Die letzten Monate in der Emigration. Die Februarrevolution Abreise nach Russland Eines Tages, als Lenin nach dem Mittagessen gerade in die Bibliothek gehen wollte und ich eben das Geschirr weggeräumt hatte, kam Bronski mit den Worten angelaufen: „Haben Sie gehört?! In Russland ist die Revolution ausgebrochen!" und erzählte uns, was er in den Extrablättern gelesen hatte. Als Bronski gegangen war, eilten wir zum See, dort wurden an einer bestimmten Stelle sämtliche Zeitungen sofort nach ihrem Erscheinen ausgehängt. Wir lasen die Telegramme mehrere Male. In Russland war tatsächlich die Revolution ausgebrochen. Lenins Hirn arbeitete aufs Intensivste. Ich weiß nicht mehr, wie dieser Tag und die Nacht zu Ende gingen. Am nächsten Tag trafen neue Regierungstelegramme über die Februarrevolution ein, und Lenin schreibt schon an die Genossin Kollontai in Stockholm: „In keinem Fall wieder nach dem Muster der II. Internationale! In keinem Fall zusammen mit Kautsky! Unbedingt ein revolutionäreres Programm und eine revolutionärere Taktik!" Und weiter … „Nach wie vor revolutionäre Propaganda und Agitation und Kampf mit dem Ziel der proletarischen Weltrevolution und der Eroberung der Macht durch die Sowjets der ,Arbeiterdeputierten' (und nicht durch kadettische Gauner)."1 Lenin schlug von Anfang an eine klare, unversöhnliche Linie ein, aber das Ausmaß der Revolution hatte er noch nicht erfasst, er legte noch den Maßstab der Revolution von 1905 an, sagte, dass die wichtigste Aufgabe in diesem Moment die Verbindung der legalen Arbeit mit der illegalen sei. Am nächsten Tag, als Antwort auf das Telegramm der Genossin Kollontai, die Direktiven verlangte, schreibt Lenin schon anders, konkreter; hier spricht er schon nicht mehr von der Eroberung der Macht durch die Sowjets der Arbeiterdeputierten in der Zukunft, hier spricht er vielmehr von der konkreten Vorbereitung zur Machtergreifung, von der Bewaffnung der Massen, vom Kampf um Brot, um Frieden und Freiheit. „Heran an die Massen! Neue Schichten mobilisieren! Überall neue Initiative wecken, neue Organisationen in allen Schichten schaffen und ihnen beweisen, dass nur der bewaffnete Sowjet der Arbeiterdeputierten, indem er die Macht ergreift, den Frieden bringen kann."2 Er machte sich zusammen mit Sinowjew daran, eine Resolution über die Februarrevolution zu verfassen. Vom ersten Augenblick an, nachdem die Nachricht von der Februarrevolution eingetroffen war, brannte Lenin darauf, nach Russland zu fahren. England und Frankreich hätten die Bolschewiki niemals nach Russland durchgelassen. Darüber war sich Lenin völlig im Klaren. „Wir fürchten", schrieb er an die Genossin Kollontai, „dass es uns nicht so schnell gelingen wird, aus der verfluchten Schweiz herauszukommen."3 Und in seinen Briefen vom 16. und 17. März vereinbart er deswegen mit ihr die Herstellung von Verbindungen mit den Genossen in Petersburg. Legale Reisewege gab es nicht, man musste also illegal fahren. Aber wie? Lenin konnte nicht mehr schlafen, seit die Nachricht von der Revolution eingetroffen war, und des Nachts wurden die unwahrscheinlichsten Pläne entworfen: Man könnte ja mit einem Flugzeug hinüber fliegen … Aber diese Möglichkeit konnte man nur in nächtlichen Phantasien in Betracht ziehen. Man brauchte diesen Plan nur laut auszusprechen, um sofort die ganze Unmöglichkeit seiner Durchführung einzusehen. Am besten war es, sich den Pass irgendeines neutralen Ausländers, etwa eines Schweden, zu verschaffen. Schweden erregten am wenigsten Verdacht. Einen schwedischen Pass konnte man schließlich durch schwedische Genossen besorgen; aber die Unkenntnis der schwedischen Sprache war ein Hindernis. Vielleicht ginge es mit dem Pass eines stummen Schweden? Aber dabei konnte man sich zu leicht verraten. „Du schläfst ein, siehst im Traum Menschewiki und fängst an laut zu schimpfen: Schweinebande, Halunken! Da ist's dann mit der ganzen Konspiration vorbei", lachte ich. Trotzdem fragte Lenin bei Hanecki an, ob es keine Möglichkeit gäbe, sich irgendwie durch Deutschland hindurch zu schmuggeln. Am 18. März, dem Tag der Pariser Kommune, fuhr Lenin nach La Chaux-de-Fonds, einem großen Schweizer Arbeiterzentrum. Er fuhr besonders gern dorthin, weil dort Abramowitsch, ein junger Genosse, wohnte, der in einer dortigen Fabrik arbeitete und an der Schweizer Arbeiterbewegung aktiven Anteil nahm. Lenin dachte in diesen Tagen sehr viel an die Pariser Kommune, dachte darüber nach, wie man ihre Erfahrungen für die begonnene russische revolutionäre Bewegung ausnutzen könnte, wie man vermeiden könnte, ihre Fehler zu wiederholen, und aus diesem Grunde fiel sein Vortrag, den er über dieses Thema hielt, so gut aus, dass er selbst zufrieden war. Auf unsere Genossen machte dieser Vortrag einen außerordentlich tiefen Eindruck, den Schweizern dagegen erschien er wenig real – so fern standen sogar die Arbeiter der Schweizer Zentren einem wirklichen Verständnis für die Ereignisse, die sich in Russland abspielten. Am 19. März fand eine Beratung der verschiedenen russischen internationalistischen Emigrantengruppen der Schweiz statt, in der die Möglichkeit der Rückkehr nach Russland besprochen wurde. Martow schlug vor, die Rückkehr der Emigranten durch Deutschland im Austausch gegen in Russland internierte deutsche und österreichische Kriegsgefangene zu erwirken. Aber darauf ging niemand ein. Nur Lenin griff diesen Plan auf. Die Durchführung dieses Plans musste mit großer Vorsicht bewerkstelligt werden. Am besten wäre es, wenn die Verhandlungen auf Anregung der Schweizer Regierung geführt würden. Grimm wurde beauftragt, mit der Schweizer Regierung dahingehend zu verhandeln. Es wurde aber nichts daraus. Auf die nach Russland abgesandten Telegramme traf keine Antwort ein. „Was für eine Qual für uns alle ist es", schrieb er nach Stockholm an Hanecki, „in solcher Zeit hier zu sitzen!" Aber trotz dieser Pein legte er Selbstbeherrschung an den Tag. Am 18. März begann in Petrograd die „Prawda" (Wahrheit) zu erscheinen, und Lenin schrieb vom 20. März an die „Briefe aus der Ferne" für sie. Es waren insgesamt fünf Briefe („Die erste Etappe der ersten Revolution", „Die neue Regierung und das Proletariat", „Über die proletarische Miliz", „Wie erringen wir den Frieden", „Die Aufgaben der revolutionären proletarischen Staatsordnung"). Abgedruckt wurde nur der erste Brief, und zwar am Tag der Ankunft Lenins in Petrograd; die übrigen lagen alle in der Redaktion, bis auf den letzten, der gar nicht abgeschickt worden war; Lenin hatte ihn unmittelbar vor seiner Abreise nach Russland begonnen. Diese Briefe veranschaulichen besonders deutlich, woran Lenin in der letzten Zeit vor seiner Abreise nach Russland dachte. Besonders lebhaft erinnere ich mich an das, was er damals über die Miliz sagte. Dieser Frage ist der dritte der „Briefe aus der Ferne" – „Über die proletarische Miliz" – gewidmet. Er wurde erst nach Lenins Tode, im Jahre 1924, veröffentlicht. Lenin äußerte darin seine Gedanken über den proletarischen Staat. Wer das Buch Lenins „Staat und Revolution" restlos verstehen will, der muss auch diesen „Brief aus der Ferne" lesen. Der ganze Artikel ist außerordentlich konkret, beschreibt eine Miliz neuen Typs, die sich aus sämtlichen bewaffneten Bürgern, aus allen erwachsenen Bürgern beiderlei Geschlechts zusammensetzt. Diese Miliz soll, abgesehen von ihren militärischen Funktionen, auch die richtige und schnelle Verteilung des Brotes und anderer Lebensmittelvorräte durchführen, die sanitäre Aufsicht führen, dafür sorgen, dass jede Familie Brot, jedes Kind eine Flasche guter Milch erhält und dass kein Erwachsener aus einer reichen Familie es wagen kann, Milch in Anspruch zu nehmen, solange nicht alle Kinder ausreichend versorgt sind; sie soll dafür sorgen, dass die Paläste und Luxuswohnungen der Reichen nicht leer stehen, sondern den Besitzlosen und Obdachlosen als Heim dienen. „Wer kann diese Maßnahmen durchführen, wenn nicht eine allgemeine Volksmiliz, an der die Frauen unbedingt gleichberechtigt mit den Männern teilnehmen? Solche Maßnahmen sind noch kein Sozialismus. Sie betreffen die Regelung der Konsumtion, nicht aber die Reorganisierung der Produktion … Doch nicht darum geht es jetzt, wie diese Maßnahmen theoretisch zu klassifizieren sind. Es wäre der größte Fehler, wenn wir die komplizierten, aktuellen, sich rasch entwickelnden praktischen Aufgaben der Revolution in das Prokrustesbett einer zu eng verstandenen ,Theorie' zwängten, statt in der Theorie vor allem und in erster Linie eine Anleitung zum Handeln zu sehen."4 Die proletarische Miliz würde die wirkliche Erziehung der Massen zur Teilnahme an allen Staatsgeschäften durchführen. „Eine solche Miliz würde die Jugendlichen in das politische Leben einbeziehen und sie nicht nur durch das Wort, sondern auch durch die Tat, durch die Arbeit erziehen."5. „Auf der Tagesordnung steht die Aufgabe der Organisation, diese Aufgabe darf aber keinesfalls schablonenhaft aufgefasst werden, in dem Sinne, dass man lediglich daran arbeitet, die der alten Schablone entsprechenden Organisationen zu entwickeln, sondern in dem Sinne, dass beispiellos breite Massen der unterdrückten Klassen zur Organisation herangezogen werden und dass eben diese Organisation die militärischen, staatlichen und volkswirtschaftlichen Aufgaben erfüllt."6 Wenn man jetzt, lange Jahre später, diese Worte wieder liest, ersteht vor einem der ganze Lenin – einerseits die ungewöhnliche Nüchternheit der Gedanken, das klare Bewusstsein von der Notwendigkeit unversöhnlichen bewaffneten Kampfes, von der Unzulässigkeit irgendwelcher Zugeständnisse, irgendwelcher Schwankungen in diesem Moment; und andererseits das gespannte Interesse für die Massenbewegung, für eine neuartige Organisierung der breitesten Massen, für die konkreten Bedürfnisse der Massen und die Sorge für unverzügliche Besserung ihrer Lage. Über das alles hat Lenin im Winter 1916/1917 viel gesprochen, besonders viel aber in der Zeit kurz vor der Februarrevolution. Die Verhandlungen über die Abreise zogen sich in die Länge. Es lag auf der Hand, dass die Provisorische Regierung keine Lust verspürte, die Internationalisten nach Russland hineinzulassen. Dazu kam, dass die Nachrichten, die aus Russland eintrafen, von einem gewissen Schwanken unserer dortigen Genossen sprachen. All das mahnte zur möglichsten Beschleunigung der Abreise. Lenin schickte ein Telegramm an Hanecki, das dieser erst am 25. März erhielt: „Bei uns unverständliche Verzögerung. Menschewiki verlangen Sanktion des Sowjets der Arbeiterdeputierten. Schicken Sie unverzüglich jemand nach Finnland oder Petrograd, um mit Tschcheïdse zum Einverständnis zu gelangen, soweit dies möglich. Erwünscht wäre die Meinung Belenins."7 Mit Belenin war das Büro des Zentralkomitees gemeint. Am 18. März traf die Genossin Kollontai in Russland ein und berichtete dort, wie die Angelegenheit mit der Reise Lenins stand. Briefe von Hanecki trafen ein. Das Büro des Zentralkomitees sandte durch Hanecki die Direktive: „Uljanow soll sofort kommen."8 Dieses Telegramm gab Hanecki telegrafisch an Lenin weiter. Lenin bestand darauf, durch die Vermittlung Fritz Plattens, des Schweizer Sozialisten und Internationalisten, Verhandlungen zu beginnen. Platten traf ein genau formuliertes schriftliches Abkommen mit dem deutschen Gesandten in der Schweiz. Die Hauptpunkte dieses Abkommens waren: 1. Es reisen alle Emigranten ohne Unterschied ihres Standpunkts gegenüber dem Krieg; 2. den Waggon, in dem die Emigranten reisen, darf niemand ohne die Erlaubnis Plattens betreten. Weder Pässe noch Gepäck werden kontrolliert; 3. die Abreisenden verpflichten sich, in Russland für die Freilassung einer entsprechenden Zahl von österreichischen und deutschen Internierten im Austausch gegen die durchgelassenen Emigranten einzutreten. Lenin begann, sich energisch auf die Abreise vorzubereiten, und korrespondierte mit einer Reihe von Genossen in Bern und Genf. Die „Wperjod"-Gruppe, mit der er unterhandelte, weigerte sich zu reisen. Zwei schwerkranke Genossen, Karl und Kasparow, die später in Davos gestorben sind, mussten wir zurücklassen. Lenin sandte ihnen einen Abschiedsgruß. Eigentlich war es nur ein Zusatz zu einem langen Brief von mir. Ich schrieb ausführlich darüber, wer fährt, wie wir uns zur Reise rüsten und welche Pläne wir hatten. Lenin schrieb nur einige Worte; aber aus ihnen war ersichtlich, wie gut er verstand, was die zurückbleibenden Genossen durchmachten, wie schwer ihnen zu Mute war, und er sagte das Wichtigste: „Teurer Kasparow! Ich drücke Ihnen fest, fest die Hand. Ich wünsche Ihnen und Karl Mut. Sie müssen Geduld haben. Ich hoffe, dass wir uns in Petersburg treffen werden, und zwar bald. Noch einmal die besten Grüße an Sie alle beide. Ihr Lenin."9 „Ich wünsche Ihnen Mut, Sie müssen Geduld haben" … Ja, darauf kam es an. Wir sahen sie nicht wieder. Sowohl Kasparow als auch Karl starben bald. Für die Züricher Zeitung „Volksrecht" schrieb Lenin ein Autorreferat „Über die Aufgaben der SDAPR in der russischen Revolution"; außerdem schrieb er den „Abschiedsbrief an die Schweizer Arbeiter", der mit den Worten schließt: „Es lebe die beginnende proletarische Revolution in Europa!"10 Ferner schrieb er einen Brief „An die Kameraden, die in der Kriegsgefangenschaft schmachten", in dem er ihnen von der Revolution und von dem bevorstehenden Kampf erzählte. Man musste ihnen unbedingt schreiben. Schon während wir noch in Bern lebten, hatten wir einen Briefwechsel mit den in deutschen Lagern internierten russischen Kriegsgefangenen organisiert und auf ziemlich breiter Basis ausgebaut. Eine bedeutende materielle Unterstützung konnten wir den Gefangenen nicht zukommen lassen, aber wir halfen, wie wir eben konnten, schickten Briefe und Literatur. Auf diese Weise hatten wir eine Reihe von sehr engen Verbindungen angeknüpft. Nach unserer Abreise aus Bern setzten die Safarows diese Arbeit fort. Wir sandten in die Gefangenenlager illegale Literatur, die Broschüre der Genossin Kollontai über den Krieg, die großen Erfolg hatte, eine Reihe Flugblätter usw. Wenige Monate vor unserer Abreise aus Zürich erschienen zwei Kriegsgefangene bei uns, der eine ein Bauer, Michalew, aus Woronesch, der andere ein Arbeiter aus Odessa. Beide waren aus einem deutschen Kriegsgefangenenlager entflohen, hatten den Bodensee durchschwommen und tauchten nun in unserer Züricher Gruppe auf. Lenin unterhielt sich viel mit ihnen. Besonders interessant erzählte Michalew über die Gefangenschaft. Er berichtete, wie man die ukrainischen Gefangenen zuerst nach Galizien gebracht und eine ukrainophile Agitation unter ihnen entfaltet hätte, wobei sie in jeder Weise gegen Russland aufgehetzt wurden. Er selbst wurde dann nach Deutschland gebracht und arbeitete in reichen Bauernwirtschaften. „Wie gut bei denen alles organisiert ist, keine Brotrinde kommt um! Wenn ich jetzt nach Hause ins Dorf zurückkomme, werde ich genauso wirtschaften!" erklärte Michalew. Er entstammte einer „Altgläubigen"-Familie, seine Großeltern hatten ihm verboten, schreiben und lesen zu lernen, weil sie glaubten, der Teufel habe die Buchstaben erfunden. Aber in der Gefangenschaft lernte er es dann doch. Von den Großeltern erhielt er Pakete mit Hirse und Speck. Die Deutschen hätten sehr verwundert zugeschaut, wie er den Hirsebrei bereitete und aß, erzählte er. In Zürich wollte Michalew an der Volksuniversität studieren und war sehr empört, als er hörte, dass es in Zürich keine Volksuniversität gibt. Er wurde interniert und bei Erdarbeiten beschäftigt und wunderte sich, wie verängstigt die Schweizer Arbeiter sind. „Da gehe ich", erzählte er, „ins Kontor, um meinen Lohn abzuholen, und sehe, wie Schweizer Arbeiter vor der Tür stehen und sich nicht hinein trauen, sich in den Ecken herumdrücken und verlegen zum Fenster hineinschauen. Was für ein eingeschüchtertes, verängstigtes Volk! Ich komme, mache sofort die Tür auf und gehe ins Kontor hinein – ich hole ja das Geld für meine Arbeit!" Dieser Bauer aus dem Zentralen Schwarzerdegebiet, der soeben erst lesen und schreiben gelernt hatte und sich über das verängstigte Wesen der Schweizer Arbeiter wunderte, interessierte Lenin außerordentlich. Michalew erzählte noch, wie einmal, als er noch in deutscher Gefangenschaft war, ein russischer Pope das Lager aufsuchte. Aber die Soldaten wollten ihn nicht anhören, schrien und schimpften. Schließlich trat ein Gefangener an den Popen heran, küsste ihm die Hand und sagte: „Gehen Sie fort, Väterchen, hier ist kein Platz für Sie." Michalew und seine Kameraden baten, sie nach Russland mitzunehmen, aber wir konnten nicht wissen, wie alles ablaufen würde, es konnte auch möglich sein, dass wir alle verhaftet wurden. Nach unserer Abreise schlug sich Michalew dann nach Frankreich durch, wo er zuerst in Paris lebte, dann in einer Traktorenfabrik arbeitete und schließlich irgendwo im Osten Frankreichs unterkam, wo viele polnische Emigranten waren. 1918 (oder 1919, ich weiß es nicht mehr genau), kehrte Michalew nach Russland zurück. Er kam zu Lenin und erzählte ihm, wie man in Paris ihn und noch andere russische Kriegsgefangene, die aus den deutschen Lagern entflohen waren, aufgefordert hatte, in die russische Botschaft zu kommen; dort schlug man ihnen vor, einen Aufruf zu unterschreiben, in dem von der Notwendigkeit die Rede war, den Krieg bis zum siegreichen Ende weiterzuführen. Und obwohl gewichtige, ordengeschmückte zaristische Beamte die Soldaten überreden wollten, unterzeichneten sie den Aufruf doch nicht: „Ich stand auf und sagte, der Krieg müsse ein Ende haben, und ging fort. Auch die andern schlichen sich leise hinaus." Weiter erzählte Michalew von der Agitation gegen den Krieg, die die Jugend in dem französischen Städtchen, in dem er gelebt hatte, entfaltete. Michalew selbst erinnerte in nichts mehr an einen Woronescher Bauern: auf dem Kopf ein französisches Käppi, um die Beine feldgraue Wickelgamaschen, das Gesicht sorgfältig rasiert. Lenin brachte Michalew in einer Fabrik als Arbeiter unter. Aber Michalews Gedanken waren auf sein heimatliches Dorf gerichtet. Dieses Dorf ging im Bürgerkrieg von einer Hand in die andere über, von den Roten zu den Weißen, die fast das ganze Dorf niederbrannten; aber sein Haus war heil geblieben, und die Großeltern lebten. Michalew kam zu mir in den „Glawpolitproswet" und erzählte das alles, und dass es ihn nach Hause ziehe. „Warum fahren Sie denn nicht hin?" fragte ich ihn. „Ich muss warten, bis mir der Bart wieder gewachsen ist, denn wenn die Großeltern mein glattrasiertes Gesicht sehen, so sterben sie vor Kummer!" In diesem Jahr erhielt ich einen Brief von Michalew. Er arbeitet irgendwo in Mittelasien bei der Eisenbahn und schreibt, dass er am Lenin-Gedenktage im Arbeiterklub erzählt habe, wie er 1917 in Zürich Lenin kennengelernt hätte, und dass er unser Leben im Ausland geschildert habe. Alle hätten mit Interesse zugehört, dann aber zu zweifeln begonnen, ob das auch wahr sei, und deshalb bitte er mich jetzt zu bestätigen, dass er wirklich in Zürich bei Lenin gewesen sei. Michalew stellte für uns in Zürich ein Stück wirklichen Lebens dar. Und ein ebensolches Stück echten Lebens waren auch die Briefe der Kriegsgefangenen, die in unserer Kommission zur Unterstützung der Gefangenen einliefen; und Lenin konnte nicht nach Russland reisen, ohne ihnen vorher über das geschrieben zu haben, was ihn in diesem Augenblick am meisten bewegte. Als aus Bern der Brief mit der Mitteilung eintraf, dass die Verhandlungen Plattens günstig ausgegangen waren, dass nur das Protokoll zu unterzeichnen war und wir dann nach Russland fahren konnten, wollte Iljitsch sofort aufbrechen: „Wir fahren mit dem ersten Zug nach Bern!" Bis zur Abfahrt blieben noch zwei Stunden. In diesen zwei Stunden mussten wir also unseren ganzen „Haushalt" liquidieren, mit der Wirtin abrechnen, die Bücher in die Bibliothek zurückbringen, packen usw. „Fahre allein, ich komme morgen nach." Aber davon wollte Iljitsch nichts hören: „Nein, wir fahren zusammen." Und schließlich wurde alles in diesen zwei Stunden erledigt: Briefe vernichtet, Bücher verpackt, die notwendigen Kleidungsstücke und Sachen ausgesucht und der ganze Haushalt aufgelöst. Wir fuhren mit dem ersten Zug nach Bern. Die nach Russland reisenden Genossen trafen sich im Berner Volkshaus: wir, Sinowjews, Ussijewitschs, Ines Armand, Safarows, Olga Rawitsch, Abramowitsch aus La Chaux-de-Fonds, Grebelskaja, Charitonow, Linde, Rosenblum, Boizow, Micha Zchakaja, Marienhofs, Sokolnikow. Als angeblicher Russe fuhr auch Radek mit. Insgesamt waren wir 30 Personen, den vierjährigen krausköpfigen Robert, das Söhnchen einer Bundistin, das mit uns fuhr, nicht mitgerechnet. Fritz Platten begleitete uns. Die „Vaterlandsverteidiger" erhoben damals ein wüstes Geschrei über die Reise der Bolschewiki durch Deutschland. Die deutsche Regierung ging natürlich, als sie die Durchreiseerlaubnis erteilte, von dem Gedanken aus, dass eine Revolution das größte Unglück für ein Land sei und dass die bolschewistischen internationalistischen Emigranten, die mit ihrer Genehmigung Deutschland passierten, der Entfaltung der Revolution in Russland förderlich sein würden. Gewiss hielten es die Bolschewiki für ihre Pflicht, in Russland revolutionäre Agitation zu entfalten, die siegreiche proletarische Revolution war das Ziel ihrer Tätigkeit, und was die bürgerliche deutsche Regierung dachte, interessierte sie sehr wenig. Sie wussten, dass die „Vaterlandsverteidiger" sie mit Schmutz überschütten würden, dass aber die Massen schließlich doch mit ihnen gehen würden. Damals, am 27. März, wagten nur die Bolschewiki diese Reise, einen Monat später jedoch benutzten über 200 andere Emigranten, darunter Martow und andere Menschewiki, ebenfalls den Weg durch Deutschland. Weder nach unserem Gepäck noch nach Pässen wurde gefragt, als wir den Zug bestiegen. Lenin hatte sich ganz in sich selbst zurückgezogen, seine Gedanken weilten schon in Russland. Unterwegs wurde mehr von Kleinigkeiten gesprochen. Durch den ganzen Wagen klang die vergnügte Stimme des kleinen Robert, der Sokolnikow gegenüber besondere Sympathien bezeugte und mit den weiblichen Mitreisenden keine Unterhaltung führen wollte. Die Deutschen bemühten sich zu zeigen, dass bei ihnen an allem Überfluss herrsche. Man servierte uns ein ausgezeichnetes Mittagessen, wie wir Emigranten es keineswegs gewöhnt waren. Wenn wir zu den Fenstern hinaussahen, fiel uns die völlige Abwesenheit erwachsener Männer auf, nur Frauen, Jugendliche und Kinder waren auf den Bahnhöfen, auf den Feldern und in den Straßen der Städte zu sehen. An dieses Bild musste ich später in den ersten Petrograder Tagen häufig zurückdenken, wo es von Soldaten wimmelte, die alle Straßenbahnen überfüllten. In Berlin wurde unser Zug auf ein Reservegleis geleitet. In der Nähe von Berlin bestiegen irgendwelche deutsche Sozialdemokraten ein Extraabteil. Niemand von unseren Genossen sprach mit ihnen, nur der kleine Robert schaute neugierig in ihr Abteil hinein und fragte sie auf französisch: „Was tut der Kondukteur?" Ich weiß nicht, ob die Deutschen dem kleinen Robert antworteten, was der Kondukteur tue; jedenfalls gelang es ihnen nicht, den Bolschewiki ihre Fragen vorzulegen. Am 31. März passierten wir die schwedische Grenze. In Stockholm wurden wir von den schwedischen sozialdemokratischen Abgeordneten Lindhagen, Karlsson, Ström, Ture Nerman und anderen empfangen. Im Saal hing eine rote Fahne, und es wurde eine Versammlung abgehalten. Ich besinne mich nicht recht auf Stockholm – die Gedanken waren schon zu sehr in Russland. Platten und Radek gestattete die Provisorische Regierung nicht die Einreise. Den Bolschewiki gegenüber getraute sie sich das nicht. Auf finnischen Schlitten fuhren wir aus Schweden nach Finnland. Alles war schon so lieb und vertraut: die schlechten Dritteklassewagen, die russischen Soldaten – wunderbar schön erschien uns das alles. Robert saß bald auf dem Arm irgendeines älteren Soldaten, umklammerte mit seinen kleinen Ärmchen dessen Hals, stammelte irgend etwas auf französisch und aß „Pascha"11, mit der ihn der Soldat fütterte. Wir umdrängten alle die Fenster. Auf den Stationen, die wir passierten, standen die Soldaten in Gruppen beisammen. Ussijewitsch steckte den Kopf zum Fenster hinaus. „Es lebe die Weltrevolution!" rief er. Die Soldaten blickten ihn verwundert an. Ein sehr blasser Leutnant ging einige Male an uns vorüber, und als Iljitsch mit mir in den benachbarten leeren Waggon hinüberging, setzte er sich zu uns und begann sich mit Iljitsch zu unterhalten. Der Leutnant teilte den Standpunkt der „Vaterlandsverteidiger". Wladimir Iljitsch verteidigte seine Ansichten – auch er war außerordentlich bleich. Nach und nach kamen immer mehr Soldaten in den Waggon, bis er ganz voll war. Die Soldaten kletterten auf die Bänke, um denjenigen besser zu sehen und zu hören, der in einer Sprache, die ihnen so gut verständlich war, gegen den Raubkrieg sprach. Und von Minute zu Minute stieg ihre Aufmerksamkeit, wurde der Ausdruck ihrer Gesichter gespannter. In Beloostrow12 empfingen uns Lenins Schwester Maria Iljinitschna, Schljapnikow, die Genossin Stal und andere Genossen. Auch Arbeiterinnen waren dabei. Die Genossin Stal redete mir zu, ihnen einige Worte zur Begrüßung zu sagen, aber mir war die Kehle wie zugeschnürt vor Aufregung. Wir fuhren gemeinsam weiter. Lenin fragte, ob man uns bei unserer Ankunft verhaften würde; die Genossen lächelten bei dieser Frage. Bald kamen wir in Petrograd an. In Petrograd Die Petrograder Massen – Arbeiter, Soldaten, Matrosen – waren gekommen, um ihren Führer zu empfangen. Viele uns nahestehende Genossen waren darunter, unter anderen Tschugurin, ein ehemaliger Schüler der Parteischule in Longjumeau, mit einer breiten roten Schärpe über der Schulter; sein Gesicht war feucht von Tränen. Rundherum ein wogendes Menschenmeer. Wer keine Revolution erlebt hat, kann sich keinen Begriff machen von ihrer majestätischen feierlichen Schönheit. Rote Fahnen, eine Ehrenkompanie Kronstädter Matrosen, die Scheinwerfer der Peter-Pauls-Festung, die den Weg vom Finnländischen Bahnhof bis zum Palais der Krzesinska beleuchteten, Panzerautos, lange Ketten von Arbeitern und Arbeiterinnen längs des Weges. Als offizielle Vertreter des Petrograder Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten waren Tschcheïdse und Skobelew zum Bahnhof gekommen. Die Genossen führten Lenin in die Zarengemächer auf dem Bahnhof, wo ihn Tschcheïdse und Skobelew erwarteten. Als Lenin auf den Bahnsteig hinaustrat, trat ein Hauptmann auf ihn zu und rapportierte in militärischer Haltung irgend etwas. Lenin, dem das unerwartet kam, war etwas verwirrt und legte die Hand salutierend an die Mütze. Auf dem Bahnsteig stand eine Ehrenwache, an der Lenin und unsere ganze Emigrantengruppe vorüber schritten Dann stiegen wir in bereitstehende Autos. Lenin stellte man auf ein Panzerauto und fuhr ihn zum Palais der Krzesinska. „Es lebe die sozialistische Weltrevolution!" rief Lenin in die ihn umgebende vieltausendköpfige Menge hinein. Den Anbruch dieser Revolution spürte Lenin bereits voll und ganz. Man brachte uns in das Palais der Krzesinska, wo damals das Zentralkomitee und das Petrograder Komitee untergebracht waren. Im oberen Stockwerk setzten wir uns zum Tee zusammen; die Petrograder wollten Begrüßungsreden halten, aber Lenin brachte das Gespräch auf das, was ihn am meisten interessierte, auf die anzuwendende Taktik. Vor dem Hause stand eine tausendköpfige Menge von Arbeitern und Soldaten. Lenin musste vom Balkon aus zu ihnen sprechen. Der Eindruck von diesem Empfang, von diesen durch die Revolution in Bewegung geratenen Massen übertönte alles andere. Dann fuhren wir nach Hause, zu den Unsrigen, zu Lenins Schwester Anna Iljinitschna und ihrem Mann Mark Timofejewitsch. Maria Iljinitschna lebte mit ihnen zusammen. Sie wohnten auf der sogenannten „Petrograder Seite"13 in der Schirokaja-Straße. Ein Zimmer für uns war hergerichtet. Der kleine Junge von Anna Iljinitschna, Gora, hatte zum Empfang in unserem Zimmer die Losung angebracht: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!" Wladimir Iljitsch und ich redeten in dieser Nacht fast nichts miteinander – wir hatten keine Worte, um das auszudrücken, was wir empfanden, aber auch ohne Worte war alles verständlich. Es war keine Minute zu verlieren. Kaum war Lenin am nächsten Morgen aufgestanden, als auch schon Genossen kamen, um ihn zu einer Beratung der bolschewistischen Fraktion auf der Gesamtrussischen Konferenz der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten zu holen. Die Konferenz wurde im Taurischen Palais, irgendwo in einem oberen Stockwerk, abgehalten, Lenin legte in etwa einem Dutzend Thesen seine Ansichten darüber dar, was in diesem Augenblick getan werden musste. In diesen Thesen gab er eine Einschätzung der Lage, nannte klar und deutlich die Ziele, denen man zustreben, und die Wege, die man einschlagen musste, um sie zu verwirklichen. Die Unsrigen waren im ersten Augenblick fast etwas verwirrt. Vielen schien es, dass Lenin die Fragen zu scharf formulierte, dass es noch zu früh war, von einer sozialistischen Revolution zu sprechen. Unten hielten die Menschewiki eine Sitzung ab. Ein Genosse von ihnen kam herauf und bestand darauf, dass Lenin auf einer gemeinsamen Sitzung der menschewistischen und bolschewistischen Delegierten dasselbe Referat halten sollte. Die Versammlung der Bolschewiki beschloss, dass Lenin auf einer gemeinsamen Versammlung aller Sozialdemokraten das Referat wiederholen sollte. Diese Versammlung fand unten, im großen Saal des Taurischen Palais statt. Das erste, was mir in die Augen fiel, war der im Präsidium sitzende Goldenberg (Meschkowski). Er war in der Revolution von 1905 ein standhafter Bolschewik, einer unserer nächsten Kampfgenossen gewesen. Jetzt war er Plechanow gefolgt und ins Lager der „Vaterlandsverteidiger" übergegangen. Lenin sprach etwa zwei Stunden. Goldenberg trat gegen ihn auf und sprach mit außerordentlicher Schärfe; er sagte, dass Lenin das Banner des Bürgerkriegs in den Reihen der revolutionären Demokratie aufgepflanzt habe. Es wurde klar, wie weit sich unsere Wege getrennt hatten. Ich erinnere mich noch an die Rede der Genossin Kollontai, die leidenschaftlich für die Thesen Lenins eintrat. Plechanow nannte in seiner Zeitung „Jedinstwo" (Einigkeit) die Thesen Lenins „Fieberphantasien". Die Thesen Lenins wurden drei Tage später, am 7. April, in der „Prawda" veröffentlicht. Schon am folgenden Tage erschien in der „Prawda" ein Artikel Kamenews „Unsere Differenzen", in dem er von diesen Thesen abrückte. In dem Artikel Kamenews wurde gesagt, dass die Thesen Lenins dessen Privatmeinung ausdrückten, die weder die „Prawda" noch das Büro des Zentralkomitees teilten. Die bolschewistischen Delegierten der Konferenz, der Lenin seine Thesen vorgelegt hatte, hätten nicht diese, sondern die Thesen des Büros des Zentralkomitees angenommen. Er erklärte, die „Prawda" beharre auf ihrem früheren Standpunkt. Nun begann der Kampf innerhalb der bolschewistischen Organisation. Er dauerte nicht lange. Eine Woche später fand die Petrograder Stadtkonferenz der Bolschewiki statt, die sich auf den Standpunkt Lenins stellte. Die Konferenz dauerte acht Tage (vom 14. bis 22. April); in diesen Tagen fand eine Reihe wichtiger Ereignisse statt, die bewiesen, wie recht Lenin hatte. Am 7. April – dem Tag, an dem die Thesen Lenins veröffentlicht wurden – stimmte das Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets noch für die „Freiheitsanleihe". In den bürgerlichen Zeitungen und in den Blättern der „Vaterlandsverteidiger" begann eine wütende Hetze gegen Lenin und die Bolschewiki. Kein Mensch schenkte der Erklärung Kamenews irgendwelche Beachtung, alle wussten, dass der Standpunkt Lenins innerhalb der bolschewistischen Organisation siegen würde. Die Hetze gegen Lenin begünstigte die rasche Popularisierung der Thesen. Lenin nannte den Krieg einen imperialistischen, räuberischen, alle sahen – Lenin war ernstlich für den Frieden. Das riss die Matrosen und Soldaten und alle diejenigen mit, für die der Krieg eine Frage von Leben und Tod war. Am 10. April sprach Lenin vor dem Ismailow-Regiment, am 15. erschien die erste Nummer der „Soldatskaja Prawda", am 16. demonstrierten die Soldaten und Matrosen Petrograds bereits gegen die Hetze, die gegen Lenin und die Bolschewiki inszeniert wurde. Am 1. Mai (18. April) fanden im ganzen Land grandiose Maidemonstrationen statt, wie sie Russland nie zuvor gesehen hatte. Am gleichen Tage erließ der Außenminister Miljukow im Namen der Provisorischen Regierung eine Note, die besagte, dass die Regierung den Krieg bis zum siegreichen Ende weiterführen würde und es für nötig halte, alle Verpflichtungen, die sie den Alliierten gegenüber übernommen habe, zu erfüllen. Wie reagierten die Bolschewiki darauf? Die Bolschewiki erklärten in der Presse, was dies für Verpflichtungen seien. Sie wiesen darauf hin, dass die Provisorische Regierung verspreche, diejenigen Verpflichtungen zu erfüllen, die die Regierung Nikolaus II. und die ganze zaristische Bande übernommen hatten. Sie legten dar, wem gegenüber sie diese Verpflichtungen auf sich genommen hatten. Es waren Verpflichtungen gegenüber der Bourgeoisie. Und als die Massen das verstanden hatten, gingen sie auf die Straße. Am 21. April demonstrierten die Arbeiter auf dem Newski-Prospekt. Aber auch die Anhänger der Provisorischen Regierung demonstrierten auf dem Newski-Prospekt. Diese Ereignisse schweißten die Bolschewiki fester zusammen. Die Resolutionen, die von der Petrograder bolschewistischen Organisation angenommen wurden, waren im Geiste Lenins. Am 21. und 22. April nahm das Zentralkomitee Resolutionen an, die deutlich auf die Notwendigkeit hinwiesen, die Provisorische Regierung zu entlarven, die die kompromisslerische Taktik des Petrograder Sowjets verurteilten und Neuwahlen der Arbeiter- und Soldatendeputierten verlangten – Resolutionen, die dazu aufriefen, die Sowjets zu festigen, eine großzügige Aufklärungstätigkeit zu entfalten, und gleichzeitig darauf hinwiesen, dass der Augenblick für den Sturz der Provisorischen Regierung noch nicht gekommen sei. Zur Zeit der Eröffnung der Gesamtrussischen Konferenz der Bolschewiki (am 24. April), drei Wochen, nachdem Lenin seine Thesen verkündet hatte, war die Einigkeit unter den Bolschewiki hergestellt. Nach unserer Ankunft in Petrograd sah ich Lenin sehr wenig. Er arbeitete im Zentralkomitee und in der „Prawda" und ging in viele Versammlungen. Ich fing ebenfalls an, im Sekretariat des Zentralkomitees zu arbeiten im Palais der Krzesinska, aber diese Arbeit ähnelte in nichts der Arbeit im Ausland und meiner Sekretärtätigkeit in den Jahren 1905 bis 1907, als ich nach den unmittelbaren Direktiven Lenins ziemlich viel selbständige Arbeit leistete. Sekretärin war Genossin Stassowa, ihr standen technische Mitarbeiter zur Seite. Ich verhandelte mit den verschiedenen Funktionären, war aber mit der lokalen Arbeit damals noch wenig vertraut. Sehr oft kamen die Mitglieder des Zentralkomitees, am häufigsten Swerdlow. Ich war nicht genügend informiert, und es quälte mich sehr, dass ich keine bestimmten Funktionen hatte. Dafür nahm ich das mich umgebende Leben gierig in mich auf. Die Straßen boten damals ein äußerst interessantes Bild; überall standen die Menschen in Haufen zusammen, überall wurde lebhaft über die gegenwärtige Situation und über die Tagesereignisse diskutiert. Und man mischte sich in die Menge und hörte zu. Einmal brauchte ich von der Schirokaja-Straße bis zum Palais der Krzesinska drei Stunden, so interessant waren diese Straßenversammlungen. Unseren Fenstern gegenüber lag irgendein Hof. Öffnete man nachts die Fenster, so hörte man die leidenschaftlichsten Debatten. Da sitzt ein Soldat, stets ist er von irgendwelchen Leuten umringt – Köchinnen, Stubenmädchen aus den benachbarten Häusern, Jugendlichen. Um ein Uhr nachts dringen einzelne Worte herüber: Bolschewiki, Menschewiki … um drei Uhr: Miljukow, Bolschewiki … um fünf Uhr früh – immer dasselbe, immer Politik, eine nicht enden wollende Versammlung. Die „weißen Nächte" von Petersburg sind seit dieser Zeit in meinem Gedächtnis unlöslich verknüpft mit diesen endlosen nächtlichen Versammlungen. Im Sekretariat des Zentralkomitees hatte ich Gelegenheit, viele Menschen kennenzulernen; im Palais der Krzesinska waren das ZK, die Militärorganisation und die Redaktion der „Soldatskaja Prawda" untergebracht. Mitunter besuchte ich die Sitzungen des ZK, lernte die Menschen näher kennen, verfolgte die Arbeit des Petrograder Komitees. Auch für die Arbeiterjugend interessierte ich mich sehr. Es gab Anhänger der verschiedensten Richtungen unter dieser Jugend – Bolschewiki, Menschewiki, Sozialrevolutionäre, Anarchisten. Die Organisation umfasste etwa 50.000 Jugendliche, aber in der ersten Zeit war die Bewegung fast ohne Leitung. Ich begann unter ihnen zu arbeiten. Im direkten Gegensatz zu dieser Arbeiterjugend standen die Schüler aus den obersten Klassen der höheren Schulen. Sie kamen häufig gruppenweise zum Palais der Krzesinska und stießen Drohungen und Beschimpfungen gegen die Bolschewiki aus. Fremder Einfluss war deutlich zu erkennen. Bald nach unserer Ankunft – ich weiß nicht mehr das genaue Datum – besuchte ich den Lehrerkongress. Es waren ungeheuer viel Menschen anwesend; die Lehrerschaft stand völlig unter dem Einfluss der Sozialrevolutionäre. Auf dem Kongress traten bekannte „Vaterlandsverteidiger" auf. Am gleichen Tage, an dem ich dort war, hatte, bevor ich hinkam, Alexinski gesprochen. Es waren insgesamt etwa 15 bis 20 Bolschewiki und internationalistische Menschewiki anwesend. Sie versammelten sich gesondert in einem kleinen Zimmer und berieten darüber, um welche Schule man kämpfen sollte. Viele von den Teilnehmern dieses Kongresses arbeiteten später in den Bezirksdumas. Die Masse der Lehrerschaft war vom chauvinistischen Taumel erfasst. Am 1. Mai (18. April) nahm Lenin an der Maidemonstration teil. Er sprach auf der Ochta und auf dem Marsfelde. Ich hörte seine Reden an diesem Tage nicht, weil ich krank war und nicht aufstehen konnte. Als Lenin nach Hause kam, fiel mir sein erregtes Gesicht auf. Während wir im Ausland lebten, hatten wir oft an Maidemonstrationen teilgenommen, aber es ist etwas anderes, ob man an einer Maidemonstration, die „mit polizeilicher Erlaubnis" stattfindet, teilnimmt oder an der Maidemonstration eines revolutionären Volkes, des Volkes, das den Zarismus besiegt hat. Am 21. April sollte ich mich mit Lenin bei Danski treffen. Ich ging zu Fuß den ganzen Newski-Prospekt hinunter, um zu deren Wohnung, Staro-Newski Nr. 3, zu gelangen. Von der Newskaja Sastawa her näherte sich eine große Arbeiterdemonstration. Die Arbeiter, die die Gehsteige anfüllten, winkten ihr zu: „Komm!" rief eine junge Arbeiterin einer anderen zu, die auf dem Gehsteig stand. „Komm! Wir werden die ganze Nacht gehen!" Der Arbeiterdemonstration entgegen kam eine andere Demonstration, Herren in „Melonen", Damen in Hüten; ihnen winkten die „Melonen" und Damenhüte vom Gehsteig aus zu. In der Nähe der Newskaja Sastawa herrschten die Arbeiter vor, in der Nähe der Morskaja, an der Polizejski Most, die Herren und Damen. Unter diesen lief von Mund zu Mund die Legende, dass Lenin mit Hilfe deutschen Goldes die Arbeiter bestochen hätte, die jetzt alle für ihn seien. „Haut Lenin!" schrie ein elegant gekleidetes junges Mädchen. „Diese Schurken müsste man alle vertilgen", ereiferte sich ein Herr in steifem Hut. Klasse gegen Klasse! Die Arbeiterklasse war für Lenin. Vom 24. bis 29. April tagte die Gesamtrussische Aprilkonferenz. An der Konferenz nahmen 151 Delegierte teil; es wurde ein neues Zentralkomitee gewählt. Auf der Konferenz wurden außerordentlich wichtige Fragen erörtert – die gegenwärtige Lage, der Krieg, die Vorbereitungen zur III. Internationale, die nationale Frage, die Agrarfrage, das Parteiprogramm. Ich erinnere mich besonders an die Rede Lenins über die gegenwärtige Lage. In dieser Rede trat das Verhältnis Lenins zu den Massen, trat die Aufmerksamkeit und Sorgfalt, mit der er das Leben der Massen verfolgte, ganz besonders deutlich zutage. „Es unterliegt keinem Zweifel, dass das Proletariat und das Halbproletariat als Klasse kein Interesse am Kriege haben. Sie machen mit unter dem Einfluss der Traditionen und des Betrugs. Sie haben noch keine politische Erfahrung. Daraus folgt unsere Aufgabe – beharrliche Aufklärung. Wir machen ihnen nicht die geringsten grundsätzlichen Konzessionen, aber wir können an sie nicht herangehen wie an die Sozialchauvinisten. Diese Elemente der Bevölkerung waren nie sozialistisch, haben vom Sozialismus keine Ahnung, sie erwachen erst zum politischen Leben. Aber ihr Bewusstsein wächst und erweitert sich mit außergewöhnlicher Schnelligkeit. Man muss es verstehen, unsere Argumentation an sie heranzubringen, und das ist die schwierigste Aufgabe, besonders für eine Partei, die sich noch gestern in der Illegalität befand." „Viele von uns, auch ich persönlich, hatten Gelegenheit, vor den Massen, besonders vor Soldaten, zu sprechen, und ich glaube, wenn man ihnen alles vom Klassenstandpunkt aus erklärt, so ist ihnen an unserer Position am wenigsten klar, wie wir den Krieg beenden wollen, in welcher Weise, unserer Ansicht nach, der Krieg beendet werden kann. Unter den breiten Massen herrscht eine Unmenge von Missverständnissen, sie verstehen sehr oft unsere Position überhaupt nicht, darum müssen wir uns in diesem Punkt besonders populär ausdrücken." „Wenn man vor die Massen hintritt, muss man ihnen konkrete Antworten geben."14 Er sagte, man muss verstehen, nicht nur unter dem Proletariat, sondern auch unter den breiten Schichten des Kleinbürgertums Aufklärungsarbeit zu entfalten. Über die Kontrolle sagte Lenin: „Um kontrollieren zu können, muss man die Macht haben. Wenn das der breiten Masse des kleinbürgerlichen Blocks unverständlich ist, dann muss man die Geduld haben, ihr das auseinanderzusetzen, darf ihr aber auf keinen Fall die Unwahrheit sagen."15 Nicht die geringste Demagogie ließ Lenin zu, und das fühlten die Soldaten, das fühlten die Bauern, die mit ihm sprachen. Aber Vertrauen erwirbt man nicht auf einen Hieb. In dieser heißen Zeit wahrte Lenin die gewohnte Nüchternheit seiner Denkweise: „Wir sind jetzt in der Minderheit, die Massen glauben uns einstweilen nicht. Wir können warten: Sie werden zu uns kommen, wenn die Regierung sich ihnen zeigen wird, wie sie ist."16 Oft genug hatte Lenin mit Soldaten und Bauern gesprochen, schon zu jener Zeit erhielt er zahlreiche Vertrauensbeweise, aber er machte sich keine Illusionen: „Für eine proletarische Partei gibt es keinen gefährlicheren Fehler, als ihre Taktik auf subjektiven Wünschen aufzubauen, dort, wo Organisiertheit Not tut. Zu sagen, dass die Mehrheit für uns ist, ist unmöglich; was wir im gegebenen Fall brauchen, ist Misstrauen, Misstrauen und nochmals Misstrauen. Auf Wünsche die proletarische Taktik begründen heißt sie zum Misserfolg verurteilen."17 Am Schluss seiner Rede über die gegenwärtige Lage sagte Lenin: „Die russische Revolution hat die Sowjets geschaffen. In keinem bürgerlichen Land der Welt gibt es Staatseinrichtungen dieser Art oder kann es sie geben, und keine einzige sozialistische Revolution kann mit einer anderen Macht außer dieser operieren. Die Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten müssen die Macht übernehmen, nicht um eine gewöhnliche bürgerliche Republik zu schaffen oder um unmittelbar zum Sozialismus überzugehen. Das ist unmöglich. Also wozu denn? Sie müssen die Macht übernehmen, um die ersten konkreten Schritte für diesen Übergang zu tun, die man tun kann und muss. Angst ist dabei der schlimmste Feind. Man muss den Massen klarmachen, dass diese Schritte sofort getan werden müssen, sonst wird die Macht der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten sinnlos sein und dem Volke nichts geben."18 Und weiter sprach er von den unmittelbaren Aufgaben, vor denen die Sowjets standen: „Das Privateigentum am Grund und Boden muss aufgehoben werden. Das ist die Aufgabe, die vor uns steht, weil die Mehrheit des Volkes dafür eintritt. Dazu brauchen wir die Sowjets. Diese Maßnahme mit den alten Staatsbeamten durchzuführen ist unmöglich."19 Lenin schloss seine Rede mit einem Beispiel dafür, was die Eroberung der Macht in der Provinz bedeutet: „Ich will schließen mit dem Hinweis auf eine Rede, die auf mich den größten Eindruck gemacht hat. Ein Bergmann hat eine ausgezeichnete Rede gehalten, in der er, ohne auch nur ein einziges gelehrtes Wort zu gebrauchen, berichtete, wie sie die Revolution gemacht haben. Ihnen ging es nicht darum, ob sie einen Präsidenten haben werden, sie interessierte die folgende Frage: als sie die Gruben übernahmen, musste man die Seile schützen, damit die Produktion nicht zum Stillstand kam. Eine weitere Frage war die des Brotes, das sie nicht hatten, und sie sind auch übereingekommen, wie sie es auftreiben können. Das ist ein wirkliches Programm der Revolution, kein aus den Büchern herausgelesenes. Das ist die wirkliche Eroberung der Macht in der Provinz."20 Sinaida Pawlowna Krschischanowskaja erinnerte sich einmal, dass ich, als ich ihr von dieser Rede des Bergarbeiters erzählte, geäußert hätte: „Jetzt müssen sie vor allem ihre Ingenieure haben. Wladimir Iljitsch ist der Meinung, dass es ausgezeichnet wäre, wenn Gleb (Krschischanowski) dahin fahren würde." Auf der Konferenz trafen wir viele Bekannte. Ich erinnere mich, dass ich unter anderen Prisjagin, einen ehemaligen Schüler der Schule von Longjumeau, dort traf. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er die Rede Lenins anhörte und wie seine Augen glänzten. Jetzt weilt Prisjagin schon nicht mehr unter den Lebenden. Er wurde im Jahre 1918 im Ural von den Weißen erschossen. Anfang Mai 1917 machte Lenin einen Entwurf zu Änderungen am Parteiprogramm. Der imperialistische Krieg und die Revolution hatten große Umwälzungen auf jedem Gebiet zur Folge gehabt und forderten eine ganze Reihe neuer Beurteilungen, neuer Einstellungen, das Programm war darum ganz veraltet. Der gesamte Entwurf des neuen Minimalprogramms atmete das Bestreben, das Lebensniveau der Massen zu heben, ihrer Initiative weiten Spielraum einzuräumen. Mich befriedigte meine Arbeit im Sekretariat nicht, ich wollte lieber unmittelbare Massenarbeit übernehmen; auch hatte ich den Wunsch, Iljitsch häufiger zu sehen. Ich beunruhigte mich seinetwegen sehr. Die Hetze gegen ihn wurde immer stärker. Einmal hörte ich auf der Straße eine Frau zu einer anderen sagen: „Und was soll man mit diesem Lenin anfangen, der da aus Deutschland gekommen ist, was? Sollte man ihn nicht im nächsten Brunnen ersäufen?" Natürlich war es klar, woher alle diese Redereien über Verrat, über Bestechung Lenins usw. stammten. Es ist ein Unterschied, ob die Bourgeoisie solche Redensarten führt oder ob die Massen darüber sprechen. Unter dem Titel „Eine Seite aus der Parteigeschichte" schrieb ich für die „Soldatskaja Prawda" einen Artikel darüber, wer Lenin war. Lenin sah das Manuskript durch, machte einzelne Korrekturen, und am 13. Mai 1917 erschien der Artikel in der „Soldatskaja Prawda" (Nr. 21). Wenn ich sah, wie todmüde Iljitsch nach Hause kam, bekam ich es nicht fertig, ihn zu fragen, wie die Dinge standen. Aber er hatte ebenso wie ich den Wunsch, sich auszusprechen, so wie wir es von früher bei unseren Spaziergängen gewohnt waren. Und so gingen wir mitunter, allerdings selten, in den abgelegenen Straßen der Petrograder Seite spazieren. Einmal machten wir einen solchen Spaziergang zusammen mit den Genossen Schaumian und Jenukidse. Schaumian überreichte Lenin dabei rote Abzeichen, die ihm seine Kinder für ihn mitgegeben hatten. Iljitsch nahm sie lächelnd in Empfang. Genossen Schaumian, Stepan, der gewaltigen Einfluss unter dem Proletariat Bakus besaß, kannten wir schon seit langem. Sofort nach dem II. Parteitag schloss er sich den Bolschewiki an und wohnte auch dem Stockholmer und Londoner Parteitag bei. Auf dem Stockholmer Parteitag war er Mitglied der Mandatskommission. Der Zahl der Delegierten nach konnte man diesen Parteitag weder mit dem II. noch mit dem III. vergleichen. Auf jenen Parteitagen wusste man, was jeder Delegierte darstellte, hier jedoch gab es viele sehr wenig bekannte Delegierte. Wegen jedes Delegierten wurde in der Mandatskommission ein scharfer Fraktionskampf geführt. Ich erinnere mich, wie Schaumian in dieser Kommission sich abplagte. Auf dem Londoner Parteitag war ich nicht. Später, während der zweiten Emigration, führten wir einen eifrigen Briefwechsel mit den Bakuer Genossen. Ich weiß noch, wie sie mich über die Ursachen der Spaltung mit den „Wperjod"-Leuten ausfragten und wie ausführlich wir ihnen antworten mussten; wir mussten schildern, wie die Streitigkeiten verliefen und welche Gründe sie hatten. 1913 belebte sich wieder der Briefwechsel Lenins mit Schaumian über die nationale Frage. Sehr interessant ist der Brief, in dem Lenin im Mai 1914 den Gedanken entwickelt, dass es notwendig sei, dass die Marxisten aller oder sehr vieler Nationalitäten einen Gesetzentwurf über die Gleichberechtigung der Nationen und über den Schutz der Rechte der nationalen Minderheiten aufstellten und in die Reichsduma einbrächten. Dieser Gesetzentwurf musste, nach Lenins Idee, eine vollständige Klarstellung unserer Begriffe von Gleichberechtigung enthalten, darunter die Sprachenfrage, die Schulfrage, die Kulturfrage überhaupt, und zwar in allen Zusammenhängen und Beziehungen. „Mir scheint", schrieb Lenin, „dass man so die Dummheit der national-kulturellen Autonomie auf populäre Weise aufdecken und die Anhänger dieser Dummheit endgültig erledigen kann." Lenin skizzierte sogar einen solchen Entwurf. Auch 1917 war Lenin froh, Stepan zu sehen und mit ihm unmittelbar über alle Fragen, die in dieser Zeit für die Bolschewiki eine scharf zugespitzte Form angenommen hatten, zu sprechen. Die Rede Lenins auf dem 1. Gesamtrussischen Sowjetkongress der Arbeiter- und Soldatendeputierten ist mir deutlich im Gedächtnis geblieben. Der Kongress tagte in der Kadettenanstalt auf der Wassiljew-Insel. Es ging durch endlose Korridore; die Klassenzimmer waren als Wohnräume für die Delegierten hergerichtet. Ganz hinten in dem überfüllten Saal saßen die Bolschewiki in einer kleinen Gruppe zusammen. Nach der Rede Lenins applaudierten nur die Bolschewiki, aber zweifellos hatte sie auf alle einen tiefen Eindruck gemacht. Irgend jemand erzählte später, dass Kerenski nach dieser Rede drei Stunden lang bewusstlos gelegen habe. Inwieweit dies der Wahrheit entspricht, kann ich nicht sagen. Im Juni fanden die Wahlen in die Bezirksdumas statt. Ich ging, um den Verlauf der Wahlkampagne auf der Wassiljew-Insel zu beobachten. Die Straßen wimmelten von Arbeitern. Die meisten Arbeiter waren aus der Röhrenfabrik, auch von der Fabrik Laferme waren viele Arbeiterinnen da. Die Fabrik Laferme stimmte für die Sozialrevolutionäre. Überall waren heftige Debatten im Gange. Man diskutierte nicht über die Kandidaten, nicht über einzelne Personen, sondern über die Tätigkeit der Parteien, über ihren Standpunkt. Unwillkürlich dachte ich an die Bezirkswahlen in Paris, wo wir über das Fehlen politischer Bewertung und über die zahlreichen persönlichen Momente, die im Wahlkampf zutage traten, so erstaunt gewesen waren. Hier war die Sache gerade umgekehrt. Ebenso fiel es auf, wie sehr sich die Massen seit den Jahren 1905-1907 entwickelt hatten. Es war zu merken, dass alle Zeitungen der verschiedensten Richtungen lasen. In einer Gruppe wurde darüber diskutiert, ob bei uns der Bonapartismus möglich sei. Unter der Menge fiel mir ein kleiner Mensch auf, der wie ein Spitzel aussah; er passte in diese Arbeitermassen absolut nicht hinein. Die revolutionäre Stimmung der Massen nahm zu. Die Bolschewiki hatten für den 10. Juni eine Demonstration angekündigt. Der Sowjetkongress verbot sie und verfügte, dass drei Tage lang überhaupt keine Demonstrationen stattfinden durften. Lenin bestand darauf, dass diese vom Petrograder Komitee angekündigte Demonstration abgesagt würde; er war der Ansicht, dass wir, da wir die Sowjetmacht anerkannten, nicht den Verfügungen des Kongresses zuwider handeln durften, da wir sonst dem Feind eine Waffe in die Hand gegeben hätten. In Anbetracht der Massenstimmung jedoch setzte der Sowjetkongress für den 18. Juni selbst eine Demonstration fest. Doch das, was nun kam, hatte er nicht erwartet. An der Demonstration nahmen etwa 400.000 Arbeiter und Soldaten teil. 90 Prozent der Fahnen und Plakate trugen die Losungen des Zentralkomitees der Bolschewiki: „Alle Macht den Sowjets!", „Nieder mit den zehn kapitalistischen Ministern!" Für die Provisorische Regierung waren nur drei Plakate (eins gehörte dem „Bund", eins dem Plechanowschen „Jedinstwo", eins einem Kosakenregiment). Lenin charakterisierte den 18. Juni als einen der Tage des Umschwungs. „Die Demonstration am 1. Juli (18. Juni) wurde zu einer Demonstration der Kräfte und der Politik des revolutionären Proletariats, das der Revolution die Richtung weist, das ihr den Ausweg aus der Sackgasse zeigt. Darin liegt die gewaltige geschichtliche Bedeutung der Sonntag-Demonstration, darin unterscheidet sie sich grundsätzlich von den Demonstrationen am Tage der Beerdigung der Revolutionsopfer und am Tage des 1. Mai. Damals war es eine allgemeine Ehrung des ersten Sieges der Revolution und ihrer Helden, ein Rückblick des Volkes auf die am raschesten und erfolgreichsten zurückgelegte erste Etappe zur Freiheit. Der 1. Mai war ein Fest der Wünsche und Hoffnungen, die mit der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung, mit ihrem Ideal von Frieden und Sozialismus verknüpft sind. Weder die eine noch die andere Demonstration hatte sich das Ziel gesetzt, die Richtung der weiteren Bewegung der Revolution aufzuzeigen, und sie konnten sie auch nicht aufzeigen. Weder die eine noch die andere stellte vor den Massen und im Namen der Massen die konkreten, bestimmten, aktuellen Fragen, in welcher Richtung und auf welche Weise die Revolution zu verlaufen hat. In diesem Sinne war der 1. Juli (18. Juni) die erste politische Demonstration der Tat, war eine Erläuterung, nicht in Büchern oder Zeitungen, sondern auf der Straße, nicht durch die Führer, sondern durch die Massen, eine Erläuterung, wie die verschiedenen Klassen handeln, wie sie handeln wollen und handeln werden, um die Revolution weiter zu treiben. Die Bourgeoisie hatte sich versteckt."21 Die Wahlen in die Bezirksdumas waren vorüber. Ich war im Wiborger Bezirk gewählt worden. Im Wiborger Bezirk wurden nur Bolschewiki und eine geringe Zahl von internationalistischen Menschewiki gewählt, die aber nichts taten. In der Bezirksverwaltung arbeiteten ausschließlich Bolschewiki: L. M. Michailow, Kutschmenko, Tschugurin, noch ein anderer Genosse und ich. Unsere Bezirksverwaltung teilte anfangs den Raum mit dem Bezirksparteikomitee, dessen Sekretärin Schenja Jegorowa war; auch Genosse Lacis arbeitete dort. Zwischen der Arbeit unserer Verwaltung und der der Parteiorganisation bestand engster Zusammenhang. Dieser Arbeit im Wiborger Bezirk habe ich außerordentlich viel zu verdanken, sie war für mich eine ausgezeichnete Schule der Partei- und Sowjetarbeit. Und für mich, die ich lange Jahre in der Emigration zugebracht hatte, die ich mich nicht dazu entschließen konnte, auch nur auf kleinen Versammlungen zu sprechen, die ich niemals zuvor in der „Prawda" auch nur ein paar Zeilen veröffentlicht hatte, war eine solche Schule unbedingt notwendig. Der Wiborger Bezirk hatte ein starkes bolschewistisches Aktiv, und die Bolschewiki besaßen das Vertrauen der Arbeitermassen. Bald nachdem ich meine Arbeit angetreten hatte, musste ich die laufende Arbeit der Wiborger Abteilung der „Kommission zur Unterstützung von Soldatenfrauen" von einer alten Bekannten übernehmen, Nina Alexandrowna Gerd, der Frau Struves, mit der zusammen ich einstmals das Gymnasium besucht und in der Sonntagsschule unterrichtet hatte. Sie war in den ersten Jahren der Entwicklung der Arbeiterbewegung Sozialdemokratin gewesen. Jetzt standen wir beide in ganz verschiedenen politischen Lagern. Als ich die Arbeit von ihr übernahm, sagte sie: „Uns glauben die Soldatenfrauen nicht; was wir auch unternehmen, immer sind sie unzufrieden; sie glauben nur den Bolschewiki. Nun also – nehmen Sie die Sache in die Hand, vielleicht verstehen Sie's besser!" Und wir fürchteten uns nicht, diese Arbeit zu übernehmen, denn wir waren überzeugt, dass wir zusammen mit den Arbeitern, gestützt auf ihre Initiative, erfolgreich tätig sein würden. Die Arbeitermassen waren nicht nur auf politischem, sondern auch auf kulturellem Gebiet außerordentlich aktiv. Sehr bald gründeten wir den Sowjet für Volksbildung, dem Vertreter aller Fabriken und Werke des Wiborger Bezirks angehörten. Unter den Vertretern der einzelnen Fabriken waren die Arbeiter Puryschew, Kajurow, Jurkin und Gordijenko. Wir versammelten uns jede Woche einmal und berieten über praktische Maßnahmen. Als die Notwendigkeit besprochen wurde, dass jeder lesen und schreiben lernen müsse, registrierten die Arbeiter in den Fabriken sehr rasch ihre Analphabeten. Von den Fabrikanten wurde gefordert, Räumlichkeiten zur Einrichtung der Analphabetenschulen zur Verfügung zu stellen. Als ein Fabrikbesitzer das ablehnte, machten die Arbeiterinnen furchtbaren Krach und stellten fest, dass ein zur Fabrik gehöriges Gebäude von einem „Stoßtrupp" besetzt war (das waren Soldaten besonders chauvinistisch gesinnter Bataillone): und die Sache endete schließlich damit, dass der Fabrikbesitzer einen Raum für die Schule mietete. Die Arbeiter kontrollierten den Schulbesuch und den Unterricht. Nicht weit von der Bezirksverwaltung befand sich die Kaserne eines Maschinengewehrregiments. Das Regiment galt bei der Provisorischen Regierung anfangs als sehr „zuverlässig", aber mit der Zuverlässigkeit war es bald vorbei. Sowie das Regiment auf die Wiborger Seite verlegt wurde, setzte die Agitation unter den Soldaten ein. Die ersten Agitatorinnen für den Bolschewismus waren die Straßenhändlerinnen, unter denen nicht wenige Arbeiterinnen waren, die ich aus den neunziger Jahren und sogar aus der Revolution von 1905 her kannte. Sie waren gut gekleidet, hatten ein politisches Blickfeld und traten aktiv in Versammlungen auf. Eine Arbeiterin erzählte mir: „Mein Mann ist an der Front. Früher habe ich mit ihm gut gelebt. Wie es nun werden wird, wenn er von der Front zurückkommt, weiß ich nicht. Ich bin jetzt für die Bolschewiki und werde mit ihnen gehen. Was er da aber an der Front denkt, das weiß ich nicht… Ob er es wohl begriffen hat, ob er's einsieht, dass man mit den Bolschewiki gehen muss? Oft denke ich plötzlich in der Nacht, dass er es vielleicht doch nicht begriffen hat. Aber ich weiß ja auch nicht, ob er überhaupt zurückkommt, am Ende schlagen sie ihn noch tot. Und ich selbst – ich huste Blut, deshalb muss ich jetzt ins Krankenhaus." Deutlich erinnere ich mich an das hagere Gesicht dieser Arbeiterin mit den hektischen roten Flecken auf den Wangen, an ihre Besorgnis, ob sie sich vielleicht ihrer Ansichten wegen von ihrem Mann scheiden lassen müsse. In der kulturellen Arbeit jener Zeit schritten jedoch nicht die Arbeiterinnen, sondern die Arbeiter voran. Sie drangen in alles ein. Genosse Gordijenko zum Beispiel arbeitete außerordentlich viel für die Kindergärten, und Genosse Kuklin verfolgte aufmerksam die Arbeit der Jugend. Ich wandte mich ebenfalls der Arbeit unter der Jugend zu. Die in dem Verband „Swet i Snanije" (Licht und Wissen) vereinigte Jugend arbeitete ihr Programm aus. Unter der Jugend waren Bolschewiki, Menschewiki, Anarchisten, Parteilose. Das Programm war unglaublich naiv und primitiv, aber der Streit, der um dieses Programm entbrannte, war außerordentlich interessant. So lautete zum Beispiel ein Punkt, dass alle nähen lernen müssten. Da sagte ein junger Bolschewik: „Warum müssen denn alle nähen lernen? Die Mädchen natürlich müssen's lernen, sonst können sie später mal ihrem Mann keinen Knopf an die Hosen nähen – aber warum sollen denn gleich alle nähen lernen?" Diese Worte riefen einen wahren Entrüstungssturm hervor. Nicht nur die Mädchen, sondern überhaupt alle waren empört und sprangen von ihren Plätzen auf. „Die Frau soll dir einen Knopf an die Hosen nähen? Was?! Du willst wohl die alte Versklavung der Frau verteidigen? Die Frau ist die Genossin des Mannes und kein Dienstmädchen!" Der Antragsteller, der verlangt hatte, dass nur die Mädchen nähen lernen sollten, musste klein beigeben. Ich entsinne mich auch noch des Gesprächs mit einem anderen jungen Burschen, Muraschew, der die Bolschewiki leidenschaftlich verteidigte. Ich fragte ihn: „Warum sind Sie denn nicht in der Organisation der Bolschewiki?" „Sehen Sie", antwortete er, „ich war zusammen mit einigen anderen in der Partei. Aber warum sind wir eingetreten? Denken Sie vielleicht, darum, weil wir eingesehen hatten, dass die Bolschewiki recht haben? Nein, nicht darum. Sondern weil die Bolschewiki Revolver verteilten. Und das ist selbstverständlich nicht richtig. Man muss diesen Schritt bewusst tun, deshalb habe ich das Mitgliedsbuch solange zurückgegeben, bis ich alles begriffen haben werde." In dem Verband „Swet i Snanije" war nur die revolutionär gesinnte Jugend organisiert, Leute mit rechten Ansichten wären in dem Verband nicht geduldet worden. Diese jungen Arbeiter waren sehr aktiv, sie sprachen auf ihren Versammlungen und in den Betrieben; aber sie waren zu vertrauensselig. Gegen diese Vertrauensseligkeit musste gekämpft werden. Auch unter den Frauen arbeitete ich viel. Ich hatte meine frühere Schüchternheit überwunden und trat überall auf, wo es nötig war. Ich stürzte mich kopfüber in die Arbeit, denn ich wollte die Massen restlos zur gesellschaftlichen Arbeit heranziehen, wollte die Verwirklichung jener „Volksmiliz" herbeiführen helfen, von der Lenin gesprochen hatte. Seitdem ich im Wiborger Bezirk arbeitete, bekam ich Lenin noch weniger zu sehen. Es war eine heiße Zeit, der Kampf war entbrannt. Der 18. Juni war nicht nur der Tag der Demonstration von 400.000 Arbeitern und Soldaten unter bolschewistischen Losungen – er war der Tag, an dem die Provisorische Regierung nach dreimonatigem Schwanken, unter dem Druck der Alliierten, den Vormarsch an der Front begann. Die Bolschewiki schrieben in den Zeitungen, sprachen in den Versammlungen. Die Provisorische Regierung fühlte, dass der Boden unter ihren Füßen wankte. Am 28. Juni begannen die Niederlagen der russischen Armee; das versetzte die Truppen in größte Aufregung. Ende Juni fuhr Lenin zusammen mit Maria Iljinitschna zu den Bontsch-Brujewitschs nach Neivola bei Mustamäki (in der Nähe von Petrograd), um sich ein paar Tage auszuruhen. In dieser Zeit spielten sich in Petrograd folgende Ereignisse ab: Das Regiment der Maschinengewehrschützen, das auf der Wiborger Seite lag, hatte sich zum bewaffneten Aufstand entschlossen. Zwei Tage vorher hatte unsere Aufklärungs- und Bildungskommission mit der entsprechenden Kommission des Maschinengewehrregiments vereinbart, am Montag zu einer Beratung über einige Fragen der Kulturarbeit zusammenzukommen. Natürlich kam niemand von dem Maschinengewehrregiment, denn es hatte seine Kaserne verlassen. Ich ging nach dem Palais der Krzesinska, und auf dem Samson-Prospekt holte ich die Maschinengewehrschützen ein. Die Soldaten marschierten in geschlossenen Reihen. Folgende Szene ist mir im Gedächtnis geblieben: Ein alter Arbeiter trat vom Gehsteig hinunter auf die Straße auf die Soldaten zu, verneigte sich vor ihnen und sagte laut: „Bleibt fest, Brüder, für das Arbeitervolk!" Von denjenigen, die in den Räumen des Zentralkomitees im Palais der Krzesinska anwesend waren, besinne ich mich auf die Genossen Stalin und Laschewitsch. Die Maschinengewehrschützen machten in der Nähe der Balkons halt und salutierten, dann gingen sie weiter. Später kamen noch zwei Regimenter zum Zentralkomitee und schließlich noch eine Arbeiterdemonstration. Am Abend wurde ein Genosse nach Mustamäki geschickt, um Lenin zu holen. Das Zentralkomitee gab die Parole aus: Verwandlung der Demonstration in eine friedliche; aber inzwischen machte sich das Maschinengewehrregiment schon daran, Barrikaden zu errichten. Ich erinnere mich noch, wie in der Wiborger Bezirksverwaltung der Genosse Laschewitsch, der die Arbeit in diesem Regiment leitete, lange auf dem Diwan lag und die Decke anstarrte, ehe er sich dazu entschloss, zu den Maschinengewehrschützen zu gehen, um sie zu überreden, von ihrer Aktion abzusehen. Es fiel ihm schwer, aber das Zentralkomitee hatte es so bestimmt. Fabriken und Werke streikten. Aus Kronstadt trafen Matrosen ein. Eine riesige Demonstration von bewaffneten Arbeitern und Soldaten zog zum Taurischen Palais; Lenin sprach vom Balkon des Palais der Krzesinska. Das Zentralkomitee erließ einen Aufruf, die Demonstrationen einzustellen. Die Provisorische Regierung rief Junker und Kosaken herbei. Auf der Sadowaja wurde auf Demonstranten geschossen. Wieder in der Illegalität Diese Nacht sollte Lenin bei den Sulimows, auf der Petrograder Seite, verbringen; die Wiborger Seite erschien uns aber geeigneter, um ihn zu verbergen, und es wurde beschlossen, dass er bei dem Arbeiter Kajurow wohnen sollte. Ich ging zu Sulimow, um Lenin abzuholen, und wir gingen auf die Wiborger Seite hinüber. Wir kamen an einem Moskauer Regiment vorbei zu einem Boulevard. Dort saß Kajurow; als er unserer ansichtig wurde, stand er auf und ging etwas vor uns her, Lenin folgte ihm, und ich bog ab. Die Junker hatten die Redaktion der „Prawda" zerstört. Es fand eine Versammlung des Petrograder Komitees im Wächterhäuschen der Renault-Werke statt, an der auch Lenin teilnahm. Es wurde die Frage des Generalstreiks erörtert und beschlossen, keinen Generalstreik auszurufen. Von dort aus ging Lenin zu der Genossin Fofanowa, am Lesnoi-Prospekt, wo er eine Zusammenkunft mit einigen Mitgliedern des Zentralkomitees hatte. An diesem Tage wurde die Bewegung der Arbeiter unterdrückt. Alexinski, ehemaliges Mitglied der Duma, von den Arbeitern Petrograds gewählt, „Wperjod"-Anhänger und früher ein naher Arbeitsgenosse, und der Sozialrevolutionär Pankratow, ein ehemaliger Insasse der Festung Schlüsselburg, verbreiteten die Verleumdung, dass Lenin auf Grund angeblich vorliegender Beweise deutscher Spion sei. Mit dieser Verleumdung gedachten sie den Einfluss Lenins lahmzulegen. Am 6. Juli fasste die Provisorische Regierung den Beschluss, Lenin, Sinowjew und Kamenew zu verhaften. Das Krzesinska-Palais wurde von Regierungstruppen besetzt. Lenin zog von Kajurow zu Allilujew, bei dem sich auch Sinowjew verbarg. Kajurows Sohn war Anarchist, er wirtschaftete mit seinen Genossen mit Bomben herum, was nicht gerade für einen streng konspirativen Aufenthalt geeignet war. Am 7. Juli ging ich zusammen mit Maria Iljinitschna zu Lenin in die Allilujewsche Wohnung. Lenin hatte gerade einen Moment der Unentschlossenheit; er hielt es für richtig, sich dem Gericht zu stellen, und nannte seine Beweggründe. Maria Iljinitschna widersprach ihm leidenschaftlich. Aber Iljitsch sagte zu mir: „Grigori und ich haben beschlossen, uns zu stellen, geh und sage das Kamenew." Kamenew war gerade in einer Wohnung ganz in der Nähe. Ich beeilte mich zu gehen. „Wir wollen Abschied nehmen", hielt Iljitsch mich zurück, „wir sehen uns vielleicht nicht mehr." Wir umarmten uns, und ich ging zu Kamenew und richtete Lenins Auftrag aus. Am Abend aber überzeugten Genosse Stalin und andere Lenin, dass er sich nicht stellen dürfe, und retteten damit sein Leben. Am gleichen Abend fand in unserer Wohnung auf der Schirokaja eine Haussuchung statt. Man durchsuchte nur unser Zimmer. Es war irgendein Oberst dabei und noch eine Militärperson in einem weiß gefütterten Überrock. Sie nahmen vom Tisch einige meiner Papiere und fragten mich, ob ich nicht wüsste, wo Lenin sei. Daraus folgerte ich, dass er sich nicht gestellt hatte. Am nächsten Morgen ging ich zu dem Genossen Smilga, der ebenfalls in unserer Straße wohnte; dort waren Stalin und Molotow. Von ihnen erfuhr ich, dass Lenin und Sinowjew beschlossen hatten, sich weiter verborgen zu halten. Zwei Tage später, am 9. Juli, wälzte sich eine ganze Horde von Junkern zu uns in die Wohnung, um Haussuchung zu halten. Sie untersuchten sorgfältig die ganze Wohnung, fragten mich, ob der Mann Anna Iljinitschnas, Mark Timofejewitsch Jelisarow, Lenin wäre. Jelisarows hatten damals eine Hausgehilfin mit Namen Annuschka. Sie stammte aus einem kleinen entlegenen Dorf und hatte von allem keine Vorstellung. Sie hatte den leidenschaftlichen Wunsch lesen zu lernen und steckte jede freie Minute den Kopf in die Fibel, aber sie kam nur langsam vorwärts. „Ach, bin ich ein dummes Dorfmädel", rief sie immer bekümmert aus. Ich bemühte mich, ihr zu helfen, lesen zu lernen, erklärte ihr, was es für Parteien gäbe, warum der Krieg ausgebrochen sei usw. Von Lenin hatte sie keinerlei Vorstellung. Am 8. war ich nicht zu Hause, später erzählte man mir, dass ein Auto vor dem Hause vorgefahren sei und eine feindselige Demonstration abgehalten wurde. Plötzlich stürmte Annuschka mit dem Ruf herein: „Jetzt sind die ,Olenine' gekommen!" Während der Haussuchung am 9. fragte man sie, auf Jelisarow weisend, wie er heiße. Sie wusste es nicht, aber die Junker glaubten, dass sie es nicht sagen wollte, gingen in die Küche und sahen unter ihrem Bett nach, ob sich da irgend jemand versteckt hielt. Die empörte Annuschka sagte: „Na, sehen Sie nur noch im Bratofen nach – vielleicht sitzt dort wer!" Uns drei – Jelisarow, mich und Annuschka – nahmen sie mit und brachten uns in den Generalstab. Dort mussten wir uns in gewisser Entfernung voneinander hinsetzen. Bei einem jeden von uns nimmt ein Soldat mit dem Gewehr in der Hand Aufstellung. Nach einer Weile öffnet sich eine Tür und eine Horde Offiziere stürmt herein, bereit, sich auf uns zu stürzen. Aber da kommt jener Oberst, der bei uns die erste Haussuchung gehalten hatte, und sagt: „Das sind nicht die, die wir suchen." Wenn Lenin dabei gewesen wäre, so hätte man ihn in Stücke gerissen. Wir wurden entlassen. Jelisarow verlangte ein Automobil, um nach Hause zu fahren. Der Oberst versprach es und ging hinaus. Natürlich haben wir kein Auto bekommen, sondern mussten eine Droschke nehmen. Aber die Brücken waren hochgezogen, und wir kamen erst gegen Morgen nach Hause. Lange mussten wir klopfen, bevor uns geöffnet wurde, so dass wir schon fürchteten, es sei etwas passiert. Schließlich wurden wir eingelassen. Dann kam eine dritte Haussuchung. Ich war gerade nicht zu Hause, sondern in der Bezirksverwaltung. Als ich nach Hause kam, sah ich von weitem, dass unser Haustor von Soldaten besetzt und die Straße voller Menschen war. Ich sah eine Weile von weitem zu, schließlich ging ich ins Bezirksbüro zurück – ich konnte ja sowieso nichts helfen. Es war schon ziemlich spät, als ich im Bezirksbüro ankam, und außer der Wächterin war niemand mehr da. Etwas später kam Slutzki, ein Genosse, der kurz vordem mit Wolodarski, Melnitschanski und anderen aus Amerika zurückgekommen war. Er fiel später an der Südfront. Jetzt war er soeben aus der Haft entkommen und redete mir zu, nicht nach Hause zu gehen, sondern erst am nächsten Morgen jemand hinzuschicken, um zu fragen, wie die Dinge standen. So ging ich denn mit ihm, um eine Unterkunft für die Nacht zu suchen. Aber wir kannten die Adressen der Genossen nicht genau und irrten lange im Bezirk umher, bis wir schließlich zu der Genossin Fofanowa kamen, die zusammen mit mir arbeitete und die uns unterbrachte. Am Morgen stellte es sich heraus, dass bei uns zu Hause niemand verhaftet worden war und dass die Haussuchung diesmal weniger grob vorgenommen worden war als die vorhergehende. Lenin und Sinowjew hielten sich bei einem alten Parteigenossen, Jemeljanow, verborgen, einem Arbeiter der Sestrorezker Fabrik, der in Rasliw, unweit von Sestrorezk, wohnte. Für Jemeljanow und seine Familie hat Lenin bis an sein Lebensende wärmste Sympathie bewahrt. Ich verbrachte die ganze Zeit im Wiborger Bezirk. In den Julitagen verblüffte einen der Unterschied in der Stimmung der Arbeiter und der Kleinbürger. In den Straßenbahnen und auf den Straßen im Stadtinnern zischte der erboste Kleinbürger aus allen Ecken und Enden hervor; aber sowie man über die hölzerne Brücke auf die Wiborger Seite kam, schien man in eine andere Welt zu kommen. Zu tun gab es unheimlich viel. Durch den Genossen Sof und andere Genossen, die mit Jemeljanow in Verbindung standen, erhielt ich schriftliche Mitteilungen von Lenin mit verschiedenen Aufträgen. Die Reaktion nahm zu. Am 9. Juli erklärten das Gesamtrussische Zentralexekutivkomitee und das Exekutivkomitee des Sowjets der Arbeiter- und Bauerndeputierten in gemeinsamer Sitzung die Provisorische Regierung für die „Regierung der Rettung der Revolution". Am selben Tage begann diese „Rettung" mit der Verhaftung Kamenews. Am 12. Juli erschien das Gesetz über die Wiedereinführung der Todesstrafe an der Front. Am 15. Juli wurden die „Prawda" und die „Okopnaja Prawda" (Schützengraben-Prawda) verboten; Versammlungen an der Front wurden verboten. In Helsingfors wurde eine Reihe von Bolschewiki verhaftet, die bolschewistische Zeitung „Wolna" (Die Woge) wurde verboten, am 18. Juli wurde der Finnische Sejm aufgelöst. General Kornilow wurde zum Oberbefehlshaber ernannt, und am 22. Juli wurden Trotzki und Lunatscharski verhaftet. Bald nach den Julitagen dachte sich Kerenski eine besondere Maßnahme aus, um die Disziplin in der Armee zu heben. Er beschloss, das Maschinengewehrregiment, das in den Julitagen den Aufstand begonnen hatte, entwaffnet durch die Straßen führen zu lassen und der öffentlichen Schmähung preiszugeben. Ich sah, wie das entwaffnete Regiment hinausgeführt wurde. Die entwaffneten Soldaten führten ihre Pferde am Zügel hinter sich her, in ihren Augen brannte ein solcher Hass, ein solcher Hass lag in ihrem langsamen Gang, dass es einem sofort klar wurde, etwas Dümmeres hätte sich Kerenski nicht ausdenken können. Und wirklich – in den Oktobertagen bewies das Maschinengewehrregiment den Bolschewiki seine unverbrüchliche Treue, und Maschinengewehrschützen bewachten Lenin im Smolny. Die Partei der Bolschewiki führte nun eine halb illegale Existenz; aber sie wuchs und festigte sich. Im Moment der Eröffnung des VI. Parteitags, am 26. Juli, zählte die Partei bereits 177.000 Mitglieder, doppelt soviel als vor drei Monaten während der Gesamtrussischen Aprilkonferenz der Bolschewiki. Dass der Einfluss der Bolschewiki stieg, besonders in der Armee, unterlag keinem Zweifel. Der VI. Parteitag schloss die Bolschewiki noch fester zusammen. Im Aufruf des Parteitags war die Rede von dem konterrevolutionären Standpunkt der Provisorischen Regierung, von dem Herannahen der Weltrevolution, dem Zusammenstoß der Klassen. „Unsere Partei zieht mit fliegenden Fahnen in diese Schlacht. Sie hält sie fest in ihren Händen. Sie hat sie vor den Gewalttätern und schmutzigen Verleumdern, vor den Verrätern der Revolution und Lakaien des Kapitals nicht gesenkt. Sie wird sie auch weiterhin hochhalten und für den Sozialismus, für die Verbrüderung der Völker kämpfen. Denn sie weiß, dass eine neue Bewegung kommt und die Todesstunde der alten Welt schlägt."22 Am 25. August begann der Vormarsch Kornilows auf Petrograd. Die Petrograder Arbeiter – und der Wiborger Bezirk natürlich in erster Linie – bereiteten sich auf die Verteidigung von Petrograd vor. Den Kornilowschen Truppen, der sogenannten wilden Division, schickten wir unsere Agitatoren entgegen. Die Zersetzung griff unter den Kornilowschen Truppen schnell um sich, zu einem richtigen Angriff kam es nicht. General Krymow, der das gegen Petrograd anmarschierende Armeekorps kommandierte, erschoss sich. Ich entsinne mich eines unserer Arbeiter aus dem Wiborger Bezirk, eines jungen Burschen, der auf dem Gebiet der Liquidierung des Analphabetentums tätig war; er war einer der ersten, die an die Kornilowfront abgingen. Dann kam er zurück, und noch mit dem Gewehr auf der Schulter erschien er in der Bezirksduma: In der Schule fehle es an Kreide. Das Gesicht noch erregt vom Kampf, warf er das Gewehr von der Schulter, stellte es in eine Ecke und begann lebhaft von Tafeln, von der fehlenden Kreide usw. zu sprechen. Bei der Arbeit im Wiborger Bezirk konnte man tagtäglich beobachten, wie eng die Arbeiter ihren revolutionären Kampf mit dem Kampf für Kultur und Wissen verbanden. In der Laubhütte bei Rasliw, wo sich Lenin verborgen hielt, konnte man nicht länger leben, der Herbst war da. So entschloss sich Lenin, nach Finnland zu fahren, wo er die beabsichtigte Arbeit „Staat und Revolution", für die er sich bereits eine Menge Auszüge gemacht und die er gut durchdacht hatte, schreiben wollte. In Finnland war es auch einfacher, die Zeitungen zu verfolgen. Jemeljanow besorgte Lenin den Pass eines Sestrorezker Arbeiters, und er maskierte sich durch eine Perücke und Schminke. Dmitri Iljitsch Leschtschenko, ein alter Parteigenosse aus den Jahren 1905 bis 1907 (früherer Sekretär unserer bolschewistischen Zeitungen, jetzt mein Helfer im Wiborger Bezirk), bei dem Wladimir Iljitsch seinerzeit oft übernachtete, fuhr nach Rasliw, um Lenin zu fotografieren (der Pass musste mit Bild versehen sein). Jalawa, ein finnischer Genosse, Lokomotivführer auf der Finnländischen Bahn, den die Genossen Schotman und Rachja gut kannten, übernahm es, Lenin als Heizer verkleidet nach Finnland zu bringen. Die Verbindung mit Lenin wurde auch weiterhin durch den Genossen Jalawa aufrechterhalten, und mehr als einmal suchte ich ihn in seiner Wohnung auf, die sich ebenfalls im Wiborger Bezirk befand, um Briefe von Lenin abzuholen. Als sich Iljitsch in Helsingfors eingerichtet hatte, schickte er mir einen mit chemischer Tinte geschriebenen Brief, in dem er sogar einen Plan der Lage seiner Wohnung skizziert hatte, damit ich niemand zu fragen brauchte, wenn ich ihn besuchte. Aber als ich den Brief über der Lampe wärmte, um die Schrift sichtbar zu machen, brannte die eine Ecke des Plans weg. Jemeljanow besorgte auch mir einen Pass – den Pass einer alten Sestrorezker Arbeiterin. Ich band ein Kopftuch um und fuhr nach Rasliw zu den Jemeljanows, die mich über die Grenze brachten; für die Bewohner der Grenzzone genügten gewöhnliche Passierscheine zum Grenzübertritt. Irgendein Offizier prüfte meinen Pass, dann musste man etwa fünf Kilometer weit durch den Wald bis nach der kleinen Station Ollila gehen, wo ich einen Soldatenzug bestieg. Alles ging ausgezeichnet, bloß die abgebrannte Ecke des Plans war ein Hindernis; ich suchte lange in den Straßen herum, bis ich die richtige fand. Iljitsch freute sich sehr, man sah ihm an, wie sehr er sich in diesem Augenblick, in dem es so wichtig war, den Kampfvorbereitungen nahe zu sein, in ihrem Mittelpunkt zu stehen, aus seinem Schlupfwinkel heraus sehnte Ich erzählte ihm alles was ich wusste und blieb ein paar Tage in Helsingfors. Iljitsch wollte unbedingt zum Bahnhof mitgehen, als ich wieder fortfuhr, und begleitete mich bis an die letzte Straßenecke. Wir verabredeten, dass ich bald wiederkommen würde. Nach etwa zwei Wochen fuhr ich zum zweiten mal nach Helsingfors. Da ich mich etwas verspätet hatte, beschloss ich, die Jemeljanows nicht erst aufzusuchen, sondern direkt nach Ollila zu gehen. Im Walde wurde es schnell dunkel – es war schon im Spätherbst –, und der Mond ging auf. Meine Füße sanken im tiefen Sand ein, es schien mir, als hätte ich mich verirrt, und ich beeilte mich so sehr ich konnte. Aber als ich in Ollila ankam, war der Zug noch nicht einmal da, er kam erst nach einer halben Stunde. Die Waggons waren von Soldaten und Matrosen überfüllt. Ich musste während der ganzen Fahrt stehen. Die Soldaten sprachen ganz offen über den Aufstand. Die Gespräche drehten sich nur um Politik, die ganze Reise war eine einzige erregte Versammlung. Außer den Soldaten waren keine anderen Passagiere in dem Waggon. Anfangs fuhr irgendein Mensch in Zivil mit, als er aber hörte, wie ein Soldat erzählte, dass sie in Wiborg die Offiziere ins Wasser geworfen hätten, verschwand er auf der ersten Station. Mich beachtete niemand. Als ich Iljitsch von diesen Gesprächen der Soldaten erzählte, wurde sein Gesicht sehr nachdenklich, und dieser nachdenkliche Ausdruck verließ ihn später nicht mehr, worüber wir auch sprachen. Man merkte es ihm an, dass seine Gedanken nicht mehr bei dem waren, worüber wir uns unterhielten, sondern beim Aufstand und wie man ihn am besten organisieren könne. Am 15. und 14. September schreibt Lenin schon seinen Brief „Marxismus und Aufstand" an das Zentralkomitee, und Ende September übersiedelt er von Helsingfors nach Wiborg, um näher bei Petrograd zu sein. Von Wiborg aus schreibt er an Smilga nach Helsingfors (Smilga war damals Vorsitzender des Gebietskomitees der Armee und Flotte und der Arbeiter Finnlands), dass man die ganze Aufmerksamkeit auf die kriegstechnische Vorbereitung der finnischen Armee und Flotte auf den bevorstehenden Sturz der Kerenski-Regierung konzentrieren müsse. Ständig denkt Lenin jetzt darüber nach, wie der ganze Staatsapparat umgebaut, wie die Massen umorganisiert werden, wie überhaupt das ganze gesellschaftliche „Gewebe" – wie er sich ausdrückte – umgewebt werden muss. Darüber schrieb er in dem Artikel „Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten?", darüber schrieb er in dem Aufruf an die Bauern und Soldaten, in dem Brief an die Petrograder Stadtkonferenz zur Verlesung in geschlossener Sitzung, in dem er schon die konkreten Maßnahmen angab, die zur Machtergreifung notwendig waren. Darüber schrieb er auch an die Mitglieder des Zentralkomitees, des Moskauer und des Petrograder Komitees und an die bolschewistischen Mitglieder der Sowjets von Petrograd und Moskau. Am Vorabend des Aufstands Am 7. Oktober kam Lenin von Wiborg nach Petrograd. Es war beschlossen worden, streng konspirativ vorzugehen. Sogar die Mitglieder des Zentralkomitees sollten nicht erfahren, wo er sich aufhielt. Wir brachten ihn auf der Wiborger Seite, an der Ecke des Lesnoi-Prospekts, in einem großen, fast nur von Arbeitern bewohnten Haus bei der Genossin Margarita Wassiljewna Fofanowa unter. Die Wohnung war sehr günstig, da sich während der Sommermonate niemand in der Stadt aufhielt, auch das Dienstmädchen war weg, und die Genossin Fofanowa selbst war eine leidenschaftliche Bolschewikin, die alle Aufträge Lenins ausführte. Drei Tage später, am 10. Oktober, nahm Lenin an einer Sitzung des Zentralkomitees in der Wohnung der Genossin Suchanowa teil, wo eine Resolution über den bewaffneten Aufstand angenommen wurde. Zehn Mitglieder des Zentralkomitees (Lenin, Swerdlow, Stalin, Dzierzynski, Trotzki, Uritzki, Kollontai, Bubnow, Sokolnikow, Lomow) stimmten für den bewaffneten Aufstand, Sinowjew und Kamenew dagegen. Am 15. Oktober fand im Smolny eine Sitzung der Petrograder Organisation statt. Es waren die Delegierten der Bezirke anwesend (vom Wiborger Bezirk acht). Für den bewaffneten Aufstand sprach Dzierzynski, dagegen Tschudnowski. Tschudnowski war an der Front verwundet worden, er trug den Arm in der Binde. Aufgeregt erklärte er, dass wir unbedingt eine Niederlage erleiden würden, dass wir nichts überstürzen dürften: „Nichts ist leichter, als für die Revolution zu sterben, aber wir schaden der Sache der Revolution, wenn wir uns erschießen lassen!" Tschudnowski starb wirklich für die Sache der Revolution – er fiel im Bürgerkrieg. Er war kein Phrasenheld, aber sein Standpunkt war durch und durch falsch. Auf andere Reden besinne ich mich nicht. Bei der Abstimmung war die überwiegende Mehrheit für den sofortigen Aufstand, der Wiborger Bezirk stimmte einstimmig dafür. Am nächsten Tage, am 16., fand eine erweiterte Sitzung des Zentralkomitees in der Bezirksduma des Lesnoi-Bezirks statt, an der außer den Mitgliedern des Zentralkomitees auch die Mitglieder des Exekutivkomitees, des Petrograder Komitees, der Militärorganisation, des Petrograder Gewerkschaftsrats, der Fabrikkomitees, Vertreter der Eisenbahner und des Petrograder Gebietskomitees teilnahmen. Auf dieser Sitzung wurden zwei Standpunkte erörtert: der Standpunkt der Mehrheit, die für den sofortigen Aufstand war, und der Standpunkt der Minderheit, die gegen den sofortigen Aufstand war. Die Resolution Lenins erhielt die überwiegende Mehrzahl der Stimmen, nämlich 19; 2 waren dagegen, 4 enthielten sich der Stimme. Die Frage war entschieden. Auf einer geschlossenen Sitzung des Zentralkomitees wurde ein revolutionäres Militärzentrum gewählt. Direkt mit Lenin traten so wenig Personen wie möglich in Verbindung: ich, Maria Iljinitschna, auch Genosse Rachja einmal. Eines Tages spielte sich folgende Szene ab: Lenin hatte die Genossin Fofanowa irgendwohin geschickt. Es war verabredet worden, dass er niemand die Tür öffnen und auf ein Klingeln überhaupt nicht reagieren sollte. Ich pflegte auf vereinbarte Weise zu klopfen. Die Genossin Fofanowa hatte einen Vetter, der an irgendeiner Militäranstalt studierte. Wie ich abends nach der Wohnung komme, sehe ich diesen jungen Menschen ziemlich ratlos und aufgeregt auf der Treppe stehen. Wie er mich erkennt, fängt er an zu erzählen: „Wissen Sie, in Margaritas Wohnung muss irgend jemand eingedrungen sein." „Wieso?" frage ich. „Jawohl: ich komme, klingle, und von innen ruft eine männliche Stimme etwas; ich klingle wieder, noch einmal – niemand öffnet und niemand antwortet mehr." Ich schwindelte dem jungen Menschen irgend etwas vor, Margarita nehme heute an einer Versammlung teil und dass er sich getäuscht haben müsse, und atmete erst auf, als er sich in die Straßenbahn gesetzt hatte und davongefahren war. Dann kehrte ich zurück, und als mir Iljitsch auf das verabredete Klopfzeichen hin öffnete, fiel ich über ihn her: „Der junge Mensch hätte doch Leute herbeirufen können!" „Ich dachte, es sei vielleicht etwas Eiliges", antwortete Iljitsch. Auch ich war beständig unterwegs, um seine Aufträge zu erledigen. Am 24. Oktober schrieb er an das Zentralkomitee, dass es notwendig sei, die Macht noch an demselben Tag in die Hand zu nehmen. Er schickte Margarita mit diesem Brief fort, wartete aber ihre Rückkehr nicht ab, sondern setzte die Perücke auf und ging in den Smolny. Es war keine Minute mehr zu verlieren. Der Wiborger Bezirk bereitete sich auf den Aufstand vor. In den Räumen der Wiborger Bezirksverwaltung saßen fünfzig Arbeiterinnen, denen eine Ärztin die ganze Nacht hindurch Unterricht im Verbinden usw. gab. Hier wurden die Arbeiter bewaffnet, eine Gruppe nach der anderen kam und erhielt Gewehre. Aber im Wiborger Bezirk war nichts niederzuschlagen – man verhaftete nur irgendeinen Oberst und ein paar Junker, die gekommen waren, um im Arbeiterklub Tee zu trinken. In der Nacht fuhr ich mit Schenja Jegorowa auf einem Lastwagen in den Smolny, um zu erfahren, wie die Dinge standen. Am 25. Oktober (7. November) 1917 morgens wurde die Provisorische Regierung gestürzt. Die Staatsgewalt ging an das Revolutionäre Militärkomitee, ein Organ des Petrograder Sowjets, das an der Spitze des Petrograder Proletariats und der Garnison stand, über. Am gleichen Tag wurde auf dem Zweiten Gesamtrussischen Kongress der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten die Arbeiter-und-Bauern-Regierung gebildet und der Rat der Volkskommissare, zu dessen Vorsitzenden Lenin bestimmt wurde. 1 W. I. Lenin: Werke, 4. Ausgabe, Bd. 35, S. 239, russ. 2 Ebenda, S. 241. 3 Ebenda. 4 W. I. Lenin: Werke, Bd. 23, S. 344. 5 Ebenda, S. 343. 6 Ebenda, S. 346. 7 W. I. Lenin: Werke, 3. Ausgabe, Bd. XXIX, S. 350, russ. 8Lenin-Sammelband XIII, S. 270, russ. 9 Ebenda, S. 272. 10 Ebenda, S. 387. 11 Pascha – süße Osterspeise aus Weißkäse. 12 Beloostrow – Grenzstation zwischen Russland und Finnland. 13 Stadtteil von Petrograd am rechten Ufer der Newa. 14W. I. Lenin, Werke, Bd. 24, S. 224, 221, 226 15 Ebenda, S. 220. 16 Ebenda. 17 Ebenda, S. 225. 18 Ebenda, S. 230. 19 Ebenda, S. 231. 20 Ebenda, S. 231. 21 W. I. Lenin: Das Jahr 1917, Dietz Verlag, Berlin 1957, S. 185. 22 W. I. Lenin: Werke, 2. Ausgabe, Bd. XXI, S. 484, russ. |