbeit des Zentralkomitees geben. Lenin musste an seine Stelle treten.

Bei seinem ausgezeichneten, unglaublichen Gedächtnis hatte er den größten Teil seines Berichtes im Kopf", sagte Iljitsch von J. M. Swerdlow, „und die persönliche Vertrautheit mit der Organisationsarbeit in den unteren Parteieinheiten (von mir hervorgehoben. N. K.) hätte es ihm möglich gemacht, diesen Bericht zu erstatten. Ich bin nicht in der Lage, ihn auch nur zu einem Hundertstel zu ersetzen … Dutzende von Delegierten wurden täglich vom Genossen Swerdlow empfangen, und mehr als die Hälfte davon dürften nicht Sowjet-, sondern Parteifunktionäre gewesen sein."6

Iljitsch sprach davon, dass Swerdlow ein außerordentlich guter Menschenkenner war und sich einen ganz besonderen Sinn für die praktische Arbeit angeeignet hatte.

„…das außergewöhnliche Organisationstalent dieses Menschen gab uns das, worauf wir bisher so stolz waren, worauf wir mit vollem Recht stolz waren. Er ermöglichte uns in vollem Umfang eine einmütige, zweckentsprechende, wirklich organisierte Arbeit, eine Arbeit, die der organisierten proletarischen Massen würdig war und den Erfordernissen der proletarischen Revolution entsprach – jene einträchtige organisierte Arbeit, ohne die wir keinen einzigen Erfolg hätten erringen können, ohne die wir nicht eine der zahllosen Schwierigkeiten überwunden, nicht eine der schweren Prüfungen überstanden hätten, durch die unser Weg bisher geführt hat und noch immer führt…

wir sind zutiefst überzeugt, dass die proletarische Revolution in Russland und in der ganzen Welt immer neue und neue Gruppen von Menschen hervorbringen wird, zahlreiche Schichten von Proletariern und werktätigen Bauern, die die praktische Lebenserfahrung, das wenn nicht individuelle, so doch kollektive Organisationstalent (von mir hervorgehoben. N. K.) mitbringen werden, ohne das die Millionenarmeen der Proletarier nicht zum Siege gelangen können."7

In den letzten Jahren, insbesondere 1935/1936 waren wir Zeugen dessen, wie schnell die organisatorischen Fähigkeiten der werktätigen Massen sich entwickelt haben und gewachsen sind. Auf den Beratungen der Stachanowarbeiter, der Kombineführer und Traktoristen, der Arbeiter der Sowjetfelder, der Werktätigen der Sowjetrepubliken konnten wir das in den Jahren der Sowjetmacht geschmiedete kollektive organisatorische Talent beobachten.

Es sind nicht nur einzelne, es sind Tausende …

Und nur einem Blinden mag es verborgen bleiben, welche gewaltige Kraft das kollektive organisatorische Talent der proletarischen Massen darstellt.

Die Psychologie des Kleineigentümers erschwerte besonders in den ersten Jahren der Existenz der Sowjetmacht die organisatorische Arbeit der Sowjets und die Arbeiten auf dem Gebiet des Militärwesens.

Auf dem I. Gesamtrussischen Kongress für Erwachsenenbildung im Mai 1919 ging Iljitsch besonders ausführlich darauf ein, wie die anarchistische Psychologie des Kleineigentümers die richtige Organisierung der Arbeit stört:

Die breiten Massen der kleinbürgerlichen Werktätigen, die nach Wissen strebten und das Alte zerschlugen, konnten nichts Organisierendes, nichts Organisiertes an seine Stelle setzen" (von mir hervorgehoben. N. K.).

Und weiter:

Wir leiden in dieser Beziehung immer noch unter der bäuerlichen Naivität und der bäuerlichen Hilflosigkeit, wie damals, als der Bauer, der die Bibliothek eines Gutsbesitzers ausgeplündert hatte, schnell damit nach Hause lief und dabei Angst hatte, jemand könne sie ihm wegnehmen, denn die Erkenntnis, dass eine gerechte Verteilung möglich ist, dass der Fiskus nichts Hassenswertes ist, dass der Fiskus der gemeinsame Besitz der Arbeiter und Werktätigen ist, diese Erkenntnis konnte er noch nicht haben. Die unentwickelte Masse der Bauern hat daran keine Schuld, und vom Standpunkt der Entwicklung der Revolution ist das völlig gesetzmäßig – das ist ein unvermeidliches Stadium, und als der Bauer die Bibliothek zu sich nahm und bei sich versteckte, so konnte er nicht anders handeln, weil er nicht begriffen hatte, dass man die Bibliotheken Russlands zentral zusammenfassen kann, dass genügend Bücher da sein werden, um den Durst der Lesekundigen zu stillen und um den Analphabeten belehren zu können. Jetzt ist es unbedingt notwendig, gegen die Reste der Desorganisation, gegen das Chaos, gegen die lächerlichen Kompetenzstreitigkeiten anzukämpfen … keine parallel laufenden Organisationen, sondern eine einheitliche planmäßige Organisation muss man schaffen. In dieser kleinen Sache spiegelt sich die Hauptaufgabe unserer Revolution wider. Wenn sie diese Aufgabe nicht löst, wenn sie nicht darangeht, eine wirklich planmäßige einheitliche Organisation an Stelle des russischen sinnlosen Chaos und der Unordnung zu schaffen – dann wird diese Revolution eine bürgerliche Revolution bleiben, weil ja eben darin das wesentliche Unterscheidungsmerkmal der zum Kommunismus schreitenden proletarischen Revolution besteht…"8

Iljitsch hat mit diesen Worten die Wurzel des Anarchismus aufgedeckt, der die Notwendigkeit jeder planmäßigen kollektiven Tätigkeit und jeglicher staatlicher Organisation verneint: Ich mache es halt so, wie es mir passt.

Wir haben uns des öfteren über den Anarchismus unterhalten. Zum ersten Mal war es, wenn ich mich recht erinnere, im Dorf Schuschenskoje. Als ich zu Iljitsch in die Verbannung kam, sah ich mit großem Interesse sein Album durch, das Fotos von politischen Strafgefangenen enthielt, darunter zwei Fotos von Tschernyschewski und eins von Zola. Ich fragte ihn, warum er hier auch das Foto von Zola aufbewahre. Da erzählte er mir von der Dreyfus-Affäre und von Zolas Eintreten für Dreyfus. Wir kamen dann auf die Werke Zolas zu sprechen, und ich schilderte Iljitsch, wie stark mich der Roman „Germinal" beeindruckt hatte, den ich gerade zu der Zeit las, als ich mich eingehend mit dem I. Band des „Kapitals" von Marx beschäftigte. In „Germinal" wird die französische Arbeiterbewegung geschildert und unter anderem die Gestalt des russischen Anarchisten Suwarin; während Suwarin ein zahmes Kaninchen streichelt, wiederholt er immerzu, man müsse „alles zerschlagen, alles vernichten" („tout rompre, tout détruire"). Mit leidenschaftlichen Worten ging Iljitsch auf den Gegensatz ein, der zwischen der organisierten sozialistischen Arbeiterbewegung und dem Anarchismus besteht. Dann erinnere ich mich noch dunkel an ein Gespräch mit Iljitsch über die Anarchisten, das wir vor unserer Abreise zur Tammerforser Konferenz im Jahre 1905 führten. Vor kurzem habe ich wieder einmal den aus jener Zeit stammenden Artikel Wladimir Iljitschs „Sozialismus und Anarchismus" gelesen. Ganz wunderbar wird dort der Anarchismus charakterisiert.

Die Weltanschauung der Anarchisten ist eine umgestülpte bürgerliche Weltanschauung. Ihre individualistischen Theorien und ihr individualistisches Ideal sind das gerade Gegenteil vom Sozialismus. Ihre Ansichten drücken nicht die Zukunft der bürgerlichen Gesellschaftsordnung aus, die unaufhaltsam zur Vergesellschaftung der Arbeit führt, sondern die Gegenwart, ja sogar die Vergangenheit dieser Ordnung, die Herrschaft des blinden Zufalls über den vereinzelten, alleinstehenden Kleinproduzenten. Ihre Taktik, die auf die Ablehnung des politischen Kampfes hinausläuft, trennt die Proletarier voneinander und verwandelt sie faktisch in passive Teilnehmer der einen oder anderen bürgerlichen Politik, denn ein wirkliches Fernbleiben von der Politik ist für die Arbeiter unmöglich und undurchführbar."9

Gerade darum ging unser Gespräch im Jahre 1905.

Im Mai 1919 tagte der I. Gesamtrussische Kongress für Erwachsenenbildung. Iljitsch hielt die Begrüßungsansprache. An diesem Kongress nahmen 800 Delegierte teil, darunter viele Parteilose. Es herrschte bei den meisten eine gehobene Stimmung, viele hatten vor, an die Front zu gehen; doch uns – den Bolschewiki, die den Kongress organisiert hatten – blieb nicht verborgen, dass nicht bei allen Delegierten Klarheit über den Sowjetdemokratismus bestand, darüber, worin sich unser, der Sowjetdemokratismus vom bürgerlichen Demokratismus unterscheidet, und wir baten Iljitsch, er möchte noch einmal auf dem Kongress sprechen. Er erklärte sich bereit und hielt am 19. Mai eine große Rede über den „Volksbetrug durch Losungen über Freiheit und Gleichheit". Er sprach davon, dass diese Losungen unter den Bedingungen des kapitalistischen Staates nichts anderes seien als Betrug am Volke und dass die Sowjetmacht – die Diktatur des Proletariats – jetzt die Massen zum Sozialismus führen werde; er ging auf die Schwierigkeiten ein, die vor der Sowjetmacht standen.

Diese neue Staatsorganisation kommt mit den allergrößten Schwierigkeiten zur Welt", sagte Iljitsch, „weil es das Schwierigste ist, mit der eigenen desorganisatorischen kleinbürgerlichen Unzuverlässigkeit fertig zu werden, millionenfach schwieriger, als einen despotischen Gutsbesitzer oder einen despotischen Kapitalisten zu unterdrücken, aber auch millionenfach ersprießlicher für die Schaffung einer neuen, von der Ausbeutung befreiten Organisation. Wenn die proletarische Organisation diese Aufgabe löst, dann hat der Sozialismus endgültig gesiegt. Dem muss man seine ganze Tätigkeit sowohl in der Erwachsenenbildung als auch in der Schule widmen."10

Schon der Aufbau der Sowjetmacht verlangte den Kampf gegen anarchistische Stimmungen, um so erforderlicher war dieser Kampf in der Roten Armee. Dort führten die anarchistischen Stimmungen zur Herausbildung eines gewissen Partisanentums. Besonders deutlich zeigen die Erfahrungen des Bürgerkrieges in der Ukraine die Schwierigkeiten, die es beim Aufbau der Roten Armee gab. Darüber sprach Iljitsch am 4. Juli 1919 auf der gemeinsamen Sitzung des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees, des Moskauer Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten, des Moskauer Rates der Gewerkschaften und der Vertreter der Fabrikkomitees Moskaus.

Iljitsch sprach von den Schwierigkeiten in den ersten Jahren des Bürgerkrieges, als es galt, in allergrößter Eile einen Kampftrupp nach dem andern aufzustellen. Er sagte:

Auf dem Boden des äußerst unzureichenden proletarischen Klassenbewusstseins in der Ukraine, der Schwäche und Unorganisiertheit, der Petljuraschen Desorganisation und des Druckes des deutschen Imperialismus erwuchsen dort spontan der Hass und das Partisanentum. In jeder Partisanenabteilung griffen die Bauern zu den Waffen, wählten ihren Ataman oder ihren ,Anführer' und schufen, setzten die Macht am Orte ein. Mit der Zentralmacht rechneten sie überhaupt nicht, und jeder Anführer glaubte, er sei Ataman am Ort, er bildete sich ein, er könne alle ukrainischen Fragen selbst entscheiden, ohne die geringste Rücksicht darauf, was im Zentrum unternommen wird."11

Weiter schilderte Iljitsch, welche ungeheuren Nöte diese Desorganisiertheit, das Partisanentum und das Chaos für die Ukraine im Gefolge hatten. Diese Erfahrungen konnten nicht spurlos vorübergehen.

Aus dem Zerfall, dem Partisanentum hat die Ukraine die Lehren gezogen", sagte Iljitsch. „Das wird eine Epoche des Umschwungs in der ganzen ukrainischen Revolution sein, das wird sich auf die ganze Entwicklung der Ukraine auswirken. Das ist ein Umschwung, den auch wir durchgemacht haben, der Umschwung vom Partisanentum und vom revolutionären Phrasenschwall: wir können alles! – zur Erkenntnis der Notwendigkeit einer langwierigen, stetigen, hartnäckigen und schweren Organisationsarbeit. Das ist der Weg, den wir viele Monate nach dem Oktober eingeschlagen haben und auf dem wir zu beträchtlichen Erfolgen gekommen sind. Wir blicken in die Zukunft mit der festen Zuversicht, dass wir alle Schwierigkeiten überwinden werden."12

Die Hoffnungen Iljitschs erfüllten sich: Unsere Rote Armee wurde zum Vorbild sozialistischer Organisiertheit.

Damals, 1919, setzte sich die Rote Armee in der Hauptsache aus Einzelbauern zusammen; sie verstanden es wohl, ohne Ruh und Rast zu arbeiten, aber sie waren noch im starken Maße von einer Kleineigentümer-Mentalität beherrscht. Iljitsch hielt es daher für sehr wichtig, alle Fronten durch proletarische Elemente zu verstärken. Als sich die Lage an der Ostfront zugespitzt hatte, richtete Iljitsch einen Brief an die Petrograder Arbeiter mit dem Appell, der Front zu Hilfe zu kommen; er referierte auf der Plenartagung des Gesamtrussischen Zentralrats der Gewerkschaften, wandte sich an die Eisenbahner des Moskauer Eisenbahnknotenpunkts, sprach auf der Konferenz der Fabrikkomitees und der Gewerkschaften Moskaus über den Kampf gegen Koltschak, schrieb an die Arbeiter und Bauern anlässlich des Sieges über Koltschak, sprach von der Rolle der Petrograder Arbeiter, verabschiedete die mobilisierten Arbeiter der Gouvernements Jaroslaw und Wladimir, die sich an die Denikinfront begaben und den Petrogradern gegen Judenitsch zu Hilfe eilten, der einen Feldzug gegen die Stadt organisiert hatte; er wandte sich mit einem Aufruf an die Arbeiter und Rotarmisten Petrograds anlässlich der Offensive Judenitschs, schrieb einen Brief an die Arbeiter und Bauern der Ukraine anlässlich des Sieges über Denikin.

Die Organisation innerhalb der Roten Armee war immer besser geworden.

Je mehr die Sowjetmacht sich festigte und der Bürgerkrieg den breiten Massen die Augen öffnete und sie lehrte, den Feind vom Freund zu unterscheiden, desto stärker ging der Einfluss der linken Sozialrevolutionäre zurück. Sie verloren den Boden unter den Füßen, schlossen sich mit den Anarchisten zusammen und verübten gemeinsam mit ihnen am 25. September einen Bombenanschlag auf das Moskauer Komitee, das in der Leontjew-Gasse tagte und über Fragen der Agitation und Propaganda beriet. Zwölf Personen, darunter der Sekretär des Moskauer Komitees, Genosse Sagorski, wurden getötet, 55 Personen verwundet. Die erste Mitteilung über diesen Anschlag überbrachte uns Inès Armand, deren Tochter an der Beratung teilgenommen hatte.

Lenin wies auf den Schaden hin, der aus der Zersplitterung der Bauernwirtschaft erwachse, aus der Existenz kleiner, verstreut liegender Einzelwirtschaften, und wie sich das negativ auf das Leben der werktätigen Bauern und auf ihre Weltanschauung auswirke; er betonte von Anfang an die Notwendigkeit des Übergangs zu kollektiven Formen der Bewirtschaftung, zur gesellschaftlichen Bodenbearbeitung durch große landwirtschaftliche Kollektive; er sprach von der Notwendigkeit der Schaffung landwirtschaftlicher Kommunen und Artels. Er war der Meinung, dass die städtischen Arbeiter und die Landarbeiter Initiatoren dieser Sache sein werden und unterstützte jede Initiative der Arbeiter in dieser Richtung. Es ist bekannt, dass er bereits im Frühjahr 1918 die Initiative der Arbeiter der Obuchow- und der Semjannikow-Werke, die sich nach Sibirien, nach Semipalatinsk, begaben, um landwirtschaftliche Arteis zu gründen, unterstützt hat. Selbst noch so bescheidene Maßnahmen zur kollektiven Bodenbearbeitung wurden von ihm gefördert.

Iljitsch machte sich allerdings keine Illusionen. Er sprach immer wieder von den zu schaffenden Voraussetzungen, die eine Massenkollektivierung der Landwirtschaft erst richtig möglich machen. Auf dem XIII. Parteitag sprach er von den Traktoren, von der mechanisierten Bodenbearbeitung, von der Notwendigkeit, das Bewusstsein der Bauern zu heben, denn nur dann könne die Kollektivierung richtig vorankommen; er war aber gleichzeitig der Meinung, dass jede auf die Schaffung von Kollektivwirtschaften gerichtete Initiative unterstützt werden müsse.

Im Frühjahr 1919 stellte Wladimir Iljitsch den Arbeitern von Gorki, wo er sich gerade aufhielt, die Aufgabe der Organisierung einer Kollektivwirtschaft neuen Typus. Die Mehrheit der Arbeiter war jedoch für diese Aufgabe wenig vorbereitet. Reinbot, der frühere Besitzer von Gorki, hatte lettische Landarbeiter bei sich beschäftigt und dafür gesorgt, dass sie abgeschlossen lebten und nicht mit der einheimischen Bevölkerung in Berührung kamen. Die Arbeiter von Gorki hassten die Grundbesitzer nicht weniger als alle lettischen Arbeiter, doch waren sie für eine kollektive Arbeit, für die Leitung einer Sowjetwirtschaft damals noch wenig geeignet.

Ich erinnere mich daran, wie Iljitsch sie während einer Beratung, die im Herrenhaus abgehalten wurde, zu überzeugen versuchte; er war ganz aufgeregt dabei. Doch seine Bemühungen blieben erfolglos. Es kam zur Aufteilung des Reinbotschen Besitztums, und Gorki wurde in eine gewöhnliche Sowjetwirtschaft umgewandelt. Iljitsch wollte, dass die Sowjetwirtschaften beispielgebend werden sollten für gut geleitete Großwirtschaften; wie man einen kleinen Bauernhof bewirtschaftet – das wussten die Bauern, aber wie man eine Großwirtschaft verwaltet – das mussten sie noch lernen.

Was Iljitsch eigentlich von einer Sowjetwirtschaft erwartete, begriff der damalige Wirtschaftsleiter von Gorki, Genosse Wewer, nicht. Während eines Spaziergangs begegnete ihm Iljitsch und fragte, wie die Sowjetwirtschaft den im Umkreise lebenden Bauern helfe. Genosse Wewer sah ihn ganz verdutzt an und meinte: „Wir verkaufen den Bauern Pflanzen." Iljitsch verzichtete darauf, ihn noch weiter auszufragen, und als Wewer fort war, sagte Iljitsch mit traurigem Blick: „Der hat nicht einmal den eigentlichen Sinn der Frage verstanden." Iljitsch stellte in der Folge besonders große Anforderungen an Wewer, der nicht begriff, dass die Sowjetwirtschaft ein Musterbeispiel einer gut geleiteten Großwirtschaft sein sollte.

Anfang 1919 besuchte mich gelegentlich in der Abteilung für Erwachsenenbildung mein ehemaliger Schüler aus der Sonntagsabendschule, Genosse Balaschow. Damals arbeitete er hinter der Newskaja Sastawa. In den Jahren der Reaktion hatte er mehrere Jahre im Gefängnis gesessen. Er erzählte mir, dass er Landwirtschaft studiert hätte und besonders im Gemüsebau bewandert sei; er habe nunmehr beschlossen, sich dieser Arbeit gänzlich zu widmen. Balaschow hatte sieben Bauernwirtschaften (von Verwandten) zusammengeschlossen und eine große Gemüsewirtschaft organisiert, die sie nun gemeinsam, ohne fremde Arbeitskräfte, bearbeiten wollten. Sie organisierten ein landwirtschaftliches Artel, übernahmen einen Auftrag von der Roten Armee und hatten bereits erstklassiges Gemüse für ihren Auftraggeber gezüchtet. Aber ihr Unternehmen konnte sich nicht behaupten: das Komitee der Dorfarmut nahm ihnen das Gemüse weg, Balaschow selbst kam ins Gefängnis. Von dort wandle er sich mit einem Brief an mich. Auf Wladimir Iljitschs Ersuchen veranlasste Genosse Dzierzynski die Untersuchung dieses Falles. Es stellte sich heraus, dass sich in das Komitee der Dorfarmut ehemalige Geheimpolizisten eingeschlichen hatten. Balaschow wurde sofort aus der Haft entlassen, das Artel aber zerfiel.

Die Gemüseanbauartels – für die es damals viele Liebhaber gab – stießen überall auf großen Widerstand, denn man unterschätzte ihre Bedeutung. In Blaguschi beispielsweise hatte A. S. Butkewitsch Kurse für Gemüsebau organisiert. Es stand auch Land zur Verfügung. Unsere Abteilung für Erwachsenenbildung unterstützte diese Kurse. Im Februar 1919 organisierte der Sohn Butkewitschs – ein Agronom und Fachmann auf dem Gebiet des Gemüsebaus – eine Art Genossenschaft aus den Kursusteilnehmern (in ihrer Mehrzahl Arbeiter aus dem Werk „Gnom & Rom" und aus der Semjonowschen Textilfabrik). Das Statut sah vor, dass die Ernte entsprechend den geleisteten Arbeitsstunden aufgeteilt werden sollte. Butkewitsch junior stellte die verschiedensten Versuche mit Düngemitteln an, züchtete neue Gemüsesorten und erprobte neue Methoden des Anbaus. Die Ernteerträge waren höher als in den benachbarten Sowjetwirtschaften, und 45 Familien waren für das ganze Jahr mit Gemüse versorgt.

Der Sektor für Erwachsenenbildung unterstützte dieses Beginnen, aber die Moskauer Abteilung für Volksbildung, die zur damaligen Zeit die „Allmacht Gottes", wie man früher zu sagen pflegte, besaß, nahm ihnen das Land mit der Begründung weg, dass „die Versorgung von 45 bis 50 Familien von unvergleichlich geringerer gesellschaftlicher Bedeutung sei als die Arbeitsorganisation in der Schule". Die Moskauer Abteilung für Volksbildung übersah damals völlig die Bedeutung des „Beispiels" und der Propaganda der genossenschaftlichen Wirtschaftsformen. Sie hatte dem neuartigen Lehrgang das Land entzogen, aber nicht fertiggebracht, es im Rahmen der Schule zu nutzen.

Man kann sich heute kaum ein Bild davon machen, auf welche Hindernisse ein solches Beginnen im Jahre 1919 stieß. Versuche solcher Art gab es nicht wenige, sie sind schon in Vergessenheit geraten, aber diejenigen, die es damals auszufechten hatten, werden es wohl kaum vergessen haben. Wladimir Iljitsch zeigte für derlei Beginnen großes Interesse.

Um die Bauernmassen für den Aufbau der Wirtschaft auf kollektiver Grundlage zu gewinnen, bedurfte es einer langwierigen Arbeit unter der Hauptmasse der Bauernschaft. Immer wenn Iljitsch Bauernbriefe las, spürte er es. Es hat sich ein Vermerk Iljitschs auf einem Bauernbrief vom Februar/März 1919 erhalten, in dem über die Lage im Dorf berichtet wurde. Iljitsch schrieb: „Ein Wehklagen um den Mittelbauern."

Auf dem VIII. Parteitag (18.-23. März 1919) stand die Frage des Verhältnisses zum Mittelbauern in ganzer Größe. In seiner Eröffnungsrede nahm Iljitsch zu dieser Frage in aller Deutlichkeit Stellung:

Der schonungslose Krieg gegen die Dorfbourgeoisie und gegen die Kulaken hatte die Aufgabe, das Proletariat und Halbproletariat des Dorfes zu organisieren, an die erste Stelle gerückt. Als nächsten Schritt aber hat die Partei, die die festen Grundlagen für die kommunistische Gesellschaft schaffen will, die Aufgabe vor sich, das Problem unserer Stellung zur Mittelbauernschaft richtig zu lösen. Das ist eine Aufgabe höherer Ordnung. Wir konnten sie uns nicht in ihrem ganzen Umfang stellen, solange die Existenzgrundlagen der Sowjetrepublik nicht gesichert waren."13

Und weiter führte er aus:

Wir sind in ein Stadium des sozialistischen Aufbaus eingetreten, wo es gilt, konkret und detailliert die an Hand der Erfahrungen mit der Arbeit im Dorfe überprüften grundlegenden Regeln und Anweisungen auszuarbeiten, nach denen wir uns richten müssen, um mit dem Mittelbauern auf den Boden eines festen Bündnisses zu gelangen …"14

Auf dem VIII. Parteitag sprach Wladimir Iljitsch davon, dass man dem Mittelbauern gegenüber keine Gewalt anwenden dürfe, sondern ein kameradschaftliches Verhältnis zu ihm herstellen müsse, man müsse ihm helfen – vor allem durch die Mechanisierung der Landwirtschaft –, seine wirtschaftliche Lage, seine Lebensbedingungen zu erleichtern und seine Kultur zu heben. Iljitsch wies wiederholt auf die Notwendigkeit hin, das Kulturniveau des Dorfes zu heben, da wir ständig über das unzureichende Kulturniveau der Massen stolpern und das niedrige Kulturniveau die Durchführung der Sowjetgesetze erschwert: „… denn außer den Gesetzen gibt es noch das Kulturniveau, das sich keinen Gesetzen unterwerfen lässt."

Auf bestimmte Wahlrechtsbeschränkungen für die Bauern eingehend, führte er folgendes aus:

Unsere Verfassung musste, wie wir das aufzeigen, diese Ungleichheit festsetzen, weil das Kulturniveau niedrig, weil die Organisation bei uns schwach ist. Jedoch erheben wir diesen Zustand nicht zum Ideal, sondern im Gegenteil, laut Programm verpflichtet sich unsere Partei, an der Aufhebung dieser Ungleichheit zwischen dem besser organisierten Proletariat und der Bauernschaft systematisch zu arbeiten, einer Ungleichheit, die wir zu beseitigen haben werden, sobald es uns gelingt, das Kulturniveau zu heben. Dann werden wir ohne solche Einschränkungen auskommen können."15

Jetzt, da die Kolchosordnung sich im Dorf durchgesetzt hat, die Landwirtschaft mechanisiert ist, das Kulturniveau im Dorf sich ganz beträchtlich erhöht hat und die Menschen auf dem Lande bewusster geworden sind, lässt sich der Hinweis Iljitschs verwirklichen. Die neue Verfassung der Sowjetunion hebt die Ungleichheit im Wahlrecht zwischen den Arbeitern und den Bauern völlig auf und gewährt beiden die gleichen Rechte. Und das Herz klopft einem stärker, wenn man diese Verfassung liest; sie ist durch jahrelange, von der Partei in richtige Bahnen gelenkte Arbeit erkämpft worden.

Als Iljitsch eine Woche nach dem VIII. Parteitag, am 30. März 1919, in der Sitzung des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees M. I. Kalinin als Kandidaten für den Posten des Vorsitzenden des Zentralexekutivkomitees an Stelle des verstorbenen J. M. Swerdlow in Vorschlag brachte, hob er besonders hervor, dass es sich bei Kalinin um einen Genossen handele, der auf eine zwanzigjährige Parteitätigkeit zurückblicke, einen Petersburger Arbeiter, der aus der Bauernschaft des Gouvernements Twer hervorgegangen sei und enge Verbindung zur Bauernschaft bewahrt habe, die er stets erneuere und auffrische. Kalinin sei ein Mensch, der es versteht, auf kameradschaftliche Weise an die breiten Schichten der werktätigen Massen heranzukommen. Die Mittelbauern werden im höchsten Repräsentanten der Sowjetrepublik ihren Mann sehen. Die Kandidatur Michail Iwanowitschs werde in der Praxis dazu beitragen, in vieler Hinsicht unmittelbare Beziehungen des höchsten Vertreters der Sowjetmacht zu den Mittelbauern herzustellen, werde der Partei und der Regierung helfen, dieser Bauernschicht näherzukommen.

Die Hoffnungen Iljitschs haben sich bekanntlich voll und ganz bestätigt. M. I. Kalinin wird von den Bauernmassen geliebt und steht ihnen nahe.

Iljitsch zeigte in seiner täglichen Arbeit, welche Aufmerksamkeit man jeder einzelnen Frage, die den Mittelbauer betraf, schenken musste.

Die Skopiner „Kreiskonferenz" entsandte am 31. März 1919 drei Bauern zu Iljitsch mit dem Auftrag, „den Erlass der Kopfsteuer für Mittelbauern und solche, die darunter stehen, zu erwirken" und dafür einzutreten, dass „die Verordnung über die Mobilisierung der Milchkühe gänzlich aufgehoben wird, weil nämlich bei uns auf 8-10 Personen nur eine solche Kuh kommt, wobei noch zu berücksichtigen ist, dass bei uns schreckliche Epidemien – Typhus, Grippe und andere Krankheiten – wüten und Milch die einzige Krankennahrung ist. Was sonstige Lebensmittel anbetrifft, Öl und Fett, so fehlen diese hier völlig und können nirgends beschafft werden"; der Auftrag enthielt noch eine Anfrage bezüglich der Pferde und der Einzelheiten über die Eintreibung der Steuern.

Als Iljitsch diesen „Auftrag" durchgelesen hatte, erkundigte er sich gar nicht erst weiter, um was für eine „Kopfsteuer" es sich hier handelte, sondern schrieb sofort eine sachliche Antwort an die Bauern des Kreises Skopin:

Die Sonderbesteuerung der unter dem Durchschnitt eines Mittelbauern stehenden Bauern ist ungesetzlich, es sind Maßnahmen ergriffen worden, um die Besteuerung der Mittelbauern herabzusetzen. In den nächsten Tagen wird ein entsprechendes Dekret erlassen werden. Hinsichtlich der übrigen Fragen werde ich mich unverzüglich an die betreffenden Volkskommissare wenden, und Ihr werdet Antwort bekommen.

5. IV. 1919

W. Uljanow"16

Den Brief der Skopiner Bauern versah Iljitsch mit folgendem Vermerk für seinen Sekretär: „Mich im Rat der Volkskommissare im Beisein von Sereda und [Frumkin] Swiderski daran erinnern. Antwort ist mit dem Volkskommissar für Landwirtschaft und dem Volkskommissar für Lebensmittelversorgung zu vereinbaren."

Iljitsch verlangte vom gesamten Sowjetapparat, dass er sich um die Nöte der Bevölkerung kümmert.

1919 herrschte Hunger im Lande. Und gerade in dieser schweren Zeit spürte man besonders die Sorge Iljitschs um die Kinder, um deren Ernährung.

Im Mai verschlechterte sich die Versorgungslage noch mehr. In der zweiten Sitzung der Wirtschaftskommission plädierte Lenin dafür, dass man die Arbeiterkinder zusätzlich mit Lebensmitteln versorgt.

Mitte Mai wurde die Lage besonders schwer. Es gab viel Getreide in der Ukraine, im Kaukasus und im Osten des Landes; Millionen von Pud Getreide lagerten dort, aber der Bürgerkrieg hatte die Verbindungen zu diesen Gebieten abgeschnitten, und die zentral gelegenen Industriegebiete hatten schwer unter dem Hunger zu leiden. Dem Volkskommissariat für Bildungswesen gingen unzählige Beschwerden zu, dass es den Kindern an Nahrung mangelte.

Am 14. Mai 1919 ging die Armee der Nordwest-Regierung zum Angriff über. Am 15. Mai war Gdow bereits in den Händen General Rodsjankos, die estnischen und finnischen Weißgardisten befanden sich im Vormarsch; es entwickelten sich Kämpfe an der Koporja-Bucht. Iljitsch machte sich große Sorgen um Petrograd. Am 17. Mai aber – und das ist charakteristisch für ihn – erließ er ein Dekret über unentgeltliche Kinderspeisung. Dieses Dekret legte fest, dass an alle Kinder bis zu vierzehn Jahren kostenlos Kindernahrungsmittel auszugeben seien, ohne Rücksicht darauf, welcher Versorgungsgruppe ihre Eltern angehörten, da es galt, die Ernährung der Kinder und die wirtschaftliche Lage der Werktätigen zu verbessern. Dieses Dekret erstreckte sich auf die großen Industriezentren in 16 nicht-landwirtschaftlichen Gouvernements.

Am 12. Juni kam die Nachricht vom Verrat der Garnison „Krasnaja Gorka". Und an diesem Tage setzte Iljitsch seine Unterschrift unter eine Verfügung des Rates der Volkskommissare, die eine Erweiterung des Dekrets über die unentgeltliche Kinderspeisung vorsah: Die Zahl der Ortschaften wurde vergrößert, und die Altersgrenzen der Kinder auf sechzehn Jahre festgesetzt. Besonders unduldsam war Wladimir Iljitsch gegen jede Äußerung des Bürokratismus, wenn es galt, den Notleidenden zu helfen. Am 6. Januar 1919 sandte er an die Kursker Tscheka folgendes Telegramm:

Kogan, Mitglied der Kursker Einkaufszentrale, ist unverzüglich in Haft zu nehmen, da er 120 hungernden Arbeitern aus Moskau keine Hilfe gewährte und sie mit leeren Händen abziehen ließ. Die Sache ist in Zeitungen und Flugblättern zu veröffentlichen, damit alle Mitarbeiter der Einkaufszentralen und der Institutionen für Lebensmittelversorgung wissen, dass ein formales und bürokratisches Verhalten zur Sache und Unfähigkeit, hungernden Arbeitern zu helfen, strenge Bestrafung nach sich zieht – Tod durch Erschießen nicht ausgenommen.

Vorsitzender des Rates der Volkskommissare

Lenin."17

Wladimir Iljitsch war stets darum besorgt, dass die Volkskommissariate engen Kontakt zu den Arbeiter- und Bauernmassen und zur Roten Armee hatten.

Ich arbeitete im Volkskommissariat für Bildungswesen, Abteilung Erwachsenenbildung, und konnte ständig beobachten, wie sehr sich Wladimir Iljitsch für die Arbeit dieser Abteilung interessierte. Zu uns kamen viele Menschen: Arbeiter, Arbeiterinnen, Bauern, Frontsoldaten, Lehrer, Parteigenossen. Die Abteilung für Erwachsenenbildung wurde faktisch zu einer Art Treffpunkt: Hierher kamen Parteigenossen, um sich nach Iljitsch zu erkundigen und von ihrer eigenen Arbeit zu berichten; Arbeiter holten sich Ratschläge, wie sie ihre propagandistische und agitatorische Arbeit besser gestalten könnten; Rotarmisten, rote Kommandeure, Arbeiter, die eng mit dem Dorf verbunden waren – sie alle fanden sich bei uns in der Abteilung ein.

Ich erinnere mich an einen Rotarmisten – einen jungen Burschen, der von der Front kam und sich darüber beschwerte, dass sie nicht die Bücher erhielten, die sie brauchten, dass Zeitungen ausblieben, dass sie keine Propagandisten hätten, und verlangte, dass mehr Propagandisten dorthin kämen. Er war natürlich nicht der einzige, der zu uns kam; es kamen viele, sehr viele. Aber an diesen temperamentvollen jungen Burschen erinnere ich mich ganz besonders.

Ein junger Frontkommandeur erzählte ganz erregt davon, wie seine Kompanie, die in irgendeiner Realschule im Westen unseres Landes einquartiert war, mit der „Herren"kultur aufgeräumt hatte. Die Realschulen zählten zu den privilegierten Lehranstalten, und die Rotarmisten vernichteten alle Lehrmittel, zerrissen in kleinste Fetzen Lehrbücher und Hefte, die in der Schule zu finden waren. „Herrengut" – bezeichneten sie es. Andererseits strebten die Rotarmisten mehr denn je nach Wissen. Lehrbücher gab es nicht. Die alten Lehrbücher, die Gebete für Zar und Vaterland enthielten, wurden von den Rotarmisten vernichtet. Sie verlangten Lehrbücher, die Beziehungen zum Leben, zu ihren persönlichen Erlebnissen hatten.

Auf der Konferenz für Erwachsenenbildung, auf der Iljitsch sprach, beschlossen die Delegierten, an die Front zu gehen. Viele sind dann auch diesem Beschluss gefolgt; eine von ihnen, die Genossin Elkina – eine erfahrene Lehrerin – begab sich an die Südfront. Die Rotarmisten verlangten, dass man ihnen das Lesen und Schreiben beibringe. Elkina lehrte sie nach den Fibeln, die, wie üblich, auf analytisch-synthetischer Methode basierten. Da hieß es: „Mascha hole Wasser. Mascha wasche Nina." Und da erklärten die Rotarmisten empört: „Wie lehrst du uns denn? Was soll die Mascha? Was soll das Wasser? Wir wollen das nicht lesen!" Und da begann Elkina eine neue Fibel zusammenzustellen: „Wir sind nicht Sklaven, Sklaven sind wir nicht."

Und die Sache kam in Schwung. Die Rotarmisten lernten schnell Lesen. Das war die Methode, die Lenin immer wieder forderte: Sie hatte Beziehungen zum Leben. Es gab kein Papier für neue Lehrbücher. Das von Elkina verfasste Lehrbuch wurde auf einem gelben Papier gedruckt. Die methodische Anleitung enthielt Hinweise der Verfasserin, wie man ohne Feder und Tinte das Schreiben erlernen könne. Man braucht sich nur daran zu erinnern, wie die Einladung zum I. Kongress der III. Internationale aussah – was Papier und Druck anbelangt –, und dann versteht man, warum Elkina darüber schrieb. Es war nicht so, dass die Rolle des Lehrbuches unterschätzt wurde. Die Rotarmisten machten gute Fortschritte im Lesen mit der Fibel von Elkina.

Der gewaltige Wissensdrang und der gewaltigste Bildungsfortschritt, der zumeist außerhalb der Schule erzielt wird, der riesige Bildungsfortschritt der werktätigen Massen steht außer Zweifel. Dieser Erfolg ist nicht in den Rahmen irgendwelcher Schulen zu spannen, aber er ist gewaltig"18, sagte Iljitsch auf dem VIII. Parteitag.

Unsere Genossen Sergijewskaja, Ragosinski und andere leisteten politische Aufklärungsarbeit an der Front. Von der Front gingen uns zahlreiche Briefe zu. Ich zitiere aus dem Brief eines Leningrader Arbeiters, eines Genossen, mit dem ich vor seiner Abreise an die Front zusammen die politische Aufklärungsarbeit im Stadtbezirk organisiert hatte: „Eben habe ich die Zeitung vom 7. gelesen, die über die Eröffnung der Konferenz für Erwachsenenbildung berichtet", schrieb er. – „Ja, Nadeschda Konstantinowna, wenn man so kreuz und quer durch das ganze Sowjetland reist, so sieht man, wie viel unsere Abteilung noch zu leisten hat und wie wichtig die außerschulische Arbeit ist. Ich befürchte, dass ich keine Gelegenheit haben werde, die gesamte Arbeit der Konferenz zu verfolgen. Augenblicklich befinde ich mich auf der Station Insa und warte auf den Zug nach der Station Nurlat. Ich bin als Inspektor und Instrukteur eingesetzt und habe den Auftrag, die 27. Division zu inspizieren. Es ist ein großes und vor allem neues Arbeitsgebiet, insbesondere für mich. Und die Empfehlung, die mir Wladimir Iljitsch gab, verpflichtet mich, mein Bestes zu geben. Zu dieser Empfehlung meinte ein Genosse: ,Für diesen Brief wäre ich bereit, mein Leben hinzugeben!' Ich schreibe wieder, sobald ich mit meiner Arbeit fertig bin. Übermitteln Sie Wladimir Iljitsch meinen herzlichsten Gruß, und auch allen anderen Bekannten. Feldarmee, Politische Abteilung."

Wir erhielten Briefe von der Front, es kamen Leute zu uns, und Iljitsch bat, man möchte Genossen, die mit interessanten Fragen kommen, zu ihm schicken.

Unsere Abteilung für Erwachsenenbildung schenkte der Aufklärungsabteilung unter den Bauern nicht weniger Aufmerksamkeit.

Seit langem schon wurde die Frage der Propaganda unter den Bauern von Iljitsch aufgeworfen. Es ist bekannt, wie sehr er sich um die Herausgabe populärer Schriften, Artikelsammlungen und um das Erscheinen einer populären Zeitung für das Dorf („Bednota") kümmerte.

Bereits am 12. Dezember 1918 erließ der Rat der Volkskommissare ein Dekret „Über die Mobilisierung der Lese- und Schreibkundigen und die Entfaltung der Propaganda für die Sowjetmacht". Das Dekret verlangte, dass in allen Arbeitervierteln und insbesondere in den Dörfern alle Dekrete sowie besonders wichtige Artikel und Broschüren verlesen werden sollten. Diese Aufgabe fiel in erster Linie unserer Abteilung für Erwachsenenbildung zu. Iljitsch verlangte das nachdrücklichst von uns. Wir nahmen uns dieser Sache an, und das Vorlesen weckte den Wissensdurst. „Wir werden uns für keine Seite entscheiden, werden keiner Partei beitreten", sagten die Bauern des Kreises Arsamas unserem Agitator, der zu ihnen gekommen war. – „Wenn wir erst mal lesen können – dann werden wir alles selbst lesen, niemand wird uns dann hinters Licht führen können."

Auf dem VIII. Parteitag wurde eine Sektion für die Arbeit auf dem Lande geschaffen, in deren Namen Iljitsch sprach. Der Sektion gehörten 66 Delegierte an. In die Kommission zur Ausarbeitung der Thesen wurden gewählt: Sereda, Lunatscharski, Mitrofanow, Miljutin, Iwanow, Pachomow, Warejkis, Borissow und andere.

Das alles zeugt davon, welche Aufmerksamkeit die Partei dieser Frage zuwandte, welche Aufmerksamkeit Lenin ihr schenkte.

Ich weiß noch, wie aufmerksam Iljitsch zuhörte, wenn ich ihm berichtete, was wir in der Abteilung für Erwachsenenbildung über das Leben der Bauern und über ihre Einstellung zu der einen oder anderen Frage erfahren hatten.

Eines Tages erschien bei uns ein Bauer aus dem Moskauer Gouvernement, um Literatur zu holen. Er war auf einem Bau beschäftigt. Er erzählte uns von den Spekulationen, die in der Zeit vor der Revolution bei Armeelieferungen Gang und Gäbe waren, von den großen Geschäftemachern, die sich dabei gesundstießen. Wir schickten ihn zu Anatoli Wassiljewitsch. Er kam zurück und erzählte: „Er hat mich gut aufgenommen. Ließ mich auf dem Diwan sitzen, selbst aber ging er auf und ab, und sprach so gescheit. Er gab mir Bücher. Versprach mir auch noch ansehnliche Dinge (Anschauungsmittel. N. K.). Ich aber fürchtete mich, sie zu nehmen. Er sagte zwar, dass sie nichts kosteten, und doch habe ich Angst, man könnte nachher diese ansehnlichen Dinge mit Steuern belegen." Schließlich nahm er doch allerlei Lehrmittel und Plakate mit. Er ist noch so manches Mal zu uns in die Abteilung für Erwachsenenbildung gekommen. Wir gaben ihm den Spitznamen „ansehnliche Dinge". Es ist kennzeichnend für Iljitsch, dass er folgender Begebenheit besonderes Interesse entgegenbrachte. Derselbe Bauarbeiter erzählte, dass in seinem Dorf die Lehrerin kein Gehalt bekomme und doch die Arbeit in der Schule nicht aufgegeben habe, sie beschäftige sich noch abends mit den Erwachsenen und lehre sie lesen und schreiben. „Ansehnliche Dinge" erzählte noch, dass er dieser Lehrerin Schuhe gekauft hätte, denn ihre alten wären schon ganz abgetragen gewesen.

1919 gab es noch viele Dörfer, die, von der Welt abgeschnitten, ein dumpfes Dasein führten. An Radio war damals noch nicht zu denken, die Bevölkerung – in ihrer Mehrheit Analphabeten (in der Heimat Iljitschs, im Gouvernement Simbirsk, waren 1919 noch 80 Prozent der Bevölkerung Analphabeten) – las keine Zeitungen, es gab sie auch nicht, es mangelte an Papier, die Zeitungen hatten ganz minimale Auflagen, ins Dorf kamen sie schon gar nicht. Der Buchversand war nicht organisiert, die Buchläden schickten der Teufel weiß was in die einzelnen Orte. Das Dorf lebte von Gerüchten, und es brannte darauf zu erfahren, was in der Welt geschah.

Iljitsch hörte mir aufmerksam zu, wenn ich ihm erzählte, mit welch naiven Fragen die Bauern sich an uns wandten, wie unglaublich wenig sie über die praktischen Maßnahmen der Sowjetmacht, über ihre Struktur, über ihre eigenen Rechte und Pflichten wussten, wie unwissend das Dorf war; ich erzählte ihm von den naiven, von Unwissenheit strotzenden Briefen, die von den Schreibkundigen auf dem Dorfe in einer verschnörkelten Kanzleischrift im Auftrage der Analphabeten geschrieben wurden, wobei diese freiberuflichen KanzIeischreiber den Bauern noch ganz schönes Geld dafür abknöpften.

Ich zeigte Iljitsch diese Briefe. Mit großem Interesse sah er sie sich an. Er gab den Rat, Auskunftsbüros bei den Lesestuben und Volkshäusern einzurichten. Er hatte schon Erfahrungen auf diesem Gebiet aus der Zeit seiner Verbannung im Dorfe Schuschenskoje, als an Sonntagen Bauern aus den Nachbardörfern zu ihm kamen und sich von ihm beraten ließen. Im Dezember 1918 entwarf Iljitsch Richtlinien für die Leitung der Sowjetinstitutionen. Darin schrieb er über die Notwendigkeit, ähnliche Büros im ganzen Lande durch die verschiedensten behördlichen Stellen einzurichten. In diesem Entwurf heißt es: „Diese Auskunftsbüros müssen nicht nur alle erbetenen Auskünfte, mündliche wie schriftliche, geben, sondern auch gebührenfrei schriftliche Eingaben für Analphabeten und solche Personen aufsetzen, die nicht imstande sind, selbst eine verständliche Eingabe abzufassen."19

In jeder Sowjetinstitution muss nicht nur im Gebäude selbst, sondern auch außen, an Stellen, die für jedermann ohne Passierschein zugänglich sind, die genaue Zeit für den Publikumsverkehr bekanntgegeben werden. Die Räumlichkeiten für den Publikumsverkehr müssen so gelegen sein, dass zu ihnen freier Zutritt, unbedingt ohne jeden Passierschein, besteht.

In jeder Sowjetinstitution muss ein Buch angelegt werden, in das in aller Kürze der Name des Antragstellers, der Inhalt seines Anliegens und die Weiterleitung der Sache einzutragen sind.

An Sonn- und Feiertagen müssen Sprechstunden festgesetzt werden."20

Der „Entwurf von Richtlinien für die Leitung der Sowjetinstitutionen" wurde erst 1928, zehn Jahre später, veröffentlicht; aber unsere Abteilung für Erwachsenenbildung kannte Lenins Richtlinien; auf Iljitschs Drängen machte sie sich sofort daran, Auskunftsstellen bei den Lesestuben einzurichten. Die Leiter der Dorflesestuben gewannen durch diese Arbeit Autorität und wuchsen selbst mit dieser Arbeit. Im Jahre 1919 hatten die Leiter der Lesestuben bestimmten Einfluss. Die Auskunftsarbeit war mit der Propaganda für die Sowjetmacht und mit der Propagierung der von ihr erlassenen Dekrete verbunden.

Wladimir Iljitsch dachte nicht nur an Auskunftsbüros. Am 12. April 1919 wurde ein Dekret, unterschrieben von Kalinin, Lenin und Stalin, über die Reorganisation der Staatlichen Kontrolle (Genosse Stalin war zu jener Zeit Volkskommissar für die Staatliche Kontrolle) veröffentlicht. Hierin hieß es:

Der alte Bürokratismus ist zerschlagen, die Bürokraten aber sind geblieben. Sie haben in die Sowjetinstitutionen den Geist des Konservatoriums und des bürokratischen Schlendrians, den Geist der Misswirtschaft und der Undiszipliniertheit mitgebracht.

Die Sowjetmacht erklärt, dass sie den Bürokratismus nicht dulden wird, in welcher Form er auch immer auftreten sollte, dass sie ihn aus allen Sowjetinstitutionen mit den entschiedensten Mitteln austreiben wird.

Die Sowjetmacht erklärt, dass nur die Heranziehung der breiten Massen der Bauern und der Arbeiter zur Verwaltung des Landes und die umfassende Kontrolle über die Arbeit der Verwaltungsorgane die Mängel des Apparates beseitigen, die Sowjetinstitutionen vom bürokratischen Schlamm reinigen und den sozialistischen Aufbau vorantreiben wird."

Am 4. Mai 1919 wurde ein Dekret über die Bildung eines Zentralbüros beim Volkskommissariat für die Staatliche Kontrolle zur Entgegennahme von Beschwerden und Gesuchen erlassen, am 24. Mai über die Bildung von örtlichen Abteilungen dieses Zentralbüros.

Iljitsch verlangte den entschiedensten Kampf gegen den Bürokratismus im Sowjetapparat.

Im Russland der sechziger Jahre hatte die schöne Literatur den Bürokratismus zur Zielscheibe ihres Spottes gemacht, besonders zeichneten sich dabei die Poeten der „Iskra" (die Poeten aus dem Kreise der Tschernyschewski-Anhänger) aus. Die „Iskra“-Poeten (Kurotschkin, Schulew und andere), die den Bürokratismus in seinen vielfältigen Erscheinungsformen geißelten, den Schlendrian und die Bestechlichkeit anprangerten, hatten großen Einfluss auf unsere Generation. Die Gedichte der „Iskra"-Poeten, die verschiedensten Anekdoten über den Bürokratismus bildeten eine eigenartige Intellektuellen-Folklore der sechziger Jahre. Anna Iljinitschna und ich dachten in den letzten Jahren des Öfteren an diese Literatur; Anna Iljinitschna hatte ein fabelhaftes Gedächtnis. Im Hause Uljanow fand diese Literatur großen Anklang. Die Satire der damaligen Zeit hatte ihr Werk getan, sie hat unserer Generation geholfen, mit der Muttermilch den Hass gegen die bürokratische Ordnung einzusaugen. Den Bürokratismus mit Stumpf und Stiel auszurotten und aus dem Sowjetland zu bannen – danach strebte Iljitsch.

Wladimir Iljitsch selbst verhielt sich zu den Menschen ganz besonders aufmerksam, und ebenso aufmerksam las er die Briefe, die an ihn gerichtet waren. Die im Lenin-Sammelband XXIV veröffentlichten Dokumente sind ein beredtes Zeugnis dafür.

Viele Beschwerden erhielt Iljitsch, und er beantwortete sie persönlich.

Am 22. Februar 1919 sandte Iljitsch an das Exekutivkomitee des Gouvernements Jaroslaw folgendes Telegramm:

Der Sowjetangestellte Danilow beschwert sich, die Tscheka habe ihm drei Pud Mehl und andere Lebensmittel weggenommen, die er für seine vierköpfige Familie durch eigene Arbeit im Laufe von Jahren erworben hatte. Strengste Untersuchung ist vorzunehmen. Über das Ergebnis ist mir telegrafisch Mitteilung zu machen.

Vorsitzender des Rates der Volkskommissare

Lenin."21

Iljitsch telegrafierte an das Exekutivkomitee des Gouvernements Tscherepowez:

Prüfen Sie die Beschwerde der Jefrossinja Andrejewna Jefimowa, einer Soldatenfrau aus dem Dorfe Nowosselo, Amtsbezirk Pokrowsk, Kreis Belosersk. Sie beklagt sich darüber, dass man ihr Getreide weggenommen und es in den gemeinsamen Speicher geschafft habe, obwohl ihr Mann sich schon das fünfte Jahr in Gefangenschaft befinde und ihre Familie, bestehend aus drei Personen, ihres Ernährers beraubt sei. Von den Ergebnissen der Nachprüfung und Ihren Maßnahmen bitte ich, mir Mitteilung zu machen.

Vorsitzender des Rates der Volkskommissare

Lenin."22

Man könnte Hunderte ähnlicher Beispiele anführen. Diese hier haben sich im Archiv des Lenin-Instituts erhalten, und wie viele haben sich nicht erhalten! Als ich im Juni 1919 für einige Monate wegfuhr, um mit dem Agitationsdampfer „Krasnaja Swesda" Ortschaften an der Wolga und Kama zu bereisen, schrieb mir Iljitsch: „Die an Dich gerichteten Briefe, in denen manchmal um Hilfe nachgesucht wird, lese ich und bin bemüht, mein möglichstes zu tun." Wenn ein Mensch seine ganzen Gedanken auf irgendeine große entscheidende Frage richten muss, ist es äußerst anstrengend, sich Dutzende Male am Tage den verschiedensten kleinen Fragen zuzuwenden, und es macht besonders müde. Nur auf seinen Spaziergängen oder während der Jagd pflegte Iljitsch sich völlig seinen Gedanken hinzugeben. Die Genossen erinnern sich, dass Iljitsch während der Jagd und auf Spaziergängen plötzlich, ganz unvermittelt und überraschend für sie, irgendeinen Satz aussprach, der seine Gedanken verriet, die ihn in diesem Moment beschäftigten.

So manchmal sagen die Genossen, wenn sie daran zurückdenken, wie sich Iljitsch mit „Kleinigkeiten" abgeben musste: „Wir haben Iljitsch zu wenig geschont, haben ihn zu viel mit Kleinigkeiten in Anspruch genommen, wir hätten ihn nicht mit all diesen kleinen Dingen beunruhigen sollen." Das ist wohl wahr, aber Iljitsch war der Meinung, dass auch die Kleinigkeiten Beachtung verdienen und dass man ihnen besondere Aufmerksamkeit schenken müsse, denn gerade das macht den Sowjetapparat zu einer wahrhaft demokratischen Institution, nicht zu einer formal-demokratischen, sondern zu einer proletarisch-demokratischen.

Und in gleicher Weise wie Iljitsch früher beim Aufbau der Partei durch sein eigenes Beispiel den Genossen zeigen wollte, wie man an die Fragen der Agitation, der Propaganda, der Organisation herangehen müsse, so war er jetzt, an der Spitze des Sowjetstaates stehend, bemüht, zu zeigen, wie man im Staatsapparat arbeiten, wie man jeden Bürokratismus im Staatsapparat ausrotten muss, was zu tun sei, um den Sowjetapparat den Massen nahe zu bringen und das Vertrauen der Massen zu gewinnen. In dieser Richtung ist folgendes Telegramm vom Juni 1919 an das Exekutivkomitee des Nowgoroder Gouvernements kennzeichnend:

Bulatow ist allem Anschein nach verhaftet worden, weil er sich bei mir beschwert hat. Ich erkläre warnend, dass ich dafür die Vorsitzenden der Gouvernementsexekutivkomitees, der Tscheka und die Mitglieder der Exekutivkomitees verhaften lassen und mich für ihre Erschießung einsetzen werde. Warum ist meine Anfrage nicht sofort beantwortet worden?

Vorsitzender des Rates der Volkskommissare Lenin.'"23

Iljitsch war ebenso bemüht, jeden Bürokratismus innerhalb des Apparates selbst auszurotten; er verlangte aufmerksames Verhalten zu jedem einzelnen Mitarbeiter, genaue Kenntnis der Menschen, die in den einzelnen Institutionen arbeiteten, Hilfe in der Arbeit und die Schaffung entsprechender Arbeitsbedingungen. Iljitsch erkundigte sich ständig nach meinen Mitarbeitern, er kannte sie, gab mir Ratschläge, wie ich den einen oder andern am besten einsetzen könnte. Er interessierte sich stets dafür, wie ich für sie sorge, wie es um ihre Ernährung bestellt sei, wie es ihren Kindern ging. Manchmal stellte es sich heraus, dass er meine Mitarbeiter, obwohl er sie nie gesehen hatte, gründlicher erforscht hatte und besser kannte als ich.

Es gibt eine ganze Reihe von Notizen und Aufzeichnungen, die darüber Aufschluss geben, wie sehr sich Iljitsch um die Arbeiter seines Apparates kümmerte.

Am 8. März, in der Sitzung des Rates der Volkskommissare, schrieb er dem Sekretär bezüglich des Mitgliedes des Kollegiums des Statistischen Zentralamtes, Chrjaschtschowa, folgendes:

Wenn Chrjaschtschowa weit wohnt und den Weg zu Fuß zurücklegen muss, so ist sie zu bedauern.

Bringen Sie ihr bei Gelegenheit taktvoll bei, dass sie an den Tagen, wo es keine besonderen statistischen Arbeiten gibt, früher nach Hause gehen oder sogar ganz wegbleiben kann."24

Besonders sorgte sich Iljitsch um die materielle Lage der Mitarbeiter. Es gab eine Zeit, da hatten die verantwortlichen Mitarbeiter und ihre Familien nicht genug zu essen. Es stellte sich heraus, dass A. D. Zjurupa, Markow aus dem Volkskommissariat für Verkehrswesen und andere Hunger litten.

Am 8. August 1919 richtete Wladimir Iljitsch an das Orgbüro des Zentralkomitees einen Brief:

Habe eben noch aus zuverlässiger Quelle erfahren, dass die Kollegiumsmitglieder hungern (z. B. Markow im Volkskommissariat für Verkehrswesen u. a.). Verlange aufs energischste, dass das ZK 1. dem Zentralexekutivkomitee Anweisung gibt, allen Kollegiumsmitgliedern (und denen, die eine ähnliche Stellung bekleiden) eine einmalige Beihilfe in Höhe von 5000 Rubeln zu gewähren;

2. sie alle sind für dauernd in die Höchstgruppe eines Spezialisten einzustufen.

Es steht doch wahrhaftig sonst übel: hungern selbst und dazu ihre Familien!!

100-200 Menschen müssen zusätzliche Rationen erhalten."25

Ende April begann der Umschwung an der Ostfront. Die Rote Armee ging zum Angriff über. Sie entriss Ufa und eine Reihe anderer Städte den Weißen und befand sich im Vormarsch auf Jekaterinburg und Perm. Ende Juni wurde der Dampfer „Krasnaja Swesda" zu Agitationszwecken ausgerüstet. Er sollte die Wolga und die Kama entlangfahren, bis es möglich würde, wieder die Wolga abwärtszufahren, und die einzelnen von den Weißen befreiten Ortschaften anlaufen, sobald es der Verlauf des Kampfes gestattete. Der Dampfer „Krasnaja Swesda" hatte die Aufgabe, in diesen Ortschaften zu agitieren, die auf dem XIII. Parteitag beschlossene Linie durchzuführen und die Sowjetmacht überall zu festigen. Auf dem Dampfer gab es Filmvorführungen, eine Druckerei, Radio, eine große Anzahl von Büchern. Auf dem Dampfer befanden sich Vertreter zahlreicher Kommissariate und der Gewerkschaften (ich war vom Volkskommissariat für Bildungswesen).

Vor der Abreise unterhielt ich mich lange mit Iljitsch darüber, was zu tun sei und welche Hilfe die Bevölkerung benötige, welche Fragen in den Mittelpunkt gestellt werden müssten, worauf das besondere Augenmerk zu richten sei. Iljitsch wäre am liebsten selbst mitgefahren, aber er konnte ja seine Arbeit keinen Augenblick verlassen. Wir haben uns die ganze Nacht vor meiner Abreise unterhalten. Iljitsch brachte uns an die Bahn und bat, ihm regelmäßig zu schreiben und ihn über die direkte Leitung zu unterrichten. Ich bin mit dem Dampfer die Wolga und die Kama entlanggefahren bis nach Perm.

Vor jeder Anlegestelle berieten wir gemeinsam, was zu machen sei, worauf es besonders ankäme; sobald wir den Ort verließen, berichteten wir über die geleistete Arbeit, tauschten unsere Eindrücke aus. Mir hat diese Reise sehr viel gegeben. Ich hatte Iljitsch eine Menge zu erzählen, und mit welchem Interesse hörte er mir zu, welche Aufmerksamkeit schenkte er jeder Kleinigkeit!

Wir hielten während unserer Reise unzählige Meetings ab, sprachen vor Tausenden von Menschen in den Versammlungen des Bondjusch-Werks, des Wotkin-Werks, in Motowilicha, in Kasan, Perm, Tschistopol, Werchnije Poljani und anderen. Unserer Dampferzeitung zufolge bin ich 34mal in Versammlungen aufgetreten. Ich bin keine Rednerin, aber ich habe vor Arbeitern und Arbeiterinnen, vor Rotarmisten und Bauern darüber gesprochen, was sie beschäftigte, ihnen naheging, sie interessierte. Überall dort, wo die Weißen gewesen waren, lebte in der Bevölkerung grenzenloser Hass ihnen gegenüber. Nie werde ich die Versammlung im Wotkin-Werk vergessen; hier hatten die Weißen fast alle Jugendlichen, „die verfluchte bolschewistische Brut", wie sie sie nannten, erschossen. Und alle Versammlungsteilnehmer – es war eine tausendköpfige Menschenmenge versammelt – schluchzten laut, als wir das Lied „Unsterbliche Opfer…" sangen. Es gab kaum eine Familie, die nicht einen Jugendlichen zu beklagen hatte. Auch die Schilderungen der Bevölkerung des Kamagebiets – es waren vorwiegend Mittelbauern –, wie Partisaninnen und Lehrerinnen zu Tode geprügelt wurden, ihre Berichte über die ungeheuren Gewalttaten und zahllosen Vergewaltigungen werde ich nie vergessen.

Das Volk war noch rückständig und unwissend: Die Bäuerinnen trauten sich nicht, die Kinder in die Krippe zu geben. Unter der Lehrerschaft wurde eine wüste Hetze gegen die Sowjetmacht getrieben. Ich war Zeugin einer solchen Agitation in Tschistopol. Doch die Verbundenheit der Dorfschullehrer und -lehrerinnen mit der Bauernmasse, mit der Masse der Arbeiter veranlasste viele von ihnen, mit den Bauern und mit den Arbeitern zu gehen. Im Ischewsker Werk waren von 96 Ingenieuren 95 mit Koltschak geflüchtet. Die Frau eines Ingenieurs, eine ehemalige Mitschülerin von mir am Gymnasium, war hier als Lehrerin tätig; sie war ihrem Mann nicht gefolgt, sondern war bei den Roten geblieben. „Wie sollte ich die Arbeiter verlassen?" sagte sie mir beim Wiedersehen.

Die damaligen Spitzen der Intelligenz gingen mit den Weißen, traten auf die Seite Koltschaks; unsere Hauptagitatoren waren Arbeiter, Arbeiterinnen und Rotarmisten. Sie standen den Massen sehr nahe. Bei der 2. Armee gab es einen sehr eigenartigen Agitator: bis zur Oktoberrevolution war er Pope, und nach der Oktoberrevolution agitierte er für die Bolschewiki. Auf einem von 5000 Rotarmisten besuchten Meeting in Perm sprach er von der Verbundenheit der Sowjetmacht mit den Massen: „Die Bolschewiki – das sind die Apostel von heute." – „Und wie steht es mit der Taufe?" fragte ihn ein Rotarmist. „Um darauf ausführlich einzugehen, braucht man zwei Stunden; um es aber kurz zu sagen – es ist der reinste Schwindel!" antwortete er. Sehr überzeugend sprachen die roten Kommandeure, die aus der Arbeiterschaft hervorgegangen waren. Ich berichtete Iljitsch von diesen Meetings und gab ihm die Worte eines Kommandeurs wieder: „Sowjetrussland ist unbesiegbar wegen seiner Quadratur und Ausdehnung." Wir lachten darüber; aber später, nach dem Sturz der Ungarischen Republik, meinte Iljitsch, dass der Kommandeur eigentlich Recht hatte: Während des Bürgerkrieges hatten wir Raum genug, um uns zurückzuziehen.

In Jelabug besuchte mich auf dem Dampfer der Genosse Asin – ein roter Kommandeur. Seiner Abstammung nach war er Kosak, er kannte keine Gnade gegenüber den Weißen und den Überläufern und zeichnete sich durch beispiellose Kühnheit aus. Mit mir sprach er in der Hauptsache von seiner Sorge um die Rotarmisten. Die Rotarmisten liebten ihren Kommandeur. In diesem Jahr erhielt ich von einem im Kampf gegen Koltschak unter seinem Kommando stehenden Rotarmisten einen Brief. Aus jeder Zeile dieses Briefes spricht die heiße Liebe zu Asin! Vor kurzem erzählte mir das Mitglied des Zentralexekutivkomitees Genosse Pastuchow davon, wie Asin mit einer Abteilung roter Reiter, die ihren Pferden rote Bänder in die Mähnen geflochten hatte, in das damals von den Weißen besetzte Ischewsk eindrang und um das Gefängnis kämpfte, wo die zum Tode Verurteilten saßen (darunter der 70jährige Vater von Pastuchow und sein jüngster, 11jähriger Bruder; zwei andere Brüder Pastuchows waren an der Front gefallen). Später fiel Genosse Asin im Gebiet der Unteren Wolga den Weißen in die Hände und wurde von ihnen zu Tode gemartert.

Von großer Bedeutung war die Agitationsreise des Dampfers „Krasnaja Swesda" in Tatarien, wo die Bevölkerung aus allen Kräften die Sowjets unterstützte.

Ausführlich fragte mich Wladimir Iljitsch über alles aus; besonders interessierte ihn das, was ich von der Roten Armee erzählen konnte, von der Stimmung der Bauern, von der Stimmung der Tschuwaschen und der Tataren, von dem wachsenden Vertrauen der Massen zur Sowjetmacht.

Die zweite Hälfte des Jahres 1919 war noch schwerer als die erste. Besonders schwer waren die Monate September, Oktober und der Anfang November. Der Bürgerkrieg breitete sich aus. Koltschak war geschlagen, aber die Weißen hatten sich zum Ziel gesetzt, Moskau und Petrograd – die Zentren der Sowjetmacht, zu erobern. Vom Süden drang Denikin vor, dem es gelungen war, wichtige Punkte in der Ukraine zu besetzen; vom Westen marschierte Judenitsch auf Petrograd und war schon fast bis an die Tore der Stadt vorgedrungen. Die Erfolge der Weißen ermutigten die Feinde, die sich verborgen hielten. Ende November wurde in Petrograd eine konterrevolutionäre Organisation aufgedeckt, die mit Judenitsch in Verbindung stand und von der Entente finanziell unterstützt wurde.

Solange Denikin und Judenitsch siegreich waren, erhielt Wladimir Iljitsch unzählige anonyme Briefe, die Schmähungen, Drohungen und Karikaturen enthielten. Die Intelligenz schwankte noch; auf die Seite der Sowjetmacht waren nur die Fortschrittlichsten unter ihnen, mit Timirjasew an der Spitze, übergegangen. Die Anarchisten hatten am 25. September mit Unterstützung der Sozialrevolutionäre im Gebäude des Moskauer Komitees der KPR(B) in der Leontjewski-Gasse eine Bombenexplosion ausgelöst, der eine Reihe unserer Genossen zum Opfer gefallen war.

Ringsum wüteten Hunger und Not. Die Rote Armee musste gestärkt werden und ihr Kampfgeist erhalten bleiben; es mussten Pläne für die Kriegsfront durchdacht, die Versorgung der Roten Armee, des Hinterlandes und der Arbeiterzentren mit Brot gesichert werden; eine breite Aufklärungs- und Agitationsarbeit war zu leisten; es galt, den ganzen Verwaltungsapparat auf neue Weise aufzubauen – nicht auf alte Weise, nicht bürokratisch, sondern auf neue Weise, auf sowjetische Weise –, neue Kader mussten ausgewählt und geschult werden, in jede Kleinigkeit musste man eindringen.

Die Siegeszuversicht verließ Iljitsch keinen Augenblick, doch arbeitete er von früh bis spät, und die großen Sorgen raubten ihm den Schlaf. Wie oft sprang er mitten in der Nacht auf, ging ans Telefon, um zu prüfen, ob die eine oder andere Anordnung durchgeführt worden war, oder es kam ihm in den Sinn, noch irgendein zusätzliches Telegramm abzusenden. Tagsüber war er kaum zu Hause, die meiste Zeit verbrachte er in seinem Arbeitszimmer: immerzu empfing er Leute. In dieser heißen Zeit sah ich ihn weniger als sonst, wir machten kaum noch Spaziergänge, ich genierte mich, ihn ohne triftigen Grund in seinem Arbeitszimmer aufzusuchen: Ich wollte ihn nicht bei der Arbeit stören.

Die Getreidefrage war der wundeste Punkt. Unter den Bedingungen der damaligen Zeit, den Bedingungen einer zersplitterten kleinbürgerlichen Wirtschaft, der maßlosen Spekulation, war es einfach unmöglich, die notwendige Getreidemenge aufzukaufen. Eine bestimmte Planmäßigkeit auf diesem Gebiete musste erreicht werden, eine Reihe obligatorischer Gesetze eingeführt und für die Durchführung dieser Aktion die geeigneten Menschen mobilisiert werden. Und es war kein Zufall, dass am 17. Januar 1919 Alexander Dmitrijewitsch Zjurupa zum Volkskommissar für Ernährungswesen ernannt wurde. Wir kannten ihn schon seit langem, ich war mit ihm zusammen in der Verbannung in Ufa.

Sein Vater war ein kleiner Angestellter (Sekretär der Stadtverwaltung) in Aljoschki, im Taurischen Gouvernement. Alexander Dmitrijewitsch wurde 1870, im gleichen Jahr wie Wladimir Iljitsch, geboren. Die Familie bestand aus acht Personen, der Vater schied früh aus dem Leben, die Mutter verdiente mit Nähen den Lebensunterhalt, Alexander Dmitrijewitsch selbst gab schon in seinen frühen Jugendjahren Privatstunden. Er besuchte die Volksschule, dann die städtische Schule und eine landwirtschaftliche Fachschule. Er war von Beruf Agronom, kannte sich gut in der Landwirtschaft aus, und auch das Leben der Bauern war ihm vertraut. 1893 kam er erstmalig als Revolutionär ins Gefängnis, 1895 erfolgte seine zweite Verhaftung. Von 1897 an arbeitete er als Statistiker in Ufa. Dort gehörte er einer Gruppe von Sozialdemokraten an, die eine rege Tätigkeit unter den Eisenbahnarbeitern und den Arbeitern der im Umkreis befindlichen Betriebe entwickelte; wir haben damals zusammen diese Arbeit geleistet. In Ufa traf er zweimal mit Iljitsch zusammen, der mich hier besuchte; danach blieben wir die ganze Zeit im Briefwechsel. Zjurupa schrieb für die „Iskra". Wir kannten ihn als einen überzeugten, leidenschaftlichen Revolutionär.

Im Jahre 1901 organisierte er in Charkow den Streik anlässlich des 1. Mai, 1902 arbeitete er in Tula in der gleichen Gruppe, der Sofja Nikolajewna Smidowitsch und Weressajew, der Bruder Lunatscharskis, angehörten. 1902 wurde Alexander Dmitrijewitsch in Samara verhaftet, 1905 arbeitete er wieder in Ufa.

1914 begann Alexander Dmitrijewitsch wieder aktiv an der revolutionären Arbeit der Bolschewiki teilzunehmen. Iljitsch, der ein guter Menschenkenner war, schätzte Alexander Dmitrijewitsch sehr. Zjurupa war ein außerordentlich bescheidener Mensch, kein Redner, auch kein Schriftsteller, aber dafür ein ausgezeichneter Organisator, ein Mann der Praxis, der seine Sache verstand und das Dorf gut kannte. Zugleich war er ein hervorragender Revolutionär, der keine Schwierigkeiten fürchtete, ganz in der Arbeit aufging und sich völlig dem Kampf für die Sache hingab, deren Bedeutung er bis ins Letzte erkannt hatte. Er arbeitete unter Iljitschs Anleitung, der ihn schätzte, um seine Gesundheit und um seine Erholung besorgt war. Wenn Iljitsch ihn müde und abgearbeitet sah, rügte er ihn – halb im Scherz, halb im Ernst –, dass er das „Staatseigentum" (so bezeichneten wir in unserem Hausjargon die der Sache ergebenen Kommunisten) nicht genügend hüte. Iljitsch liebte Alexander Dmitrijewitsch auch als guten Kameraden.

Die Ernährungspolitik der Sowjetmacht bestand damals in der Schaffung des Getreidemonopols, das heißt in der Unterbindung jedes freien Handels mit Getreide; alle Überschüsse an Getreide waren dem Staat zu festen Preisen abzuliefern, keinerlei Überschüsse durften verheimlicht, alle Überschüsse mussten genau erfasst werden, und das Getreide musste nach vorherigen genauen Berechnungen aus den Überschussgebieten in die Gebiete, die Mangel litten, transportiert werden; es mussten Vorräte an Getreide für den Verbrauch und für die Aussaat sichergestellt werden. Im Grunde genommen handelte es sich hierbei um eine Teilaufgabe der Planwirtschaft, der sozialistischen Wirtschaft, aber die Maßnahmen mussten unter Bedingungen durchgeführt werden, da die Umgestaltung der Wirtschaft noch nicht vollzogen war und die Bauernwirtschaft auf Einzelwirtschaften basierte.

Am 29./30. Juli 1919 tagte eine vom Moskauer Sowjet und dem Moskauer Gewerkschaftsrat einberufene Konferenz der Fabrikkomitees, der Vertreter der Gewerkschaftsleitungen, der Vertrauensleute der Zentralen Moskauer Arbeitergenossenschaft und des Rates der Gesellschaft „Kooperation" zur Gründung einer einheitlichen Konsumgenossenschaft in Moskau. Auf der Konferenz waren auch Menschewiki vertreten sowie Verfechter einer unabhängigen Genossenschaft. Am 30. Juli sprach Iljitsch auf dieser Konferenz: Er wünschte der Konferenz Erfolg in ihrer Arbeit, betonte aber nachdrücklich, dass alles davon abhängt, ob es uns gelingen wird, im Bürgerkrieg zu siegen und die Umgestaltung der gesamten Gesellschaftsordnung vorzunehmen, denn nur die neue Ordnung wird die Genossenschaft auf den richtigen Weg bringen.

Er sprach davon, dass die sozialistische Oktoberrevolution erst vor zwanzig Monaten stattfand und dass es in dieser Zeit natürlich nicht möglich gewesen sei, die alte Ordnung auf neue Weise umzugestalten. Iljitsch sprach davon, dass man nicht nur mit den alten Einrichtungen Schluss machen, nicht nur gegen die Gutsbesitzer und Kapitalisten kämpfen müsse, dass es auch gelte, alle Lebensgewohnheiten zu überwinden, die unter dem Kapitalismus, unter den Bedingungen der kleinbäuerlichen Wirtschaft entstanden sind, Gewohnheiten, die im Laufe von Jahrhunderten in jeden Kleineigentümer eingegangen sind.

Jetzt, da die Kolchosordnung zur herrschenden Wirtschaftsform geworden ist, wird jedem klar, was Lenin damals gemeint hat: Er sprach von der Ablösung der Einzelwirtschaft durch die kollektive Wirtschaft. Er sprach davon, dass die letzte entscheidende Schlacht zwischen dem Kapitalismus und dem Sozialismus im Gange sei und dass nur der Sieg des Sozialismus für immer Hunger, Ausbeutung und Bereicherung des einen auf Kosten des anderen beseitigen könne. Er sprach davon, dass die Bolschewiki jetzt den sozialistischen Weg der Getreidebeschaffung zur Versorgung der Roten Armee und der Arbeiterbevölkerung beschritten haben. Im ersten Jahr gelang es nur, 30 Millionen Pud Getreide zu beschaffen.

Im folgenden Jahr", sagte Iljitsch, „haben wir über 107 Millionen Pud beschafft, obgleich wir uns sowohl in militärischer Beziehung als auch in Bezug auf den freien Zugang zu den getreidereichsten Gebieten in diesem zweiten Jahr in schwierigeren Verhältnissen befanden, denn nicht nur Sibirien, sondern auch die Ukraine sowie ein großer Teil des fernen Südens waren für uns unzugänglich geworden. Trotzdem hat sich, wie Sie sehen, unsere Getreidebeschaffung verdreifacht. Vom Standpunkt der Arbeiten des Ernährungsapparates ist das ein großer Erfolg. Aber vom Standpunkt der Sicherstellung von Getreide für die nicht-landwirtschaftlichen Gebiete ist das sehr wenig, denn wie eine genaue Untersuchung der Ernährungsverhältnisse in diesen nicht-landwirtschaftlichen Gebieten, insbesondere der Arbeiterbevölkerung in den Städten, zeigt, bekommen die Arbeiter im Frühjahr und im Sommer dieses Jahres in den Städten nur annähernd die Hälfte der Lebensmittel vom Kommissariat für Ernährungswesen, während sie das übrige auf dem freien Markt, auf der Sucharewka und bei den Spekulanten aufzutreiben gezwungen sind, wobei der Arbeiter für die erste Hälfte ein Zehntel seiner Gesamteinkünfte, für die zweite aber neun Zehntel bezahlt. Die Herren Spekulanten nahmen, wie das zu erwarten war, dem Arbeiter das Neunfache des Preises, den der Staat für das beschaffte Getreide nimmt. Nimmt man diese genauen Angaben über unsere Ernährungslage, dann werden wir sagen müssen, dass wir zur Hälfte, mit einem Bein, im alten Kapitalismus stehen und nur zur Hälfte uns mit Mühe aus diesem Morast, aus diesem Sumpf der Spekulation herausgearbeitet und den Weg einer wirklich sozialistischen Getreidebeschaffung (von mir hervorgehoben. N. K.) beschritten haben, wo das Getreide aufgehört hat, eine Ware zu sein, aufgehört hat, ein Spekulationsobjekt sowie Ursache für Zank, für Kampf und für die Verelendung vieler zu sein."26 Und weiter führte Lenin aus:

Jetzt ist der entscheidende und letzte Kampf gegen den Kapitalismus und gegen den freien Handel im Gange, und wir fechten jetzt die allerwichtigste Schlacht zwischen Kapitalismus und Sozialismus aus. Wenn wir in diesem Kampf siegen werden, dann wird es schon keine Rückkehr zum Kapitalismus und der früheren Macht, zu all dem, was früher war, mehr geben."27

1919 hat Iljitsch in vielen Reden und Ansprachen den Arbeitern und Arbeiterinnen, den Bauern und Rotarmisten den Sinn und das Wesen der Ernährungspolitik der Sowjetmacht klargemacht, er sprach von der kollektiven Wirtschaft. Das Leben hat die Richtigkeit des von ihm vorgezeichneten Weges bestätigt.

Iljitsch machte sich ständig Gedanken, nicht nur über die Versorgung der Roten Armee mit Brot, sondern auch, wie man den Zusammenschluss der Roten Armee und ihre Disziplin festigen könne. Für das sicherste Mittel hielt Iljitsch die Einbeziehung von Arbeitern in die Rote Armee, die ihrer Zusammensetzung nach eine bäuerliche war. Eben darum entbot er flammende Grüße den Petrograder und Moskauer Arbeitern, die sich an die Front begaben, in das Gewühl des Kampfes. Auf die Arbeiter setzte er seine Hoffnungen und maß ihrer Beförderung auf verantwortliche Posten – als Arbeiterkommissare und rote Kommandeure – große Bedeutung bei. Er rief die Rotarmisten zu größter Wachsamkeit auf. In seinem „Brief an die Arbeiter und Bauern anlässlich des Sieges über Koltschak" führte Iljitsch folgendes aus:

„… die Gutsbesitzer und Kapitalisten sind nicht vernichtet und geben sich nicht besiegt: Jeder vernünftige Arbeiter und Bauer sieht, weiß und begreift, dass sie nur geschlagen sind und sich versteckt, verkrochen und sehr häufig mit sowjetischer ,Schutzfarbe' übertüncht haben. Viele Gutsbesitzer haben sich in die Sowjetwirtschaften, die Kapitalisten als Sowjetangestellte in die verschiedenen ,Hauptverwaltungen' und Zentralstellen' eingeschlichen; auf Schritt und Tritt lauern sie auf die Fehler der Sowjetmacht, auf ihre Schwächen, um sie zu Fall zu bringen und heute den Tschechoslowaken, morgen Denikin zu helfen.

Man muss aus allen Kräften diese Räuber, diese sich versteckenden Gutsbesitzer und Kapitalisten aufspüren und abfassen, sie in allen ihren Maskierungen entlarven und schonungslos bestrafen; denn das sind die ärgsten Feinde der Werktätigen, die geschickt, kenntnisreich, erfahren sind, die geduldig den günstigen Augenblick für eine Verschwörung abwarten; das sind Saboteure, die vor keinem Verbrechen haltmachen, um der Sowjetmacht zu schaden. Mit diesen Feinden der Werktätigen, mit den Gutsbesitzern, den Kapitalisten, den Saboteuren, den Weißen muss man erbarmungslos sein.

Aber um sie abfassen zu können, muss man geschickt, vorsichtig, klassenbewusst sein, muss man auf die geringste Unordnung, die geringste Abweichung von der gewissenhaften Befolgung der Gesetze der Sowjetmacht auf das genaueste achten. Die Gutsbesitzer und Kapitalisten sind stark nicht nur durch ihre Kenntnisse und ihre Erfahrung, nicht nur durch die Hilfe der reichsten Länder der Welt, sondern auch durch die Macht der Gewohnheit und die Unwissenheit der breiten Massen, die wie in der ,althergebrachten' Art leben möchten und die Notwendigkeit, die Gesetze der Sowjetmacht streng und gewissenhaft zu befolgen, nicht begreifen."28

Diese Aufforderung zur Wachsamkeit schreckte viele. Nicht selten wurde Iljitsch berichtet, wie Rotarmisten mit irgendeinem tüchtigen Kommandeur abrechneten, nur weil er vornehmer Abstammung war oder einen ihnen nicht genehmen Befehl erteilte, oder einer anderen Nichtigkeit willen. Andere wieder berichteten mit einem Spötteln, aus dem herauszuhören war: „So sehen eure liebenswerten Rotarmisten aus!"

Gewiss mangelte es nicht an Fällen, wo Beschuldigungen zu Unrecht erhoben wurden und nicht gegen diejenigen gerichtet waren, die es verdienten. Der Mangel an Wissen, das alte Kleineigentümerkriterium, das die richtige Beurteilung dessen, was gut und schlecht war, erschwerte, und die anarchische Einstellung zu einer Reihe von Fragen hinderten daran, die Dinge richtig zu erkennen. Und Iljitsch verlangte von uns, den Bildungsarbeitern, dass wir die Schulung der erwachsenen Arbeiter, der Bauern und Rotarmisten auf eine breitere Basis stellten, dass wir zu dieser Arbeit nicht formal, nicht bürokratisch herangingen, es käme darauf an, den Gesichtskreis der Schüler zu erweitern, dafür zu sorgen, dass die gesamte Schulung vom Geiste der Parteilichkeit durchdrungen sei. Er verlangte, dass mit allen Mitteln denjenigen der Zugang zu den Hochschulen ermöglicht würde, denen bisher der Weg zum Studium versperrt geblieben war.

Im Jahre 1919 wurden eine Reihe von Verordnungen erlassen, die allen den Zugang zu den Hochschulen ermöglichten, es wurden Arbeiterfakultäten gegründet, zahllose Kurse für Arbeiter eingerichtet; im gleichen Jahr wurde die erste Schule für Sowjet- und Parteifunktionäre organisiert.

Wenn man zu Iljitsch kam – Ende 1919 sah er sehr schlecht aus (es ist noch ein Foto aus dieser Zeit erhalten geblieben: er ist gerade auf dem Wege zu einem Kursus, und da sieht man, wie angegriffen er aussah) –, machte er einen müden, sorgenvollen Eindruck. Wenn ich zu ihm kam, schwieg er. Ich wusste, dass ich ihn zum Sprechen bewegen und einen Stimmungsumschwung bei ihm hervorrufen konnte, wenn ich ihm etwas Charakteristisches aus dem Leben der Schüler der Arbeiterfakultät oder aus dem Leben der Parteischule erzählte. Und es gab genug zu erzählen. Er interessierte sich besonders dafür, wie das Bewusstsein der Menschen wuchs und wie sie immer mehr Verständnis für die Aufgaben bekamen, die vor ihnen standen. Über dieses Thema haben wir viel miteinander gesprochen.

In der Zeit vom 10. bis 17. August wurde in Petrograd die „Woche der Partei" durchgeführt. Gleichzeitig wurde entsprechend dem Beschluss des VIII. Parteitages eine „Neuregistrierung" der Parteimitglieder vorgenommen, die sich bis Ende September hinzog. Vom 8. bis 15. Oktober wurde die „Woche der Partei" in Moskau durchgeführt.

Am 11. Oktober schreibt Wladimir Iljitsch den Artikel „Der Staat der Arbeiter und die Woche der Partei", in dem die Ansichten Iljitschs über die Partei, darüber, wie der neue, der Sowjetapparat aussehen müsse und wie wichtig es sei, zur Arbeit im Apparat möglichst viele Kräfte aus den Reihen der Arbeiter und der werktätigen Bauern heranzuziehen, besonders deutlich zum Ausdruck kommen.

Die Woche der Partei in Moskau", schrieb Lenin in diesem Artikel, „ist mit einer schweren Zeit für die Sowjetmacht zusammengefallen. Die Erfolge Denikins haben zu einer maßlosen Verstärkung von Verschwörungen seitens der Gutsbesitzer, Kapitalisten und ihrer Freunde geführt, zu einer Verstärkung der krampfhaften Anstrengungen der Bourgeoisie, Panik zu stiften und mit allen Mitteln die Festigkeit der Sowjetmacht zu untergraben. Die schwankenden, wankelmütigen, unaufgeklärten Spießer und mit ihnen die Intellektuellen, die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki sind, wie üblich, noch wankelmütiger geworden und haben sich als erste von den Kapitalisten ins Bockshorn jagen lassen.

Ich aber halte dafür, dass das Zusammenfallen der Woche der Partei in Moskau mit einem schwierigen Moment für uns eher von Vorteil ist, denn es ist nützlicher für die Sache. Wir brauchen die Woche der Partei nicht einer Parade wegen. Parademitglieder der Partei brauchen wir nicht mal geschenkt. Die einzige Regierungspartei in der Welt, die nicht für eine Vergrößerung ihrer Mitgliederzahl Sorge trägt, sondern für die Steigerung ihrer Qualität, für die Reinigung der Partei von denjenigen, die sich an sie ,angebiedert' haben, ist unsere Partei, die Partei der revolutionären Arbeiterklasse. Wir haben mehr als einmal eine Umregistrierung der Parteimitglieder durchgeführt, um diejenigen, die sich ihr ,angebiedert' hatten, heraus zu jagen, damit nur diejenigen in der Partei bleiben, die klassenbewusst und dem Kommunismus ehrlich ergeben sind. Wir haben sowohl die Mobilmachung für die Front als auch die Subbotniks benutzt, um die Partei von denen zu säubern, die lediglich die Vorteile der Lage von Mitgliedern der Regierungspartei ,genießen' wollen, die die Lasten der aufopferungsvollen Arbeit zum Nutzen des Kommunismus nicht tragen wollen.

Und heute, wo eine verstärkte Mobilmachung für die Front durchgeführt wird, ist die Woche der Partei deswegen gut, weil sie demjenigen, der sich anbiedern möchte, keine Verlockungen bietet. Wir rufen in die Partei in großer Zahl nur die einfachen Arbeiter und die armen Bauern, den bäuerlichen Arbeitsmann, nicht aber den bäuerlichen Spekulanten. Diesen einfachen Mitgliedern bieten und geben wir keinerlei Vorteile auf Grund ihrer Aufnahme in die Partei. Im Gegenteil, den Parteimitgliedern obliegt heute eine Arbeit, die schwerer und gefährlicher ist als gewöhnlich. Desto besser. Es werden in die Partei nur aufrichtige Anhänger des Kommunismus kommen, nur gewissenhaft dem Arbeiterstaat ergebene Menschen, nur ehrliche Werktätige, nur wirkliche Vertreter der unter dem Kapitalismus unterdrückten Massen. Nur solche Parteimitglieder brauchen wir auch.

Nicht der Reklame wegen, sondern für ernsthafte Arbeit brauchen wir neue Parteimitglieder. Und sie rufen wir in die Partei. Den Werktätigen öffnen wir weit ihre Tore."29

Und weiter wiederholte Iljitsch das, was er bereits bei der Beisetzung Jakow Michailowitsch Swerdlows gesagt hatte, und zwar, dass es unter den Arbeitern und Bauern sehr viele Menschen mit organisatorischen und administrativen Fähigkeiten gibt. An sie richtete er seinen Ruf, am sozialistischen Aufbau teilzunehmen: „Seid ihr ehrliche Anhänger des Kommunismus, dann nehmt diese Arbeit kühner in Angriff, fürchtet nicht ihre Neuheit und Schwierigkeit, lasst euch nicht von den alten Vorurteilen irre machen, als ob zu dieser Arbeit nur derjenige imstande wäre, der den offiziellen Ausbildungsgang durchgemacht hat."30

Am Schluss des Artikels heißt es: „Die Masse der Werktätigen ist für uns. Darin liegt unsere Stärke. Das ist die Quelle der Unbesiegbarkeit des internationalen Kommunismus."31

Ständig wandte sich Iljitsch in dieser schweren Zeit in Wort und Schrift an die Arbeiter und an die Rotarmisten. Seine Worte lösten Begeisterung aus: Arbeiter aus Jaroslawl, Wladimir, Iwanowo-Wosnessensk gingen in Massen an die Front.

Die Stärke der Sympathie der Arbeiter und Bauern für ihre Avantgarde war allein imstande, Wunder zu vollbringen", schrieb Iljitsch.

Denn es ist ein Wunder: Arbeiter, denen Hunger, Kälte, Zerrüttung und Zerstörung unerhörte Leiden auferlegten, bewahren nicht nur ihren ganzen Mut, ihre ganze Treue zur Sowjetmacht, ihre ganze Energie der Selbstaufopferung und des Heldentums, sondern nehmen, obwohl sie ganz ungeschult und unerfahren sind, die Bürde der Lenkung des Staatsschiffes auf sich! Und das in einer Zeit, da der Sturm rasende Kraft erreicht hat…

Die Geschichte unserer proletarischen Revolution ist reich an solchen Wundern. Solche Wunder sind es, die – trotz einzelner harter Prüfungen – sicher und bestimmt zum vollen Sieg der internationalen Sowjetrepublik führen werden."32

Auch die Jugend war von dem Wunsch beseelt, an die Front zu gehen. Wir, die wir auf dem Gebiet der politischen Schulungsarbeit tätig waren, gaben uns große Mühe mit der ersten Schule für Sowjet- und Parteifunktionäre; wir waren bemüht, der Jugend kein formales Wissen, das Iljitsch so verabscheute, zu vermitteln, sondern Wissen, dass sie befähigte, das Zeitgeschehen zu verstehen. Wir waren überaus froh darüber, dass Iljitsch zur ersten Abschlussfeier unserer Parteischule am 24. Oktober 1919 erschienen war.

Genossen!" so begann Iljitsch seine Rede. „Sie wissen, dass wir heute nicht allein deswegen zusammengekommen sind, weil die meisten von Ihnen den Lehrgang der Sowjetschule absolviert haben und wir dies feierlich begehen wollen, sondern auch deswegen, weil nahezu die Hälfte aller Absolventen den Entschluss gefasst hat, an die Front zu gehen, um den an der Front kämpfenden Truppen neue, außerordentliche und wesentliche Hilfe zu bringen."33

Und nachdem Iljitsch ohne jede Beschönigung die schwere Lage an den Fronten geschildert hatte, fügte er hinzu: „Das ist der Grund, warum wir, obwohl es ein schweres Opfer für uns ist, Ihrem Wunsch entsprochen haben und von den Lehrgangsteilnehmern, die hier versammelt sind und für die Arbeit in Russland notwendig gebraucht werden, Hunderte an die Front schicken."34

Iljitsch schilderte den Kampf an den Fronten und kam dann auf die Arbeit zu sprechen, die den Absolventen der Parteischule bevorstand:

Für diejenigen, die als Vertreter der Arbeiter und Bauern an die Front gehen, kann es keine Wahl geben. Ihre Losung muss sein: Tod oder Sieg. Jeder von Ihnen muss es verstehen, mit den rückständigsten, unaufgeklärtesten Rotarmisten in Kontakt zu kommen, um ihnen mit einfachen Worten, vom Standpunkt des werktätigen Menschen, die Lage zu erklären, ihnen in einer schweren Situation zu helfen, alle Schwankungen zu überwinden, und sie zu lehren, gegen die zahlreichen Erscheinungen von Sabotage, Trägheit, Betrug und Verrat zu kämpfen. Sie wissen, dass es in unseren Reihen und bei unseren Kommandeuren noch viele solcher Erscheinungen gibt. Da werden diejenigen gebraucht, die sich bestimmte wissenschaftliche Kenntnisse angeeignet haben, die politische Lage begreifen und den breiten Massen der Arbeiter und Bauern in ihrem Kampf gegen Verrat oder Sabotage helfen können. Außer persönlicher Tapferkeit erwartet die Sowjetmacht von Ihnen, dass Sie diesen Massen allseitige Hilfe leisten, dass Sie alle bei ihnen auftretenden Schwankungen beseitigen und zeigen, dass die Sowjetmacht über Kräfte verfügt, die sie in jeder schweren Situation einsetzen kann."35

Die Absolventen der Parteischule rechtfertigten das in sie gesetzte Vertrauen.

Die Rede Iljitschs diente uns als Richtlinie in unserer politischen Aufklärungsarbeit.

Iljitsch sprach nicht nur in Versammlungen darüber, was ihn bewegte, sondern auch zu Hause, besonders dann, wenn nahe Freunde uns besuchten. Ende 1919 kam Inès Armand oft zu uns; mit ihr unterhielt sich Iljitsch besonders gern über die Perspektiven der Bewegung. Inès' älteste Tochter war schon an der Front gewesen, während der Bombenexplosion in der Leontjewski-Gasse wäre sie beinahe ums Leben gekommen. Ich erinnere mich, dass Inès einmal mit ihrer jungten Tochter Warja zu uns kam. Warja war damals noch ein ganz junges Mädchen, später gehörte sie zu den treuesten Mitgliedern der Partei. Und Iljitsch hat in ihrer Anwesenheit seinen Witz spielen lassen; ich weiß noch, wie Warjuschkas Augen glänzten. Iljitsch liebte es auch, sich mit unserer damaligen Hausangestellten Olimpiada Nikanorowna Schurawljowa, der Mutter der Schriftstellerin Borezkaja, zu unterhalten. Olimpiada Nikanorowna hatte früher als einfache Arbeiterin in einem Uraler Eisenwerk gearbeitet, später als Putzfrau in der Redaktion der „Prawda". Iljitsch meinte, sie hätte einen stark ausgeprägten proletarischen Instinkt. Und wenn er in der Küche saß (er zog es aus alter Gewohnheit vor, in der Küche die Mahlzeiten einzunehmen), liebte er es, mit Olimpiada Nikanorowna über die künftigen Siege zu sprechen.

Iljitsch hat sich nicht geirrt: Den zweiten Jahrestag der Sowjetmacht feierten wir mit Siegen.

Als Denikin Anfang Oktober sich Orjol näherte, wurde Genosse Stalin vom ZK der KPR(B) als Mitglied des Revolutionären Kriegsrates an die Südfront geschickt. Stalin entwarf einen neuen Angriffsplan, der vom ZK gebilligt wurde. Wladimir Iljitsch unterstützte diesen Plan voll und ganz. An der Südfront vollzog sich sehr bald ein Umschwung. Am 19. Oktober versetzte die Rote Armee den Generalen Schkuro und Mamontow bei Woronesch harte Schläge, am 20. wurde Orjol zurückerobert, am 21. leiteten die siegreichen Kämpfe bei Pulkowo die Niederlage der gegen Petrograd vorrückenden Truppen Judenitschs ein.

Zum Jahrestag der Oktoberrevolution sandte Iljitsch den Petrograder Arbeitern flammende Grüße, er schrieb für die „Prawda" den Artikel „Die Sowjetmacht und die Lage der Frau" und für die „Bednota" den Artikel „Zwei Jahre Sowjetmacht", der speziell für die Bauern gedacht war.

Am 7. November sprach Iljitsch in einer gemeinsamen Versammlung des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees, des Moskauer Sowjets, des Zentralrats der Sowjetgewerkschaften und der Fabrikkomitees über das Thema: „Zwei Jahre Sowjetmacht". Iljitsch trat nicht gerne in Festveranstaltungen auf, und seine Rede trug auch diesmal keinen agitatorischen Charakter: Es war eine durch und durch sachliche Rede. Aber der Inhalt selbst war so packend, so zündend, dass die Rede immer wieder stürmischen Beifall bei den Anwesenden auslöste.

Iljitsch sprach davon, dass die wichtigste Errungenschaft der Sowjetmacht in den vergangenen zwei Jahren „die Erfahrungen auf dem Gebiet des Aufbaus der Arbeitermacht… die Mitwirkung der Arbeiter an der Verwaltung des Staates" seien. „… Die wichtigste Arbeit, die wir geleistet haben, war die Reorganisation des alten Staatsapparats: Diese Arbeit war schwierig, aber sie hat im Verlauf der zwei Jahre sichtbare Ergebnisse der Anstrengungen der Arbeiterklasse gezeitigt, und wir können sagen, dass wir auf diesem Gebiet über Tausende Arbeitervertreter verfügen, die im Feuer der Kämpfe standen und die die Vertreter der bürgerlichen Staatsmacht Schritt für Schritt verdrängten. Wir haben Arbeiter nicht nur im Staatsapparat eingesetzt, sondern auch im Ernährungswesen, einem Gebiet, welches fast ausschließlich Vertreter der alten bürgerlichen Regierung, des alten bürgerlichen Staates aufzuweisen hatte. Die Arbeiter haben einen Ernährungsapparat geschaffen"36, sagte Lenin. Wenn vorher 30 Prozent der Mitarbeiter des Apparates Arbeiter waren, so waren es im Laufe des Jahres 1919 80 Prozent.

Man sei dabei, die wichtigste Arbeit zu leisten, und zwar Kader von proletarischen Führern zu schaffen, meinte Iljitsch. Sie entstehen an der Front und in allen Verwaltungsressorts. Iljitsch hob die Rolle der Subbotniks hervor und die besondere Bedeutung der Aufnahme von Arbeitern in die Partei. Allein in Moskau wurden in der „Woche der Partei" mehr als 14.000 neue Parteimitglieder aufgenommen. Iljitsch sprach auch von der Reserve, die die unter den gegenwärtigen Kampfbedingungen erzogene Arbeiter- und Bauernjugend darstellt. Das Allerwichtigste aber sei die Herstellung eines richtigen Verhältnisses zur Millionenmasse der Bauern, dem müsse man besondere Beachtung schenken sowie der Notwendigkeit, unter den Bauern eine breite Aufklärungsarbeit zu leisten. Iljitsch sprach auch davon, wie der Bürgerkrieg den Bauern die Augen öffne und die wirkliche Lage der Dinge erkennen lasse.

Iljitsch sprach sehr ruhig. Bei allen herrschte eine gehobene Stimmung.

Wladimir Majakowski, von dem alle politischen Bildungsfunktionäre begeistert waren, gab dieser allgemeinen Stimmung in seinem dem zweiten Jahrestag der Oktoberrevolution gewidmeten Gedicht Ausdruck:

Mög' denn,

und sei's nur

in Tropfen geschafft,

euer Glutstrom die Welt durchlohn

und zünden

die Großtat der Arbeiterschaft,

genannt ,Revolution'.

Kein Gratulant,

der die Tür nicht zuschmiss'?

Die hören vor Schiss

das Tedeum?

Gar nicht nötig.

Wir feiern –

des bin ich gewiss! –

das Hundertjahr-Jubiläum."

Als wir den 20. Jahrestag der Oktoberrevolution begingen und die Bilanz unserer Errungenschaften an der Front des sozialistischen Aufbaus zogen, die in der neuen Verfassung ihren Niederschlag gefunden hatten, gedachten alle Lenins, seiner Worte, seiner Direktiven.

1 W. I. Lenin: Werke, 4. Ausgabe, Bd. 29, S. 47, russ.

2 Ebenda, S. 207.

3 J. W. Stalin: Werke, Bd. 10, S. 92/93.

4 W. I. Lenin: Werke, 4. Ausgabe, Bd. 29, S. 310, russ.

5 W. I. Lenin: Über den Parteiaufbau, S. 555.

6 W. I. Lenin: Werke, 4. Ausgabe, Bd. 29, S. 140, russ.

7 W. I. Lenin: Über den Parteiaufbau, S. 556 u. 558.

8 'N. K. Krupskaja: Was Lenin über die Bibliotheken schrieb und sagte, Leipzig 1956, S. 34 u. 35.

9 W. l. Lenin: Werke, Bd. 10, S. 59.

10 W. I. Lenin: Werke, 4. Ausgabe, Bd. 29, S. 345/346, russ.

11 Ebenda, S. 424/425.

12 Ebenda, S. 426.

13 Ebenda, S. 124.

14 Ebenda, S. 124/125.

15 W. I. Lenin: Ausgewählte Werke, Bd. II, S. 531.

16 Lenin-Sammelband XXIV, S. 44. russ.

17 Ebenda, S. 168.

18 W. I. Lenin: Ausgewählte Werke, Bd. II, S. 529.

19 W. l. Lenin: Werke, Bd. 28, S. 356.

20 Ebenda, S. 355.

21 Lenin-Sammelband XXIV, S. 171/172, russ.

22 Ebenda, S. 173.

23 Ebenda, S. 179.

24 Ebenda, S. 287.

25 Ebenda, S. 317.

26 W. I. Lenin: Werke, 4. Ausgabe, Bd. 29, S. 481/482, russ.

27 Ebenda, S. 487.

28 W. l. Lenin: Ausgewählte Werke, Bd. II, S. 612/613.

29 Ebenda, S. 617/618.

30 Ebenda, S. 619.

31 Ebenda.

32 W. I. Lenin: Über den Parteiaufbau, S. 588/589.

33 W. I. Lenin: Werke, 4. Ausgabe, Bd. 30, S. 57, russ.

34 Ebenda, S. 62.

35 Ebenda, S. 63/64.

36 Ebenda, S. 110.

Kommentare