Die Jahre der Reaktion

Die Jahre der Reaktion (1908-1910)

Genf (1908)

Am Abend seiner Ankunft in Genf schrieb Lenin einen Brief an Alexinski – den bolschewistischen Abgeordneten der II. Duma, der zusammen mit den anderen bolschewistischen Deputierten zu Zwangsarbeit verurteilt worden, aber ins Ausland geflüchtet war und zu jener Zeit in Österreich lebte – als Antwort auf dessen Brief, den Lenin bereits in Berlin erhalten hatte. Ein paar Tage später antwortete er Gorki, der Iljitsch dringend aufgefordert hatte, zu ihm nach Italien, auf die Insel Capri, zu kommen.

Die Reise nach Capri war unmöglich – das illegale Zentralorgan der Partei, der „Proletari", musste organisiert werden. Dies musste so rasch wie möglich geschehen, um in dieser schweren Zeit der Reaktion möglichst bald durch das Zentralorgan eine systematische Leitung auszuüben. Es war unmöglich zu reisen, wenn der Gedanke daran auch sehr verlockend war. Er schrieb in seinem Brief: „…wirklich, man müsste mal einen Abstecher nach Capri machen!… Ich glaube, es wäre am besten, Sie dann zu besuchen, wenn Sie nichts Größeres in Arbeit haben, damit wir herum schlendern und uns was erzählen können."1 Viel hatte Lenin in den letzten Jahren erlebt und durchdacht, und er hätte sich gern mit Gorki nach Herzenslust ausgesprochen, aber die Reise musste verschoben werden.

Es war noch kein Entschluss gefasst worden, ob der „Proletari" in Genf oder irgendwo anders im Ausland erscheinen sollte. Wir schrieben nach Wien an den österreichischen Sozialdemokraten Victor Adler und an Józef (Dzierzynski), der ebenfalls dort lebte. Österreich lag näher an der russischen Grenze, in mancher Beziehung wäre es bequemer gewesen, die Zeitung dort zu drucken, auch der Transport war leichter zu organisieren. Aber Lenin hatte wenig Hoffnung, dass man die Herausgabe des Zentralorgans irgendwo anders als in Genf bewerkstelligen konnte, und er unternahm die notwendigen Schritte, um die Angelegenheit in Genf zu regeln. Zu unserer größten Verwunderung erfuhren wir, dass in Genf eine aus früheren Zeiten stammende Setzmaschine erhalten geblieben war, wodurch uns viele Ausgaben erspart blieben und die ganze Sache vereinfacht wurde.

Es meldete sich auch der Drucker, der in Genf vor der Revolution von 1905 die bolschewistische Zeitung „Wperjod" gesetzt hatte, Genosse Wladimirow. Die allgemeinen Wirtschaftsangelegenheiten wurden D. M. Kotljarenko übertragen.

Im Februar waren in Genf bereits alle Genossen eingetroffen, die von Russland aus dazu bestimmt worden waren, den „Proletari" zu organisieren: Lenin, Bogdanow und Innokenti (Dubrowinski).

In einem Brief vom 2. Februar 1908 schrieb Lenin an Gorki: „Alles ist soweit, dieser Tage erscheint die Voranzeige. Wir nennen Sie als Mitarbeiter. Schreiben Sie ein paar Zeilen, ob Sie uns etwas für die ersten Nummern geben können (etwa in der Art der Betrachtungen über das Kleinbürgertum in der „Nowaja Schisn" oder Teile der Erzählung, die Sie eben schreiben, u. dgl.)."2 Lenin hatte schon 1894 in seinem Buch „Was sind die ,Volksfreunde' und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten?" über die bürgerliche Kultur und über das Kleinbürgertum geschrieben, das er leidenschaftlich hasste und verachtete. Aus diesem Grunde gefielen ihm die Betrachtungen Gorkis über das Kleinbürgertum ganz besonders. An Lunatscharski, der ebenfalls bei Gorki auf Capri wohnte, schrieb Iljitsch: „Schreiben Sie, ob Sie sich endgültig eingerichtet haben und arbeitsfähig sind."3

Das Redaktionstrio (Lenin, Bogdanow, Innokenti) schrieb nach Wien an Trotzki und forderte ihn auf, am „Proletari" mitzuarbeiten. Trotzki lehnte ab; er wollte nicht mit den Bolschewiki zusammenarbeiten; er sagte dies jedoch nicht direkt, sondern motivierte seine Absage damit, dass er stark beschäftigt sei.

Nun begann die Sorge um die Beförderung des „Proletari" nach Russland. Man suchte die alten konspirativen Verbindungen wieder aufzunehmen. Früher war der Transport auf dem Seewege über Marseille usw. gegangen. Lenin dachte, dass es jetzt vielleicht möglich wäre, die Beförderung über Capri, wo Gorki lebte, zu organisieren. Er fragte bei Maria Fjodorowna Andrejewa, Gorkis Frau, an, wie man die Beförderung der Literatur nach Odessa durch das Schiffspersonal bewerkstelligen könnte. Ebenso korrespondierte er mit Alexinski über die Transportmöglichkeit über Wien, ohne übrigens auf irgendeinen Erfolg zu rechnen. Alexinski taugte für solche Angelegenheiten kaum. Schließlich forderte man unseren „Transportspezialisten" Pjatnitzki (jetzt Mitarbeiter der Komintern) auf, aus Russland zu kommen. Pjatnitzki hatte seinerzeit die Transporte über die deutsche Grenze sehr gut organisiert. Ehe es ihm jedoch nach allen möglichen Verfolgungen, Bespitzelungen und Verhaftungen gelungen war, sich ins Ausland durchzuschlagen, waren fast acht Monate vergangen. Als Pjatnitzki dann endlich bei uns eingetroffen war, versuchte er, den Transport über Lwow zu leiten; dies gelang aber nicht. Im Herbst 1908 kam er in Genf an. Es wurde vereinbart, dass er dort Aufenthalt nehmen sollte, wo er früher gewohnt hatte, in Leipzig; von dort aus sollte er die alten Beziehungen wieder aufnehmen und den Transport über die deutsche Grenze regeln.

Alexinski hatte beschlossen, nach Genf überzusiedeln. Seine Frau, Tatjana Iwanowna, sollte als meine Gehilfin bei der Erledigung der Korrespondenz mit Russland herangezogen werden. Doch das waren alles nur Pläne. Was Briefe anbelangt, so haben wir mehr auf sie gewartet als wirklich welche empfangen. Bald nach unserer Ankunft in Genf passierte die Geldgeschichte.

Im Juli 1907 war auf dem Eriwan-Platz in Tiflis die bekannte Expropriation vollzogen worden. Auf dem Höhepunkt der Revolution, als der Kampf gegen die Selbstherrschaft in vollem Gange war, hielten es die Bolschewiki für zulässig, zaristische Staatsgelder zu beschlagnahmen, und gestatteten die Expropriation. Das von der Tifliser Expropriation herrührende Geld wurde den Bolschewiki für revolutionäre Zwecke übergeben. Aber es konnte nicht verwendet werden, denn es waren lauter Fünfhundertrubelscheine, die gewechselt werden mussten. In Russland konnte dies nicht geschehen, weil in jeder Bank Listen mit den Nummern der bei der Expropriation entnommenen Fünfhundertrubelscheine auslagen. Jetzt, da im ganzen Lande wüste Reaktion herrschte, musste die Flucht der Genossen aus den Gefängnissen, in denen die Revolutionäre auf Befehl der zaristischen Regierung misshandelt wurden, organisiert werden. Damit die Bewegung nicht lahmgelegt wurde, mussten illegale Druckereien eingerichtet werden usw. Geld wurde also dringend gebraucht. Da unternahm eine Gruppe von Genossen den Versuch, die Fünfhundertrubelscheine im Ausland in einer Reihe von Städten gleichzeitig einzuwechseln, und zwar geschah dies gerade einige Tage nach unserer Ankunft in Genf. Der Provokateur Schitomirski war über diese ganze Angelegenheit unterrichtet und hatte an der Organisierung des Geldwechsels im Ausland teilgenommen. Niemand wusste damals, dass Schitomirski ein Lockspitzel war, er besaß das volle Vertrauen aller Genossen. Er hatte jedoch damals schon in Berlin den Genossen Kamo verraten, bei dem man einen Koffer mit Dynamit fand und der dann lange Zeit in einem deutschen Gefängnis sitzen musste und schließlich von der deutschen Regierung ausgeliefert wurde. Schitomirski hatte die Polizei verständigt, und die Genossen, die das Einwechseln der Banknoten vornehmen wollten, wurden verhaftet. In Stockholm wurde ein Lette, Mitglied der Züricher Gruppe, verhaftet, in München Olga Rawitsch, Mitglied der Genfer Gruppe, eine Parteigenossin, die erst unlängst aus Russland angekommen war; ferner wurden Bogdassarian und Chodschamirian festgenommen.

In Genf wurde N. A. Semaschko verhaftet, an dessen Adresse eine Postkarte für einen der Inhaftierten angekommen war.

Die Schweizer Spießer waren tödlich erschrocken. Es wurde über nichts anderes als über die russischen Expropriateure gesprochen. Auch in der Pension, in der ich mit Iljitsch zu Mittag aß, wurde bei Tisch über diese Angelegenheit geredet. Als ein kaukasischer Genosse, Micha Zchakaja, Vorsitzender des III. Parteitages (1905), der damals in Genf lebte, uns zum ersten Mal besuchte, bekam unsere Wirtin einen derartigen Schreck über sein kaukasisches Aussehen, dass sie fest daran glaubte, er und kein anderer müsse der eigentliche Expropriateur sein, und ihm mit einem lauten Angstschrei die Tür vor der Nase zuwarf.

Die Schweizer Partei war damals erzopportunistisch eingestellt, und anlässlich der Verhaftung Semaschkos äußerten die Schweizer Sozialdemokraten, dass die Schweiz das demokratischste Land sei, dass das Rechtswesen bei ihnen auf einer hohen Stufe stehe und dass sie auf ihrem Territorium kein Verbrechen gegen das Eigentum dulden könnten.

Die russische Regierung verlangte die Auslieferung der Verhafteten. Die schwedischen Sozialdemokraten waren bereit, in dieser Angelegenheit einzugreifen, sie verlangten nur, dass die Züricher Gruppe, zu der der in Stockholm verhaftete Genosse gehörte, bestätigen sollte, dass dieser Sozialdemokrat sei und ständig in Zürich gelebt habe. Die Züricher Gruppe, in der die Menschewiki vorherrschten, weigerte sich aber, das zu tun. Gleichzeitig beeilten sich die Menschewiki, sich in der Berner Zeitung von Semaschko abzugrenzen, und stellten die Sache so hin, als sei Semaschko nicht Sozialdemokrat und habe die Genfer Gruppe nicht auf dem Stuttgarter Kongress vertreten.

Die Menschewiki verurteilten den Moskauer Aufstand von 1905, sie waren gegen alles, was die liberale Bourgeoisie abschrecken konnte. Die Tatsache, dass die bürgerlichen Intellektuellen der Revolution im Moment ihrer Niederlage den Rücken kehrten, erklärten sie nicht aus der Klassennatur dieser Leute, sondern damit, dass die Bolschewiki sie mit ihren Kampfmethoden abgeschreckt hätten. Der Standpunkt der Bolschewiki, dass eine im Moment des Aufschwungs des revolutionären Kampfes vorgenommene Expropriation für revolutionäre Zwecke zulässig sei, wurde von ihnen scharf verurteilt. Die Bolschewiki schreckten ihrer Meinung nach die liberale Bourgeoisie zurück. Die Menschewiki brauchten den Kampf gegen die Bolschewiki. In diesem Kampf war kein Mittel zu schlecht.

In einem an Plechanow gerichteten Brief vom 26. Februar 1908 entwickelte P. B. Axelrod einen Plan, wie man die Bolschewiki in den Augen des Auslandes diskreditieren könne: Zu diesem Zweck müsse die genannte Geschichte ausgenutzt und ein Bericht darüber verfasst werden. Dieser Bericht müsste ins Deutsche und Französische übersetzt und an den deutschen Parteivorstand, an Kautsky, Adler, das Internationale Büro, nach London usw. gesandt werden.

Dieser viele Jahre später (1926) veröffentlichte Brief Axelrods veranschaulicht besser als irgend etwas anderes, wie weit damals schon die Wege der Bolschewiki und der Menschewiki auseinandergingen.

Anlässlich der Verhaftung Semaschkos richtete Lenin als Vertreter der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands eine offizielle Erklärung an das Internationale Büro. Ebenso schrieb er an Gorki, dass dieser, falls er Semaschko persönlich von Nischni-Nowgorod her kenne, in der Schweizer Presse für ihn eintreten solle. Semaschko wurde bald darauf aus dem Gefängnis entlassen.

Nur schwer konnten wir uns nach der Revolution wieder an das Emigrantenleben gewöhnen. Lenin brachte ganze Tage in der Bibliothek zu, abends jedoch wussten wir nicht, wohin wir gehen sollten. In unserem kalten, ungemütlichen Zimmer zu sitzen, hatten wir keine Lust, es zog uns unter Menschen. So gingen wir bald ins Kino, bald ins Theater; selten jedoch sahen wir uns ein Stück bis zu Ende an, gewöhnlich gingen wir nach der ersten Hälfte fort und streiften irgendwo umher, meistens am See.

Im Februar endlich erschien die erste in Genf herausgegebene Nummer des „Proletari" (Nr. 21). Charakteristisch ist der erste Artikel Lenins in dieser Nummer.

Wir haben es verstanden", schrieb er, „lange Jahre vor der Revolution zu arbeiten. Nicht umsonst hat man uns die Felsenfesten genannt. Die Sozialdemokraten haben eine proletarische Partei aufgebaut, die beim Misslingen ihres ersten militärischen Ansturms nicht den Mut sinken lassen, nicht den Kopf verlieren, sich nicht zu Abenteuern hinreißen lassen wird. Diese Partei geht dem Sozialismus entgegen, ohne sich und ihre Geschicke an das Ergebnis der einen oder anderen Periode bürgerlicher Revolutionen zu binden. Daher ist sie auch frei von den schwachen Seiten bürgerlicher Revolutionen. Diese proletarische Partei geht dem Siege entgegen."4

So schrieb Lenin. Und diese Worte drücken das aus, was damals den Inhalt seines Lebens bildete. Im Moment der Niederlage dachte er an große Siege des Proletariats. Abends, wenn wir am Ufer des Genfer Sees spazieren gingen, sprach er darüber.

Wir trafen Genossen Adoratski, der 1906 ausgewiesen worden war und Anfang 1908 wieder nach Russland zurückkehrte, noch in Genf an. Er berichtet in seinen Erinnerungen über seine Gespräche mit Lenin über den Charakter der nächsten Revolution und dass diese Revolution zweifellos dem Proletariat die Macht bringen würde. Diese Erinnerungen des Genossen Adoratski entsprechen ganz und gar dem Geiste des obenerwähnten Artikels sowie allem, was Lenin damals sagte. Dass die Niederlage des Proletariats von 1905 nur eine vorübergehende sein würde, daran zweifelte er keine Minute.

Genosse Adoratski schreibt auch, dass ihn Lenin veranlasste, seine „ausführlichen Erinnerungen über das Jahr 1905, über die Oktobertage und besonders über die Lehren niederzuschreiben, die sich auf die Fragen der Bewaffnung der Arbeiterschaft, der Kampfabteilungen, der Organisierung des Aufstands und der Eroberung der Macht beziehen"5.

Lenin vertrat den Standpunkt, dass man die Erfahrungen der Revolution aufs Sorgfältigste studieren müsse, damit man aus ihnen für die Zukunft Lehren ziehen könne. Er ging an keinem Teilnehmer der jüngsten Kämpfe vorüber, ohne sich eingehend mit ihm zu unterhalten. Er war der Meinung, dass die russische Arbeiterklasse die Aufgabe habe, „die Traditionen des revolutionären Kampfes, von dem sich die Intellektuellen und das Kleinbürgertum so eilig lossagen, hochzuhalten, zu entwickeln und zu festigen, sie dem Bewusstsein breiter Volksmassen einzuprägen, sie bis zum nächstfolgenden Aufschwung der unvermeidlichen demokratischen Bewegung zu erhalten.

Diese Linie", schrieb er, „wird ganz spontan von den Arbeitern selbst durchgeführt. Zu leidenschaftlich haben sie den großen Oktober- und Dezemberkampf erlebt, zu klar haben sie die Änderung ihrer Lage einzig im Zusammenhang mit diesem unmittelbar revolutionären Kampf gesehen. Sie sagen heute alle, wie jener Weber – oder fühlen jedenfalls gleich ihm –, der in einem Brief an sein Gewerkschaftsorgan erklärte: Die Unternehmer haben uns unsere Errungenschaften geraubt, die Werkführer verhöhnen uns ganz wie früher, aber wartet nur, das Jahr 1905 kommt wieder!

Wartet nur, das Jahr 1905 kommt wieder! Das ist die Auffassung der Arbeiter. Ihnen gab dieses Jahr ein Schulbeispiel dafür, was man tun soll. Für die Intellektuellen aber und für die ins Renegatentum verfallenen Spießer ist dieses Jahr das ,tolle Jahr', ein Beispiel dafür, was man nicht tun soll. Für das Proletariat muss die Durcharbeitung und kritische Aneignung der Erfahrungen der Revolution darin bestehen, die erfolgreichere Anwendung der damaligen Kampfmethoden zu erlernen, um den Streikkampf vom Oktober und den bewaffneten Kampf vom Dezember zu einem breiteren, konzentrierteren und bewussteren zu machen."6

Die bevorstehenden Jahre betrachtete Lenin als Jahre der Vorbereitung zu einem neuen Angriff.

Die „Atempause" im revolutionären Kampf musste zu einer weiteren Vertiefung seines Inhalts ausgenutzt werden.

Vor allen Dingen musste die unter den Bedingungen der herrschenden Reaktion einzuschlagende Kampflinie ausgearbeitet werden. Es musste überlegt werden, wie die Möglichkeit legaler Arbeit, die Möglichkeit, von der Rednertribüne der Duma herab zu den breiten Massen der Arbeiter und Bauern zu sprechen, beim Übergang der Partei zur Illegalität gewahrt werden konnte. Iljitsch sah, dass viele Bolschewiki – die sogenannten Otsowisten – dazu neigten, sich die ganze Sache sehr zu vereinfachen: Von dem Wunsche beseelt, um jeden Preis die Kampfformen zu wahren, die im Moment der höchsten Entfaltung der Revolution sich als zweckentsprechend erwiesen, gaben sie in der Tat den Kampf unter den schweren Verhältnissen der Reaktion auf und wichen den Schwierigkeiten aus, die sich in der Arbeit unter diesen neuen Bedingungen ergaben. Lenin betrachtete den Otsowismus als linkes Liquidatorentum. Der unverhohlenste der Otsowisten war Alexinski. Nach seiner Rückkehr nach Genf verschlechterten sich die Beziehungen zwischen Lenin und ihm sehr bald. Lenin hatte in einer ganzen Reihe von Fragen mit ihm zu tun, und mehr als irgendwann sonst war ihm jetzt dessen eingebildetes und beschränktes Wesen zuwider. Dass die Dumatribüne auch während der Reaktion als Verbindungsmittel mit den breiten Massen der Arbeiter und Bauern dienen konnte, das interessierte Alexinski sehr wenig. Er, Alexinski, konnte ja nach der Auflösung der II. Duma doch nicht mehr von dieser Tribüne aus sprechen … In Genf trat die anmaßende und rüpelhafte Art dieses Menschen besonders deutlich und unverhüllt zutage; dabei galt er damals noch als Bolschewik. Ich erinnere mich zum Beispiel an folgende Begegnung: Ich ging die Rue de Carouge entlang (die seit langem das Emigrantenzentrum bildete) und sah zwei Mitglieder des „Bund", die ganz verwirrt mitten auf dem Trottoir standen. Sie gehörten zusammen mit Alexinski der Kommission zur Redigierung der Protokolle des Londoner Parteitags an (diese Protokolle wurden zum ersten Mal 1908 in Genf veröffentlicht). Es war zu einem Streit über irgendeine Formulierung gekommen: Alexinski hatte sie angeschrien, alle auf dem Tisch liegenden Protokolle zusammengerafft und war davongerannt. Ich sah mich um und erblickte in der Ferne die kleine Gestalt des schnell ausschreitenden Alexinski, der mit riesigen Mappen voll Papieren unter dem Arm stolz erhobenen Hauptes um die Straßenecke bog. Es war nicht einmal lächerlich.

Aber nicht allein um Alexinski handelte es sich. Man spürte, dass die frühere Geschlossenheit in der bolschewistischen Fraktion fehlte, dass die Spaltung herannahte, und zwar in erster Linie die Spaltung zwischen der Fraktion und A. A. Bogdanow.

In Russland waren die „Beiträge zur Philosophie des Marxismus" mit Artikeln von A. Bogdanow, Lunatscharski, Basarow, Suworow, Berman, Juschkewitsch und Helfond erschienen. Diese „Beiträge" stellten einen Versuch der Revision der materialistischen Weltanschauung, der materialistischen, marxistischen Auffassung von der Entwicklung der Menschheit, der Auffassung vom Klassenkampf dar.

Die neue Philosophie öffnete jeglicher Mystik Tür und Tor. In den Jahren der Reaktion konnte sich der Revisionismus besonders üppig entfalten, die Niedergangsstimmungen unter den Intellektuellen hätten dies in jeder Weise fördern können. Eine Abgrenzung war unerlässlich.

Lenin hatte sich immer für philosophische Fragen interessiert und hatte sich in der Verbannung viel mit Philosophie beschäftigt; er kannte die philosophischen Auffassungen von Marx, Engels und Plechanow sehr genau und hatte Hegel, Feuerbach und Kant studiert. Bereits in der Verbannung hatte er so manchen heißen Streit mit Genossen geführt, die zu Kant neigten. Er verfolgte genau, was in der „Neuen Zeit" über diese Probleme geschrieben wurde, und war überhaupt in der Philosophie gut bewandert.

In einem Brief an Gorki vom 25. Februar legte Lenin die Geschichte seiner Differenzen mit Bogdanow dar. Noch während seiner Verbannung hatte er das Buch Bogdanows „Die Grundelemente der historischen Auffassung der Natur" gelesen, jedoch stellte der damalige Standpunkt Bogdanows erst den Übergang zu seinen späteren philosophischen Ansichten dar. Später, als Lenin 1903 mit Plechanow zusammenarbeitete, äußerte sich dieser ihm gegenüber oft genug erzürnt über die philosophischen Ansichten Bogdanows. 1904 erschien Bogdanows Arbeit „Empiriomonismus", und Lenin erklärte Bogdanow geradeheraus, dass er Plechanows und nicht Bogdanows Ansichten für richtig halte.

Im Sommer und Herbst 1904 sind wir uns mit Bogdanow als Bolschewiki endgültig einig geworden und haben jenen stillschweigenden und die Philosophie als neutrales Gebiet stillschweigend ausschließenden Block gebildet, der die ganze Revolution hindurch fortbestanden und es uns ermöglicht hat, in der Revolution gemeinsam jene Taktik der revolutionären Sozialdemokratie (= Bolschewismus) zu verfolgen, die meiner tiefsten Überzeugung nach die einzig richtige gewesen ist.

In der rastlosen Zeit der Revolution kam man wenig dazu, sich mit Philosophie zu beschäftigen. Im Gefängnis schrieb Bogdanow Anfang 1906 ein weiteres Buch – ich glaube, den dritten Teil des ,Empiriomonismus'. Im Sommer 1906 schenkte er es mir, und ich begann es aufmerksam zu lesen. Nachdem ich es gelesen hatte, packte mich eine ungeheure Wut: es wurde mir noch klarer, dass er sich auf einem grundfalschen, unmarxistischen Weg befindet. Ich schrieb ihm damals eine ,Liebeserklärung', ein Brieflein über Philosophie im Umfang von drei Heften. Dort setzte ich ihm auseinander, dass ich in der Philosophie natürlich nur ein einfacher Marxist sei, dass mich aber gerade seine klaren, populären, vortrefflich geschriebenen Arbeiten endgültig davon überzeugt hätten, dass im Wesen der Sache er Unrecht und Plechanow Recht hat. Selbige Hefte zeigte ich einigen Freunden (darunter Lunatscharski) und trug mich mit dem Gedanken, sie unter dem Titel ,Betrachtungen eines einfachen Marxisten über Philosophie' zu veröffentlichen, bin aber nicht dazu gekommen. Jetzt bedaure ich, dass ich sie damals nicht gleich drucken ließ …

Nunmehr sind die ,Beiträge zur Philosophie des Marxismus' erschienen. Ich habe alle Artikel gelesen, außer dem Suworowschen (bei dem ich eben bin), und bei jedem Artikel tobte ich geradezu vor Empörung … Eher lasse ich mich vierteilen, als dass ich mich einverstanden erkläre, an einem Organ oder in einem Kollegium mitzuarbeiten, das solche Dinge predigt.

Es zog mich wieder zu den Betrachtungen eines einfachen Marxisten über Philosophie', und ich griff zur Feder; A. A. (Bogdanow. N. K.) aber habe ich natürlich – während der Lektüre der ,Beiträge' – meine Eindrücke geradeheraus und ungeschminkt ins Gesicht gesagt."7

So schilderte Lenin diese Angelegenheit Gorki.

Schon zur Zeit des Erscheinens der ersten Auslandsnummer des „Proletari" (13. Februar 1908) waren die Beziehungen zwischen Lenin und Bogdanow außerordentlich schlecht.

Bereits Ende März vertrat Lenin die Meinung, dass der philosophische Streit von der politischen Gruppierung in der Fraktion der Bolschewiki getrennt werden könne und müsse. Seiner Ansicht nach würde der philosophische Streit innerhalb der Fraktion besser als irgend etwas anderes zeigen, dass man den Bolschewismus mit der Bogdanowschen Philosophie keinesfalls identifizieren dürfe.

Es wurde jedoch von Tag zu Tag klarer, dass sich die bolschewistische Fraktion bald spalten würde.

In dieser schweren Zeit trat Innokenti (Dubrowinski) Lenin besonders nahe.

Bis zum Jahre 1905 kannten wir Innokenti nur vom Hörensagen. Djadenka (Lidia Michailowna Knipowitsch), die ihn aus der Zeit der Astrachaner Verbannung kannte, und die Samaraer (Krschischanowskis) schätzten ihn sehr hoch; wir waren jedoch einander bisher noch nicht begegnet. Auch korrespondiert hatten wir nicht miteinander. Einmal nur, als nach dem II. Parteitag der Skandal mit den Menschewiki losging, traf ein Brief von ihm ein, in dem er über die Wichtigkeit, die Parteieinheit zu wahren, schrieb. Dann trat er in das versöhnlerische Zentralkomitee ein und wurde zusammen mit den anderen ZK-Mitgliedern bei Leonid Andrejew verhaftet.

Im Jahre 1905 konnte Lenin Innokenti bei der Arbeit beobachten. Er sah, wie restlos Innokenti der Sache der Revolution ergeben war, wie er stets die schwierigste, gefährlichste Arbeit auf sich nahm. Aus diesem Grunde gelang es Innokenti auch nicht, auf einem einzigen Parteitag anwesend zu sein: Kurz vor jedem Parteitag ging er unbedingt hoch. Iljitsch kannte die Entschlossenheit Innokentis im Kampf – er hatte an dem Moskauer Aufstand teilgenommen und war bei dem Aufstand in Kronstadt dabei gewesen. Innokenti war kein Schriftsteller, er sprach in Arbeiterversammlungen, in den Betrieben, seine Reden begeisterten die Arbeiter für den Kampf, aber natürlich wurden seine Reden nicht aufgezeichnet, nicht mitstenografiert. Lenin schätzte besonders Innokentis restlose Hingabe, die er der Sache gegenüber an den Tag legte, sehr und war über seine Ankunft in Genf erfreut. Sie stimmten in vielem völlig miteinander überein. Beide maßen der Partei außerordentliche Bedeutung bei und vertraten den Standpunkt, dass der energischste Kampf gegen die Liquidatoren notwendig sei, die erklärten, dass die illegale Partei liquidiert werden müsse, da sie nur ein Hindernis für die Arbeit sei. Beide schätzten Plechanow sehr und freuten sich, dass er sich nicht mit den Liquidatoren solidarisierte. Der eine wie auch der andere waren der Ansicht, dass Plechanow auf dem Gebiete der Philosophie recht habe; dass man sich auf diesem Gebiet entschieden von Bogdanow abgrenzen müsse; dass in diesem Augenblick der Kampf an der philosophischen Front besondere Bedeutung gewinne. Lenin fühlte, dass ihn niemand so gut verstand wie Innokenti. Innokenti kam zu Tisch zu uns, und nach dem Mittagessen überlegten sie stundenlang zusammen die Arbeitspläne und erörterten die entstandene Lage. Abends traf man sich dann im Café Landolt, und hier wurden die begonnenen Gespräche fortgesetzt. Lenin steckte Innokenti mit seinem „philosophischen Rausch" – wie er sich ausdrückte – an. Alles das brachte beide einander sehr nahe. Wladimir Iljitsch war in jener Zeit Inok (Innokenti) sehr zugetan.

Es war eine schwere Zeit. Die Organisationen in Russland zerfielen. Von Provokateuren verraten, gerieten die besten Parteifunktionäre der Polizei in die Hände. Große Versammlungen oder Konferenzen einzuberufen war unmöglich. Eine illegale Existenz zu beginnen war für Leute, die noch vor kurzem ganz legal gelebt hatten und allen bekannt waren, nicht so einfach. Im Frühling (April und Mai) wurden Kamenew und Warski (ein polnischer Sozialdemokrat, der Dzierzynski, Tyszka [Jogiches] und Rosa Luxemburg sehr nahestand) auf der Straße verhaftet; ein paar Tage später wurde, gleichfalls auf der Straße, Sinowjew festgenommen, und schließlich auch N. A. Roschkow (Bolschewik, Mitglied unseres ZK). Die Massen zogen sich in sich selbst zurück. Sie wollten das Geschehene erfassen, durchdringen, sie waren der Agitation allgemeinen Charakters, die niemand mehr befriedigte, überdrüssig. Die Arbeiter wollten gerne Zirkeln beitreten, aber es war niemand da, um solche zu leiten. Dank dieser Stimmung hatte der Otsowismus einen gewissen Erfolg. Die Kampfabteilungen, die von keiner Organisation mehr geleitet wurden, nicht mehr vom Massenkampf getragen wurden, sondern außerhalb eines solchen, unabhängig von ihm, handelten, entarteten, und Innokenti hatte mehr als einmal schwierige Konflikte zu entscheiden, die aus diesem Grunde entstanden waren.

Gorki lud Lenin ein, nach Capri zu kommen, wo damals Bogdanow, Basarow und andere lebten, um eine Einigung herbeizuführen; aber Iljitsch fuhr nicht hin, denn er fühlte, dass eine Einigung unmöglich war. In seinem Brief vom 16. April schrieb er an Gorki:

Mein Kommen ist unnütz und kann nur zum Schaden gereichen: mit Leuten sprechen, die sich darauf verlegt haben, die Vereinigung des wissenschaftlichen Sozialismus mit der Religion zu predigen, kann ich nicht und werde ich nicht. Die Zeit der Hefte ist vorüber. Streiten darf man nicht, nutzlos die Nerven strapazieren ist dumm."8

Im Mai gab Lenin dem Drängen Gorkis doch nach und reiste nach Capri. Er war aber nur ein paar Tage dort. Natürlich führte die Reise keine Aussöhnung mit den philosophischen Ansichten Bogdanows herbei. Lenin erzählte später davon, wie er zu Bogdanow und Basarow gesagt hätte, man müsste sich für zwei, drei Jährchen voneinander trennen, und wie ihn darauf die Frau Gorkis, Maria Fjodorowna, lachend zur Ordnung gerufen habe.

Es waren viele Leute da, es gab Unruhe und Lärm, es wurde Schach gespielt und Boot gefahren. Lenin war ziemlich wortkarg mir Erzählungen von dieser Reise, er sprach mehr von der Schönheit des Meeres und dem dortigen Wein als von den Unterhaltungen über die heiklen Themen. Es ging ihm zu nahe.

Er machte sich wieder an die Philosophie.

In einem Brief, den er im Sommer 1908 an Worowski nach Odessa schrieb, mit dem er am „Wperjod" und auch in der Revolution von 1905 zusammengearbeitet hatte, charakterisierte er die entstandene Lage folgendermaßen:

Lieber Freund! Dank für Ihren Brief. Ihre ,Verdächtigungen' sind beide nicht richtig. Ich bin nicht nervös geworden, aber die Lage bei uns ist so schwierig. Der Bruch mit Bogdanow naht. Der wahre Grund: Er ist beleidigt über die scharfe Kritik an seinen philosophischen Ansichten in den Referaten (durchaus nicht in der Redaktion). Jetzt kramt Bogdanow alle möglichen Meinungsverschiedenheiten hervor. So hat er den Boykott ans Tageslicht gezogen, zusammen mit Alexinski, der hemmungslos skandaliert, so dass ich genötigt war, mit Alexinski jegliche Beziehungen abzubrechen …

Sie organisieren die Spaltung auf empiriomonistischer-boykottistischer Grundlage. Die Sache kommt schnell zur Entladung. Ein Zusammenstoß auf der nächsten Konferenz ist unvermeidlich. Die Spaltung ist höchst wahrscheinlich. Ich werde aus der Fraktion ausscheiden, sowie die Linie des ,linken' und wirklichen ,Boykottismus' die Oberhand gewinnt. Ich habe Sie gerufen in der Hoffnung, dass Ihre schnelle Ankunft helfen wird, Ruhe zu schaffen. Für den August (neuen Stils) rechnen wir immerhin mit Bestimmtheit auf Sie als Teilnehmer an der Konferenz. Richten Sie es unbedingt so ein, dass Sie ins Ausland reisen können. Reisegeld für alle Bolschewiki werden wir schicken. Für die einzelnen Orte gilt als Parole: Mandate sind nur an die lokalen und nur an die wirklichen Funktionäre zu geben! Wir bitten Sie dringend, für unsere Zeitung zu schreiben. Wir können jetzt die Artikel bezahlen und werden pünktlich zahlen.

Ich drücke Ihre Hand.

Wissen Sie nicht irgendeinen Verleger, der es übernehmen würde, meine Philosophie, die ich schreibe, herauszugeben?"9

Zu jener Zeit erhielten die Bolschewiki eine feste materielle Basis.

Ein Neffe Morosows, der dreiundzwanzigjährige Nikolai Pawlowitsch Schmidt, Besitzer einer Möbelfabrik im Stadtteil Presnja in Moskau, war völlig zu den Arbeitern übergegangen und Bolschewik geworden. Er gab die Mittel zur Herausgabe der „Nowaja Schisn" und zur Bewaffnung der Arbeiterschaft, der er nahestand und deren bester Freund er wurde.

Die Polizei nannte die Fabrik Schmidts das „Teufelsnest". Im Moskauer Aufstand spielte diese Fabrik eine wichtige Rolle. Nikolai Pawlowitsch wurde verhaftet, im Gefängnis furchtbar misshandelt, dann zu seiner Fabrik geführt, um ihm zu zeigen, was man aus ihr gemacht hatte, und man zeigte ihm die getöteten Arbeiter; schließlich wurde er im Gefängnis ermordet. Vor seinem Tode war es ihm gelungen, die Außenwelt zu verständigen, dass er sein Vermögen den Bolschewiki vermache.

Die jüngste Schwester Schmidts, Jelisaweta Pawlowna Schmidt, der nach dem Tode des Bruders ein Teil des Vermögens zufiel, beschloss, es den Bolschewiki zu übergeben. Sie war jedoch noch nicht volljährig und musste deshalb eine fiktive Ehe schließen, um nach ihrem Willen über ihr Geld verfügen zu können. Jelisaweta Pawlowna verheiratete sich also mit dem Genossen Ignatjew, der in der Kampforganisation arbeitete, aber seine Legalität bewahrt hatte. Als seine Frau konnte sie mit Erlaubnis ihres Mannes über ihr Erbe frei verfügen. Es war nur eine fiktive Ehe, in Wirklichkeit war Jelisaweta Pawlowna die Frau eines anderen Bolschewiks, Wiktor Taratutas. Durch ihre fiktive Ehe wurde die sofortige Auszahlung des Geldes möglich, das dann den Bolschewiki übergeben wurde. Aus diesem Grunde konnte Lenin mit solcher Sicherheit versprechen, dass der „Prolerari" die Artikel honorieren und dass den Delegierten das Reisegeld geschickt werden würde.

Wiktor Taratuta kam im Sommer nach Genf; er half bei den Wirtschaftsangelegenheiten und führte als Sekretär des Auslandsbüros des Zentralkomitees die Korrespondenz mit den anderen Auslandszentren.

Nach und nach wurde die Verbindung mit Russland hergestellt, die Korrespondenz kam in Gang; trotzdem aber hatte ich sehr viel freie Zeit. Ich fühlte, dass unser Aufenthalt im Ausland noch von langer Dauer sein würde, und beschloss, mich gründlich mit dem Studium der französischen Sprache zu befassen, um an der Arbeit der örtlichen sozialdemokratischen Partei teilzunehmen. So besuchte ich die französischen Sprachkurse für ausländische Pädagogen, die im Sommer an der Genfer Universität eingerichtet worden waren. Hier beobachtete ich die ausländischen Pädagogen und eignete mir nicht nur die Kenntnis der französischen Sprache an, sondern auch die Fähigkeit der Schweizer, intensiv, sachlich und gewissenhaft zu arbeiten.

Iljitsch, ermüdet von der Arbeit an seinem philosophischen Buch, nahm meine französischen Grammatiken und meine Lehrbücher über die Geschichte und die Eigentümlichkeiten der französischen Sprache zur Hand und las, im Bett liegend, stundenlang darin, bis sich seine Nerven, die durch die philosophischen Streitereien in Aufruhr geraten waren, beruhigt hatten.

Ich studierte in Genf auch das Schulwesen. Zum ersten Mal begriff ich, was die bürgerliche „Volksschule" eigentlich ist. Ich sah, wie die Arbeiterkinder in schönen, lichten Gebäuden mit großen Fenstern zu gehorsamen Sklaven erzogen werden. Ich beobachtete, wie die Lehrer in ein und derselben Klasse die Kinder der Armen schlagen und misshandeln, die der Reichen dagegen in Ruhe lassen; wie sie jeden selbständigen Gedanken des Kindes unterdrücken. Ich stellte fest, dass die ganze Schularbeit nichts als tote Büffelei ist und dass den Kindern auf Schritt und Tritt Ehrfurcht vor der Macht, vor dem Reichtum eingeimpft wird. Niemals hatte ich mir etwas Derartiges in einem demokratischen Lande vorstellen können. Ich schilderte Lenin ausführlich meine Eindrücke. Er hörte mir aufmerksam zu.

Während der ersten Emigration – bis 1905 – wurde die Aufmerksamkeit Lenins, wenn er das ihn umgebende ausländische Leben beobachtete, in erster Linie von der Arbeiterbewegung gefesselt. Ganz besonders interessierte er sich für Arbeiterversammlungen, Demonstrationen usw. Vor der Abreise Lenins ins Ausland im Jahre 1901 hatte es das bei uns in Russland nicht gegeben. Jetzt, nach der Revolution von 1905, nach dem riesigen Aufschwung der Arbeiterbewegung in Russland, dessen Zeuge wir gewesen waren, nach dem Kampf der Parteien, nach den Erfahrungen mit der Duma und besonders nach der Entstehung der Sowjets der Arbeiterdeputierten, interessierte sich Lenin nicht nur für die Formen der Arbeiterbewegung, sondern ganz besonders auch für das eigentliche Wesen der bürgerlichen demokratischen Republik, für die Rolle, die die Arbeitermassen in dieser Republik spielen, wie groß der Einfluss der Arbeiter, wie groß der Einfluss der anderen Parteien ist.

Ich erinnere mich, wie Lenin in halb verwundertem, halb verächtlichem Ton die Worte jenes Schweizer Abgeordneten wiederholte, der (im Zusammenhang mit der Verhaftung Semaschkos) gesagt hatte, dass ihre Republik seit Jahrhunderten bestände und dass sie eine Verletzung des Eigentumsrechts niemals zulassen könne.

Kampf für die demokratische Republik" war ein Punkt unseres damaligen Programms; die bürgerliche demokratische Republik erstand vor den Augen Lenins jetzt immer mehr als eine im Vergleich mit dem Zarismus zwar verfeinerte, aber unzweifelhafte Waffe zur Unterdrückung der werktätigen Massen. Die Organisierung der Macht in der demokratischen Republik förderte in jeder Weise die Durchdringung des gesamten Lebens mit bürgerlichem Geist.

Ich glaube, wenn Lenin die Revolution von 1905 und die zweite Emigration nicht durchgemacht hätte, so hätte er sein Buch „Staat und Revolution" nicht schreiben können.

Die in vollem Umfang entbrannte Diskussion über philosophische Fragen machte das möglichst schnelle Erscheinen des philosophischen Werkes10 notwendig, an dem Lenin schrieb. Er musste allerhand Material haben, das in Genf nicht zu beschaffen war; außerdem störte auch die mit Gezänk erfüllte Emigrantenatmosphäre Lenin sehr beim Arbeiten. Aus diesem Grunde reiste er nach London, um dort im Britischen Museum zu arbeiten und das angefangene Buch zu vollenden.

Während seiner Abwesenheit sollte ein Vortrag von Lunatscharski stattfinden. Innokenti trat dort auf. Lenin sandte Thesen, die von Innokenti ergänzt wurden. Innokenti war vor diesem Abend sehr aufgeregt, saß ganze Tage lang in Bücher vergraben bei uns und machte sich Auszüge. Er sprach dann sehr gut; er erklärte in seinem und in Lenins Namen, dass die Bolschewiki mit der philosophischen Richtung Bogdanows (Empiriomonismus) nichts gemein hätten, dass er und Lenin Anhänger des dialektischen Materialismus seien und sich mit Plechanow solidarisierten.

Obgleich Lunatscharski der Hauptreferent war, war doch Bogdanow an diesem Abend der hauptsächlichste Verteidiger des Empiriokritizismus und fiel ganz besonders heftig über Inok her. Er kannte Inok sehr gut, wusste, dass dieser für den offenen, direkten Kampf an der philosophischen Front eintrat, dass ihm seine revolutionäre Ehre sehr teuer war, und deshalb versuchte er in der Diskussion, Inok möglichst schwer zu kränken. „Der Ritter mit dem Rosenkranz auf dem Haupt", sagte er von dem Referenten, „zog aus, aber da erhielt er einen Schlag aus dem Hinterhalt." Dieser Ausfall brachte Innokenti natürlich nicht aus der Fassung. Er berichtete Lenin, der bald darauf aus London zurückkehrte, ausführlich über diesen Abend.

Mit seiner Reise nach London war Iljitsch sehr zufrieden: Es war ihm gelungen, das notwendige Material zu finden und durchzuarbeiten.

Bald nach der Rückkehr Lenins, am 24. August, fand das Plenum des Zentralkomitees statt, auf dem beschlossen wurde, die Einberufung der Parteikonferenz zu beschleunigen. Innokenti begab sich nach Russland, um die Einberufung der Konferenz zu organisieren. Zu jener Zeit begann bereits die Linie des Liquidatorentums, das breite Schichten der Menschewiki erfasst hatte, deutlich hervorzutreten und sich zu festigen. Die Liquidatoren wollten die Partei, ihre illegale Organisation, die ihrer Meinung nach nur zu Verhaftungen usw. führte, liquidieren; sie wollten sich mit der legalen, und nur mit der legalen Tätigkeit in den Gewerkschaften, in verschiedenen Gesellschaften usw. begnügen. Bei der herrschenden Reaktion aber hätte das den gänzlichen Verzicht auf jede revolutionäre Tätigkeit, Verzicht auf die Führung, Aufgabe sämtlicher Positionen bedeutet. Gleichzeitig verfielen innerhalb der bolschewistischen Fraktion die Ultimatisten und Otsowisten in das entgegengesetzte Extrem: Sie waren nicht nur gegen die Teilnahme an der Duma, sondern auch gegen die Mitarbeit in Bildungsgesellschaften, in Klubs, Schulen, legalen Gewerkschaften, Versicherungskassen usw. Sie entfernten sich vollends von der Arbeit unter den Massen, von der Leitung der Massen.

Innokenti und Lenin unterhielten sich häufig über die Notwendigkeit, die Parteiführung mit der breiten Massenarbeit zu verbinden, weshalb der illegale Apparat um jeden Preis erhalten werden musste. Jetzt stand die Organisierung der Parteikonferenz bevor. Im Zusammenhang mit den Wahlen musste eine großzügige Massenagitation gegen das Liquidatorentum von rechts und von links geführt werden.

Inok fuhr nach Russland, um all das durchzuführen. Er nahm seinen Wohnsitz in Petersburg und organisierte dort die Arbeit der Fünferkommission des Zentralkomitees, dem er, Meschkowski (Goldenberg), der Menschewik M. I. Broido, ein Vertreter des „Bund" und ein Vertreter der Letten angehörten. Er organisierte das Büro, zu dessen Mitgliedern unter anderen Golubkow gehörte, der später Delegierter des Büros des Zentralkomitees auf der Parteikonferenz war.

Inok selbst gelang es nicht, an der Konferenz, die im Dezember 1908 stattfand, teilzunehmen; er wollte etwa zwei Wochen vor Konferenzbeginn ins Ausland reisen, wurde jedoch auf dem Warschauer Bahnhof verhaftet und nach dem Gouvernement Wologda verbannt.

Die Polizei wusste über die Reise Innokentis nach Russland sehr gut Bescheid; zweifellos hatte Schitomirski das Polizeidepartement darüber informiert. Außerdem hatte man zur Arbeit des Büros des Zentralkomitees, das von Innokenti organisiert worden war, die Frau des Abgeordneten der II. Duma Serow — Ljusja — herangezogen. Diese Ljusja war, wie sich bald herausstellte, ebenfalls ein Lockspitzel.

Lenin wurde mit seinem philosophischen Buch im September, nach der Abreise Innokentis nach Russland, fertig. Es erschien erst viel später, im Mai 1909.

Wir hatten uns endgültig in Genf niedergelassen.

Meine Mutter war zu uns gekommen, und wir hatten uns häuslich eingerichtet und eine eigene kleine Wohnung gemietet. Das äußere Leben war allmählich ins Geleise gekommen. Aus Russland war Lenins Schwester Maria Iljinitschna eingetroffen, auch andere Genossen kamen, so zum Beispiel Skrypnik, der damals das Genossenschaftswesen studierte. Ich begleitete ihn als Dolmetscher zu dem Schweizer Abgeordneten Sigg, einem schrecklichen Opportunisten. Genosse Skrypnik sprach mit ihm über das Genossenschaftswesen, aber die Unterredung war völlig fruchtlos, denn Sigg und Skrypnik behandelten die Genossenschaftsfrage jeder auf seine Weise. Skrypnik betrachtete sie vom Standpunkt des Revolutionärs, Sigg dagegen sah in den Genossenschaften nichts anderes als einen gut organisierten „Kaufladen".

Aus Russland trafen Sinowjew und seine Frau Lilina ein. Sie hatten ein Söhnchen bekommen und richteten sich in Genf häuslich ein. Dann kam Kamenew mit Familie. An das Petersburger Leben gewöhnt, sehnten sich alle aus diesem engen, spießigen Genf hinaus, wollten gern in irgendein größeres Zentrum übersiedeln. Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre hatten sich schon längst in Paris niedergelassen. Lenin war unschlüssig: in Genf sei das Leben billiger, es ließe sich besser arbeiten. Schließlich kamen Ljadow und Schitomirski aus Paris herüber und begannen uns zu überreden, unseren Wohnsitz dorthin zu verlegen. Verschiedene Gründe wurden geltend gemacht: Man könnte an der französischen Bewegung teilnehmen; Paris sei eine große Stadt, man würde weniger bespitzelt werden. Dieses letzte Argument war für Lenin ausschlaggebend. Im Spätherbst rüsteten wir uns zur Übersiedlung nach Paris.

In Paris hatten wir die schwersten Jahre der Emigration durchzumachen. Für Iljitsch waren diese Jahre stets eine bedrückende Erinnerung. Mehr als einmal sagte er später: „Welcher Teufel hat uns nach Paris gejagt!" Nicht der Teufel war es, sondern die Notwendigkeit, den Kampf für den Marxismus, für den Leninismus, für die Partei im Emigrantenzentrum zu führen. Dieses Zentrum bildete in den Jahren der Reaktion Paris.

Paris (1909-1910)

Mitte Dezember übersiedelten wir nach Paris. Am 21. Dezember sollte dort zusammen mit den Menschewiki eine Parteikonferenz abgehalten werden. Lenin war von dieser Konferenz vollständig in Anspruch genommen. Es musste eine richtige Einschätzung der Situation gegeben werden, die Parteilinie musste ausgerichtet, es musste erreicht werden, dass unsere Partei die Partei der Klasse, die Vorhut blieb, die es versteht, sich sogar in den schwierigsten Zeiten nicht von den untersten Schichten, von den Massen, zu trennen, die es versteht, ihnen zu helfen, alle Schwierigkeiten zu überwinden und sich für neue Kämpfe zu organisieren. Die Liquidatoren mussten eine Abfuhr erhalten. Die Verbindung mit den russischen Organisationen war schwach; die Konferenz konnte auf keine besondere Unterstützung durch die russischen Organisationen rechnen (aus Russland waren zur Konferenz nur ein paar Moskauer und der Genosse Baturin aus dem Ural eingetroffen, und am zweiten Tag kam schließlich noch aus Petersburg Poletajew, Mitglied der III. Duma). Die Otsowisten organisierten sich gesondert für die Konferenz und waren sehr nervös. Die Menschewiki hatten vor der Parteikonferenz einen Kongress ihrer Auslandsgruppen in Basel abgehalten, auf dem eine Reihe auf die Spaltung der Partei hinzielende Resolutionen angenommen worden waren. Die Atmosphäre war geladen.

Wir waren mit dem Einrichten unserer neuen Wohnung beschäftigt, und Wladimir Iljitsch blickte mit abwesenden Augen auf die ganze Umzugswirtschaft. Er hatte anderes im Kopfe. Wir hatten eine Wohnung an der Peripherie der Stadt gemietet, in der Nähe des Stadtwalls, in der Rue Beaunier, einer Querstraße der Avenue d'Orléans, unweit vom Park Montsouris. Es war eine große helle Wohnung mit Spiegeln über den Kaminen, wie sie damals in den neuen Häusern in Mode gekommen waren. Ein Zimmer wurde für meine Mutter bestimmt, eins für Maria Iljinitschna, die auch nach Paris gekommen war; das dritte Zimmer bewohnte ich mit Wladimir Iljitsch zusammen, und schließlich war noch ein Empfangszimmer da. Diese ziemlich komfortable Wohnung entsprach jedoch nur wenig dem Leben, das wir führten, und unseren aus Genf mitgebrachten „Möbeln". Mit was für verächtlichen Blicken musterte die Concierge unsere weißen Tische, unsere einfachen Stühle und Hocker! In unserem „Empfangszimmer" standen nur ein paar Stühle und ein kleines Tischchen: Es war höchst ungemütlich.

Ich hatte gleich von Anfang an viel mit der Wirtschaft zu tun. In Genf waren alle Haushaltungsangelegenheiten außerordentlich einfach gewesen; hier dagegen war alles mit großen Schwierigkeiten verbunden; zum Beispiel musste die Gasleitung für die Wohnung geöffnet werden, und zu diesem Zweck musste ich dreimal ins Stadtzentrum fahren, um mir die entsprechende Erlaubnis zu besorgen. In Frankreich herrscht ein ganz ungeheuerlicher Bürokratismus. Um Bücher aus der Stadtbibliothek zu erhalten, sollte der Hauswirt Bürgschaft leisten, wozu er sich angesichts unserer ärmlichen Einrichtung nicht entschließen konnte. Der Haushalt machte in der ersten Zeit sehr viel Arbeit. Ich war eine schlechte Hausfrau. Iljitsch und Inok waren anderer Meinung, Leute dagegen, die an einen ordentlichen Haushalt gewöhnt waren, standen meinen vereinfachten Methoden ziemlich kritisch gegenüber.

Das Leben in Paris war sehr unruhig. Es hatten sich zu jener Zeit von überall her viel Emigranten hier eingefunden. Lenin war in diesem Jahr nur wenig zu Hause. Bis spät in die Nacht hinein saßen unsere Leute im Café. Ein besonderer Liebhaber dieses Caféhauslebens war Taratuta. Nach und nach gewöhnten sich auch die anderen daran.

Auf der Parteikonferenz im Dezember wurde nach langen Diskussionen immerhin eine gemeinsame Linie gefunden. Der „Sozial-Demokrat" sollte zum gemeinsamen Organ werden. Auf dem Plenum, das nach der Konferenz stattfand, wurde eine neue Redaktion des „Sozial-Demokrat" gewählt: Lenin, Sinowjew, Kamenew, Martow, Marchlewski. Im Laufe des Jahres erschienen neun Nummern. Martow stand in dieser neuen Redaktion allein und vergaß dabei häufig seinen Menschewismus. Ich erinnere mich, wie eines Tages Lenin mit zufriedener Miene sagte, dass es sich mit Martow gut arbeiten lasse, dass er ein selten begabter Journalist sei. Aber das war nur, solange Dan nicht da war.

Was die Lage innerhalb der bolschewistischen Fraktion anbelangt, hatten sich die Beziehungen zu den Otsowisten immer mehr zugespitzt. Die Otsowisten gingen sehr heftig vor. Ende Februar kam es zu einem völligen Bruch mit ihnen.

Etwa drei Jahre zuvor hatten wir mit Bogdanow und seinen Anhängern Hand in Hand gearbeitet – und nicht nur gearbeitet, sondern gemeinsam gekämpft. Nichts bringt die Menschen einander näher als der gemeinsame Kampf. Lenin zeichnete sich noch besonders dadurch aus, dass er es wie kein anderer verstand, die Menschen für seine Ideen zu begeistern, sie mit seiner Leidenschaft anzustecken, und gleichzeitig besaß er die besondere Fähigkeit, die besten Seiten in ihnen zu wecken und das aus ihnen herauszuholen, was anderen nicht gelang. In jedem einzelnen unserer Genossen, mit denen wir durch die Arbeit verbunden waren, lebte sozusagen ein Teilchen von Lenin; vielleicht fühlte man sich ihm darum so verbunden.

Der ausgebrochene Kampf innerhalb der Fraktion zermürbte die Nerven. Ich entsinne mich, wie Lenin einmal nach irgendwelchen Verhandlungen mit den Otsowisten ganz verstört nach Hause kam und außerordentlich schlecht aussah. Wir beschlossen, dass er für eine Woche nach Nizza fahren sollte, um sich dort fern von allem Trubel zu erholen und sich ein wenig zu sonnen. Das tat er auch und kam ausgeruht zurück.

Die Arbeitsbedingungen in Paris waren sehr schlecht. Die Nationalbibliothek lag weit entfernt von unserer Wohnung. Gewöhnlich fuhr Lenin per Rad hin; aber das Radfahren in einer Stadt wie Paris ist etwas anderes wie in der Umgebung von Genf und verlangt große Geschicklichkeit und Vorsicht; auch ermüdete es Iljitsch sehr stark. Über Mittag wurde die Bibliothek geschlossen. Die Beschaffung der notwendigen Bücher war mit großen Scherereien verbunden. Lenin schimpfte aus Leibeskräften auf die Nationalbibliothek und bei dieser Gelegenheit auf Paris überhaupt. Ich wandte mich brieflich an einen französischen Professor, der im Sommer die französischen Sprachkurse in Genf geleitet hatte, und bat ihn, mir andere gute Bibliotheken zu nennen. Ich bekam umgehend eine Antwort, die alle nötigen Angaben enthielt. Lenin suchte alle Bibliotheken auf, die der Professor genannt hatte, konnte sich jedoch nirgends einrichten. Schließlich wurde ihm sein Rad gestohlen. Er hatte es gewöhnlich in das Treppenhaus eines Gebäudes neben der Nationalbibliothek gestellt, wofür er der Concierge 10 Centimes zahlte. Als er eines Tages kam, um sein Rad zu holen, fand er es nicht mehr vor. Die Concierge aber erklärte, sie hätte keineswegs übernommen, auf das Rad aufzupassen, sondern ihm nur erlaubt, es in den Hausgang zu stellen. Einmal geriet er auf dem Weg nach Juvisy unter ein Auto; er selbst rettete sich mit Mühe und Not, das Rad aber war völlig zerstört.

Der aus Solwytschegodsk geflohene Inok traf in Paris ein. Liebenswürdig bot ihm Schitomirski an, bei ihm zu wohnen. Inok war schwerkrank: Auf dem Wege in die Verbannung hatten sich durch die Fesseln an seinen Füßen große Wunden gebildet. Unsere Ärzte untersuchten Innokentis Füße und erzählten alles mögliche. Darauf entschloss sich Lenin, den französischen Professor Duboucher, einen ausgezeichneten Chirurgen, der während der russischen Revolution von 1905 in Odessa gearbeitet hatte, zu konsultieren. Er fuhr mit Natascha Gopner, die Duboucher von Odessa her kannte, zu ihm. Als Duboucher hörte, was für Unsinn unsere Ärzte Inok vor geschwatzt hatten, lachte er herzlich: „Die Ärzte unter Ihren Genossen sind gute Revolutionäre, aber als Ärzte sind sie – Esel!" Lenin lachte Tränen und wiederholte späterhin diese Charakteristik häufig. Immerhin dauerte es lange, bis Inoks Wunden geheilt waren.

Lenin war über Inoks Ankunft sehr froh. Sie triumphierten beide darüber, dass sich Plechanow energisch von den Liquidatoren loszusagen begann. Plechanow hatte bereits im Dezember 1908 seinen Austritt aus der Redaktion der Zeitung „Golos Sozial-Demokrata"11, in der die Liquidatoren die Oberhand hatten, erklärt, hatte dann später diese Erklärung zwar zurückgenommen, doch spitzten sich seine Beziehungen zu den Liquidatoren immer mehr zu. Als dann schließlich 1909 der erste Teil des menschewistischen Sammelbandes „Die gesellschaftliche Bewegung in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts" erschien, der einen Artikel Potressows enthielt, in dem dieser die führende Rolle des Proletariats in der bürgerlich-demokratischen Revolution verneinte, trat Plechanow am 26. Mai endgültig aus der Redaktion der Zeitung „Golos" aus. Lenin sowohl wie Inok hegten noch immer die Hoffnung, dass es möglich sein würde, mit Plechanow zusammenzuarbeiten. Die jüngere Generation stand Plechanow anders gegenüber als die älteren Marxisten, in deren Leben Plechanow eine entscheidende Rolle gespielt hatte.

Der Kampf an der philosophischen Front war Lenin und Inok sehr nahe gegangen. Für beide war die Philosophie eine Kampfwaffe, die organisch verbunden war mit der Frage der Bewertung aller Erscheinungen vom Standpunkt des dialektischen Materialismus, mit den Fragen des praktischen Kampfes auf allen Gebieten. Lenin schrieb an seine Schwester Anna Iljinitschna nach Russland und bat sie, sich mit der Herausgabe des Buches zu beeilen. Es war eine erweiterte Sitzung der Redaktion des „Proletari" in Aussicht genommen, auf der man auch gegenüber den Otsowisten endgültig einen Trennungsstrich ziehen wollte. „Bei uns stehen die Dinge schlecht", schrieb Lenin am 26. Mai an Anna Iljinitschna; „es wird sicher zur Spaltung kommen; ich hoffe, Dir in ein bis anderthalb Monaten hierüber Genaues mitteilen zu können."12

Im Mai erschien Lenins Buch „Materialismus und Empiriokritizismus". Es fehlte kein I-Tüpfelchen. Die Fragen der Philosophie standen für Lenin in unlösbarem Zusammenhang mit den Fragen des Kampfes gegen die Religion. Aus diesem Grunde hielt er im Mai im Klub des „Proletari" einen Vortrag über das Thema: „Die Religion und die Arbeiterklasse", schrieb für den „Proletari" (Nr. 45) den Artikel „Über das Verhältnis der Arbeiterpartei zur Religion" und für den „Sozial-Demokrat" (Nr. 6) den Artikel „Klassen und Parteien in ihrem Verhältnis zu Religion und Kirche". Diese Artikel, besonders der im „Proletari" erschienene, sind noch heute aktuell. In diesen Artikeln wird der Klassencharakter der Religion mit allem Nachdruck unterstrichen und darauf hingewiesen, dass die Religion in der Hand der Bourgeoisie ein Mittel ist, die Massen vom Klassenkampf abzulenken und ihr Bewusstsein zu vernebeln. An dieser Kampffront darf man nicht passiv vorübergehen, darf sie nicht unterschätzen. Man darf diese Frage nicht oberflächlich behandeln, man muss die sozialen Wurzeln der Religion aufdecken und darf diese schwierige Frage nicht vereinfachen.

Die Schädlichkeit der Religion hatte Lenin schon als fünfzehnjähriger Knabe erkannt; er hatte das Kreuz von seinem Halse gerissen und aufgehört, in die Kirche zu gehen. Das war damals nicht so einfach wie heute.

Am gefährlichsten erschien jedoch Lenin die verfeinerte Religion, die von allen, für einen jeden deutlich erkennbaren Widersprüchen, von allen äußeren Sklavenformen gesäubert ist. Eine solche verfeinerte Religion übt einen stärkeren Einfluss aus. Als solche verfeinerte Religion betrachtete er das Gottbildnertum, die Versuche, irgendeine neue Religion, einen neuen Glauben zu schaffen.

Im Juni trafen allmählich die Delegierten für die erweiterte Redaktionssitzung des „Proletari" ein. Die erweiterte Redaktion des „Proletari" war eigentlich das bolschewistische Zentrum, dem damals auch die„Wperjod"-Leute angehörten.

Aus Moskau kam Golubkow (Dawydow), ein Parteifunktionär, der in Russland im Büro des Zentralkomitees unter der Leitung von Innokenti gearbeitet und an der Pariser Parteikonferenz im Jahre 1908 teilgenommen hatte. Es kamen Schuljatikow (Donat) und der Duma-Abgeordnete Schurkanow (der, wie sich später herausstellte, ein Provokateur war). Letzterer nahm übrigens an der Konferenz nicht teil. Wie es in Frankreich üblich war, gingen unsere Genossen mit den Ankömmlingen in ein Café. Schurkanow trank ein Glas Bier nach dem anderen, auch Schuljatikow trank. Dieser hätte das aber unter keinen Umständen tun dürfen, denn er stammte aus einer Alkoholikerfamilie und war schwer erblich belastet. Das Bier rief einen starken Anfall bei ihm hervor. Beim Verlassen des Cafés stürzte er sich plötzlich mit einem Stock auf Schurkanow. Innokenti und Golubkow wurden nur mit Mühe mit ihm fertig. Sie brachten ihn zu uns. Ich blieb bei ihm sitzen, während sich die Genossen aufmachten, um einen Arzt zu holen und irgendwo außerhalb der Stadt ein Zimmer für ihn zu mieten. Sie fanden ein Zimmer in Fontenay-aux-Roses, wo Semaschko und Wladimirski wohnten.

Etwa zwei Stunden lang saß ich mit dem kranken Schuljatikow in unserem leeren „Empfangszimmer". Er sprang nervös auf und lief im Zimmer herum – fortwährend erschien ihm das Bild seiner gehenkten Schwester. Ich beruhigte ihn, lenkte seine Gedanken ab, hielt fortwährend seine Hand in der meinen. Sowie ich seine Hand losließ, wurde er unruhig. Endlich kamen Innokenti und Golubkow, um ihn abzuholen.

An der Sitzung der erweiterten Redaktion des „Proletari" nahmen die Redaktionsmitglieder Lenin, Sinowjew, Kamenew, Bogdanow, die Vertreter der lokalen bolschewistischen Organisationen Tomski (Petersburg), Schuljatikow (Moskau), Nakorjakow (Ural) teil; ferner die Mitglieder des Zentralkomitees: Innokenti, Rykow, Goldenberg, Taratuta und Marat (Schanzer). Außerdem waren auf der Konferenz anwesend: Skrypnik (Schtschur), Ljubimow (Sommer, Mark), Poletajew (Deputierter der III. Duma) und Golubkow (Dawydow). Die Sitzungen der erweiterten Redaktion dauerten vom 4. bis zum 13. Juli.

Es wurden Resolutionen über die Otsowisten und Ultimatisten, für die Einheit der Partei, gegen einen bolschewistischen Sonderparteitag angenommen. Als besonderer Punkt stand die Frage der Parteischule auf Capri auf der Tagesordnung. Bogdanow sah deutlich voraus, dass die bolschewistische Fraktion auseinanderfallen würde, und war von vornherein auf die Organisierung seiner eigenen Fraktion bedacht. Bogdanow, Alexinski, Gorki und Lunatscharski hatten auf Capri eine sozialdemokratische Propagandaschule höheren Typs für Arbeiter gegründet. Der Arbeiter Wilonow wählte in Russland energische, zuverlässige Arbeiter als Hörer für diese Schule aus, die dann nach Capri kamen. Nach der Revolution, die sie soeben erlebt hatten, empfanden die Arbeiter selbst besonders stark die Notwendigkeit, sich theoretisch zu schulen. Außerdem war es eine Periode, in der der unmittelbare Kampf zum Stillstand gekommen war. Sie kamen nach Capri, um zu lernen, aber für einen jeden erfahrenen Parteiarbeiter war es klar, dass die Schule auf Capri den Grundstein zu einer neuen Fraktion legte. Und die Konferenz der erweiterten Redaktion des „Proletari" verurteilte diese Organisierung einer neuen Fraktion. Bogdanow erklärte, dass er sich den Beschlüssen der Konferenz nicht fügen werde, und wurde aus der bolschewistischen Fraktion ausgeschlossen. Krassin trat für ihn ein. Die Spaltung der bolschewistischen Fraktion war da.

Im Frühjahr, noch vor der erweiterten Redaktionssitzung des „Proletari", war Maria Iljinitschna sehr schwer erkrankt. Lenin war darüber äußerst erregt und beunruhigt. Es war jedoch gelungen, die Krankheit rechtzeitig zu erkennen und die nötige Operation vornehmen zu lassen. Die Operation vollzog Duboucher. Die Genesung ging jedoch nur langsam vonstatten, und die Patientin bedurfte dringend eines Erholungsaufenthaltes auf dem Lande.

Die Redaktionskonferenz hatte die Kräfte Lenins stark in Anspruch genommen, so dass es auch für ihn ratsam war, sich fern von allen Emigrantenzänkereien und Aufregungen etwas auszuruhen.

Iljitsch sah die französischen Zeitungen durch und suchte Inserate über billige Pensionen. Schließlich fand er eine solche Pension in dem Dörfchen Bonbon, im Departement Saône-et-Loire, wo wir für vier Personen nur 10 Francs täglich zu bezahlen hatten. Die Pension erwies sich als sehr gut, und wir verbrachten dort fast einen Monat.

In Bonbon arbeitete Iljitsch nicht, und wir bemühten uns, auch nicht über die Arbeit zu sprechen. Wir gingen spazieren, radelten fast jeden Tag nach dem Wald von Clarmart, der etwa 15 Kilometer entfernt liegt. Wir hatten Gelegenheit, die französischen Lebensgewohnheiten zu beobachten. In unserer Pension lebten verschiedene kleine Angestellte: die Verkäuferin eines großen Modegeschäftes mit Mann und Tochter, der Kammerdiener irgendeines Grafen usw. Es war nicht ohne Interesse, dieses Publikum zu beobachten, das durch und durch von kleinbürgerlicher Psychologie durchdrungen war. Es waren einerseits außerordentlich praktische Leute, die sehr genau aufpassten, dass das Essen gut und sättigend und überhaupt alles ihren Ansprüchen entsprechend eingerichtet war. Andererseits waren sie sämtlich bestrebt, wie wirkliche „Herrschaften" aufzutreten. Besonders typisch war Madame Lagourette (so hieß die Verkäuferin), die, wie man leicht erkannte, mit allen Wassern gewaschen war, mit zweideutigen Anekdoten nur so um sich warf, gleichzeitig aber sich ausmalte, wie rührend es sein würde, wenn sie ihre Tochter zum ersten Abendmahl führen würde, usw. usw. Allzu große Mengen dieses Spießertums wurden einem natürlich zuwider, und es war gut, dass wir auch völlig zurückgezogen leben konnten. Im Großen und Ganzen ruhte sich Lenin in Bonbon ganz gut aus.

Im Herbst wechselten wir die Wohnung und bezogen in der stillen kleinen Rue Marie-Rose, in derselben Gegend, eine Wohnung aus zwei Zimmern und Küche; die Fenster gingen auf irgendeinen Garten hinaus. Als „Empfangszimmer" diente uns jetzt die Küche, wo sich denn auch alle vertrauten Gespräche abwickelten. Vom Herbst an war Lenin in Arbeitsstimmung. Er führte ein strenges „Regime" ein, wie er sich ausdrückte, stand morgens um acht Uhr auf, fuhr in die Nationalbibliothek, von wo er um zwei zurückkehrte, und arbeitete dann meist zu Hause. Ich sorgte dafür, dass er von Besuchern nicht belästigt wurde. Es gingen bei uns stets viele Menschen aus und ein, ganz besonders jetzt, da infolge der Reaktion und der äußerst schwierigen Arbeitsbedingungen in Russland die russische Emigration schnell zunahm. Die Genossen, die aus Russland eintrafen, erzählten voller Begeisterung von der Arbeit dort; bald aber erschlafften sie, das Emigrantendasein, die Sorge um die Existenz und all die Kleinigkeiten des täglichen Lebens lasteten auf ihnen und deprimierten sie.

Im Herbst forcierten die Schüler der Parteischule auf Capri Lenin auf, dorthin zu kommen, um Vorlesungen zu halten. Lenin weigerte sich kategorisch, der Aufforderung Folge zu leisten; er erklärte den Schülern den fraktionellen Charakter der Schule und rief sie nach Paris. Innerhalb der Schule auf Capri entbrannte ein Fraktionskampf. Anfang November hatten sich fünf Schüler (insgesamt hatte die Schule zwölf), darunter Wilonow, der Organisator der Schule, bereits als entschiedene Lenin-Anhänger erklärt und waren aus diesem Grunde aus der Schule ausgeschlossen worden. Diese Tatsache bildete den besten Beweis dafür, wie recht Lenin hatte, als er auf das fraktionelle Wesen der Schule hinwies. Die ausgeschlossenen Schüler kamen nach Paris. Ich erinnere mich noch an die erste Zusammenkunft mit Wilonow. Er erzählte uns von seiner Arbeit in Jekaterinoslaw. Aus Jekaterinoslaw hatten wir früher häufig Berichte von einem Arbeiter erhalten, der mit „Mischa Sawodski" unterzeichnet hatte. Die Berichte waren ausgezeichnet und behandelten die aktuellsten Fragen des Partei- und Fabriklebens. „Kennen Sie nicht zufällig Mischa Sawodski?" fragte ich Wilonow. „Das bin doch ich", antwortete er. Das stimmte Lenin sofort freundschaftlich Michail gegenüber, und die beiden unterhielten sich an diesem Tage noch lange. Am Abend desselben Tages schrieb Lenin an Gorki:

Lieber Alexej Maximowitsch! Ich war die ganze Zeit der felsenfesten Überzeugung, dass Sie und Genosse Michail die hartgesottensten Fraktionäre der neuen Fraktion seien und dass ein Versuch meinerseits, ein freundschaftliches Gespräch mit Ihnen herbeizuführen, absurd wäre. Heute bin ich zum ersten Mal mit Gen. Michail zusammengekommen, wir haben ganz offen über Parteifragen und auch über Sie geplaudert, und ich musste feststellen, dass ich mich gründlich geirrt hatte. Bei Gott, der Philosoph Hegel hatte recht: das Leben geht vorwärts in Widersprüchen, und die lebendigen Widersprüche sind viel, viel reicher, mannigfacher und inhaltsvoller, als es dem menschlichen Verstand anfänglich scheint. Ich hatte in der Schule nur das Zentrum der neuen Fraktion gesehen. Wie sich herausstellte, war das falsch, nicht in dem Sinne, dass sie nicht das Zentrum der neuen Fraktion wäre (die Schule war dieses Zentrum und ist es auch jetzt), sondern in dem Sinne, dass das nicht alles, dass das nicht die ganze Wahrheit ist. Subjektiv haben bestimmte Leute die Schule zu solch einem Zentrum gemacht, objektiv war sie es auch, aber darüber hinaus hat die Schule aus dem echten Arbeiterleben echte fortgeschrittene Arbeiter geschöpft."13

Und welchen leidenschaftlichen Glauben an die Kraft der Arbeiterklasse atmet der Schluss dieses Briefes, wo Iljitsch davon spricht, dass die Arbeiterklasse ihre Partei aus verschiedenartigen Elementen, Elementen verschiedenster Art, zusammen schmieden muss:

Aber sie wird ihre Partei auf jeden Fall schmieden, sie wird eine ausgezeichnete revolutionäre Sozialdemokratie in Russland schmieden, und das schneller, als es mitunter vom Standpunkt des dreimal verfluchten Emigrantenlebens scheint, wird sie richtiger schmieden, als man sich das vorstellt, wenn man nach einigen äußeren Erscheinungen und einzelnen Episoden urteilt. Solche Menschen wie Michail sind die Gewähr dafür."14

Zusammen mit Michail kamen noch fünf Schüler aus Capri an. Unter ihnen tat sich „Wanja-Kasanez" (Pankratow) durch seine Aktivität und Geradlinigkeit besonders hervor. Er war schlechter als alle anderen auf die Schule auf Capri zu sprechen. Die anderen Schüler waren Ljuschwin (Pachom), Kosyrew (Foma), Ustinow (Wassili), Romanow (Alja Alexinski). Lenin unterrichtete diese Genossen sehr eifrig. Die Schüler kehrten später nach Russland zurück, außer Michail. Dieser hatte Lungentuberkulose, die er sich in der Nikolajewer Arrestantenkompanie zugezogen hatte, wo er furchtbar misshandelt worden war. Wir brachten ihn in Davos unter. Leider lebte er dort nicht mehr lange, er starb am 1. Mai 1910.

Ende Dezember kamen nach Absolvierung der Schule auch die anderen Hörer aus Capri nach Paris, und Lenin unterrichtete auch sie. Er sprach mit ihnen über die gegenwärtige Lage, über die Stolypinsche Reform und den Stolypinschen Kurs auf den „starken" Bauern, über die führende Rolle des Proletariats und über die Dumafraktion. Wie einer der Hörer, Genosse Kosyrew, erzählte, hatte irgend jemand von den Capri-Schülern anfangs versucht, nachzuweisen, dass Lenin jetzt die Arbeit in der Reichsduma über die Agitation in der Armee stelle. Lenin lächelte und erörterte die Wichtigkeit der Dumaarbeit. Natürlich dachte er nicht im Entferntesten daran, dass die Arbeit in der Armee in irgendeinem Maße eingeschränkt werden sollte; er war nur der Ansicht, dass sie so konspirativ wie möglich geführt werden müsse. Über diese Arbeit brauche man nicht zu sprechen, sondern müsse sie tun. Gerade zu jener Zeit traf ein Brief aus Toulon von einer Gruppe von sozialdemokratischen Matrosen des Kreuzers „Slawa" ein. In dem Brief baten die Matrosen um Literatur und ganz besonders um jemanden, der die revolutionäre Arbeit unter den Seeleuten übernehmen könne. Lenin sandte einen Genossen hin, der mit konspirativer Arbeit gut vertraut war und der in Toulon seinen Wohnsitz nahm. Natürlich ließ Lenin darüber kein Wort den Schülern gegenüber verlauten.

Obgleich Lenin mit seinen Gedanken in Russland war, studierte er doch auch eingehend die französische Arbeiterbewegung. Die Französische Sozialistische Partei war damals durch und durch opportunistisch. Zum Beispiel brach im Frühling 1909 ein großer Briefträgerstreik aus. Die ganze Stadt war in Aufregung; die Partei aber schien nichts mit der Angelegenheit zu tun zu haben: das sei Sache der Gewerkschaften, aber nicht Sache der Partei. Uns Russen schien diese „Arbeitsteilung", dieser Verzicht der Partei auf Teilnahme am ökonomischen Kampf, geradezu ungeheuerlich.

Besonders genau verfolgte Lenin die Wahlkampagne. Hier versank alles im Sumpf der Zänkereien, der gegenseitigen Enthüllungen; die politischen Fragen traten in den Hintergrund, die aktuellen Probleme des politischen Lebens wurden fast gar nicht erörtert. Nur einige wenige Versammlungen waren interessant. Auf einer dieser Versammlungen sah ich Jaurès und beobachtete seinen enormen Einfluss auf die Masse; aber seine Rede gefiel mir nicht, allzu sehr war jedes Wort berechnet. Viel mehr gefiel mir die Rede Vaillants. Als alter Kommunarde wurde er von den Arbeitern ganz besonders geliebt. Ich erinnere mich gut der Gestalt eines hochgewachsenen Arbeiters, der, wie es schien, direkt aus der Fabrik, mit aufgekrempelten Ärmeln zur Versammlung gekommen war. Mit größter Aufmerksamkeit hörte dieser Arbeiter der Rede Vaillants zu. „Hört nur, wie er spricht, unser Alter!" rief er aus. Ebenso begeistert betrachteten zwei junge Burschen, Söhne dieses Arbeiters, Vaillant. Aber Jaurès und Vaillant traten ja nicht überall auf. Und die Durchschnittsredner sprachen je nach dem Auditorium, das sie vor sich hatten: zu den Arbeitern sagten sie das eine, zu den Intellektuellen etwas anderes. Durch den Besuch dieser französischen Wahlversammlungen konnte man sich ein deutliches Bild davon machen, was die Wahlen in einer „demokratischen Republik" sind. Wir waren geradezu verblüfft. Aus diesem Grunde gefielen Lenin die Lieder der revolutionären Chansonniers so gut, in denen über die Wahlkampagne gespottet wurde. Ich entsinne mich eines Liedes, in dem besungen wurde, wie ein Deputierter aufs Land fährt, um Stimmen zu werben; er trinkt zusammen mit den Bauern, flunkert ihnen alles mögliche vor, und die betrunkenen Bauern wählen ihn und singen: „T'as ben dit, mon ga" (Gut gesagt, Junge!). Dann aber, als der Deputierte die Bauernstimmen bekommen hatte, bezog er als Deputierter 15.000 Francs und verriet in der Deputiertenkammer die Interessen seiner Wähler.

Einmal besuchte uns ein Deputierter der französischen Kammer, der Sozialist Dumas. Er erzählte, wie er vor den Wahlen die Dörfer bereist hatte, und unwillkürlich kamen wir dabei auf die Chansonniers zu sprechen. Der hervorragendste dieser Chansonniers war Montégus, der Sohn eines Kommunarden, der Liebling der Faubourgs (Arbeitervorstädte). Seine Lieder waren ein Gemisch von kleinbürgerlicher Sentimentalität und wahrhaft revolutionärem Geist.

Lenin besuchte mit Vorliebe die Theater in den Vorstädten, um die Arbeitermassen zu beobachten. Ich entsinne mich, wie wir uns einmal ein Stück ansahen, in dem die Misshandlungen der Soldaten in den Strafregimentern in Marokko geschildert wurden. Das Publikum im Zuschauerraum war äußerst interessant: Die Arbeiter, die den Saal füllten, reagierten ganz spontan auf alles, was um sie her vorging. Noch hatte das Theaterstück nicht begonnen, als plötzlich der ganze Saal brüllte: „Hut runter! Hut runter!" Es war eine Dame in einem großen modernen Federhut im Saal erschienen, und das Publikum verlangte, dass sie den Hut abnehme. Sie musste sich fügen. Das Stück begann: Ein Soldat wird nach Marokko transportiert, und Mutter und Schwester bleiben im Elend zurück. Der Hauswirt erklärt sich einverstanden, ihnen die Wohnungsmiete zu erlassen, wenn die Schwester des Soldaten seine Geliebte wird. „Saukerl! Schweinehund!" tönte es von allen Seiten. Ich besinne mich nicht mehr auf den genauen Inhalt des Stücks; es wurde gezeigt, wie die Soldaten, die sich den Befehlen der Vorgesetzten widersetzen, in Marokko misshandelt werden. Das Stück schloss mit einem Aufstand und dem Gesang der Internationale. Im Stadtzentrum von Paris war dieses Stück verboten, aber in den Außenbezirken wurde es gespielt und hatte stürmischen Erfolg. 1910 fand anlässlich der Marokkoaffäre eine hunderttausendköpfige Protestdemonstration statt. Wir sahen sie uns an. Die Demonstration erfolgte mit Erlaubnis der Polizei. An ihrer Spitze schritten die Deputierten der Sozialistischen Partei mit roten Schärpen über den Schultern. Die Arbeiter waren äußerst kämpferisch gestimmt. Sie ballten drohend die Fäuste, als sie durch die Stadtviertel der Reichen zogen; an manchen Häusern wurden schleunigst die Läden geschlossen, jedoch verlief die ganze Demonstration sehr friedlich. Sie hatte mit einer Protestdemonstration absolut keine Ähnlichkeit.

Lenin verschaffte sich durch Charles Rappoport eine Verbindung zu Lafargue, dem Schwiegersohn von Karl Marx, einem erprobten Kämpfer, dessen Meinung er besonders schätzte. Paul Lafargue lebte mit seiner Frau Laura, der Tochter von Marx, in Draveil, etwa zwanzig Kilometer von Paris entfernt. Sie hatten sich bereits von der unmittelbaren Arbeit zurückgezogen. Einmal fuhr ich mit Iljitsch per Rad zu den Lafargues. Sie empfingen uns außerordentlich herzlich. Lenin unterhielt sich mit Lafargue über sein philosophisches Buch, und Laura Lafargue ging mit mir im Park spazieren. Ich war sehr aufgeregt – war es doch die Tochter von Marx, die vor mir stand; eindringlich musterte ich sie, suchte in ihren Zügen unwillkürlich die Züge ihres Vaters. In meiner Verwirrung stammelte ich irgend etwas über die Teilnahme der Frau an der revolutionären Bewegung, über Russland; aber obwohl sie mir antwortete, kam es zu keinem ordentlichen Gespräch. Als wir zurückkehrten, sprachen Lafargue und Lenin über Philosophie. „Bald wird er beweisen", sagte Laura von ihrem Mann, „wie aufrichtig seine philosophischen Überzeugungen sind", und sie tauschten einen sonderbaren Blick miteinander. Den Sinn dieser Worte und dieses Blicks verstand ich erst später, als ich im Jahre 1911 von dem Tode der Lafargues hörte. Sie waren, als Atheisten, freiwillig aus dem Leben geschieden, weil das Alter gekommen war und sie die Kräfte verlassen hatten, die für den Kampf notwendig sind.

1910 tagte das erweiterte Plenum des Zentralkomitees. Bereits auf der erweiterten Sitzung der Redaktion des „Proletari" wurden Resolutionen für die Parteieinheit, gegen einen bolschewistischen Sonderparteitag angenommen. Diese Linie verfolgte Lenin und die Gruppe von Genossen, die sich um ihn geschart hatten, auch auf dem Plenum des Zentralkomitees. In der Periode der Reaktion war die Existenz einer Partei, die, wenn auch aus der Illegalität heraus, mutig die Wahrheit sagt, ganz besonders wichtig. In dieser Zeit, in der die Reaktion die Partei zerstörte, in der das opportunistische Element die Partei zu überfluten suchte, war es äußerst wichtig, die Fahne der Partei um jeden Preis hochzuhalten. Die Liquidatoren besaßen in Russland ein starkes, legales opportunistisches Zentrum. Man brauchte eine Partei, die ihm entgegenwirkte.

Die Erfahrungen mit der Schule auf Capri hatten gezeigt, wie relativ und eigenartig damals das Fraktionswesen der Arbeiter häufig war. Ein einheitliches Parteizentrum, um das sich die sozialdemokratischen Arbeitermassen scharen konnten, war unbedingt notwendig. 1910 ging der Kampf um die Existenz der Partei, um die Beeinflussung der Arbeitermassen durch die Partei. Lenin zweifelte nicht, dass die Bolschewiki innerhalb der Partei in der Mehrheit sein würden und dass die Partei schließlich den bolschewistischen Weg einschlagen würde; aber das musste eben eine Partei und keine Fraktion sein. Diese Linie wurde von Lenin auch im Jahre 1911 durchgeführt, als bei Paris eine Parteischule gegründet wurde, zu der sowohl „Wperjod"-Leute als auch parteitreue Menschewiki zugelassen wurden. Und diese Linie wurde auf der Prager Parteikonferenz im Jahre 1912 durchgeführt. Nicht eine Fraktion, sondern eine Partei, die die bolschewistische Linie durchführt. In dieser Partei war selbstverständlich kein Platz für Liquidatoren, zu deren Bekämpfung die Kräfte gesammelt wurden. Natürlich war in dieser Partei auch kein Platz für diejenigen, die von vornherein erklärten, dass sie sich den Parteibeschlüssen nicht unterwerfen würden. Der Kampf um die Partei wuchs sich jedoch bei einigen Genossen zum Versöhnlertum aus, das dazu führte, dass sie das Ziel der Vereinigung aus den Augen verloren und bis zu dem spießbürgerlichen Streben abrutschten, alle und alles zu vereinigen, ohne Rücksicht darauf, wer wofür kämpfte. Sogar Innokenti, der völlig den Standpunkt Lenins teilte und der Meinung war, dass die Hauptsache die Vereinigung mit den parteitreuen Menschewiki, den Plechanow-Anhängern war, sank – von dem leidenschaftlichen Wunsche beseelt, das Bestehen der Partei zu sichern – bis auf den Versöhnlerstandpunkt hinab. Iljitsch korrigierte seine Haltung.

Im Allgemeinen wurden die Resolutionen einstimmig angenommen. Lächerlich zu glauben, dass Lenin von den Versöhnlern überstimmt wurde und seine Position aufgab. Das Plenum dauerte drei Wochen. Lenin war der Meinung, dass man, ohne auch nur um ein Jota von dem prinzipiellen Standpunkt abzuweichen, auf organisatorischem Gebiet maximale Zugeständnisse machen müsse. Das bolschewistische Fraktionsorgan „Proletari" stellte sein Erscheinen ein. Die noch übrigen Fünfhundertrubelscheine wurden verbrannt. Die bolschewistischen Fraktionsgelder wurden den sogenannten „Treuhändern", den drei deutschen Genossen Kautsky, Mehring und Clara Zetkin übergeben, mit der Anweisung, dass die Gelder nur für allgemeine Parteizwecke verausgabt werden dürften. Falls es zu einer Spaltung kommen würde, sollte das noch vorhandene Geld den Bolschewiki zurückgegeben werden. Kamenew wurde nach Wien geschickt, wo er in der Trotzkischen „Prawda" als Vertreter der Bolschewiki fungieren sollte.

Die letzte Zeit war bei uns sehr ,stürmisch', endete aber mit dem Versuch eines Friedensschlusses mit den Menschewiki", schrieb Lenin an Anna Iljinitschna. „Ja, ja, wie sonderbar es auch scheinen mag: wir haben das Fraktionsorgan aufgegeben und versuchen, die Vereinigung schneller zu betreiben."

Inok und Nogin fuhren nach Russland, um das russische (das heißt das in Russland arbeitende) Kollegium des Zentralkomitees zu organisieren. Nogin war ein Versöhnler, der alle und alles vereinigen wollte, und seine Reden stießen bei den Bolschewiki auf Widerstand. Inok hatte eine andere Linie, aber Russland war nicht das Ausland, wo jedes Wort kontrollierbar war, und dass seine Worte im Noginschen Sinne ausgelegt wurden, dafür sorgten alle Nichtbolschewiki. In das Zentralkomitee wurden Lindow und W. P. Miljutin kooptiert. Inok wurde bald verhaftet, Lindow stand auf dem Standpunkt Nogins und war wenig aktiv. Im russischen Zentralkomitee lagen die Dinge 1910 sehr schlecht.

Im Ausland kam die Sache auch nicht in Schwung. Mark (Ljubinow) und Ljowa (Wladimirow) waren „überhaupt Versöhnler", sie ließen sich häufig durch allerlei Märchen über Intrigen und Illoyalität der Bolschewiki beeinflussen. Mark bekam solche Erzählungen besonders häufig zu hören, da er zu dem vereinigten Auslandsbüro des Zentralkomitees gehörte, in dem alle Fraktionen vertreten waren.

Die „Wperjod"-Leute bauten ihre Organisation weiter aus. Die Gruppe Alexinskis platzte einmal in eine Sitzung der bolschewistischen Gruppe hinein, die sich in einem Café in der Avenue d'Orléans versammelt hatte. Ganz frech setzte sich Alexinski an den Tisch und verlangte das Wort. Als es ihm verweigert wurde, pfiff er, worauf sich seine mit hereingekommenen Anhänger auf die Unsrigen stürzten. Abram Skowno und Isaak Kriwoj wollten die Herausforderung annehmen, jedoch Nikolai Wassiljewitsch Saposchkow (Kusnezow), der außerordentlich kräftig war, nahm Abram unter den einen Arm und Isaak unter den anderen, und der in Schlägereien erfahrene Wirt des Cafés löschte das Licht. Es kam zu keiner Schlägerei, aber nach diesem Vorfall konnte Lenin die ganze Nacht nicht schlafen. Er streifte durch die Straßen von Paris und tat, als er nach Hause kam, bis zum frühen Morgen kein Auge zu.

Und so kommt es", schrieb Lenin am 11. April 1910 an Gorki, „dass das ,Anekdotische' bei der Vereinigung jetzt überwiegt, sich in den Vordergrund drängt und zu Gekicher, Gespött u. dgl. Anlass gibt…

Mitten drin zu sitzen in diesem ,Anekdotischen', in diesem Stunk und Skandal, dieser Plackerei und diesem ,aufgerührten Schlamm' ist ekelhaft; das alles mit ansehen zu müssen, ist gleichfalls ekelhaft. Sich aber von seinen Stimmungen unterkriegen zu lassen, ist unverzeihlich. Die Emigrantenmisere ist heute hundertmal drückender als vor der Revolution. Emigrantenmisere und Stunk sind unzertrennlich.

Aber der Stunk wird wegfallen; der Stunk wird zu neun Zehnteln im Ausland bleiben; Stunk ist ein modisches Zubehör. Die Entwicklung der Partei hingegen, die Entwicklung der sozialdemokratischen Bewegung geht weiter und immer weiter durch all die verteufelten Schwierigkeiten der jetzigen Situation hindurch. Die Säuberung der sozialdemokratischen Partei von ihren gefährlichen ,Abweichungen', von Liquidatorentum und Otsowismus schreitet unaufhaltsam voran; im Rahmen der Vereinigung ist sie bedeutend weiter vorangekommen als früher."15 Und weiter:

Ich kann mir vorstellen, wie schwer der Anblick dieses schwierigen Wachstums der neuen sozialdemokratischen Bewegung für einen Menschen sein muss, der das schwierige Wachstum Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre nicht gesehen und miterlebt hat. Damals gab es nur einige Dutzend, wenn nicht nur einige wenige solcher Sozialdemokraten. Jetzt sind es Hunderte und Tausende. Daher die Krisis und die Krisen. Aber die Sozialdemokratie in ihrer Gesamtheit ist dabei, sie vor aller Welt zu überwinden, und sie wird sie ehrlich überwinden."16

Diese Zänkereien weckten den Wunsch, ihnen zu entgehen. Losowski zum Beispiel wandte sich ganz und gar der französischen Gewerkschaftsbewegung zu. Auch wir hatten den Wunsch, der französischen Bewegung näherzutreten. Der Anschluss schien uns leichter, wenn wir in der französischen Parteikolonie leben würden. Sie lag am Ufer des Meeres, in der Nähe des kleinen Ortes Pornic, in der berühmten Vendée. Zuerst fuhr ich mit meiner Mutter allein dorthin. Aber es wurde nichts aus dem Leben in der Kolonie. Die Franzosen lebten sehr abgeschlossen, jede Familie für sich, den Russen gegenüber verhielten sie sich unfreundlich, ganz besonders die Leiterin der Kolonie. Nur an eine französische Lehrerin schloss ich mich etwas näher an. Arbeiter gab es fast gar nicht dort. Bald kamen auch Kostizyns und Sawwuschka dorthin, „Wperjod"-Leute, und es kam sofort zu einem Krach zwischen ihnen und der Leiterin. Darauf beschlossen wir alle, nach Pornic zu ziehen und uns dort gemeinsam zu verköstigen. Ich mietete mit meiner Mutter zwei Zimmer bei einem Zollwächter. Bald kam auch Iljitsch. Er badete häufig im Meer, fuhr viel auf seinem Rad in der Umgebung herum – er liebte sehr das Meer und den Seewind – plauderte vergnügt mit den Kostizyns über alles mögliche und aß mit Appetit die Krabben, die der Hauswirt für uns fing. Überhaupt hegte er für unsere Wirtsleute große Sympathie. Die dicke Wirtin – eine Waschfrau – erzählte mit ihrer lauten Stimme von ihrem Krieg mit den Pfaffen. Die Leute hatten einen Sohn, der eine weltliche Schule besuchte. Da er aber ein sehr aufgewecktes Kind war, das gut lernte, lief der Pfaffe der Mutter das Haus ein und wollte sie dazu überreden, den Knaben ins Kloster zu geben, und versprach ihr ein Stipendium für ihn. Und die empörte Mutter erzählte, wie sie den Pfaffen aus der Wohnung hinaus gejagt hatte: Sie hätte ihren Sohn nicht dazu geboren, um einen niederträchtigen Jesuiten aus ihm machen zu lassen. Das war der eigentliche Grund, warum Lenin die Krabben so lobte. Lenin war in Pornic am 1. August eingetroffen, und am 26. war er bereits in Kopenhagen, um an den Sitzungen des Internationalen Sozialistischen Büros und am Internationalen Kongress teilzunehmen. Lenin charakterisierte die Arbeit des Kongresses folgendermaßen: „Meinungsverschiedenheiten mit den Revisionisten machten sich bemerkbar, aber mit der Aufstellung eines selbständigen Programms der Revisionisten hat es noch gute Weile. Der Kampf gegen den Revisionismus ist nur aufgeschoben, er kommt aber unbedingt."17 Die russische Delegation auf dem Kongress war zahlreich – 20 Personen: 10 Sozialdemokraten, 7 Sozialrevolutionäre, 3 Delegierte von den Gewerkschaften. In der sozialdemokratischen Gruppe waren alle Richtungen vertreten: Lenin, Sinowjew, Kamenew, Plechanow, Warski, Martow, Martynow; mit beratender Stimme waren anwesend: Trotzki, Lunatscharski, Kollontai und andere. Zahlreiche Gäste hatten sich eingefunden. Während des Kongresses wurde eine Beratung abgehalten, an der Lenin, Plechanow, Sinowjew, Kamenew und die Mitglieder der III. Duma Poletajew und I. P. Pokrowski teilnahmen. Auf dieser Konferenz wurde beschlossen, ein populäres Auslandsorgan herauszugeben, die „Rabotschaja Gaseta"18. Plechanow lavierte sehr diplomatisch, schrieb aber immerhin für die erste Nummer einen Artikel: „Unsere Lage".

Nach dem Kopenhagener Kongress fuhr Lenin nach Stockholm, um sich mit seiner Mutter und seiner Schwester Maria zu treffen; er blieb dort zehn Tage. Er sah damals seine Mutter zum letzten Mal; er spürte das, und mit traurigem Blick sah er dem abfahrenden Dampfer nach. Als er sieben Jahre später – im Jahre 1917 – nach Russland zurückkehrte, weilte sie schon nicht mehr unter den Lebenden.

Nach seiner Rückkehr nach Paris erzählte Lenin, dass es ihm auf dem Kongress gelungen sei, sich mit Lunatscharski auszusprechen. Für Lunatscharski hatte Lenin stets außerordentlich viel übrig, er fühlte sich von seiner großen Begabung sehr stark angezogen. Doch bald erschien im „Peuple"19 ein Artikel Lunatscharskis, „Die taktischen Strömungen in unserer Partei", in dem alle Fragen vom otsowistischen Standpunkt aus beleuchtet wurden. Lenin las ihn, ohne sich zunächst dazu zu äußern, später antwortete er mit einem Artikel. Auch die anderen Kongressteilnehmer gaben ihr Urteil ab. Im Zusammenhang mit dem Internationalen Kongress ließ Trotzki im „Vorwärts" einen anonymen Artikel erscheinen, in dem er auf jede Weise über die Bolschewiki herfiel und seine Wiener „Prawda"20 herausstrich. Gegen die Veröffentlichung dieses Artikels im „Vorwärts" protestierten die Kongressteilnehmer Plechanow, Lenin und Warski. Plechanow stand Trotzki schon seit dessen erstem Erscheinen im Ausland, also 1903, vor dem II. Parteitag, feindlich gegenüber. Vor dem II. Parteitag gerieten beide heftig aneinander über die Frage einer populären Zeitung. Plechanow hatte auf dem Kopenhagener Kongress den Protest gegen das Verhalten Trotzkis vorbehaltlos unterschrieben. Trotzki aber begann eine Kampagne gegen die „Rabotschaja Gaseta", die die Bolschewiki jetzt herausgaben, bezeichnete sie als enges Fraktionsorgan und hielt über dieses Thema einen Vortrag im Wiener Klub. Die Folge davon war, dass Kamenew aus der Redaktion der Trotzkischen „Prawda", in die man ihn nach dem Januarplenum zur Arbeit geschickt hatte, austrat. Aus Angst vor dem Fraktionswesen eröffneten die Pariser Versöhnler, mit Mark an der Spitze, unter dem Einfluss der Ausfälle Trotzkis, ebenfalls eine Kampagne gegen die „Rabotschaja Gaseta". Lenin verabscheute das verschwommene, prinzipienlose Versöhnlertum mit allem und jedem, das der Aufgabe von Positionen mitten im Kampfe gleichkam.

In Nr. 50 der „Neuen Zeit", Jahrgang 1910, erschien der Artikel Trotzkis „Die Entwicklungstendenzen der russischen Sozialdemokratie", in Nr. 51 der Artikel Martows „Die preußische Diskussion und die russische Erfahrung". Lenin verfasste eine Antwort darauf: „Der historische Sinn des innerparteilichen Kampfes in Russland", aber die Redakteure der „Neuen Zeit", Kautsky und Wurm, lehnten den Artikel Lenins ab. Darauf antwortete Marchlewski (Karski), der darüber vorher mit Lenin korrespondiert hatte, Trotzki und Martow.

1911 kam Genosse Kamo zu uns nach Paris, der Anfang 1908 in Berlin mit einem mit Dynamit gefüllten Koffer verhaftet worden war. Er hatte, über anderthalb Jahre in einem deutschen Gefängnis gesessen, wo er Geisteskrankheit simuliert hatte; im Oktober 1909 wurde er an Russland ausgeliefert und nach Tiflis transportiert, wo er in der Festung Metecha weitere 16 Monate zubrachte. Dann wurde er als unheilbar geisteskrank in die Michailower psychiatrische Heilanstalt überführt, von wo aus er entfloh. Schließlich kam er auf illegalem Wege, im Kielraum eines Schiffes versteckt, nach Paris, um mit Lenin zu sprechen. Es quälte ihn sehr, dass es zwischen Lenin einerseits und Bogdanow und Krassin andererseits zu einem Bruch gekommen war. Er hing leidenschaftlich an allen dreien, dazu kam noch, dass er sich in den Verhältnissen, wie sie in den Jahren seiner Gefängnishaft sich entwickelt hatten, nur schlecht zurechtfand. Lenin informierte ihn über die Lage.

Kamo bat mich, ihm Mandeln zu kaufen. Er saß in der Küche – unserem Pariser „Empfangszimmer" –, knabberte Mandeln, wie er es in seiner Heimat zu tun pflegte, und erzählte von seiner Verhaftung in Berlin, von den Jahren seiner simulierten Krankheit, von dem zahmen Sperling, mit dem er sich im Gefängnis abgegeben hatte. Lenin hörte ihm zu und empfand tiefes Mitgefühl für diesen grenzenlos kühnen Menschen mit dem heißen, leidenschaftlichen Herzen, der so kindlich naiv, dabei aber zu jeder großen Tat bereit war und nach seiner Flucht aus dem Gefängnis nicht wusste, was er anfangen sollte. Er entwickelte phantastische Arbeitsprojekte; Lenin widersprach ihm nicht und bemühte sich vorsichtig, Kamo zur Wirklichkeit zurückzuführen, sprach von der Notwendigkeit, den Literaturtransport zu organisieren usw. Schließlich wurde beschlossen, dass Kamo nach Belgien reisen sollte, um sich dort einer Augenoperation zu unterziehen (er schielte, und an diesem Merkmal erkannten ihn die Spitzel sehr leicht); dann sollte er auf dem Seewege nach dem Süden und schließlich nach dem Kaukasus reisen. Lenin betrachtete Kamos Mantel und fragte: „Haben Sie denn keinen warmen Mantel, hier in diesem wird es doch auf Deck zu kalt sein?" Lenin selbst wanderte, wenn er sich auf einem Dampfer befand, ständig auf Deck auf und ab. Und als es sich herausstellte, dass Kamo keinen anderen Mantel besaß, gab ihm Iljitsch seinen weichen grauen Ulster, den ihm seine Mutter in Stockholm geschenkt hatte und der ihm ganz besonders gefiel. Die Gespräche mit Lenin, seine Freundlichkeit hatten Kamo etwas beruhigt. Später, in der Periode des Bürgerkrieges, fand Kamo sich wieder und vollbrachte Wunder an Tapferkeit. Als dann der Übergang zur Neuen Ökonomischen Politik kam, wurde er wieder aus dem Geleise geworfen, sprach fortwährend von der Notwendigkeit zu lernen, träumte aber gleichzeitig von allen möglichen Taten. Er kam während der letzten Krankheit Lenins ums Leben: Er fuhr in Tiflis auf seinem Rad einen Abhang hinunter, stieß mit einem Automobil zusammen und wurde getötet.

1910 traf Inès Armand aus Brüssel in Paris ein und wurde sofort zu einem aktiven Mitglied unserer Pariser Gruppe. Zusammen mit Semaschko und Britman (Kasakow) wurde sie in das Präsidium der Gruppe gewählt und führte eine umfangreiche Korrespondenz mit den anderen Auslandsgruppen. Sie hatte ihre Kinder bei sich, zwei Töchter und einen kleinen Sohn. Sie war eine leidenschaftliche Bolschewikin, und sehr bald scharten sich unsere Pariser Genossen um sie.

Überhaupt wurde unsere Pariser Gruppe nach und nach stärker. Der ideologische Zusammenschluss wurde immer fester. Viele lebten ein außerordentlich kümmerliches Dasein. Die Arbeiter fanden meist irgendeinen Verdienst, aber den Intellektuellen ging es sehr schlecht. Nicht immer stand es in ihren Kräften, sich als Arbeiter ihren Unterhalt zu verdienen. Von den Mitteln der Emigrationskasse zu leben, auf Kredit an dem Mittagstisch der Emigranten zu essen war völlig unerträglich. Ich entsinne mich noch einiger besonders trauriger Fälle. Ein Genosse wurde Lackierer, aber er erfasste diese Kunst nicht sofort und musste oft die Stelle wechseln. Er lebte weit von dem Emigrantenzentrum entfernt in einem Arbeiterviertel. Und eines schönen Tages war er soweit, dass er vor Hunger völlig entkräftet war und nicht mehr aufstehen konnte; er schrieb einen Zettel, dass man ihm etwas Geld bringen, aber nicht zu ihm hinaufkommen, sondern es bei der Concierge lassen sollte …

Schwer hatte es auch Nikolai Wassiljewitsch Saposchkow (Kusnezow); er hatte mit seiner Frau Arbeit gefunden: Sie bemalten Tongeschirr. Aber sie verdienten dabei so wenig, dass man deutlich beobachten konnte, wie das Gesicht dieses starken und kräftigen Menschen sich durch die Unterernährung mit Runzeln bedeckte. Doch niemals verlor er auch nur ein Wort über seine Lage. Und es gab viele solche Fälle. Am schlimmsten stand es jedoch mit dem Genossen Prigara, einem Teilnehmer am Moskauer Aufstand. Er wohnte irgendwo in einer Arbeitervorstadt, und die Genossen wussten nur wenig über ihn. Eines Tages kommt er zu uns und fängt an, erregt, überstürzt, irgend etwas Zusammenhangloses von Wagen voller Garben, von einem schönen Mädchen, das auf dem Wagen steht, usw. usw. zu erzählen. Zweifellos war er wahnsinnig geworden. Und der erste Gedanke war: er war es vom Hungern geworden. Meine Mutter machte ihm schleunigst etwas zu essen, der ganz blass gewordene Iljitsch blieb bei ihm sitzen, und ich selbst lief schnell zu einem bekannten Nervenarzt. Der Arzt kam, sprach mit dem Kranken und erklärte dann, dass dies eine schwere Form von Geistesgestörtheit sei, durch dauernde Unterernährung verursacht. Augenblicklich sei noch nichts zu befürchten, wenn aber die Krankheit in Verfolgungswahn überginge, so bestände Selbstmordgefahr, und man müsste ihn beobachten. Wir wussten nicht einmal, wo er wohnte. Britman wollte ihn nach Hause bringen, Prigara lief ihm aber davon. Wir brachten unsere ganze Gruppe auf die Beine, konnten ihn jedoch nirgends finden. Schließlich fand man seine Leiche in der Seine, mit Steinen um den Hals und an den Füßen. Er hatte sich das Leben genommen.

Noch ein paar Jahre in dieser Atmosphäre des Gezänks und des Emigrantenelends konnten alle Kräfte zermürben. Doch diese Jahre der Reaktion wurden von Jahren des Aufschwungs abgelöst.

Anlässlich des Todes von Leo Tolstoi wurden Demonstrationen veranstaltet; es erschien die erste Nummer der Zeitung „Swesda"21. In Moskau begann die bolschewistische „Mysl"22 zu erscheinen. Lenin lebte sofort auf. Sein Artikel „Der Beginn von Demonstrationen" vom 31. Dezember 1910 strömt unerschöpfliche Energie aus. Er schließt mit dem Aufruf:

An die Arbeit also, Genossen! Macht euch all überall daran, Organisationen zu errichten, sozialdemokratische Arbeiterparteizellen zu schaffen und sie zu festigen, die ökonomische und politische Agitation zu entfalten. In der ersten russischen Revolution hat das Proletariat die Volksmassen gelehrt, für die Freiheit zu kämpfen, in der zweiten Revolution muss es sie zum Siege führen!"23

1 Lenin an Gorki, 9. Januar 1908. In: W. I. Lenin: Werke, 4. Ausgabe, Bd. 34, S. 323, russ.

2 Ebenda, S. 328.

3 Lenin-Sammelband I, S. 152, russ.

4W. I. Lenin: Politische Notizen. In: Ausgewählte Werke in zwei Bänden. Bd. I, Dietz Verlag. Berlin 1959, S. 518/519

5 Proletarskaja Rewoljuzija (Die proletarische Revolution), 1924, Nr.5 (26), S. 97.

6 W. I. Lenin: Werke, 4. Ausgabe, Bd. 15, S. 37/38, russ.

7 W. I. Lenin: Über Kultur und Kunst, Dietz Verlag, Berlin i960, S. 480/481.

8 W. I. Lenin: Werke, 4. Ausgabe, Bd. 34, S. 343, russ.

9 Ebenda, S. 345.

10 Gemeint ist „Materialismus und Empiriokritizismus".

11 Die Zeitung „Golos Sozial-Demokrata" (Die Stimme des Sozialdemokraten) erschien von 1908 bis 1911 in Genf und Paris.

12 W. I. Lenin: Briefe an Verwandte, Moskau 1934, S. 344, russ.

13 W. I. Lenin: Über Kultur und Kunst, S. 491.

14 Ebenda, S. 492

15W. I. Lenin, Werke, 4. Ausgabe, Bd. 34, S. 369

16 Ebenda, S. 370.

17 W. I. Lenin: Werke, 4. Ausgabe, Bd. 16, S. 257, russ.

18 Die „Rabotschaja Gaseta" (Arbeiterzeitung) erschien von 1910 bis 1912 in Paris.

19 „Le Peuple" (Das Volk) – Zentralorgan der belgischen sozialdemokratischen Partei, an deren Spitze Vandervelde stand. Anm. d. russ. Red.

20 „Prawda" (Die Wahrheit) – menschewistisch-liquidatorische Zeitung, fraktionelles Organ Trotzkis, das von 1908 bis 1912 in Wien erschien.

21 „Swesda" (Der Stern) – legale bolschewistische Zeitung, die von 1910 bis 1912 in Petersburg erschien.

22 „Mysl" (Der Gedanke) – legale bolschewistische philosophische und gesellschaftlich-ökonomische Zeitschrift, die von 1910 bis 1911 in Moskau erschien.

23 W. I. Lenin: Über Leo Tolstoi, Berlin 1953, S. 55.

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