Das Leben in London

Das Leben in London (1902-1903)

Wir trafen im April in London ein.

London überraschte uns durch seine erstaunlichen Größenverhältnisse. Und obgleich am Tage unserer Ankunft unbeschreiblich dichter Nebel herrschte, begann sich Wladimir Iljitschs Gesicht sogleich aufzuhellen, und er nahm wissbegierig das Bild dieser Feste des Kapitalismus in sich auf; ja, er vergaß darüber sogar zeitweilig Plechanow und die Konflikte in der Redaktion.

Auf dem Bahnhof empfing uns Genosse Nikolai Alexandrowitsch Alexejew, der schon lange als Emigrant in London lebte und die englische Sprache ausgezeichnet erlernt hatte. Er diente uns anfangs als Führer, denn wir waren in der neuen Lage ziemlich hilflos. Wir hatten uns eingebildet, Englisch zu können, hatten wir doch in Sibirien das Werk der Webbs, ein-ganzes dickes Buch, aus dem Englischen ins Russische übersetzt. Ich hatte im Gefängnis Englisch nach einem Lehrbuch zum Selbststudium erlernt, aber ein lebendiges englisches Wort hatte ich noch nie zu Ohren bekommen. Als wir in Schuschenskoje mit der Übersetzung der Webbs begannen, war Wladimir Iljitsch über meine Aussprache entsetzt: „Die Lehrerin, bei der meine Schwester Unterricht hatte, sprach es jedenfalls ganz anders aus." Ich konnte dem nicht widersprechen und lernte um. Als wir nach London kamen, stellte es sich heraus, dass wir kein Wort verstanden und dass uns auch niemand verstand. Wir kamen anfangs in die komischsten Situationen. Wladimir lachte darüber, aber es war ihm doch sehr unangenehm. Er begann die Sprache eifrig zu studieren. Wir besuchten viele Versammlungen, setzten uns in die vordersten Reihen und schauten dem Redner aufmerksam auf den Mund. Anfangs gingen wir ziemlich oft in den Hyde Park. Dort treten nämlich Redner vor den Passanten auf; ein jeder spricht, worüber er will. Da stand zum Beispiel ein Atheist und bewies einer Gruppe von Neugierigen, dass es keinen Gott gebe. Einen dieser Redner hörten wir besonders gern; er sprach mit irischem Akzent, den wir leichter verstehen konnten. Nebenan schrie ein Offizier der „Heilsarmee" hysterisch zum allmächtigen Gott, und etwas weiter berichtete ein Handlungsgehilfe von dem Zuchtbausleben der Angestellten in großen Warenhäusern … Dabei lernten wir recht viel. Später machte Wladimir Iljitsch durch Annoncen zwei Engländer ausfindig, die ihm im Austausch englischen Unterricht gegen russischen erteilten, und lernte mit ihnen fleißig. Er erlernte die Sprache sehr gut.

Wladimir Iljitsch studierte nicht nur die Sprache, er studierte auch die Stadt London. Dabei ging er nicht in die Londoner Museen, abgesehen vom Britischen Museum. In diesem brachte er die Hälfte seiner Zeit zu; aber dorthin lockte ihn nicht das Museum selbst, sondern die dort untergebrachte reichhaltigste Bibliothek der Welt und die Bequemlichkeit, mit der sich dort wissenschaftlich arbeiten ließ. In gewöhnlichen Museen, zum Beispiel einem Altertumsmuseum, ermüdete Wladimir Iljitsch nach zehn Minuten bereits so, dass wir die mit Ritterrüstungen und Waffen ausgestatteten Säle und die endlose mit ägyptischen und anderen antiken Vasen voll gestellte Zimmerflucht meist sehr schnell wieder verließen. Ich kenne nur ein kleines Museum, von dem Iljitsch sich gar nicht losreißen konnte. Das ist das Museum der Revolution von 1848 in Paris. Es ist in einem einzigen kleinen Zimmerchen – ich glaube in der Rue des Cordilières – untergebracht. Er sah sich dort jedes Sächelchen, jede Zeichnung genau an.

Iljitsch studierte das lebendige London. Er fuhr gern auf dem Verdeck eines Omnibusses stundenlang kreuz und quer durch die Stadt. Das bunte Treiben dieser riesigen Handelsstadt hatte für ihn großen Reiz. Die stillen Squares mit ihren stattlichen Villen mit großen Spiegelscheiben, ganz von Grün umrankt, wo nur blankgeputzte Equipagen fahren, und die schmutzigen Gassen, in denen die Londoner Arbeiterschaft wohnt, wo die Wäsche zum Trocknen aushängt und auf den Stufen blasse Kinder spielen, blieben bei diesen Fahrten abseits liegen. Dorthin gingen wir zu Fuß, und Iljitsch schüttelte häufig, wenn er diese schreienden Kontraste von Reichtum und Armut betrachtete, den Kopf und murmelte: „Two nations!" (Zwei Nationen!) Aber auch vom Omnibus aus konnte man manche charakteristische Szene beobachten. Neben den Bars standen aufgedunsene, heruntergekommene Gestalten. Häufig waren auch Frauen dabei, in schwer betrunkenem Zustand, mit zerschundenem Gesicht, im einstmals eleganten Kleid mit herausgerissenem Ärmel. Vom Omnibus aus sahen wir einmal, wie ein mächtiger Bobby1 in seinem charakteristischen Helm mit heruntergelassenem Kinnriemen einen schmächtigen Jungen mit eiserner Faust vor sich her trieb. Er hatte ihn offensichtlich beim Diebstahl ergriffen, und die ganze Menge zog mit Pfeifen und Johlen hinter ihnen her. Ein Teil des auf dem Omnibus fahrenden Publikums sprang von den Plätzen auf und johlte ebenfalls hinter dem Dieb her. „Ja, ja", brummte Wladimir Iljitsch.

Ein paar Mal fuhren wir an Lohntagen abends in die Arbeiterviertel. Längs des Bürgersteigs einer breiten Straße steht eine endlose Reihe von Straßenhändlern. Jeder hat eine brennende Fackel neben sich. Auf dem Bürgersteig drängt sich die Flut der Arbeiter und Arbeiterinnen, eine lärmende Menge, die alles mögliche einkauft und an Ort und Stelle ihren Hunger stillt. Wladimir Iljitsch fühlte sich immer von der Arbeitermasse angezogen. Er ging überall hin, wo er die Massen traf: ins Freie, wo die ermüdeten Arbeiter am Stadtrand stundenlang auf dem Rasen herumlagen, in die Trinkhallen, in die Lesestuben. In London gab es viele Lesestuben – Räume, die man direkt von der Straße her betritt, wo es nicht einmal eine Sitzgelegenheit, sondern nur Lesepulte und in Zeitungshaltern befestigte Zeitungen gibt. Der Eintretende nimmt sich eine Zeitung und hängt sie, wenn er sie gelesen hat, wieder an ihren Platz. Wladimir Iljitsch wollte später auch bei uns überall solche Lesestuben einführen. Er ging auch in einfache Speiselokale und in die Kirche. In England findet in der Kirche nach dem Gottesdienst gewöhnlich ein kurzer Vortrag über irgendein Thema mit anschließender Diskussion statt. Diesen Diskussionen, in denen einfache Arbeiter auftraten, hörte Iljitsch besonders gern zu. Er verfolgte in den Zeitungen die Anzeigen über Arbeiterversammlungen in abgelegenen Stadtvierteln, wo es keine Parade, keine „Leaders" gab, sondern nur Arbeiter von der Werkbank, wie man zu sagen pflegt. Die Versammlung war gewöhnlich der Besprechung einer Frage, eines Planes gewidmet, zum Beispiel der Anlage von Gartenstädten. Wladimir Iljitsch hörte aufmerksam zu und sagte später erfreut: „Sie strotzen geradezu von Sozialismus! Der Referent macht banale Redensarten, aber wenn ein Arbeiter auftritt, so packt er den Stier gleich bei den Hörnern und deckt das ganze Wesen der kapitalistischen Ordnung auf." Auf den einfachen englischen Arbeiter, der trotz allem seinen Klasseninstinkt bewahrt hat, setzte Iljitsch auch immer seine Hoffnung. Die Fremden sehen gewöhnlich nur die von der Bourgeoisie korrumpierte, verbürgerlichte Arbeiteraristokratie. Iljitsch studierte natürlich auch diese Oberschicht und die konkreten Formen, in denen sich dieser Einfluss der Bourgeoisie geltend macht. Er vergaß die Bedeutung dieser Tatsache keinen Augenblick, aber er war bestrebt, auch die Triebkräfte der zukünftigen Revolution in England zu erspähen.

In was für Versammlungen haben wir uns nicht alles herumgetrieben! Einmal gerieten wir sogar in eine sozialdemokratische Kirche. In England gibt es nämlich solche. Ein verantwortlicher sozialdemokratischer Parteifunktionär las näselnd aus der Bibel vor und hielt im Anschluss daran eine Predigt über das Thema: der Auszug der Juden aus Ägypten als Vorbild für den Auszug der Arbeiter aus dem Reiche des Kapitalismus in das Reich des Sozialismus. Danach erhob sich alles von den Plätzen und sang nach sozialdemokratischen Gesangbüchern: „Führe uns, Herr, aus dem Reich des Kapitalismus in das Reich des Sozialismus." Später gingen wir noch einmal in dieselbe Kirche der „Sieben Schwestern" zu einem Diskussionsabend der Jugend. Ein Jüngling hielt einen Vortrag über den Munizipalsozialismus und bewies, dass die Revolution gar nicht nötig sei. Und derselbe Sozialdemokrat, der bei unserem ersten Kirchenbesuch in den „Sieben Schwestern" als Pfarrer amtiert hatte, erklärte, er gehöre bereits seit zwölf Jahren der Partei an, und seit zwölf Jahren kämpfe er gegen den Opportunismus, der Munizipalsozialismus sei aber Opportunismus reinsten Wassers.

In seiner Häuslichkeit haben wir den englischen Sozialisten nur wenig kennengelernt. Der Engländer schließt sich sehr gegen Fremde ab. Auf die russische Emigrantenbohème schaute er mit naivem Staunen herab. Ich weiß noch, wie mich einmal ein englischer Sozialdemokrat, den wir bei Tachtarews trafen, erstaunt fragte: „Haben Sie wirklich im Gefängnis gesessen? Nein, wenn man meine Frau ins Gefängnis sperrte, ich wüsste gar nicht, was ich da tun würde! Meine Frau!" Die alles bezwingende Macht des Kleinbürgertums konnten wir an der Arbeiterfamilie, bei der wir wohnten, und auch an den Engländern, die uns Sprachunterricht erteilten, aus der Nähe beobachten. Hier konnten wir die ganze bodenlose Trivialität des englischen kleinbürgerlichen Alltags kennenlernen. Der eine der beiden Engländer, der uns Unterricht erteilte, war Verwalter eines großen Buchlagers. Er gestand uns einmal, dass er den Sozialismus für die Theorie halte, die die Dinge am richtigsten beurteile. „Ich bin überzeugter Sozialist", meinte er, „ja, eine Zeitlang trat ich sogar als Sozialist auf. Da ließ mich mein Chef zu sich rufen und sagte mir, Sozialisten könne er in seinem Betrieb nicht brauchen, und wenn ich bei ihm in Dienst bleiben wolle, so sollte ich den Mund halten. Ich sagte mir: der Sozialismus kommt unvermeidlich, ganz unabhängig davon, ob du auftrittst oder nicht, und du hast Frau und Kinder. Jetzt gestehe ich es schon niemandem mehr, dass ich Sozialist bin, aber Ihnen darf ich's wohl sagen."

Dieser Mister Rymond, der fast ganz Europa bereist, sich in Australien und noch irgendwo im Ausland aufgehalten hatte und seit vielen Jahren in London lebte, kannte nicht die Hälfte von dem, was Wladimir Iljitsch in dem einen Jahr seines Aufenthaltes in London gesehen hatte. Iljitsch überredete ihn einmal, zu einem Meeting nach Whitechapel mitzukommen. Mister Rymond war, wie die große Mehrzahl der Engländer, sein Lebtag nicht in diesem Stadtteil gewesen, der von russischen Juden bewohnt ist und sein eigenes, mit dem der übrigen Stadt ganz unvergleichbares Leben führt. Er staunte über alles.

Nach unserer Gepflogenheit machten wir auch Ausflüge in die Umgebung der Stadt. Meist fuhren wir zu dem sogenannten Primrose Hill. Das war nämlich der billigste Ausflug, die ganze Fahrt stellte sich auf sechs Pence. Von diesem Hügel aus kann man fast ganz London überblicken – ein riesiges in Rauch gehülltes Häusermeer. Von hier gelangten wir zu Fuß weiter ins Freie: in die Parks, ins Grüne. Wir fuhren auch deshalb gern zum Primrose Hill, weil dort in der Nähe der Friedhof liegt, auf dem Karl Marx beerdigt ist. Auch dahin gingen wir oft.

In London standen wir mit einem Mitglied unserer Petersburger Gruppe, Apollinaria Alexandrowna Jakubowa, in Verkehr. Sie war seinerzeit in Petersburg eine sehr aktive Parteiarbeiterin gewesen, allgemein beliebt und geschätzt, und ich war auch noch durch die gemeinsame Arbeit in der Sonntagsabendschule hinter dem Newski-Tor und durch die gemeinsame Freundschaft mit Lidia Michailowna Knipowitsch mit ihr verbunden. Nach der Verbannung, aus der sie geflohen war, hatte Apollinaria den ehemaligen Redakteur der „Rabotschaja Mysl", Tachtarew, geheiratet. Sie lebten jetzt auch als Emigranten in London, fern von der Arbeit. Apollinaria freute sich über unsere Ankunft sehr. Tachtarews nahmen uns unter ihre Obhut und halfen uns, uns billig und verhältnismäßig bequem einzurichten. Wir verkehrten mit ihnen die ganze Zeit; aber da wir ein Gespräch über die Richtung der „Rabotschaja Mysl" vermieden, waren die Beziehungen stets etwas gespannt. Etwa zweimal kam es zur Entladung. Man sprach sich aus. Im Januar 1903, glaube ich, gaben Tachtarews die offizielle Erklärung ab, dass sie mit der Richtung der „Iskra" sympathisierten.

Meine Mutter sollte nach einiger Zeit zu uns kommen, und deshalb beschlossen wir, zwei Zimmer zu mieten, einen Familienhaushalt zu führen und zu Hause zu kochen. Unsere russischen Mägen konnten sich an all diese „Ochsenschwänze", in Fett gebackenen Scats, Cakes usw. nur sehr schlecht gewöhnen. Auch lebten wir damals auf Kosten der Organisation, mussten jeden Pfennig sparen, und es war billiger, einen eigenen Haushalt zu führen.

In konspirativer Hinsicht richteten wir uns so gut wie nur möglich ein. Damals brauchte man in London keine Dokumente; man konnte sich unter beliebigem Familiennamen anmelden.

Wir meldeten uns als Familie Richter an. Sehr günstig war auch der Umstand, dass für den Engländer alle Ausländer gleich sind, und so hielt uns auch unsere Wirtin die ganze Zeit über für Deutsche.

Bald trafen auch Martow und Wera Iwanowna Sassulitsch ein. Sie zogen zusammen mit Alexejew in ein in der Nähe gelegenes Haus, das schon eher an europäische Häuser erinnerte, und gründeten dort eine Kommune.

Wladimir Iljitsch begann sofort im Britischen Museum zu arbeiten. Er ging gewöhnlich morgens dorthin, während Martow zur Durchsicht und zur Besprechung der Post zu mir kam. Auf diese Weise war Wladimir Iljitsch großenteils von jenem Trubel befreit, der ihn so ermüdete. Der Konflikt mit Plechanow wurde irgendwie beigelegt.

Wladimir Iljitsch reiste für einen Monat in die Bretagne, um seine Mutter und seine Schwester Anna Iljinitschna zu besuchen und sich mit ihnen am Meer zu erholen. Er liebte das Meer mit seiner ständigen Bewegung und seiner grenzenlosen Weite sehr, und ein Aufenthalt am Meer tat ihm stets wohl.

Kaum hatten wir uns in London niedergelassen, da kamen auch schon Leute zu uns. Inna Smidowitsch-Dimka weilte einige Zeit bei uns, reiste aber bald wieder nach Russland ab. Auch ihr Bruder Pjotr Germogenowitsch, der von Wladimir Iljitsch den Decknamen Matrona erhielt, besuchte uns. Er hatte gerade lange Zeit im Gefängnis gesessen. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis wurde er ein eifriger Anhänger der „Iskra". Er hielt sich für einen großen Spezialisten im Abwaschen von Pässen. Nach seiner Meinung musste man sie mit Schweiß abwaschen, und in der Kommune standen zeitweilig alle Tische auf dem Kopf, um die abgewaschenen Pässe zu pressen. Das Verfahren war äußerst primitiv, wie unsere ganze Konspiration zu jener Zeit. Liest man heute die Korrespondenz mit Russland, so staunt man über die Naivität unserer damaligen Konspiration. Alle diese Briefe über Taschentücher (das waren Pässe), über gebrautes Bier, über warme Pelze (das war in unserer Geheimsprache illegale Literatur), all die Decknamen der Städte, die mit demselben Buchstaben anfingen, mit dem der Name der Stadt begann (Odessa – Ossip, Twer – Terenti, Poltawa – Petja, Pskow – Pascha usw.), das Ersetzen der Männernamen durch Frauennamen und umgekehrt – all das war äußerst leicht zu durchschauen und zu erraten. Damals mochte es angehen, und es verwischte ja bis zu einem gewissen Grade auch die Spuren. Anfangs brauchten wir auch nicht mit so vielen Spitzeln zu rechnen. Wir selber hatten nur zuverlässige Leute, die sich untereinander gut kannten. In Russland arbeiteten Vertrauensleute der „Iskra", denen Literatur aus dem Ausland, die „Iskra", die „Sarja" und allerlei Broschüren, zugestellt wurde.

Sie besorgten den Nachdruck der „Iskra"-Literatur in illegalen Druckereien, sie stellten sie den Komitees zu, sie versorgten die „Iskra" mit Korrespondenzen, hielten sie über die ganze in Russland geleistete illegale Arbeit auf dem laufenden und sammelten für sie Geld. In Samara (bei Sonja) wohnten Krschischanowskis, die Nager, Gleb Maximiljanowitsch, genannt Claire, und Sinaida Pawlowna, genannt Schnecke. Dort wohnte auch Maria Iljinitschna, das Bärchen. In Samara bildete sich sofort eine Art Zentrum. Krschischanowskis hatten ein besonderes Geschick, Leute um sich zu sammeln. Lengnik – Kurz – ließ sich im Süden nieder; er wohnte eine Zeitlang in Poltawa (bei Petja), später in Kiew. In Astrachan war Lidia Michailowna Knipowitsch, Djadenka, ansässig. In Pskow hielten sich Lepeschinski – Bastschuh – und Ljubow Nikolajewna Radtschenko – Pascha – auf. Stepan Iwanowitsch Radtschenko war damals schon völlig abgearbeitet und hatte die illegale Arbeit aufgeben müssen. Dafür war sein Bruder Iwan Iwanowitsch (auch Arkadi und Kasjan genannt) unermüdlich für die „Iskra" tätig. Er war Wanderagent. Auch Silwin (der Landstreicher) war ein solcher Wanderagent, der die „Iskra" in Russland vertrieb. In Moskau arbeiteten Bau-man (auch Viktor, Baum oder Krähe genannt) und der mit ihm eng verbundene Iwan Wassiljewitsch Babuschkin (auch Bogdan genannt). Zu den Agenten der „Iskra" gehörte auch die mit der Petersburger Organisation eng verbundene Jelena Dimitrijewna Stassowa, die die Decknamen Guschtscha und Absolut hatte, und Glafira Iwanowna Okulowa, die sich nach der Verhaftung von Bauman unter dem Namen Häschen in Moskau (bei der Alten) niedergelassen hatte. Mit all diesen Genossen stand die „Iskra" in regem Briefwechsel. Wladimir Iljitsch sah jeden Brief durch. Wir waren stets genau informiert, wie die einzelnen Vertrauensleute der „Iskra" arbeiteten. Wir besprachen mit ihnen die ganze Arbeit. Riss die Verbindung zwischen den einzelnen, so stellten wir sie wieder her, machten ihnen von den Verhaftungen Mitteilung usw. Für die „Iskra" arbeitete eine Druckerei in Baku. Die Arbeit wurde streng konspirativ durchgeführt. Dort waren die Brüder Jenukidse tätig, und Krassin (das Pferd) leitete die ganze Sache. Die Druckerei figurierte unter dem Namen Nina. Später versuchte man, noch eine zweite Druckerei im Norden, in Nowgorod, einzurichten. Sie flog aber sehr bald auf.

Die frühere, von Akim (Leo Goldman) geleitete illegale Druckerei in Kischinjow bestand in der Londoner Periode bereits nicht mehr.

Der Transport ging über Wilna (durch Grunja).

Die Petersburger Genossen machten den Versuch, den Transport über Stockholm einzurichten. Über diesen Transport, der unter der Chiffre „Bier" ging, gab es einen ganzen Berg von Korrespondenz. Wir ließen zentnerweise Literatur nach Stockholm abgehen und erhielten auch die Nachricht, dass das „Bier" angekommen sei. Wir waren überzeugt, dass es die Petersburger erhalten hätten, und fuhren fort, nach Stockholm Literatur zu senden. Als wir später, im Jahre 1905, über Schweden nach Russland zurückkehrten, erfuhren wir, dass das „Bier" immer noch in der „Bierbrauerei" lagerte, kurzum, im Stockholmer Volkshaus gab es einen ganzen Keller, der mit unserer Literatur vollgepfropft war.

Kleine Fässer" wurden über Warde versandt. Soviel ich weiß, kam auch einmal ein Paket an. Später riss die Verbindung aber wieder ab.

Wir siedelten Matrona in Marseille an. Er sollte den Transport durch Schiffsköche, die bei Batumer Linien angestellt waren, organisieren. In Batum bereiteten unsere „Pferde" (die dortigen Genossen) den Empfang der Literatur vor. Der größte Teil der Literatur wurde ins Meer geworfen. (Die Literatur wurde in Segeltuch verpackt und an einer bestimmten Stelle ins Meer geworfen, wo unsere Genossen sie dann herausfischten.) Michail Iwanowitsch Kalinin, der damals in einem Petersburger Betrieb arbeitete und der Organisation angehörte, übermittelte uns durch „Absolut" die Adresse eines Matrosen in Toulon. Sie beförderten die Literatur über Alexandria (Ägypten). Auch über Persien versuchte man, einen Transport einzurichten. Später wurde der Transport über Kamenez-Podolsk-Lwow geleitet. Diese Transporte verschlangen eine Menge Geld und Kraft, die Arbeit war mit großem Risiko verbunden, und man musste damit rechnen, dass nicht mehr als der zehnte Teil aller Sendungen den Bestimmungsort erreichte. Außerdem versandten wir die Literatur in Koffern mit doppelten Boden und in Bucheinbänden. Die Nachfrage nach unserer Literatur war allgemein groß, man riss sie sich förmlich aus den Händen.

Ganz besonderen Erfolg hatte die Broschüre „Was tun?" Sie beantwortete eine Reihe der aktuellsten, dringendsten Fragen. Die Notwendigkeit einer konspirativen, planmäßig arbeitenden Organisation wurde allgemein als sehr dringend empfunden.

Im Juni 1902 fand in Bialystok eine vom „Bund" (Boris) einberufene Konferenz statt, bei der alle Teilnehmer, mit Ausnahme des Petersburger Delegierten, hochgingen. Im Zusammenhang damit wurden auch Bauman und Silwin verhaftet. Auf dieser Konferenz war beschlossen worden, ein Organisationskomitee zur Einberufung des Parteitages zu bilden. Die Sache verzögerte sich jedoch. Man brauchte eine Vertretung der lokalen Organisationen, aber diese hatten noch keine feste Form angenommen und waren ihrem Charakter nach sehr unterschiedlich. Zum Beispiel zerfiel die Organisation in Petersburg in einen Arbeiterausschuss (Manja) und einen Intellektuellenausschuss (Wanja). Der Arbeiterausschuss sollte vorwiegend den wirtschaftlichen Kampf führen, der Ausschuss der Intellektuellen hohe Politik treiben. Übrigens war diese hohe Politik recht kläglich und erinnerte mehr an liberale als an revolutionäre Politik. Eine solche Struktur war auf dem Boden des Ökonomismus entstanden. Der Ökonomismus war zwar grundsätzlich völlig erledigt, wurzelte aber noch tief in den lokalen Organisationen. Die „Iskra" würdigte die Bedeutung dieser Arbeitsteilung nach Gebühr. Wladimir Iljitsch kommt im Kampfe um die richtige Organisationsform besondere Bedeutung zu. Sein „Brief an Jerema" oder „Brief an einen Genossen", wie er in der Literatur heißt (ich werde später noch von ihm sprechen), spielte in der Frage des organisatorischen Aufbaus der Partei eine ausschlaggebende Rolle. Er trug dazu bei, die Partei mehr unter den Einfluss der Arbeiter zu bringen und die Arbeiter zur Lösung aller aktuellen politischen Fragen heranzuziehen. Er riss die Scheidewand ein, die die Anhänger des „Rabotscheje Delo" zwischen den Arbeitern und den Intellektuellen errichtet hatten. Im Winter 1902/1903 tobte in den Organisationen ein heißer Richtungskampf. Die „Iskra"-Gruppe wurde allmählich Herr der Situation. Aber es kam auch vor, dass man sie „hinausdrängte".

Wladimir Iljitsch leitete den Kampf der „Iskra"-Gruppe. Er warnte vor einer vereinfachten Auffassung des Zentralismus und bekämpfte die Tendenz, in jeder lebendigen selbständigen Arbeit Handwerkelei erblicken zu wollen. Diese Tätigkeit Wladimir Iljitschs, die die qualitative Zusammensetzung der Komitees so nachhaltig beeinflusste, ist der Jugend wenig bekannt, und doch hat gerade sie das Gesicht unserer Partei bestimmt und die Grundlagen zu ihrer heutigen Organisation geschaffen.

Die Ökonomisten vom „Rabotscheje Delo" regten sich über diesen Kampf, der ihren Einfluss untergrub, besonders auf und wetterten über die „Befehlshaberei" des Auslands.

Am 6. August traf Genosse Krasnucha aus Petersburg ein, um über die Organisationsfragen zu verhandeln. Er wies sich aus mit der Parole: „Haben Sie den ,Graschdanin' Nr. 47 gelesen?" Seitdem trug er bei uns den Decknamen Graschdanin. Wladimir Iljitsch sprach mit ihm eingehend über die Tätigkeit und den Aufbau der Petersburger Organisation. An der Besprechung nahmen auch P. A. Krassikow (auch Musiker, Schpilka, Ignat, Pankrat genannt) und Boris Nikolajewitsch (Noskow) teil. Von London schickte man Graschdanin nach Genf. Er sollte dort mit Plechanow sprechen, um sich dann endgültig für die „Iskra" zu entscheiden. Einige Wochen später legte Jerema in einem Brief aus Petersburg dar, wie er sich die Organisierung der Arbeit im Lande vorstellte. Aus dem Brief ging nicht hervor, ob Jerema ein einzelner Propagandist oder eine Gruppe von solchen war. Aber darauf kam es auch nicht an. Wladimir Iljitsch begann, über die Antwort nachzudenken. Sie wuchs sich zu der Broschüre „Brief an einen Genossen über unsere organisatorischen Aufgaben"2 aus. Sie wurde zuerst in hektographierter Form verbreitet und später, im Juni 1903, vom sibirischen Komitee illegal herausgegeben.

Anfang September 1902 traf Babuschkin bei uns ein. Er war aus dem Jekaterinoslawer Gefängnis entflohen. Gymnasiasten hatten ihm und Gorowiz zur Flucht aus dem Gefängnis und zum Grenzübertritt verholfen. Um ihn unkenntlich zu machen, hatten sie ihm das Haar gefärbt. Aber o weh! Das Haar nahm bald einen himbeerfarbenen Ton an und zog die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Bei uns kam er noch in himbeerfarbenem Zustand an. In Deutschland war er Agenten in die Klauen geraten und mit Mühe und Not einem Abtransport nach Amerika entgangen. Wir teilten ihn der Kommune zu, wo er auch die ganze Zeit seines Aufenthalts in London verbrachte. Babuschkin hatte sich während dieser Zeit politisch außerordentlich entwickelt. Er war bereits ein erprobter Revolutionär mit selbständigem Urteil. Er hatte eine ganze Reihe von Arbeiterorganisationen kennengelernt und brauchte nicht erst zu lernen, an den Arbeiter heranzugehen. Er war selber Arbeiter. Als er einige Jahre zuvor in die Sonntagsschule gekommen war, war er noch ein ganz unerfahrener Bursche gewesen. Ich entsinne mich noch folgender Episode: Er gehörte zuerst zur Gruppe von Lidia Michailowna Knipowitsch Es war gerade russische Stunde, und die Schüler sollten grammatikalische Beispiele bilden. Da schrieb Babuschkin an die Tafel: „In unserem Betrieb wird bald gestreikt werden." Nach der Stunde rief Lidia ihn beiseite und schimpfte ihn aus: „Wenn Sie ein Revolutionär sein wollen, so prahlen Sie gefälligst nicht damit! Man muss sich doch beherrschen können!" Babuschkin errötete, vertraute aber Lidia von da an wie seinem besten Freunde. Er beriet sich mit ihr in verschiedenen Angelegenheiten und hatte zu ihr ein besonderes Verhältnis.

Zu jener Zeit kam Plechanow nach London. Es wurde gemeinsam mit Babuschkin eine Sitzung anberaumt, in der man über den Stand der Bewegung in Russland sprach. Babuschkin hatte seine eigene Meinung, und er verteidigte sie sehr entschieden. Sein Verhalten imponierte Plechanow, und dieser begann ihn aufmerksamer zu betrachten. Über seine zukünftige Arbeit in Russland sprach Babuschkin übrigens nur mit Wladimir Iljitsch, der ihm besonders nahestand. Noch eine kleine, aber charakteristische Episode fällt mir ein: Zwei Tage nach Babuschkins Ankunft kamen wir in die Kommune und waren überrascht von der Sauberkeit, die dort herrschte. Alles war aufgeräumt. Auf den Tischen lagen Zeitungen ausgebreitet. Der Fußboden war sauber. Es stellte sich heraus, dass Babuschkin Ordnung geschaffen hatte. „Beim russischen Intellektuellen herrscht immer Unordnung, er kann nicht ohne Dienstmädchen auskommen und versteht nicht, selber aufzuräumen", sagte Babuschkin.

Er reiste bald nach Russland ab. Es war das letzte Mal, dass wir ihn sahen. Er wurde 1906 in Sibirien mit einem Waffentransport abgefasst und zusammen mit anderen Genossen am offenen Grabe erschossen.

Noch vor Babuschkins Abreise trafen in London die aus dem Kiewer Gefängnis entflohenen „Iskra"-Leute ein: Bauman, Krochmal, Wallach (Litwinow, Papachen), Tarsis (Pjatniza) und Blumenfeld. Blumenfeld hatte einen Koffer mit Literatur für Russland über die Grenze bringen sollen, war aber mitsamt Koffer und Adressen abgefasst und später ins Kiewer Gefängnis übergeführt worden.

Wir wussten, dass in Kiew eine Flucht aus dem Gefängnis vorbereitet wurde. Unser Spezialist in Fluchtangelegenheiten, Deutsch, der gerade auf der Bildfläche erschienen war und die Verhältnisse des Kiewer Gefängnisses kannte, erklärte so etwas für unmöglich. Die Flucht ist aber doch gelungen. Man hatte den Gefangenen von außen her Seile, Haken und Pässe verschafft. Während des Spaziergangs hatten sie die Wache und den Aufseher gefesselt und waren über die Mauer geklettert. Nur der letzte, Silwin, der den Aufseher festhielt, hatte nicht mehr entkommen können.

Einige Tage vergingen im Trubel des Wiedersehens.

Mitte August traf ein Brief von der Redaktion des „Juschny Rabotschi"3, eines populären illegalen Organs, ein. Er berichtete über Misserfolge der Bewegung im Süden, sprach den Wunsch der Redaktion aus, zu den Organisationen „Iskra" und „Sarja" in engste Beziehung zu treten, und erklärte sich mit deren Ansichten solidarisch. Das war natürlich ein großer Fortschritt auf dem Wege des Zusammenschlusses der Kräfte. Im nächsten Brief sprach der „Juschny Rabotschi" jedoch bereits seine Unzufriedenheit über die Schroffheit der Polemik der „Iskra" mit den Liberalen aus. Später hieß es, die literarische Gruppe des „Juschny Rabotschi" müsse auch fernerhin ihre Selbständigkeit wahren usw. Man fühlte, dass nicht alles bis zu Ende ausgesprochen wurde.

Die Genossen in Samara klärten durch Verhandlungen und Besprechungen die Punkte, in denen die Meinungen mit dem „Juschny Rabotschi" auseinandergingen: erstens unterschätzten sie die Bauernbewegung, zweitens waren sie über die Schroffheit der Polemik mit den Liberalen ungehalten, und drittens wünschten sie, eine Gruppe für sich zu bleiben und ein eigenes populäres Organ herauszugeben.

Anfang Oktober kam der aus Sibirien entflohene Trotzki nach London. Er rechnete sich damals zu den „Iskra"-Anhängern. Wladimir Iljitsch beobachtete ihn aufmerksam und fragte ihn über seine Eindrücke von der Arbeit in Russland aus. Aus Russland wurde Trotzkis Rückkehr verlangt. Wladimir Iljitsch war jedoch der Ansicht, er solle im Ausland bleiben, um zu lernen und an der „Iskra" mitzuarbeiten. Trotzki übersiedelte nach Paris.

Auch Jekaterina Michailowna Alexandrowa (Jacques) kehrte aus Oljokma, wohin sie verbannt war, zurück. Sie war eine angesehene Anhängerin der „Narodnaja Wolja" gewesen, und das hatte ihr einen besonderen Stempel aufgedrückt. Sie war nicht der Typ unserer impulsiven, draufgängerischen Mädchen von der Art Dimkas, sie war im Gegenteil sehr beherrscht. Nun war sie Anhängerin der „Iskra". Was sie sagte, war klug.

Den alten Revolutionären, den Narodowolzen, begegnete Wladimir Iljitsch stets mit besonderer Achtung.

Als Jekaterina Michailowna ankam, blieb Wladimir Iljitschs Verhalten ihr gegenüber nicht unbeeinflusst davon, dass sie als ehemalige Anhängerin der „Narodnaja Wolja" zu der „Iskra"-Gruppe übergetreten war. Ich schaute zu Jekaterina Michailowna erst recht auf. Bevor ich endgültig Sozialdemokratin wurde, ging ich einmal zu Alexandrows (Olminskis) und bat sie, mich in einen Arbeiterzirkel zu schicken. Sie waren bescheiden eingerichtet. Allenthalben waren statistische Sammelwerke angehäuft. Im Hintergrund des Zimmers saß schweigend Michail Stepanowitsch. Und Jekaterina Michailowna versuchte leidenschaftlich, mich für die „Narodnaja Wolja" zu gewinnen. All das machte auf mich einen überwältigenden Eindruck. Vor der Ankunft Jekaterina Michailownas erzählte ich Wladimir Iljitsch davon. Wir begannen erneut für sie zu schwärmen. Wladimir Iljitsch pflegte sich manchmal für einen Menschen besonders zu erwärmen. Wenn er an einem Menschen einen wertvollen Zug wahrnahm, so suchte er sich ihm gleich zu nähern. Jekaterina Michailowna ging von London nach Paris. Als „Iskra"-Anhängerin zeigte sie sich nicht sehr standhaft. Auf dem II. Parteitag wurde das Netz der Opposition gegen Lenins „machtlüsterne" Absichten nicht ohne ihre Beihilfe gesponnen. Später war sie Mitglied des versöhnlerisch eingestellten ZK und verschwand dann von der politischen Bühne.

Von den Genossen, die aus Russland nach London kamen, erinnere ich mich noch an Boris Goldman – Adele – und an Doliwo-Dobrowolski – Dno.

Boris Goldman kannte ich noch von Petersburg her. Er hat dort technische Arbeit geleistet und die Flugblätter des „Kampfbundes" hergestellt. Er war ein sehr schwankender Charakter. Damals war er Anhänger der „Iskra". Dno fiel durch sein stilles Wesen auf. Er saß manchmal so still da wie eine Maus. Er kehrte nach Petersburg zurück, wurde aber bald geisteskrank und erschoss sich, als er bereits auf dem Wege der Besserung war. Das Leben eines Illegalen war damals keine Kleinigkeit, nicht jeder konnte es aushalten.

Den ganzen Winter hindurch wurde eifrig an der Vorbereitung des Parteitags gearbeitet. Im Dezember 1902 trat ein Organisationskomitee zur Vorbereitung des Parteitags zusammen. (Zum Organisationskomitee gehörten: die Vertreter des „Juschny Rabotschi", des Nordbundes und die Genossen Krasnucha, I. I. Radtschenko, Krassikow, Lengnik und Krschischanowski. Der „Bund" hielt anfangs mit seinem Beitritt zurück.)

Die Bezeichnung „Organisationskomitee" entsprach völlig seiner wirklichen Aufgabe. Ohne das Organisationskomitee wäre es niemals gelungen, den Parteitag durchzuführen. Man musste unter den schlimmsten polizeilichen Verfolgungen eine komplizierte Arbeit leisten, denn es galt, die eben im Entstehen begriffenen und die bereits bestehenden Kollektive organisatorisch und ideologisch in Einklang zu bringen und die lokalen Organisationen mit dem Ausland zu verbinden. Die ganze Arbeit der Verbindung mit dem Organisationskomitee und der Vorbereitung des Parteitages lastete faktisch auf Wladimir Iljitsch. Potressow war krank. Seine Lungen hatten den Londoner Nebel nicht vertragen können, und er weilte irgendwo zur Kur. Martow, des ungeselligen Lebens in London überdrüssig geworden, reiste nach Paris und kehrte nicht wieder zurück. In London sollte noch Deutsch zur Verfügung stehen, ein altes Mitglied der Gruppe „Befreiung der Arbeit", der vor kurzem aus der Zwangsarbeit entflohen war. Die Gruppe „Befreiung der Arbeit" hielt auf ihn als Organisator große Stücke. „Lasst nur Schenka (Deutschs Deckname) erst da sein", pflegte Wera Iwanowna zu sagen, „ihr sollt mal sehen, wie der alle Beziehungen zu Russland im Handumdrehen in Gang bringen wird." Plechanow und Axelrod hofften zudem, dass Deutsch eine Stütze in der „Iskra"-Redaktion sein und auf alles achtgeben werde. Als Deutsch jedoch ankam, stellte es sich heraus, dass die langen Jahre der Isolierung ihn den russischen Verhältnissen ganz entfremdet hatten. Er war für den Verkehr mit Russland völlig ungeeignet, denn er kannte eben die neuen Bedingungen nicht. Er hatte das große Bedürfnis, unter Menschen zu sein, trat in die Auslandsliga der russischen Sozialdemokratie4 ein, nahm weitgehende Verbindungen mit den ausländischen Emigranten auf und reiste ebenfalls bald nach Paris ab.

Dauernd ansässig in London war Wera Iwanowna. Sie hörte gern von der Arbeit in Russland erzählen, aber selbst Verbindungen mit Russland zu pflegen, das vermochte und verstand sie nicht. So lastete denn alles auf Wladimir Iljitsch. Die Korrespondenz mit Russland rieb ihn sichtlich auf. Wochen- und monatelang auf Beantwortung der Briefe warten und die ganze Zeit mit dem Scheitern der Sache rechnen zu müssen, immer in Ungewissheit darüber zu sein, wie die Sache ihren Fortgang nahm – all das entsprach dem Charakter Wladimir Iljitschs absolut nicht. Seine Briefe nach Russland sind voll von Bitten, pünktlich zu schreiben: „Noch einmal bitten und flehen wir dringend und inständig, uns öfter und ausführlicher zu schreiben, insbesondere uns umgehend, unbedingt noch am gleichen Tage, an dem der Brief eintrifft, wenigstens mit einigen Zeilen seinen Empfang zu bestätigen …" Daneben sind die Briefe erfüllt von Bitten, schneller zu handeln. Nach jedem Brief aus Russland, in dem es hieß: „Sonja schweigt wie tot" oder „Sarin ist nicht rechtzeitig in das Komitee eingetreten" oder „Mit der Alten ist keine Verbindung da", konnte Wladimir Iljitsch nächtelang nicht schlafen. Dieser schlaflosen Nächte erinnere ich mich noch heute. Wladimir Iljitsch träumte leidenschaftlich von der Schaffung einer einheitlichen, geschlossenen Partei, in der alle Sondergruppen mit ihren auf persönlichen Sympathien und Antipathien beruhenden Beziehungen zur Partei aufgehen würden, in der es keine künstlichen Schranken, auch keine nationalen Schranken, mehr geben würde. Daher der Kampf mit dem „Bund". Die Mehrheit des „Bund" stand damals auf dem Standpunkt des „Rabotscheje Delo", und Wladimir Iljitsch zweifelte nicht daran, dass der „Bund", wenn er nur in seinen rein nationalen Angelegenheiten Autonomie bewahren wollte, unvermeidlich mit der Partei werde Hand in Hand gehen müssen. Aber der „Bund" wollte in allen Fragen völlige Selbständigkeit haben. Er sprach von einer eignen, von der SDAPR abgesonderten politischen Partei. Er wollte sich nur auf föderativer Grundlage anschließen. Für das jüdische Proletariat war diese Taktik verheerend. Das jüdische Proletariat konnte niemals allein siegen. Nur verschmolzen mit dem Proletariat von ganz Russland konnte es eine Kraft werden. Das verstanden die Bundisten nicht. Und deshalb führte die „Iskra'-Redaktion einen so leidenschaftlichen Kampf gegen den „Bund". Der Kampf ging um die Einheit, um die Geschlossenheit der Arbeiterbewegung. Die ganze Redaktion führte ihn, aber die Bundisten wussten sehr wohl, dass Wladimir Iljitsch der leidenschaftlichste Verfechter des Kampfes um die Einheit war.

Bald darauf warf die Gruppe „Befreiung der Arbeit" die Frage der Übersiedlung nach Genf von neuem auf, und diesmal war es nur Wladimir Iljitsch, der dagegen stimmte Die Reisevorbereitungen begannen. Wladimir Iljitsch war so überreizt, dass er an einem schweren Nervenleiden erkrankte, dem „heiligen Feuer", einer Entzündung der Nervenendigungen an Brust und Rücken. Er bekam einen Ausschlag, und ich versuchte, mich in einem medizinischen Nachschlagewerk zu informieren. Daraus schien hervorzugehen, dass der Ausschlag eine Art Gürtelrose sein müsse. Tachtarew, der im vierten oder fünften Semester Medizin studierte, bestätigte meine Vermutungen, und deshalb rieb ich Wladimir Iljitsch mit Jod ein, was ihm qualvolle Schmerzen verursachte. Es fiel uns gar nicht ein, uns an einen englischen Arzt zu wenden, denn das hätte eine Guinee gekostet. In England kurieren sich die Arbeiter gewöhnlich selbst, denn die Ärzte sind sehr teuer. Auf der Reise nach Genf delirierte Wladimir Iljitsch, und nach unserer Ankunft musste er sich hinlegen und volle zwei Wochen das Bett hüten.

Zu den Arbeiten, die Wladimir Iljitsch in London nicht nervös machten, sondern ihm eine gewisse Befriedigung verschafften, gehörte die Arbeit an der Broschüre „An die Dorfarmut"5. Die Bauernaufstände des Jahres 1902 hatten Wladimir Iljitsch auf den Gedanken gebracht, dass es notwendig sei, eine Broschüre für die Bauern zu schreiben. Er legte in ihr die Ziele der Arbeiterpartei dar und erklärte, warum die Dorfarmut mit den Arbeitern zusammengehen müsse. Es war die erste Broschüre, in der Wladimir Iljitsch sich an die Bauernschaft wandte.

1 Bobby – englischer Polizist.

2 Siehe W. I. Lenin: Werke, Bd. 6, S. 223-244.

3 „Juschny Rabotschi" (Der Arbeiter des Südens) – sozialdemokratische Zeitung, die von der Gruppe gleichen Namens von Januar 1900 bis April 1903 illegal herausgegeben wurde.

4 Die Auslandsliga der russischen revolutionären Sozialdemokratie wurde im Jahre 1901 gegründet, nach dem missglückten Versuch, sich mit dem „Rabotscheje Delo" zu vereinigen. Sie fasste alle revolutionären Kräfte der russischen Sozialdemokratie im Ausland zusammen. Der Liga gehörten an: die Gruppe „Befreiung der Arbeit" und die Redaktionen der „Sarja" und der „Iskra". Anm. d. russ. Red.

5 Siehe W. I. Lenin: Werke, Bd. 6, S. 357-430.

Kommentare