Der II. Parteitag (Juli-August 1903) Ursprünglich sollte der Parteitag in Brüssel stattfinden. Die ersten Sitzungen fanden auch tatsächlich dort statt. In Brüssel lebte damals Kolzow, ein alter Anhänger Plechanows. Er übernahm es, die ganze Sache zu organisieren. Es erwies sich jedoch als nicht so einfach, den Parteitag in Brüssel abzuhalten. Die Delegierten sollten sich nach Eintreffen bei Kolzow melden. Aber kaum waren die ersten vier Russen bei Kolzows angekommen, als deren Vermieterin erklärte, dass sie keine weiteren Besuche mehr dulden werde, und wenn auch nur noch ein Besucher dazukomme, so müssten sie unverzüglich die Wohnung räumen. So stand denn Frau Kolzow den ganzen Tag an der nächsten Straßenecke, um die Delegierten abzufangen und sie in den sozialistischen Gasthof, er hieß, glaube ich, „Zum Goldenen Hahn", zu dirigieren. Die Delegierten schlugen im „Goldenen Hahn" ihr lärmendes Quartier auf, und Gussew sang abends, wenn er ein Gläschen Kognak getrunken hatte, mit so mächtiger Stimme Opernarien, dass sich unter den Fenstern des Gasthofes eine Menge ansammelte. Wladimir Iljitsch liebte Gussews Gesang sehr. Besonders gern hörte er das Lied „Wir sind nicht in der Kirche getraut". Bei diesem Parteitag war man etwas zu vorsichtig ans Werk gegangen. Um die Tagung geheim zuhalten, sollte sie auf Anregung der belgischen Genossen in einem riesigen Mehlspeicher stattfinden. Durch unser Eindringen scheuchten wir aber nicht nur die Ratten, sondern auch die Polizei auf. Man munkelte von russischen Revolutionären, die sich zu irgendwelchen geheimen Beratungen versammelt hätten. Auf dem Parteitag waren 43 Delegierte mit beschließender und 14 mit beratender Stimme anwesend. Im Vergleich zu den heutigen Parteitagen, wo Hunderttausende von Parteimitgliedern durch zahlreiche Delegierte vertreten sind, scheint dieser Parteitag klein. Aber damals schien er groß: Am I. Parteitag im Jahre 1898 hatten doch insgesamt nur 9 Personen teilgenommen … Man fühlte, dass man in diesen fünf Jahren ein mächtiges Stück vorwärts gekommen war. Vor allem standen die Organisationen, die die Delegierten entsandt hatten, schon nicht mehr nur halb auf dem Papier; sie waren bereits wirklich formiert und mit der sich breit entfaltenden Arbeiterbewegung verbunden. Wie sehr hatte Wladimir Iljitsch diesen Parteitag herbeigesehnt! Sein ganzes Leben lang – bis zu seinem Tode – maß er den Parteitagen außerordentliche Bedeutung bei. Der Parteitag war für ihn die höchste Instanz, auf dem alles Persönliche wegfallen musste, hier musste alles offen ausgesprochen, nichts durfte vertuscht werden. Zu den Parteitagen bereitete sich Iljitsch daher immer besonders sorgfältig vor und überlegte seine Reden bis ins Einzelne. Ebenso ungeduldig wie Iljitsch wartete auch Plechanow auf den Parteitag. Plechanow eröffnete die Tagung. Das große Fenster des Mehlspeichers neben der improvisierten Tribüne war mit rotem Stoff verhängt. Alles war erregt. Plechanows Rede klang feierlich. Man spürte in ihr ein unverfälschtes Pathos. Wie hätte es auch anders sein können! Die langen Jahre der Emigration schienen in der Vergangenheit zu versinken; er eröffnete den Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands. Seinem Wesen nach war der II. Parteitag ein konstituierender. Auf ihm wurden die grundlegenden theoretischen Fragen aufgeworfen und das ideologische Fundament der Partei geschaffen. Auf dem I. Parteitag war nur der Name der Partei und ein Manifest über ihre Gründung angenommen worden. Ein Programm hatte die Partei bis zum II. Parteitag noch nicht. Die Redaktion der „Iskra" arbeitete das Programm aus. Es wurde in der Redaktion lange besprochen. Jedes Wort, jeder Satz wurde begründet, erwogen und heiß umstritten. Zwischen dem Münchner und dem in der Schweiz lebenden Teil der Redaktion wurde monatelang über das Programm korrespondiert. Diese Diskussionen schienen vielen Praktikern rein abstrakten Charakter zu tragen. Sie glaubten, es komme gar nicht darauf an, ob irgendein „mehr oder weniger" im Programm stehen werde oder nicht. Wladimir Iljitsch und ich erinnerten uns gelegentlich eines Vergleichs, den Leo Tolstoi an einer Stelle bringt: Er sieht einmal von weitem einen Mann in Hockstellung sitzen und sinnlos mit den Händen fuchteln. Zunächst hält er ihn für einen Verrückten. Als er aber näher herangeht, stellt er fest, dass der Mann am Bordstein sein Messer schleift. – So ist es auch mit theoretischen Diskussionen. Hört man sie nur von fern, so scheint der Streit gar keinen Sinn zu haben; vertieft man sich aber in die Sache, so sieht man, dass es um das Allerwesentlichste geht. So war es auch bei der Programmdiskussion. Als die Delegierten in Genf zusammenkamen, wurde mit ihnen am meisten und am eingehendsten die Frage des Programms besprochen. Auf dem Parteitag verlief die Diskussion darüber dann am glattesten. Auf dem II. Parteitag wurde noch eine Frage von ungeheurer Wichtigkeit behandelt, das war die Frage des „Bund". Auf dem I. Parteitag war beschlossen worden, dass der „Bund" ein Teil der Partei, wenn auch ein autonomer, sein solle. Während der fünf Jahre, die seit dem I. Parteitag verflossen waren, gab es eigentlich keine Partei als einheitliches Ganzes, und der „Bund" führte ein Sonderdasein. Er wollte diese Sonderstellung nunmehr befestigen und zur SDAPR im Verhältnis der Föderation bleiben. Der Grund dieses Verhaltens war der: Der „Bund" spiegelte die Stimmung der Handwerker der jüdischen Städtchen wider und interessierte sich deshalb sehr viel mehr für den ökonomischen als für den politischen Kampf. Deshalb sympathisierte er auch viel mehr mit den Ökonomisten als mit der „Iskra". Die Frage drehte sich darum: Sollte es im Lande eine einheitliche, starke Arbeiterpartei geben, die die Arbeiter aller auf dem Territorium Russlands wohnenden Nationalitäten eng umschloss, oder sollte es einige nach Nationalitäten getrennte Arbeiterparteien im Lande geben? Es handelte sich um den internationalen Zusammenschluss innerhalb des Landes. Die „Iskra"-Redaktion trat für den internationalen Zusammenschluss der Arbeiterklasse ein, der „Bund" für die nationale Getrenntheit und für ein lediglich freundschaftliches Vertragsverhältnis zwischen den nationalen Arbeiterparteien Russlands. Die Frage des „Bund" wurde mit den eingetroffenen Delegierten eingehend besprochen und gleichfalls mit übergroßer Mehrheit im Sinne der „Iskra" entschieden. Später hat die Tatsache der Spaltung viele Genossen übersehen lassen, dass der II. Parteitag prinzipielle Fragen von allergrößter Wichtigkeit aufgeworfen und entschieden hat. Wladimir Iljitsch fühlte sich bei der Behandlung dieser Fragen Plechanow besonders nahe. Plechanows Rede, die darauf hinauslief, dass das grundlegende demokratische Prinzip der Satz sein müsse: „Höchstes Gesetz ist das Wohl der Revolution", und dass unter dem Gesichtspunkt dieses Grundprinzips sogar das Prinzip des allgemeinen Wahlrechts betrachtet werden müsse, machte auf Wladimir Iljitsch tiefen Eindruck. Er erinnerte sich ihrer, als vierzehn Jahre später vor den Bolschewiki die Frage der Auflösung der Konstituante in ihrem ganzen Ausmaß stand. Auch die andere Rede Plechanows, über die Bedeutung der Volksbildung, die „eine Garantie für die Rechte des Proletariats" sei, stand voll und ganz mit Wladimir Iljitschs Ansichten in Einklang. Auch Plechanow fühlte sich auf dem Parteitag Lenin nahe. In seiner Entgegnung an Akimow, einen verbissenen Anhänger des „Rabotscheje Delo", der darauf aus war, Plechanow und Lenin zu entzweien, sagte Plechanow scherzend: „Napoleon hatte die Passion, seine Marschälle von ihren Frauen zu scheiden. Manche Marschälle willfahrten ihm auch, obwohl sie ihre Frauen liebten. – Genosse Akimow ähnelt in dieser Hinsicht Napoleon: Er will mich unter allen Umständen von Lenin scheiden. Aber ich werde mehr Charakter zeigen als die Marschälle Napoleons. Ich werde mich nicht von Lenin scheiden lassen, und ich hoffe, dass auch er sich von mir nicht zu scheiden beabsichtigt." Wladimir Iljitsch lachte und schüttelte verneinend den Kopf. Bei der Besprechung des ersten Punktes der Tagesordnung (Konstituierung des Parteitags) kam es bei der Frage der Hinzuziehung eines Vertreters der Gruppe „Borba" (Rjasanow, Newsorow, Gurewitsch) zu einem Zwischenfall. Das Organisationskomitee trat als geschlossene Gruppe mit einem eigenen Vorschlag auf dem Parteitag auf. Es handelte sich dabei gar nicht um die Gruppe „Borba", sondern darum, dass das Organisationskomitee seine Mitglieder gegenüber dem Parteitag durch eine besondere Disziplin zu binden suchte. Das Organisationskomitee versuchte, als geschlossene Gruppe, als Einheit aufzutreten, die vorher unter sich beschließt, wie sie abstimmen soll. Auf diese Weise wäre die höchste Instanz für den Teilnehmer am Parteitag eine Gruppe gewesen und nicht der Parteitag selbst. Wladimir Iljitsch schäumte geradezu vor Empörung. Aber er war es nicht allein, der Genossen Pawlowitsch (Krassikow) unterstützte, der sich gegen diesen Versuch wandte: auch Martow und andere ergriffen seine Partei. Das Organisationskomitee wurde zwar vom Parteitag aufgelöst, aber der Zwischenfall war doch bezeichnend und verhieß für die Zukunft allerlei Komplikationen. Übrigens trat der Zwischenfall zeitweilig zurück vor der ungeheuer wichtigen, grundlegenden Frage der Stellung des „Bund" in der Partei und der Programmfrage. In der Frage des „Bund" traten sowohl die Redaktionsmitglieder der „Iskra" wie das Organisationskomitee und die Delegierten der Ortsgruppen geschlossen auf. Jegorow (Lewin), ein Vertreter des „Juschny Rabotschi" und Mitglied des Organisationskomitees, trat ebenfalls mit aller Entschiedenheit gegen den „Bund" auf. Plechanow machte ihm in der Pause allerlei Komplimente und sagte, dass man seine Rede allen Ortsgruppen zur Kenntnis bringen müsste. Der „Bund" wurde völlig mattgesetzt. Man stellte ein für allemal die These auf, dass die nationalen Besonderheiten die Einheit der Parteiarbeit, die Geschlossenheit der sozialdemokratischen Bewegung nicht beeinträchtigen dürften. Bald musste man nach London übersiedeln. Die Brüsseler Polizei begann die Delegierten zu schikanieren und wies Semljatschka und noch jemand sogar aus. Darauf machten sich alle auf den Weg. In London förderten Tachtarews die Durchführung des Parteitags auf jede Weise. Die Londoner Polizei machte uns keine Schwierigkeiten. Die Frage des „Bund" wurde weiter behandelt. Darauf ging man, während in der Kommission die Programmfrage behandelt wurde, zum vierten Punkt der Tagesordnung über, zur Frage der Bestätigung des Zentralorgans. Als Zentralorgan wurde, unter alleinigem Widerspruch der Anhänger des „Rabotscheje Delo", einstimmig die „Iskra" anerkannt. Der „Iskra" wurde warmer Beifall gespendet. Ja, Popow (Rosanow), ein Vertreter des Organisationskomitees, sprach sogar davon, dass „wir auf dem Parteitag eine einheitliche Partei vor uns sehen, die in hervorragendem Maße durch die Tätigkeit der ,Iskra' geschaffen worden ist". Das war in der zehnten der insgesamt 37 Sitzungen. Allmählich zogen sich über dem Parteitag Wolken zusammen. Drei Genossen sollten in das Zentralkomitee gewählt werden. Es gab noch keinen Kern eines ZK. Unumstritten war die Kandidatur Glebows (Noskows), der sich als unermüdlicher Organisator bewährt hatte. Die zweite unumstrittene Kandidatur wäre die von Claire (Krschischanowski) gewesen, wenn er auf dem Parteitag anwesend gewesen wäre. Er war aber nicht zugegen. Für ihn und Kurz (Lengnik) musste in Abwesenheit, auf Grund von „Vertrauen", abgestimmt werden, was recht unbequem war. Dabei gab es auf dem Parteitag zu viele „Generäle" als Kandidaten für das ZK. Darunter Jacques (Stein, Alexandrowa), Fomin (Krochmal), Stern (Kostja, Rosa Galberstadt), Popow (Rosanow), Jegorow (Lewin). Sie alle kandidierten für zwei Sitze im Dreierkollegium des ZK. Zudem kannten alle einander nicht nur als Parteiarbeiter, sondern auch aus persönlichem Verkehr. Da bestand ein ganzes Netz von persönlichen Sympathien und Antipathien. Je näher die Wahlen heranrückten, desto gespannter wurde die Atmosphäre. Die Gruppen „Bund" und „Rabotscheje Delo" erhoben hartnäckig die Beschuldigungen, man wolle das Kommando an sich reißen und seinen Willen von einem ausländischen Zentrum aus diktieren und ähnliches mehr. Das stieß zwar zunächst auf geschlossenen Widerstand, verfehlte aber doch auf die Dauer seine Wirkung auf die schwankenden Zentristen nicht, vielleicht sogar, ohne dass es diesen Genossen zum Bewusstsein kam. Wessen Kommando fürchtete man denn? Etwa das von Martow, Sassulitsch, Potressow oder Axelrod? Natürlich nicht. Man fürchtete das Kommando Lenins und Plechanows. Und man wusste sehr wohl: die Frage der Zusammensetzung, die Frage der Arbeit in Russland, werde nicht Plechanow, der der praktischen Arbeit fern stand, sondern Lenin entscheiden. Der Parteitag bestätigte die Richtung der „Iskra", aber die Bestätigung der Redaktion stand noch aus. Wladimir Iljitsch machte den Vorschlag, die Redaktion der „Iskra" aus drei Personen zusammenzusetzen. Von diesem Vorschlag hatte Wladimir Iljitsch vorher Martow und Potressow in Kenntnis gesetzt. Als die Delegierten ankamen, vertrat Martow ihnen gegenüber den Standpunkt, dass die Redaktion am besten aus drei Personen zusammengesetzt werde. Damals nahm er noch an, das Triumvirat sei vor allem gegen Plechanow gerichtet. Als Wladimir Iljitsch den Zettel mit dem Vorschlag der Redaktionszusammensetzung Plechanow übergab, sagte Plechanow kein Wort dazu und steckte den Zettel, nachdem er ihn gelesen hatte, schweigend in die Tasche. Er hatte verstanden, worum es ging, aber er nahm es hin. Da es sich um die Partei handelte, war sachliche Arbeit erforderlich. Martow verkehrte am meisten von allen Redaktionsmitgliedern in den Kreisen des Organisationskomitees. Man redete ihm sehr bald ein, dass das Triumvirat gegen ihn selbst gerichtet sei und dass er durch seinen Eintritt Sassulitsch, Potressow und Axelrod verraten werde. Axelrod und Sassulitsch waren in höchster Aufregung. In dieser Atmosphäre nahm die Auseinandersetzung über den Paragraphen 1 des Statuts besonders scharfen Charakter an. Lenin und Martow gingen in der Frage des Paragraphen i des Parteistatuts politisch und organisatorisch auseinander. Sie hatten auch früher oft Differenzen, aber diese Differenzen waren innerhalb eines engen Kreises geblieben und daher rasch aus der Welt geschafft. Jetzt aber traten die Meinungsverschiedenheiten vor dem Parteitag zutage, und alle, die der „Iskra", Plechanow und Lenin grollten, bemühten sich, die Differenzen zu einer großen prinzipiellen Frage aufzubauschen. Man fing an, Lenin wegen des Artikels „Womit beginnen?" und wegen der Broschüre „Was tun?" anzugreifen, bezichtigte ihn des Ehrgeizes und ähnliches mehr. Wladimir Iljitsch trat auf dem Parteitag auf. In seiner Broschüre „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück", schrieb er: „Unwillkürlich fällt mir bei dieser Gelegenheit ein Gespräch ein, das ich auf dem Parteitag mit einem Delegierten des ,Zentrums' hatte. ,Welch drückende Atmosphäre herrscht doch auf unserm Parteitag!' beklagte er sich bei mir. ,Dieser erbitterte Kampf, diese Agitation gegeneinander, diese scharfe Polemik, dieses unkameradschaftliche Verhältnis!…'- ,Was für eine herrliche Sache ist doch unser Parteitag!' antwortete ich ihm. ,Ein freier, offener Kampf. Die Meinungen sind geäußert. Die Schattierungen haben sich abgezeichnet. Die Gruppen sind umrissen. Die Hände haben sich erhoben. Der Beschluss ist gefasst. Eine Etappe ist zurückgelegt. Es geht vorwärts! – das lobe ich mir. Das ist Leben. Das ist etwas anderes als die endlosen, langweiligen intelligenzlerischen Wortgefechte, die nicht deshalb aufhören, weil die Frage entschieden wäre, sondern einfach deshalb, weil die Leute des Redens müde sind …' Der Genosse vom ,Zentrum' sah mich mit erstaunten Augen an und zuckte die Achseln. Wir redeten in verschiedenen Sprachen."1 Dieses Zitat zeigt Iljitsch, wie er leibt und lebt. Seit Beginn des Parteitags waren seine Nerven aufs äußerste angespannt. Die belgische Arbeiterin, bei der wir in Brüssel logierten, bedauerte ständig, dass Wladimir Iljitsch die schönen Radieschen und den holländischen Käse verschmähte, die sie ihm morgens vorsetzte. Aber er dachte schon nicht mehr ans Essen. In London erreichte dieser Zustand seinen Höhepunkt. Er schlief überhaupt nicht mehr und war schrecklich aufgeregt. So scharf Wladimir Iljitsch in der Diskussion auch auftrat, als Vorsitzender war er in höchstem Maße unparteiisch. Er ließ sich auch nicht die mindeste Ungerechtigkeit gegenüber dem Gegner zuschulden kommen. Plechanow war darin ganz anders. Wenn Plechanow den Vorsitz führte, liebte er es, durch besonderen Witz zu glänzen und den Gegner damit zu reizen. Die große Mehrheit der Delegierten hatte zwar in der Frage der Stellung des „Bund" innerhalb der Partei, in der Frage des Programms, in der Frage der Anerkennung der Richtung der „Iskra" als ihr Banner keine Meinungsverschiedenheiten. Trotzdem fühlte man schon im Verlauf des Parteitags einen bestimmten Riss, der sich gegen Ende der Tagung vertiefte. Ernsthafte Meinungsverschiedenheiten, die die gemeinsame Arbeit gestört und unmöglich gemacht hätten, gab es eigentlich auf dem II. Parteitag noch nicht, sie waren vorerst noch latent, sozusagen nur potentiell vorhanden. Und doch zerfiel der Parteitag bereits deutlich in zwei Lager. Viele machten dafür nur die Taktlosigkeit Plechanows, Lenins „Tobsucht" und „Ehrgeiz", Pawlowitschs Gehässigkeit und die Wera Sassulitsch und Axelrod widerfahrene Ungerechtigkeit verantwortlich. Sie schlossen sich deshalb den Beleidigten an und übersahen über den Personen die Sache selbst. So auch Trotzki, der sich in einen wütenden Gegner Lenins verwandelte. Der Kern der Sache war aber der, dass die Genossen um Lenin viel mehr Nachdruck auf die Grundsätze legten; sie wollten sie unbedingt verwirklichen, wollten die ganze Arbeit damit durchtränken. Die andere Gruppe hingegen war mehr kleinbürgerlich gesinnt; sie war zu Kompromissen, zu prinzipiellen Zugeständnissen bereit und schaute mehr auf die Person. Bei den Wahlen nahm der Kampf äußerst scharfe Formen an. Einige dieser Auftritte vor den Wahlen sind mir noch gegenwärtig. So warf Axelrod Bauman (Sorokin) Mangel an sittlichem Empfinden vor und führte irgendeine Klatschgeschichte aus der Verbannung an. Bauman schwieg, aber in seine Augen waren Tränen getreten. Ein anderes Bild. Deutsch stellte Glebow (Noskow) wütend wegen irgend etwas zur Rede. Dieser hob den Kopf und sagte ärgerlich mit aufblitzenden Augen: „Halten Sie doch Ihre Zunge mehr im Zaum, Papachen!" Der Parteitag ging zu Ende. In das ZK wurden Glebow, Claire und Kurz gewählt, wobei sich von 44 Delegierten mit beschließender Stimme 20 der Abstimmung enthielten. In die Redaktion des Zentralorgans wurden Plechanow, Lenin und Martow gewählt. Martow lehnte die Mitarbeit an der Redaktion ab. Die Spaltung war da. 1 W. I. Lenin: Werke, Bd. 7. S- 349. |