Die Jahre des neuen revolutionären Aufschwungs 1911-1914 Paris 1911-1912 Schon das Ende des Jahres 1910 stand unter dem Zeichen eines revolutionären Aufschwungs. Die Jahre 1911 bis 1914 waren Jahre, in denen jeder Monat, bis zum Kriegsbeginn im August 1914, neue Beweise für das Anwachsen der Arbeiterbewegung brachte. Nur ging das Wachstum dieser Bewegung unter anderen Bedingungen vor sich als das Wachstum der Arbeiterbewegung vor dem Jahre 1905. Es vollzog sich auf der Grundlage der Erfahrungen, die die Revolution von 1905 gelehrt hatte. Das Proletariat war nicht mehr das gleiche wie damals. Es hatte viel durchgemacht: die Periode der Streiks, eine Reihe bewaffneter Aufstände, eine riesige Massenbewegung, es hatte Jahre der Niederlagen hinter sich. Darin lag der Kern der Frage. Das trat in allem deutlich zutage, und Lenin, der mit seiner ganzen Leidenschaftlichkeit das lebendige Leben in sich einsog, der es verstand, die Bedeutung eines jeden Satzes, der von einem Arbeiter ausgesprochen wurde, zu entziffern, sein Schwergewicht zu erkennen, empfand und spürte dieses Wachstum des Proletariats mit allen Fasern seines Wesens. Andrerseits aber wusste er, dass nicht nur das Proletariat, sondern auch die ganze Situation eine andere war. Auch die Intellektuellen hatten sich verändert. Im Jahre 1905 hatten breite Schichten von Intellektuellen die Arbeiter auf jede Weise unterstützt. Das hatte sich geändert. Die Art des Kampfes, den das Proletariat führen würde, war schon ganz klar: es würde ein grausamer, rücksichtsloser Kampf werden, das Proletariat würde alles wegräumen, was sich ihm in den Weg stellt. Und es würde sich auch nicht dazu hergeben, für eine jämmerlich beschnittene Verfassung zu kämpfen, wie dies die liberale Bourgeoisie gern wollte; die Arbeiterklasse würde es nicht zugeben, dass diese Verfassung kläglich zugestutzt würde. Die Arbeiterklasse würde führen, nicht sich führen lassen. Aber auch die Verhältnisse, unter denen der Kampf sich entwickeln würde, waren andere geworden. Auch die zaristische Regierung hatte aus der Revolution von 1905 ihre Erfahrungen geschöpft. Sie umgab nun die ganze Arbeiterorganisation mit einem dichten Netz von Spitzeln und Provokateuren. Und das waren nicht mehr die Spitzel von früher, die einfach an den Straßenecken herumstanden und vor denen man sich verstecken konnte. Das waren Spitzel wie Malinowski, Romanow, Brendinski, Tschernomasow, die wichtige Posten innerhalb der Partei bekleideten. Bespitzelungen, Verhaftungen – alles das führte die Regierung jetzt nicht mehr aufs Geratewohl, sondern ganz systematisch und wohlüberlegt aus. Solche Verhältnisse waren ein besonders günstiger Boden zur Züchtung von Opportunisten reinsten Wassers. Der Kurs der Liquidatoren auf die Liquidierung der Partei, dieser Avantgarde der Arbeiterklasse, wurde von den breiten Massen der Intellektuellen unterstützt. Liquidatoren schossen wie Pilze rechts und links aus dem Boden hervor. Jeder hergelaufene Kadett nahm sich heraus, die illegale Partei zu besudeln. Ein verzweifelter Kampf gegen sie war nicht zu umgehen. Dieser Kampf war ein ungleicher: Die Liquidatoren besaßen ein starkes legales Zentrum in Russland, besaßen die Möglichkeit, großzügige liquidatorische Arbeit unter den Massen durchzuführen; die Bolschewiki kämpften um jeden Fußbreit unter den schwierigsten Bedingungen der Illegalität. Das Jahr 1911 begann einerseits mit einer teilweisen Durchbrechung der Zensurschranken, andrerseits mit dem energischen Kampf für die Festigung der illegalen Parteiorganisation. Der Kampf begann innerhalb der Auslandsvereinigung, die von dem Januarplenum 1910 geschaffen worden war, bald jedoch ihren Rahmen überschritt und ihren eigenen Weg ging. Lenin freute sich außerordentlich über das Erscheinen der „Swesda" in Petersburg und der „Mysl" in Moskau. Die illegalen Auslandsblätter gelangten nur schwer und spärlich nach Russland; in dieser Beziehung lagen die Dinge schlechter als in der Periode vor 1905. Im Ausland und in Russland wimmelte es von Lockspitzeln, die alles verrieten. Aus diesem Grunde nahm Lenin das Erscheinen von legalen Zeitungen und Zeitschriften, in denen die Bolschewiki schreiben konnten, mit solcher Freude auf. Zur Redaktion der „Swesda" gehörten W. Bontsch-Brujewitsch (Bolschewik), N. Jordanski (damals Plechanow-Anhänger) und I. Pokrowski (von der Dumafraktion, sympathisierte mit den Bolschewiki). Die Zeitung betrachtete sich als das Organ der Dumafraktion. Die erste Nummer brachte ein Feuilleton von Plechanow. Mit dieser ersten Nummer war Lenin nicht ganz zufrieden, sie war ihm zu blass. Um so mehr gefiel ihm die erste Nummer der Moskauer „Mysl". „Aber die zweite ist ganz unser Blatt und freut mich maßlos"1, schrieb Lenin über dieses Blatt an Gorki. Er begann eifrig für die „Swesda" und die „Mysl" zu schreiben. Es war damals nicht so einfach, legale Blätter herauszugeben. Im Februar wurden in Moskau Skworzow-Stepanow, in Petersburg Bontsch-Brujewitsch und Lidia Michailowna Knipowitsch verhaftet, die mit Poletajew und anderen zusammenarbeitete. Im April wurde die „Mysl" verboten, und im Juni stellte mit Nr. 25 auch die „Swesda", als Organ der Dumafraktion, ihr Erscheinen ein, um erst im November (mit Nr. 26 vom 5. November) wieder aufzutauchen. Allerdings war das Blatt von da an ganz bolschewistisch. In Baku begann die bolschewistische „Sowremennaja Schisn"2 zu erscheinen. Im Juli begannen die Verhandlungen mit dem Genossen Saweljew über die Herausgabe des legalen Organs „Prosweschtschenije"3 in Petersburg. Die Gründung der Zeitschrift gelang jedoch erst Ende 1911. Alle diese Zeitungen verfolgte Wladimir Iljitsch sehr eingehend und schrieb für sie. Was die Verbindung mit den Arbeitern anbelangt, so wollte man die Lehrmethoden, die man seinerzeit bei den Besuchern der Schule auf Capri angewandt hatte, bei dem Unterricht der Schule in Bologna wiederholen; aber dieser Versuch misslang. Schon im November 1910 hatten die Otsowisten in Bologna eine Schule eingerichtet; die Hörer forderten eine Reihe von Genossen, darunter Dan, Plechanow und Lenin, auf, dort Vorlesungen zu halten. Lenin sagte ab und forderte die Schüler auf, nach Paris zu kommen. Jedoch durch die Erfahrungen von Capri gewitzigt, begannen die „Wperjod"-Leute zu manövrieren; sie verlangten eine offizielle Einladung durch das Auslandsbüro des Zentralkomitees – in dem Auslandsbüro des Zentralkomitees waren zu jener Zeit die Menschewiki in der Mehrheit –, und als sie zusammen mit den Hörern, die dem Leninschen Einfluss nicht unterliegen sollten, in Paris eingetroffen waren, verlangten die Bologneser Autonomie. Zu den Vorlesungen kam es schließlich nicht, und das Auslandsbüro beförderte die Bologneser nach Russland. Im Frühjahr 1911 gelang es endlich, in Paris eine eigene Parteischule zu gründen. In die Schule wurden auch Arbeiter menschewistischer Richtung und Arbeiter, die Anhänger des otsowistischen „Wperjod" waren, aufgenommen; beide Richtungen waren jedoch stark in der Minderheit. Als die ersten kamen die Petersburger an: zwei Metallarbeiter, Belostozki (Wladimir) und Georgi (auf dessen Familiennamen besinne ich mich nicht mehr), ein „Wperjod"-Anhänger, und die Arbeiterin Wera Wassiljewa. Alles waren fähige, fortgeschrittene Genossen. Am ersten Abend, an dem sie bei uns auftauchten, führte sie Lenin in ein Café zum Abendessen, und ich entsinne mich, wie lebhaft er sich den ganzen Abend mit ihnen unterhielt. Er fragte sie über Petersburg aus, über ihre Arbeit und suchte aus ihren Erzählungen Anzeichen über einen Aufschwung der Arbeiterbewegung herauszuhören. Fürs erste brachte Semaschko die Genossen in dem Pariser Vorort Fontenay-aux-Roses, nicht weit von seiner Wohnung entfernt, unter. Dort beschäftigten sie sich, in Erwartung der Ankunft der anderen Schüler, mit dem Studium verschiedener Literatur. Dann trafen zwei Moskauer ein, der eine ein Lederarbeiter, Prisjagin, der andere ein Textilarbeiter, dessen Familienname mir entfallen ist. Die Petersburger schlossen sich schnell an Prisjagin an. Er war kein Durchschnittsarbeiter, war vorher in Russland Redakteur der illegalen Zeitung der Lederarbeiter „Possadtschik" gewesen. Er schrieb gut, war aber furchtbar schüchtern: sowie er anfangen wollte zu sprechen, zitterten ihm die Hände vor Aufregung. Belostozki neckte ihn ein wenig, aber auf gutmütige Weise. Prisjagin wurde im Bürgerkrieg als Vorsitzender des Gouvernementsgewerkschaftsrates in Barnaul von Koltschak erschossen. Viel weniger gutmütig aber neckte Belostozki den anderen Moskauer, den Textilarbeiter. Das war ein ganz unentwickelter, aber sehr eingebildeter Mensch. Er schrieb Verse und versuchte sich möglichst gewählt auszudrücken. Ich entsinne mich, wie ich eines Tages in die gemeinschaftliche Wohnung der Schüler kam und als ersten den Moskauer sah. Er rief sofort die anderen zusammen: „Mister Krupskaja ist gekommen!" Für dieses „Mister Krupskaja" überschüttete Belostozki den jungen Mann mit Hohn und Spott. Ständig kam es zwischen ihnen zu Konflikten. Schließlich forderten die Petersburger, dass er aus der Schule entfernt würde: „Er versteht absolut nichts und faselt weiß Gott was über Prostitution zusammen!" Wir versuchten die anderen davon zu überzeugen, dass der Genosse lernen, sich entwickeln würde, aber vergebens, die Petersburger verlangten, dass er zurückgeschickt würde. Wir verschafften ihm vorübergehend Arbeit in Deutschland. Wir hatten beschlossen, die Schule in Longjumeau einzurichten, einem 15 Kilometer von Paris entfernten Örtchen in einer Gegend, in der es weder Russen noch Sommergäste gab. Longjumeau ist ein langgestrecktes französisches Dorf, das zu beiden Seiten einer Chaussee liegt, auf der sich allnächtlich ununterbrochene Ketten von Fuhrwerken mit Lebensmitteln hinziehen, die für den unersättlichen „Bauch von Paris" bestimmt sind. Es gibt dort eine kleine Lederfabrik, rund herum liegen Felder und Gärten. Unser Plan war folgender: Die Schüler sollten sich Zimmer mieten, Inès dagegen ein ganzes Haus. In diesem Haus sollte für die Schüler ein Mittagstisch eingerichtet werden. Sinowjews und wir sollten auch nach Longjumeau übersiedeln. So wurde es auch gemacht. Die gesamte Wirtschaft übernahm Katja Masanowa, die Frau eines Arbeiters, der mit Martow zusammen in der Verbannung in Turuchansk gelebt und später illegal im Ural gearbeitet hatte. Katja war eine gute Hausfrau und eine gute Genossin. Alles ging ausgezeichnet. In dem Haus, das Inès gemietet hatte, fanden unsere Gasthörer Unterkunft: Sergo (Ordschonikidse), Semjon (Schwarz), Sachar (Breslaw). Sergo war erst vor kurzem in Paris eingetroffen. Vorher hatte er eine Zeitlang in Persien gelebt, und ich besinne mich auf die umfangreiche Korrespondenz, die mit ihm über die Linie, die Lenin gegenüber den Plechanow-Anhängern, Liquidatoren und „Wperjod"-Leuten verfolgte, geführt wurde. Mit der Gruppe der kaukasischen Bolschewiki standen wir stets in lebhaftem Briefwechsel. Auf unseren Brief über den im Ausland tobenden Kampf erhielten wir lange keine Antwort, bis eines Tages die Concierge kam und sagte: „Unten steht ein Mann, der kein einziges Wort Französisch spricht, wahrscheinlich will er zu Ihnen." Ich ging hinunter: Da stand ein Kaukasier und lächelte. Es war Sergo. Von da an war er einer unserer nächsten Genossen. Semjon Schwarz dagegen kannten wir schon lange. Diesen hatte besonders meine Mutter gern, in deren Gegenwart er einmal erzählt hatte, wie er zum ersten Mal als neunzehnjähriger junger Mensch in einer Fabrik Flugblätter verteilt und sich dabei betrunken gestellt hatte. Er war ein Nikolajewer Arbeiter. Breslaw kannten wir ebenfalls seit 1905 aus Petersburg, wo er im Moskauer Bezirk gearbeitet hatte. Im Hause von Inès wohnten also nur unsere Leute. Wir wohnten am anderen Ende des Dorfs und aßen zusammen mit allen anderen bei Inès, wo es sich gut mit den Schülern plaudern ließ, die wir über die verschiedensten Dinge befragten, und wo man regelmäßig die laufenden Ereignisse erörtern konnte. Wir bewohnten zwei Zimmer in einem zweistöckigen steinernen Haus (Longjumeau hat fast nur Steinhäuser) bei einem Lederarbeiter und hatten Gelegenheit, das Leben eines Arbeiters aus einem kleinen Betrieb zu beobachten. Früh am Morgen ging er zur Arbeit und kam spät abends todmüde nach Hause. Das Haus besaß kein Gärtchen. Mitunter trug man ihm einen kleinen Tisch und einen Stuhl auf die Straße hinaus, dann saß er lange da, den müden Kopf auf die ermatteten Hände gestützt. Niemals kam irgendeiner seiner Kollegen zu ihm. An den Sonntagen ging er in die Kirche, die gegenüber von unserem Hause stand. Die Musik ergriff ihn. In der Kirche sangen Nonnen mit wunderbaren Stimmen unter anderem Beethoven, und es war kein Wunder, dass sich dieser Lederarbeiter, dessen Leben so schwer und freudlos dahinfloss, von dieser Musik stark ergriffen fühlte. Unwillkürlich drängte sich ein Vergleich mit Prisjagin auf, der von Beruf auch Lederarbeiter, dessen Leben nicht leichter war, der aber ein bewusster Kämpfer und der allgemeine Liebling seiner Arbeitsgenossen war. Die Frau des französischen Arbeiters zog am frühen Morgen ihre Holzpantinen an, nahm einen Besen und ging zum benachbarten Schloss, wo sie als Tagelöhnerin arbeitete. Als Hausfrau blieb ein halbwüchsiges Mädchen zurück, das den ganzen Tag in der dunklen, feuchten Wohnung mit dem Haushalt und mit den kleinen Geschwistern zu schaffen hatte. Niemals kamen Freundinnen zu ihr. Sie kannte auch nichts weiter als an den Wochentagen die Last der Arbeit und der Hauswirtschaft und an den Sonntagen die Kirche. Keinem einzigen in der Familie des Lederarbeiters kam der Gedanke, dass es gut wäre, Änderungen an der herrschenden Ordnung vorzunehmen. Der liebe Gott hatte ja doch die Reichen und die Armen geschaffen, folglich war es richtig so – folgerte der Lederarbeiter. Das französische Kindermädchen, das Sinowjews für ihren kleinen dreijährigen Sohn hatten, teilte diese Ansichten, und wenn der Kleine einen Versuch machte, in den Park des Schlosses bei Longjumeau vorzudringen, dann erklärte ihm das Kindermädchen: „Der ist nicht für uns, der ist für die Herrschaften." Wir lachten sehr über den Jungen, als er ganz tiefsinnig diesen Ausspruch seiner Wärterin wiederholte. Bald waren alle Schüler angekommen, auch der Nikolajewer Arbeiter Andrejew, der schon in der Verbannung, ich glaube im Gouvernement Wologda, einen eigenartigen Kursus absolviert hatte. Lenin nannte ihn scherzend seinen besten Schüler. Dogadow aus Baku (Pawel) kam und Sjoma (Sjomkow). Aus Kiew kamen zwei, Andrej Malinowski und Tschugurin, ein Plechanow-Anhänger. Malinowski war, wie sich später herausstellte, ein Provokateur. Er war ein ganz junger Bursche, ohne besondere Beobachtungsgabe, und zeichnete sich durch nichts weiter aus als durch seine wunderbare Stimme. Er erzählte mir, wie er sich vor seiner Pariser Reise den Bespitzelungen entzogen habe. Trotzdem mir seine Erzählungen ziemlich unwahrscheinlich vorkamen, weckten sie doch keinen besonderen Verdacht in mir. Der andere, Tschugurin, war ein Arbeiter aus Sormowo, der lange Jahre im Gefängnis gesessen hatte, ein außerordentlich entwickelter, sehr nervöser Mensch. Er wurde bald Bolschewik. Aus Jekaterinoslaw war auch ein Plechanow-Anhänger eingetroffen, Sawwa (Sewin). Als wir die Zimmer für die Schüler mieteten, sagten wir, dass sie russische Dorflehrer seien. Sawwa erkrankte während seines Aufenthaltes in Longjumeau am Typhus. Der französische Arzt, der ihn während seiner Krankheit behandelt hatte, sagte später lächelnd: „Was für merkwürdige Lehrer Sie haben!" Am meisten wunderten sich die Franzosen darüber, dass unsere „Lehrer" barfuß gingen (es war ein außerordentlich heißer Sommer). Sewin nahm ein halbes Jahr später an der Prager Parteikonferenz teil; dann kämpfte er ununterbrochen in den Reihen der Bolschewiki, bis er als einer der 26 Kommissare von Baku von den Weißen erschossen wurde. Aus Iwanowo-Wosnessensk kam Wassili (S. Iskrjanistow) nach Longjumeau. Er lernte sehr gut, aber er benahm sich sehr sonderbar, mied alle, schloss sich in seinem Zimmer ein, und als er nach Russland zurückkehrte, weigerte er sich entschieden, irgendwelche Aufträge zu übernehmen. Wassili war ein äußerst aktiver Parteiarbeiter, der eine Reihe von Jahren hindurch verantwortliche Posten bekleidet hatte. Er führte ein kümmerliches, schweres Leben. Als „unzuverlässig" wurde er in keinem Betrieb eingestellt und konnte absolut keinen Verdienst finden. Lange Zeit hindurch lebte er mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern von dem sehr geringen Verdienst seiner Frau, die Weberin war. Wie sich später herausstellte, hatte er diesem Leben nicht standhalten können und war ein Provokateur geworden. Er ergab sich dem Trunk. In Longjumeau trank er nicht. Als er aus Longjumeau zurückgekehrt war, erfolgte der Zusammenbruch, er machte seinem Leben freiwillig ein Ende. Eines Abends jagte er Frau und Kinder aus dem Haus, heizte den Ofen, schloss das Abzugsrohr, und am Morgen fand man ihn tot auf. Ein paar Groschen – etwa zehn Rubel – hatten ihm die Gendarmen für seine „Arbeit" gezahlt; etwa ein Jahr hatte er Provokateurdienste geleistet. Aus Polen war Oleg (Pruchnjak) nach Longjumeau gekommen. Als der Unterricht schon begonnen hatte, traf noch Manzew ein. Der Unterricht fand ganz regelmäßig statt. Lenin hielt Vorlesungen über politische Ökonomie (30 Lektionen), über die Agrarfrage (10 Lektionen), über Theorie und Praxis des Sozialismus (5 Lektionen). Die Seminararbeit zur politischen Ökonomie leitete Inès. Sinowjew und Kamenew lehrten Parteigeschichte; auch Semaschko hielt ein paar Vorträge. Außerdem hielten noch Vorlesungen Rjasanow über die Geschichte der westeuropäischen Arbeiterbewegung, Charles Rappoport über die französische Bewegung, Steklow und Finn-Jenotajewski über Staatsrecht und Budget, Lunatscharski über Literatur und Stanislaw Wolski über Zeitungstechnik. Es wurde viel und eifrig gearbeitet. An den Abenden gingen die Schüler spazieren, sangen, lagerten sich um die Heuschober und plauderten über alles mögliche. Mitunter gesellte sich auch Lenin zu ihnen. Kamenew wohnte nicht in Longjumeau, er kam nur hin, um seine Vorträge zu halten. Er schrieb damals sein Buch „Zwei Parteien" und sprach sich mit Lenin häufig über diese Arbeit aus. Ich erinnere mich gut daran, wie beide an einem Feldrand außerhalb des Dorfes im Grase lagen und Lenin Kamenew seine Gedanken entwickelte. Er schrieb dann das Vorwort zu diesem Buch. Ich musste häufig nach Paris, in die Expedition, wo ich mit verschiedenen Genossen zusammentraf. Das war notwendig, um zu vermeiden, dass jene nach Longjumeau kamen. Die Schüler wollten unverzüglich zur Arbeit nach Russland zurückkehren, und man musste Maßnahmen treffen, um ihren Pariser Aufenthalt wenigstens etwas konspirativ zu gestalten. Lenin war mit dem Erfolg der Arbeit in der Schule sehr zufrieden. In unserer freien Zeit machten wir wie gewöhnlich Radtouren; fuhren einen Hügel hinauf und etwa fünfzehn Kilometer weiter, wo ein Flugplatz war. Dieser etwas abgelegene Flugplatz war viel weniger besucht als der in Juvisy. Oft genug waren wir die einzigen Zuschauer, und Lenin konnte die Manöver der Flugzeuge ungestört beobachten. Mitte August zogen wir wieder nach Paris. Die im Januar 1910 mit so vieler Mühe zustande gebrachte Vereinigung aller Fraktionen begann schnell zu zerfallen. Je mehr praktische Aufgaben für die Arbeit in Russland auf der Tagesordnung erschienen, um so klarer wurde es, dass eine Zusammenarbeit unmöglich war. Die Forderungen der praktischen Arbeit rissen die Maske der Parteitreue herunter, hinter der sich einige Menschewiki versteckten. Es trat das wahre Wesen der „Loyalität" Trotzkis zutage, der unter dem Deckmantel dieser Loyalität versuchte, Liquidatoren und „Wperjod"-Leute zu vereinigen. Als die Notwendigkeit fühlbar wurde, sich für die Arbeit in Russland besser zu organisieren, da kam auch das Unnatürliche dieser Vereinigung an den Tag. Schon Ende Dezember 1910 reichten Lenin, Sinowjew und Kamenew dem Auslandsbüro des Zentralkomitees eine Erklärung ein, dass es notwendig sei, das Plenum des Zentralkomitees im Ausland einzuberufen. Erst nach einem Monat erhielten sie auf ihre Erklärung die Antwort: Das menschewistische Auslandsbüro des Zentralkomitees wies diesen Vorschlag zurück. Die Verhandlungen über das Thema zogen sich bis Ende Mai 1911 hin. Es war klar, dass mit dem Auslandsbüro des Zentralkomitees nichts anzufangen war. Der Vertreter der Bolschewiki, Genosse Semaschko, trat aus dem Auslandsbüro aus, und die Bolschewiki organisierten die Einberufung einer Konferenz der Mitglieder des Zentralkomitees, die sich damals im Ausland befanden. Solche Mitglieder gab es im Juli 1911 neun. Der Bundist Jonow war krank, die übrigen versammelten sich am 10. Juni, aber der Menschewik Gorew und der Bundist Liber verließen die Konferenz. Die anderen berieten über die wesentlichsten Fragen, erörterten die Frage der Einberufung der Parteikonferenz und beschlossen, in Russland eine Russische Organisationskommission (ROK) zur Einberufung der Parteikonferenz zu schaffen. Im August fuhren verschiedene Genossen nach Russland: Breslaw (Sachar) nach Petersburg und Moskau, Semjon Schwarz nach dem Ural und Jekaterinoslaw, Sergo nach dem Süden. Auch Rykow begab sich nach Russland, wurde jedoch unmittelbar nach seiner Ankunft auf der Straße verhaftet. In den Zeitungen wurde mitgeteilt, dass man bei Rykow zahlreiche Adressen vorgefunden habe. Das stimmte nicht. Allerdings waren zusammen mit Rykow eine Reihe von Bolschewiki verhaftet worden; später jedoch stellte sich heraus, dass damals in Leipzig, wo Pjatnitzki für den Literaturtransport arbeitete und wohin auch Rykow vor seiner Abreise nach Russland gefahren war, Brendinski lebte, einer unserer Transportarbeiter, der sich später als Provokateur entpuppte. Er hatte die Adressen für Rykow chiffriert. Und so ist es zu erklären, dass – obwohl man bei Rykows Verhaftung nichts vorfand – alle Adressen verraten waren. Es wurde eine Konferenz nach Baku einberufen. Es war ein Zufall, dass nicht die ganze Konferenz aufflog, denn ein Mitglied der Konferenz, der hervorragende Bakuer Parteifunktionär Stepan Schaumian, und noch eine Reihe anderer Bakuer Parteifunktionäre wurden verhaftet. Die Konferenz wurde nach Tiflis verlegt, wo sie dann auch stattfand. Anwesend waren die Vertreter von fünf Organisationen: Schwarz, Sergo und andere Bolschewiki waren dort. Außerdem waren Plechanow-Anhänger auf der Konferenz. Auch Tschernomasow war anwesend, der – wie wir später erfuhren – ebenfalls ein Lockspitzel war. Die Russische Organisationskommission erfüllte jedoch ihre Aufgabe: Für den Januar 1912 wurde die Parteikonferenz einberufen. Die Pariser bolschewistische Gruppe stellte 1911 eine ziemlich starke Organisation dar. Ihr gehörten die Genossen Semaschko, Wladimirski, Antonow (Britman), Kusnezow (Saposchkow), die Belenkis (Abram, später auch sein Bruder Grischa), Inès Armand, Stal, Natascha Gopner, Kotljarenko, Tschernow (auf seinen wahren Namen besinne ich mich nicht mehr), Lenin, Sinowjew, Kamenew, Lilina, Taratuta, Mark (Ljubimow), Ljowa (Wladimirow) und andere an. Insgesamt hatten wir über 40 Mitglieder. Im Großen und Ganzen unterhielt die Gruppe mit Russland enge Verbindung und besaß gute revolutionäre Erfahrungen. Im Kampf gegen die Liquidatoren, gegen die Trotzkisten usw. hatte sich die Gruppe gestählt. Sie hat die russische Arbeit nicht wenig unterstützt, hat unter den Franzosen gearbeitet sowie unter den zahlreichen Arbeitern, die in der Emigration lebten. Solcher Arbeiter gab es in Paris ziemlich viele. Eine Zeitlang versuchte ich mit der Genossin Stal, bei den Arbeiterinnen unter den Emigranten – Modistinnen, Näherinnen usw. – zu arbeiten. Eine Anzahl Versammlungen wurden abgehalten, die Arbeit litt jedoch darunter, dass sie gering eingeschätzt wurde. Auf einer jeden Versammlung wurde gequängelt: „Warum muss denn unbedingt eine besondere Frauenversammlung einberufen werden?" Und so schlief die Sache schließlich wieder ein, wenngleich sie immerhin einen gewissen Nutzen gebracht hat. Lenin hielt diese Arbeit für notwendig. Ende September fuhr Lenin nach Zürich zur Sitzung des Internationalen Büros. Es fanden Erörterungen statt über den Brief Molkenbuhrs an den Vorstand der deutschen Sozialdemokratie, dass es im Zusammenhang mit den Wahlen sich nicht empfehle, anlässlich der Marokkoaffäre die Kritik an der Kolonialpolitik in den Vordergrund zu schieben. Rosa Luxemburg hatte diesen Brief veröffentlicht. Bebel war darüber empört. Lenin verteidigte Rosa. Die opportunistische Politik der deutschen Sozialdemokratie trat auf dieser Sitzung schon deutlich zutage. Während dieser Reise hielt Lenin in der Schweiz eine Reihe von Vorträgen. Im Oktober schieden die beiden Lafargues freiwillig aus dem Leben. Ihr Tod machte auf Lenin einen tiefen Eindruck. Wir erinnerten uns an unseren Besuch bei ihnen. Iljitsch sagte: „Wenn man nicht mehr imstande ist, für die Partei zu arbeiten, muss man der Wahrheit ins Auge sehen und so sterben können wie die Lafargues." Und an den Gräbern der Lafargues wollte er sagen, dass ihre Arbeit nicht umsonst gewesen sei, dass das Werk, das sie begonnen hatten, das Werk von Karl Marx, mit dem Paul und Laura Lafargue so eng verbunden gewesen waren, immer größer wird, immer mehr wächst und schon hinüber greift bis in das ferne Asien. In China hatte damals gerade eine revolutionäre Massenbewegung eingesetzt. Lenin verfasste eine Rede, Inès übersetzte sie. Und es ist mir deutlich in Erinnerung, wie Lenin voller Erregung im Namen der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands bei dem Begräbnis sprach. Vor Beginn des neuen Jahres veranstalteten die Bolschewiki eine Konferenz der bolschewistischen Auslandsgruppen. Die Stimmung war gut, wenn auch die Emigration die Nerven aller zerrüttet hatte. Der Beginn des Jahres 1912 Eifrig gingen die Konferenzvorbereitungen vonstatten. Lenin korrespondierte mit dem Vertreter der tschechischen Sozialdemokratie im Internationalen Sozialistischen Büro, Nemec, über die Abhaltung der Konferenz in Prag. Prag hatte den Vorteil, dass es dort keine russische Kolonie gab, außerdem kannte Lenin Prag noch aus der Zeit seiner ersten Emigration, als er dort eine Weile bei Modráček gewohnt hatte. Von den mit der Prager Konferenz verbundenen Erinnerungen sind mir besonders zwei Momente im Gedächtnis geblieben (auf der Konferenz selbst war ich nicht anwesend): Erstens der Streit zwischen Sawwa (Sewin), dem Delegierten von Jekaterinoslaw, einem ehemaligen Schüler der Schule von Longjumeau, dem Delegierten von Kiew, Dawid (Schwarzman), und – wenn ich nicht irre – Sergo. Ich sehe noch immer das aufgeregte Gesicht Sawwas vor mir. Ich besinne mich nicht mehr auf den genauen Inhalt des Gesprächs, aber Sawwa war Plechanow-Anhänger. Plechanow selbst war zur Konferenz nicht erschienen. „Die Zusammensetzung Ihrer Konferenz", hatte er als Antwort auf die Einladung geschrieben, „ist so einseitig, dass es für mich besser, dass heißt im Interesse der Parteieinheit zweckmäßiger ist, wenn ich nicht daran teilnehme." Er hatte Sawwa aber entsprechend instruiert, und dieser brachte auf der Konferenz einen Protest nach dem andern im Sinne Plechanows vor. Wie bekannt, wurde Sawwa später Bolschewik. Ein anderer Plechanow-Anhänger, Dawid, ging mit den Bolschewiki. Das Gespräch, um das es sich hier handelt, drehte sich damals darum, ob Sawwa zur Konferenz fahren sollte oder nicht. In Longjumeau war Sawwa stets vergnügt und sehr ausgeglichen gewesen, und aus diesem Grunde war ich über seine Erregung sehr erstaunt. Eine andere Erinnerung: Lenin war schon nach Prag abgereist. Da traf in Paris Filipp (Goloschtschokin) zusammen mit Brendinski ein, um ebenfalls zur Parteikonferenz zu fahren. Brendinski kannte ich nur dem Namen nach, er befasste sich mit dem Transport. Er lebte in Dwinsk. Seine Hauptfunktion war, die bei ihm eintreffende Literatur an die Organisationen, hauptsächlich nach Moskau, weiterzuleiten. In Dwinsk lebten auch Filipps Vater und Schwester. Vor seiner Auslandsreise besuchte Filipp seinen Vater. Brendinski wohnte bei der Schwester Filipps. Der Vater warnte Filipp: „Traue diesem Menschen nicht, er benimmt sich sonderbar, lebt über seine Verhältnisse, aast geradezu mit dem Geld." Zwei Wochen vor der Konferenz ist Brendinski verhaftet und schon nach wenigen Tagen wieder entlassen worden. Während er saß, kamen verschiedene Genossen in seine Wohnung, die alle verhaftet wurden. Wer jedoch verhaftet worden war, konnte nicht festgestellt werden. Auch beim gemeinsamen Grenzübertritt gab es etwas, was Misstrauen erweckte. Filipp kam mit Brendinski in unsere Wohnung, und ich war sehr erfreut über ihre Ankunft. Filipp ließ mich durch seinen Händedruck und vielsagenden Blick verstehen, dass er mir über Brendinski etwas zu sagen hätte. Später, im Korridor, teilte er mir seine Bedenken mit. Wir kamen überein, dass er mich jetzt mit Brendinski allein lassen sollte, damit ich Gelegenheit hätte, mit ihm zu sprechen, den Boden zu sondieren, man könnte dann späterhin beschließen, was zu tun sei. Das Gespräch zwischen mir und Brendinski war sehr sonderbar. Wir hatten von Pjatnitzki die Mitteilung erhalten, dass die Literatur glücklich abgegangen und nach Moskau weitergeschickt worden sei; die Moskauer dagegen beklagten sich bei uns, dass sie überhaupt nichts bekämen. Ich fragte Brendinski, an welche Adresse er die Literatur weiterleite, wem er sie übergebe. Darauf wurde er sehr verwirrt, erklärte, dass er sie nicht der Organisation übergebe, das sei jetzt gefährlich, sondern ihm bekannten Arbeitern. Ich fragte nach deren Namen. Er nannte einige Namen – wie man deutlich merkte, aufs Geratewohl. Auf die Adressen könne er sich nicht besinnen. Es war klar, dass der Mensch log. Dann fragte ich ihn nach seinen Reisen, fragte etwas von irgendeiner Stadt, ich glaube, es war Jaroslawl; er sagte, dorthin könne er nicht fahren, weil er dort einmal verhaftet worden sei. Ich fragte: „In welcher Sache?" Und er antwortete: „Wegen einer Kriminalsache." Da wurde ich direkt stutzig. Je mehr ich ihn fragte, um so verwirrter wurden seine Antworten. Ich erzählte ihm schnell irgend etwas, dass die Konferenz in der Bretagne stattfinden würde, dass Lenin und Sinowjew schon dorthin abgereist seien. Dann verabredete ich mit Filipp, dass er nachts zusammen mit Grigori nach Prag abreisen und Brendinski einen Zettel hinterlassen sollte mit der Mitteilung, dass er nach der Bretagne abgereist sei. So geschah es auch. Ich selbst aber ging zu Burzew, der sich damals auf die Entlarvung von Provokateuren spezialisiert hatte, und sagte ihm: „Brendinski ist bestimmt ein Provokateur." Burzew hörte mich an und antwortete:„Schicken Sie ihn zu mir." Den Provokateur zu Burzew zu schicken hatte keinen Zweck. Es kam ein Telegramm von Pjatnitzki, bei dem auch Zweifel aufgetaucht waren, dass man Brendinski nicht zur Konferenz schicken sollte; diesem Telegramm folgte ein ausführlicher Brief. Jedenfalls gelang es Brendinski nicht, an der Konferenz teilzunehmen. Er kehrte nicht mehr nach Russland zurück, die zaristische Regierung kaufte ihm in der Nähe von Paris eine Villa für 40.000 Francs. Ich war sehr stolz darauf, dass ich die Konferenz vor einem Provokateur bewahrt hatte. Leider wusste ich nicht, dass auf der Prager Konferenz ohnehin schon zwei Provokateure anwesend waren: Roman Malinowski und Romanow (AIja Alexinski), ein ehemaliger Hörer der Schule von Capri. Die Prager Konferenz war die erste Parteikonferenz nach 1908, die mit Parteiarbeitern aus Russland abgehalten werden konnte. Auf dieser Konferenz wurden in sachlicher Weise die mit der russischen Arbeit zusammenhängenden Fragen erörtert und eine bestimmte Linie für diese Arbeit festgesetzt. Es wurden Resolutionen angenommen über die gegenwärtige Lage und über die Aufgaben der Partei, über die Wahlen in die IV. Reichsduma und über die sozialdemokratische Dumafraktion; ferner über den Charakter und die Organisationsformen der Parteiarbeit, über die Aufgaben der Sozialdemokratie im Kampf gegen die Hungersnot, über die Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf der Duma über die staatliche Arbeiterversicherung und schließlich über die Petitionskampagne. Eine klare Parteilinie in den Fragen der Arbeit in Russland, die wirkliche Leitung der praktischen Arbeit – das ist es, was die Prager Konferenz herbeiführte. Darin lag ihre außerordentliche Bedeutung. Auf der Konferenz wurde das Zentralkomitee gewählt: Lenin, Sinowjew, Ordschonikidse (Sergo), Schwarzman (Dawid), Goloschtschokin (Filipp), SpandarianA, Malinowski. Für den Fall von Verhaftungen wurden Kandidaten aufgestellt. Bald nach der Konferenz wurden Stalin und Belostozki (ehemaliger Hörer der Schule in Longjumeau) kooptiert, und im Zentralkomitee wurde jene Einigkeit hergestellt, ohne die die Arbeit in einer so schweren Zeit unmöglich war. Die Konferenz bedeutete zweifellos einen großen Fortschritt: Sie machte dem Zerfall der Arbeit in Russland ein Ende. Allerdings mussten die böswilligen Quertreibereien der Liquidatoren, Trotzkis, die Diplomatie Plechanows, der Mitglieder des „Bund" und anderer eine scharfe Zurückweisung erfahren, mussten entlarvt werden; jedoch standen alle diese Fragen nicht mehr im Mittelpunkt, das Hauptaugenmerk musste jetzt der Arbeit in Russland gewidmet werden. Es war nur halb so schlimm, dass Malinowski dem Zentralkomitee angehörte und auch, dass die Polizei über alle Einzelheiten der Beratung, die nach der Konferenz mit den Vertretern der III. Duma – Poletajew und Schurkanow – in Leipzig abgehalten wurde, informiert war, weil auch Schurkanow ein Lockspitzel war. Denn wenn auch das Spitzelwesen Parteiarbeiter zu Fall brachte und die Organisation schwächte, so war doch die Polizei außerstande, dem Aufschwung der Arbeiterbewegung Einhalt zu gebieten, und die richtige Linie, die man eingeschlagen hatte, führte die Bewegung auf das richtige Gleis und weckte immer neue und neue Kräfte. Von Leipzig, wohin sich Lenin wegen der Zusammenkunft mit Poletajew und Schurkanow begeben hatte, fuhr er nach Berlin, um dort mit den „Treuhändern" über die Rückgabe des Geldes zu verhandeln,das jetzt ganz besonders dringend zur Arbeit benötigt wurde. In jener Zeit kam Schotman zu uns nach Paris. Er hatte in der letzten Zeit in Finnland gearbeitet. Die Prager Konferenz hatte eine Resolution angenommen, die die finnische Politik der zaristischen Regierung und der III. Duma scharf verurteilte und die Gemeinsamkeit der Aufgaben der Arbeiter Finnlands und Russlands im Kampf gegen den Zarismus und die konterrevolutionäre russische Bourgeoisie hervorhob. In Finnland war zu jener Zeit unsere Organisation illegal. Unter den Seeleuten der Baltischen Flotte wurde lebhaft gearbeitet, und Schotman war gekommen, um zu melden, dass in Finnland alles zum Aufstand bereit, dass insbesondere die in der Armee arbeitende illegale Organisation kampfbereit sei (man beabsichtigte, die Festungen von Sweaborg und Kronstadt in Besitz zu nehmen). Lenin war noch nicht zurückgekehrt. Als er dann ankam, fragte er Schotman voller Interesse über die Organisation aus, die schon an und für sich eine interessante Tatsache war (in der Organisation arbeiteten Rachja, S. W. Worobjow und Kokko); aber er wies darauf hin, dass derartige Aktionen im Augenblick nicht zweckentsprechend seien. Es war zweifelhaft, ob der Aufstand in diesem Moment von den Petersburger Arbeitern unterstützt werden würde. Es kam auch nicht zum Aufstand, denn die Organisation wurde bald darauf verraten, Verhaftungen wurden vorgenommen, und 52 Personen wurden wegen Vorbereitung zum Aufstand vor Gericht gestellt. Vom Aufstand war man natürlich noch weit entfernt, jedoch die Ereignisse an der Lena, Mitte April, die Proteststreiks, die sie überall hervorriefen, bewiesen deutlich, wie stark das Proletariat gewachsen war, bewiesen, dass es nicht vergessen hatte; dass sich die Bewegung auf eine immer höhere Stufe erhob; dass ganz andere Bedingungen für die Arbeit im Entstehen waren. Lenin wurde ein anderer; er war auf einmal viel weniger nervös, war konzentrierter, dachte mehr über die Aufgaben nach, vor denen die russische Arbeiterbewegung stand. Diese Stimmung Lenins kommt wohl am besten in seinem Artikel über Alexander Herzen zum Ausdruck, den er Anfang Mai schrieb. In diesem Artikel ist sehr viel von Lenins Wesen enthalten, von jenem leidenschaftlichen Pathos, das die Menschen so hinriss, so ergriff. „Indem wir Herzen feiern, sehen wir deutlich drei Generationen, drei Klassen, die in der russischen Revolution wirksam waren. Zunächst – die Adligen und Gutsbesitzer, die Dekabristen und Herzen. Eng ist der Kreis dieser Revolutionäre. Furchtbar fern stehen sie dem Volk. Aber ihre Sache ist nicht verlorengegangen. Die Dekabristen rüttelten Herzen auf. Herzen entfaltete die revolutionäre Agitation. Diese Agitation wurde aufgegriffen von den Revolutionären aus dem Mittelstand, beginnend mit Tschernyschewski und endend mit den Helden aus dem Geheimbund ,Narodnaja Wolja', die sie erweiterten, festigten und stählten. Weiter wurde der Kreis der Kämpfer, enger ihre Verbindung mit dem Volk. ,Die jungen Steuerleute im künftigen Sturm' hat Herzen sie genannt. Aber das war noch nicht der eigentliche Sturm. Der Sturm, das ist die Bewegung der Massen selbst. Das Proletariat, die einzige bis ans Ende revolutionäre Klasse, hat sich erhoben, ist an ihre Spitze getreten und hat zum ersten Mal die Millionen der Bauern zum offenen, revolutionären Kampf hochgerissen. Der erste Stoß des Sturmes erfolgte im Jahre 1905. Der nächste beginnt vor unsern Augen zu wachsen."4 Noch wenige Monate zuvor hatte Lenin mit Wehmut zu seiner Schwester Anna, die nach Paris gekommen war, gesagt: „Wer weiß, ob wir den nächsten Aufschwung noch erleben werden." Jetzt fühlte er diesen herannahenden Sturm – die Bewegung der Massen – mit allen Fasern. Als die erste Nummer der „Prawda" erschienen war, bereiteten wir uns auf unseren Umzug nach Krakau vor. Krakau war in vieler Beziehung bequemer als Paris. Zunächst war es in Bezug auf die Polizeiverhältnisse günstiger. Die französische Polizei unterstützte die russische in jeder Weise. Die polnische Polizei dagegen stand der russischen Polizei, wie überhaupt der ganzen russischen Regierung, feindselig gegenüber. In Krakau würden die Briefe nicht geöffnet, die Ankommenden nicht bespitzelt werden, in dieser Hinsicht konnte man ruhig sein. Außerdem lag auch die russische Grenze nahe. Die Genossen konnten häufig kommen, Briefe und Pakete konnten ohne irgendwelche Verzögerung nach Russland gehen. Wir beschleunigten unsere Vorbereitungen. Lenin war vergnügt und zeigte sich den zurückbleibenden Genossen gegenüber besonders aufmerksam. In unserer Wohnung ging es wie in einem Taubenschlag zu. In diesen Tagen besuchte uns Kurnatowski. Wir kannten ihn von unserer Verbannung in Schuschenskoje her. Es war die dritte Verbannung, die er durchmachte. Er hatte die Züricher Universität absolviert, war Chemiker und arbeitete damals in einer Zuckerfabrik in der Nähe von Minussinsk. Nach Russland zurückgekehrt, wurde er in Tiflis bald wieder verhaftet, saß zwei Jahre lang in der Festung Metecha und wurde dann nach Jakutien verschickt; auf dem Wege dorthin geriet er in die sogenannte „Romanow-Affäre"B und wurde 1904 zu zwölf Jahren Zwangsarbeit verurteilt. 1905 wurde er amnestiert, gründete die Tschitaer RepublikC, wurde schließlich von Meller-SakomelskiD ergriffen und Rennenkampf übergeben. Er wurde zum Tode verurteilt, vorher aber gezwungen, andere Erschießungen mit anzusehen. Später wurde die Todesstrafe in lebenslängliche Verbannung verwandelt. 1906 gelang es Kurnatowski, aus Nertschinsk nach Japan zu fliehen. Von dort aus wandte er sich nach Australien, wo er in große Not geriet. Er arbeitete eine Zeitlang als Holzfäller; bei dieser Arbeit zog er sich eine ernsthafte Erkältung zu. Die Folge davon war eine gefährliche Ohrenentzündung, die seine Kräfte völlig lahmlegte. Mit Mühe und Not gelang es ihm, nach Paris zu kommen. Sein außerordentlich schweres Schicksal hatte ihn schließlich völlig zermürbt. Im Herbst 1910, nach seiner Ankunft in Paris, besuchte ich ihn mit Lenin im Krankenhaus; er hatte wahnsinnige Kopfschmerzen und litt schreckliche Qualen. Auch Jekaterina Iwanowna Okulowa war bei ihm mit ihrer kleinen Tochter Irina, die Kurnatowski, der fast völlig taub war, mit ihrer ungeschickten Kinderschrift irgend etwas aufschrieb. Dann erholte sich Kurnatowski allmählich. Er kam später mit Versöhnlern zusammen, und einmal war in seinen Äußerungen auch ein versöhnlerischer Unterton zu verspüren. Dadurch kam unser Verkehr eine Weile ins Stocken: Wir waren alle nervös. Im Herbst 1911 besuchte ich ihn einmal gelegentlich – er hatte ein kleines Zimmer am Boulevard Montparnasse –, brachte ihm unsere Zeitungen, erzählte ihm von der Schule in Longjumeau und sprach mich mit ihm aus. Er war bereits ganz und gar mit der Linie des Zentralkomitees einverstanden. Lenin war darüber sehr erfreut und besuchte Kurnatowski nunmehr häufig. Kurnatowski sah zu, wie wir unsere Sachen packten, wie meine Mutter irgend etwas vergnügt verstaute, und sagte: „Es gibt doch wirklich Menschen, die Energie haben." Im Herbst 1912, als wir schon in Krakau waren, starb Kurnatowski. Unsere Wohnung mitsamt den Möbeln übernahm irgendein Pole, ein Kapellmeister aus Krakau, der Lenin aufs Angelegentlichste über Haushaltsdinge ausfragte: „Was kosten Gänse? Was kostet Kalbfleisch?" Lenin hatte keine Ahnung, was er antworten sollte: „Gänse??… Kalbfleisch??… Iljitsch verstand nur sehr wenig von Wirtschaftsdingen, aber auch ich wusste nichts über Gänse- und Kalbfleischpreise, denn wir hatten in Paris weder das eine noch das andere gegessen, und für die Preise von Pferdefleisch und Salat zeigte der Pole kein Interesse. Unsere Pariser Genossen zog es in jener Zeit stark nach Russland. Inès, Safarow und andere wollten heimreisen. Wir selbst gedachten fürs erste einmal etwas näher an die russische Grenze zu ziehen. Krakau 1912-1914 Die Krakauer Emigrationsperiode hatte mit der Pariser oder Schweizer keine Ähnlichkeit. Es war eigentlich nur eine halbe Emigration. In Krakau lebten wir fast ausschließlich den Interessen der Arbeit in Russland. Eine enge Verbindung mit Russland war sehr bald hergestellt. Die Zeitungen aus Petersburg trafen am dritten Tage ein. Die „Prawda" begann damals dort zu erscheinen. „In Russland aber haben wir einen revolutionären Aufschwung, nicht irgendeinen anderen, sondern eben einen revolutionären. Und es ist uns doch gelungen, eine Tageszeitung, die ,Prawda', herauszubringen – unter anderem gerade dank jener Konferenz (im Januar), über die die Dummköpfe kläffen."5 Wir standen mit der „Prawda" in enger Verbindung. Fast täglich schrieb Lenin Artikel für sie, korrespondierte mit ihr, verfolgte ihre Arbeit, warb für sie Mitarbeiter. Er bemühte sich darum, dass Gorki an dem Blatte mitarbeiten sollte. Ebenso regelmäßig erschienen in der „Prawda" Artikel von Sinowjew und der Genossin Lilina, die interessantes ausländisches Material für die Zeitung zusammenstellte. Weder von Paris noch von der Schweiz aus wäre eine so enge planmäßige Mitarbeit möglich gewesen. Auch der Briefwechsel mit Russland kam schnell in Gang. Die Krakauer Genossen zeigten uns, wie die Sache auf möglichst konspirative Weise einzurichten war. Es war sehr wesentlich, dass die Briefe keine Auslandsstempel trugen, da sie dann weniger die Aufmerksamkeit der russischen Polizei auf sich lenkten. Aus diesem Grunde gaben wir unsere Briefe Bäuerinnen, die aus Russland zum Markt herüberkamen, mit, und diese steckten sie gegen ein geringes Entgelt jenseits der Grenze in den Briefkasten. In Krakau lebten etwa 4000 polnische Emigranten. Als wir dort ankamen, wurden wir von dem Genossen Bagocki, einem polnischen Emigranten und ehemaligen politischen Gefangenen, empfangen, der uns sogleich unter seine Obhut nahm und uns in allen allgemeinen Lebensfragen sowie in konspirativen Angelegenheiten unterstützte. Er lehrte uns, wie man sich der sogenannten Polupaski bedienen konnte (so hießen die Passierscheine, mit denen die Bewohner der Grenzzone von der russischen wie auch von der österreichisch-galizischen Seite her die Grenze überschreiten konnten). Diese „Polupaski" kosteten fast nichts und – was die Hauptsache war – sie erleichterten unseren illegalen Genossen den Grenzübertritt ganz außerordentlich. Mit Hilfe dieser Passierscheine brachten wir zahlreiche Genossen über die Grenze, unter anderem auch Warwara Nikolajewna Jakowlewa Sie war kurz zuvor aus der Verbannung, wo sie an Tuberkulose erkrankt war, nach dem Ausland geflüchtet, um ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen und ihren Bruder wiederzusehen, der in Deutschland lebte. Auf dem Rückweg kam sie nach Krakau, um mit uns über die Korrespondenz und die Arbeit zu sprechen. Ihre Rückreise nach Russland ging glücklich vonstatten. Erst vor kurzem habe ich erfahren, dass bei der Überschreitung der Grenze die Gendarmen auf ihren großen Koffer aufmerksam wurden und feststellen lassen wollten, ob sie auch wirklich dahin fahre, wohin das Billet gelöst war. Der Zugkontrolleur jedoch warnte sie, und für eine gewisse Summe war er bereit, ihr ein Billet nach Warschau zu lösen, mit dem sie dann auch die Reise glücklich fortsetzte. Mit einem solchen Passierschein beförderten wir einmal auch Stalin. Wenn die Inhaber dieser Passierscheine an der Grenze aufgerufen wurden, mussten sie auf polnisch „jestem" („hier") antworten. Ich werde nie vergessen, wie ich mir Mühe gab, diese Weisheit den Genossen beizubringen. Es gelang sehr schnell, den illegalen Grenzverkehr zu organisieren. Auf der russischen Seite hatte der Genosse Krylenko, der damals nicht weit von der Grenze, in Lublin, wohnte, die Organisierung der Grenzüberschreitung in der Hand. Auf die gleiche Weise konnte auch die illegale Literatur über die Grenze geschafft werden. Die Polizei in Krakau bespitzelte uns nicht, sie las unsere Briefe nicht und unterhielt mit der russischen Polizei überhaupt keine Verbindung. Wir hatten einmal Gelegenheit, uns davon zu überzeugen. Es kam ein Moskauer Arbeiter, Genosse Schumkin, zu uns, um Literatur zu holen, die er im sogenannten „Panzer" (einer besonders gearbeiteten Weste, in die die Literatur eingenäht wurde) befördern wollte. Er war ein großer Konspirator. Er pflegte mit tief in die Stirn gedrückter Mütze durch die Straßen zu gehen. Wir besuchten eine Versammlung und wollten ihn dorthin mitnehmen. Er wollte jedoch nicht mit uns zusammen gehen, erklärte, dies sei nicht konspirativ, und ging in einem bestimmten Abstand hinter uns her. Durch sein „konspiratives" Aussehen zog er die Aufmerksamkeit der Krakauer Polizei auf sich. Am nächsten Tag erhielten wir den Besuch eines Polizeibeamten, der uns fragte, ob wir den Mann, der zu uns gekommen sei, kennen und für ihn bürgen. Wir erklärten uns bereit, für ihn zu bürgen. Trotz dieses Vorfalls bestand Schumkin darauf, Literatur mitzunehmen; wir rieten ihm ab, aber er tat es doch. Seine Reise ging glatt vonstatten. Wir waren im Sommer in Krakau eingetroffen, und Bagocki riet uns, in einem Krakauer Vorort Wohnung zu nehmen, in Zwierzyniec, wo wir denn auch in demselben Hause wie Sinowjews eine Wohnung fanden. Der Schmutz dort war furchtbar, in der Nähe aber floss die Weichsel vorbei, in der man wunderbar baden konnte, und etwa fünf Kilometer entfernt lag der „Wolski las", ein schöner großer Wald, in den Iljitsch und ich oft mit dem Rad fuhren. Im Herbst zogen wir an das andere Ende der Stadt, in einen ganzen neuen Stadtteil, in dem auch Bagocki und die Sinowjews Wohnung nahmen. Krakau gefiel Lenin ausgezeichnet, es erinnerte ihn an Russland. Die neuen Verhältnisse und das Fehlen des Emigrantenwirrwarrs beruhigten die Nerven ein wenig. Lenin beobachtete aufmerksam das Leben der Krakauer Bevölkerung, das Leben der armen Schichten, der Proletarier. Mir gefiel Krakau ebenfalls. In früher Kindheit, im Alter von zwei bis fünf Jahren, hatte ich in Polen gelebt, ein wenig von dieser Zeit war mir im Gedächtnis haften geblieben; die offenen hölzernen Galerien in den Höfen erschienen mir vertraut, sie erinnerten mich an jene Galerien, auf deren Stufen ich einst mit polnischen und jüdischen Kindern gespielt hatte, und auch die kleinen „Ogródki" (Gärtchen), in denen „kwasne mleko z ziemniakami" (saure Milch mit Kartoffeln) verkauft wurde, weckten frühere Erinnerungen … Meine Mutter erinnerte die ganze Umgebung ebenfalls an ihre Jugend, Iljitsch aber war einfach froh darüber, dass er sich aus den Pariser Fesseln befreit hatte: Er scherzte und lobte die „kwasne mleko" wie auch den „mocnu starku" (kräftigen Schnaps). Von uns allen sprach die Genossin Lilina am besten polnisch; ich konnte nur wenig Polnisch, ich hatte nur ein paar Brocken aus meiner Kindheit im Gedächtnis behalten und mich dann später in Sibirien und Ufa ein wenig mit der polnischen Sprache beschäftigt. Das Wirtschaften war hier viel schwieriger als in Paris. Gas gab es nicht, man musste immer den Küchenherd heizen. Ich versuchte einmal, bei einem Fleischer ausgelöstes Fleisch, ohne Knochen, zu verlangen. Der Fleischer riss die Augen weit auf und erklärte: „Der liebe Gott hat das Rind mit Knochen geschaffen, wie soll ich Ihnen da Fleisch ohne Knochen verkaufen?" Für den Montagmorgen musste man die Semmeln vorher einkaufen, denn am Montag früh machten die Bäcker „blau", und die Bäckereien waren geschlossen usw. Beim Einkauf musste man feilschen. Es gab polnische Läden und jüdische Läden. In den jüdischen Läden konnte man alles für den halben Preis kaufen, aber man musste verstehen zu feilschen, musste es fertigbringen, fortzugehen, um dann schließlich wiederzukommen, und ähnliche Manöver anwenden, und alles das kostete eine Menge Zeit. Die Juden wohnten in einem besonderen Stadtviertel und hatten eine besondere Kleidung. Im Warteraum eines Krankenhauses hörte ich die Kranken ganz ernsthaft eine Diskussion darüber führen, ob ein jüdisches Kind ebenso sei wie ein polnisches, ob es verflucht sei oder nicht. Und daneben saß schweigend ein jüdischer Knabe und hörte die ganze Unterhaltung mit an. Die Macht der katholischen Geistlichkeit in Krakau war unbegrenzt. Die Pfaffen unterstützten durch Brand Geschädigte, Waisen und alte Leute; die Nonnenklöster besorgten den Dienstmädchen Stellungen und verteidigten ihre Rechte den Dienstgebern gegenüber; der Gottesdienst in der Kirche war die einzige Zerstreuung für die unterdrückte, eingeschüchterte Bevölkerung. In Galizien herrschten noch die Sitten aus der Zeit der Leibeigenschaft, und die katholische Geistlichkeit tat alles, um sie zu erhalten. So steht zum Beispiel eine Dame auf dem Markt und will ein Dienstmädchen mieten. Um sie herum drängen sich ein Dutzend Bäuerinnen, die sich als Dienstmägde verdingen wollen, und alle küssen der gnädigen Frau die Hände. Es war üblich, für alles Trinkgeld zu geben. Und wenn ein Tischler oder Droschkenkutscher sein Trinkgeld bekommen hatte, so fiel er dankend auf die Knie und berührte mit dem Gesicht den Boden. Dafür aber lebte in den Seelen der Massen auch ein tiefer Hass gegen die Vornehmen. Das Kindermädchen, das Sinowjews für ihren Kleinen nahmen, ging jeden Morgen in die Kirche zur Messe. Sie war ganz durchsichtig vor lauter Fasten und Beten. Trotzdem erzählte sie mir einmal, als ich mich mit ihr unterhielt, dass sie die Herrschaften hasse; dass sie drei Jahre bei einer Offiziersfrau gedient habe, die, wie alle Herrschaften, um elf Uhr aufgestanden sei, im Bett gefrühstückt und sie dann gezwungen habe, ihr die Strümpfe und Schuhe anzuziehen, sie völlig anzukleiden. Und dieses fanatisch fromme Mädchen sagte, dass, wenn eine Revolution kommen würde, sie als erste mit der Heugabel in der Hand gegen die Herrschaften losziehen würde. Das Elend, die Unterjochung der Bauern und Arbeiter trat in jeder Kleinigkeit zutage und war sogar noch schlimmer als damals bei uns in Russland. In Krakau traf Lenin den Genossen Hanecki, der seinerzeit Delegierter der Sozialdemokratie Polens und Litauens auf dem II. und später auf dem Stockholmer und dem Londoner Parteitag war, wohin er von der Zentrale6 delegiert worden war. Von Hanecki und den anderen polnischen Genossen erfuhr Lenin Näheres über die Spaltung in der polnischen Sozialdemokratie. Die Zentrale hatte eine Kampagne gegen das Warschauer Komitee eröffnet, das von der gesamten Warschauer Organisation unterstützt wurde. Das Warschauer Komitee forderte von der Zentrale eine prinzipiellere Linie, einen bestimmten Standpunkt gegenüber den innerparteilichen Angelegenheiten der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands. Darauf hatte die Zentrale das Warschauer Komitee aufgelöst und das Gerücht verbreitet, dass das Warschauer Komitee Beziehungen zur Ochrana unterhalte. Lenin trat auf die Seite des Warschauer Komitees, der „Rozłamowcy" (Spalter), verfasste einen Artikel zu seiner Verteidigung und schrieb einen Brief an das Internationale Sozialistische Büro, in dem er gegen das Vorgehen der Zentrale protestierte. Das Warschauer Komitee stand in engem Kontakt mit den Massen Warschaus und der anderen Arbeiterzentren (Łódź u. a.). Lenin war der Ansicht, dass die Sache der „Rozłamowcy" keine fremde Angelegenheit sei, sie war eng verbunden mit dem ganzen innerparteilichen Kampf, der in diesem Moment eine so außerordentliche Schärfe angenommen hatte, und aus diesem Grunde konnte sich Lenin dieser Affäre nicht fernhalten. Seine Hauptaufmerksamkeit jedoch nahmen die russischen Angelegenheiten in Anspruch. Zwei Genossen – Safarow und Inès – hatten sich zur Vorbereitung der Wahlkampagne von Paris nach Petersburg begeben. Sie reisten mit falschen Pässen. Inès besuchte uns bei dieser Gelegenheit in Krakau, als wir noch in Zwierzyniec wohnten. Sie hielt sich zwei Tage bei uns auf, wir vereinbarten alles mit ihr und versorgten sie mit Adressen und Verbindungen; sie beriet mit Lenin den ganzen Arbeitsplan. Auf der Durchreise sollte Inès Krylenko in Lublin besuchen, um durch ihn den Grenzübertritt der nach Krakau reisenden Genossen zu organisieren. Durch Inès und Safarow erfuhren wir in allen Einzelheiten, was in Petersburg los war. Nachdem die nötigen Verbindungen hergestellt waren, leisteten sie dort umfangreiche Massenarbeit und machten die Arbeiter mit den Resolutionen der Prager Konferenz und den Aufgaben, die vor der Partei standen, bekannt. Der Stadtbezirk Narwa wurde zu ihrer Basis. Das Petersburger Komitee wurde wiederhergestellt, sodann wurde das Nördliche Gebietsbüro gebildet, dem außer Inès und Safarow Schotman, Rachja und Prawdin angehörten. Ein heftiger Kampf gegen die Liquidatoren entbrannte in Petersburg. Das Nördliche Gebietsbüro traf die nötigen Vorkehrungen, um in Petersburg die Wahl des Bolschewiken Badajew, eines Eisenbahnarbeiters, zum Deputierten durchzusetzen. Die Liquidatoren verloren nach und nach ihren Einfluss auf die Arbeitermassen Petersburgs; die Arbeiter erkannten, dass die Liquidatoren, statt den revolutionären Kampf zu organisieren, den Weg der Reformen betreten hatten und im Grunde genommen die Linie einer liberalen Arbeiterpolitik verfolgten. Die Liquidatoren mussten unversöhnlich bekämpft werden. Aus diesem Grunde war Lenin so erregt darüber, dass die „Prawda" im Anfang die Polemik gegen die Liquidatoren aus seinen Artikeln hartnäckig strich. Er schrieb zornige Briefe an die „Prawda". Und nur ganz allmählich griff die „Prawda" in diesen Kampf ein. In Petersburg wurden die Wahlen der Bevollmächtigten zur Arbeiterkurie für Sonntag, den 16. September, festgesetzt. Auch die Polizei traf ihre Vorbereitungen dazu: am 14. wurden Inès und Safarow verhaftet. Noch aber wusste die Polizei nicht, dass am 12. der aus der Verbannung entflohene Stalin eingetroffen war. Die Wahlen für die Arbeiterkurie verliefen sehr erfolgreich: Nicht ein einziger rechter Kandidat wurde gewählt, überall wurden Resolutionen politischen Charakters angenommen. Im Oktober konzentrierte sich die ganze Aufmerksamkeit auf die Wahlen. Die Arbeitermassen verhielten sich stellenweise den alten Traditionen gemäß sowie aus Rückständigkeit den Wahlen gegenüber gleichgültig und maßen ihnen keine Bedeutung bei. Deshalb war eine breite Agitation notwendig. Immerhin wurden als Arbeiterdelegierte überall Sozialdemokraten gewählt. Die Wahlen brachten in allen Arbeiterkurien der größten Industriezentren den Bolschewiki den Sieg. Es wurden der Partei zugehörige Arbeiter gewählt, die große Autorität besaßen. Sechs bolschewistische und sieben menschewistische Deputierte kamen in die Duma, jedoch die bolschewistischen Arbeiterdeputierten vertraten eine Million Arbeiter, die menschewistischen weniger als eine Viertelmillion. Außerdem machte sich vom ersten Augenblick an eine straffe Organisiertheit und feste Geschlossenheit der bolschewistischen Deputierten fühlbar. Die Eröffnung der Duma am 15. November war von Arbeiterdemonstrationen und Streiks begleitet. Die bolschewistischen Deputierten mussten in der Duma mit den menschewistischen zusammenarbeiten. Dabei hatten sich in der letzten Zeit die innerparteilichen Beziehungen zugespitzt. Im Januar fand die Prager Konferenz statt, die für die Sammlung der bolschewistischen Kräfte von großer Bedeutung war. Ende August 1912 wurde auf die Initiative Trotzkis hin und unter seiner aktiven Mitwirkung in Wien eine sogenannte Parteikonferenz abgehalten. Sie wurde einberufen unter der Parole: Vereinigung aller sozialdemokratischen Kräfte, und es wurde vollkommen außer acht gelassen, wie weit sich die Wege der Liquidatoren und Bolschewiki schon voneinander entfernt hatten, wie sehr das Verhalten der Liquidatoren zur Parteilinie in Widerspruch stand. Auch die „Wperjod"-Leute hatte man zur Konferenz eingeladen. Die Konferenz trug, wie vorauszusehen war, einen erzliquidatorischen Charakter. Die Bolschewiki, die sich um das Zentralkomitee gruppierten, nahmen an ihr nicht teil, und sogar die menschewistischen Plechanow-Anhänger und die versöhnlerischen Bolschewiki, deren Organ das im Ausland erscheinende Plechanowsche Organ „Sa Partiju" (Für die Partei) war, weigerten sich, an der Konferenz teilzunehmen. Auch die Polen blieben fern, und der von der Gruppe des „Wperjod" zur Konferenz erschienene Alexinski konstatierte die geringe Teilnehmerzahl der Konferenz. Die überwiegende Mehrheit der Konferenzteilnehmer setzte sich aus Personen zusammen, die im Ausland lebten; vom Kaukasischen Gebietsbüro waren zwei Delegierte eingetroffen, überhaupt waren sämtliche Delegierte Vertreter sehr kleiner Gruppen. Die Resolutionen der Konferenz waren rein liquidatorische. Von der Wahlplattform ausgeschlossen wurde die Losung: demokratische Republik. Die Losung: Konfiszierung der Gutsbesitzerländereien wurde ersetzt durch die Losung: Revision der Agrargesetzgebung der III. Reichsduma. Boris Goldman (Gorew), einer der Hauptreferenten, erklärte, dass die alte Partei nicht mehr existiere, dass die Konferenz zu einer „konstituierenden" werden müsse. Sogar Alexinski protestierte. Die Augustvereinigung, der Augustblock, wie er genannt wurde, stellte sich dem Zentralkomitee entgegen und versuchte, die Beschlüsse der Prager Konferenz zu diskreditieren. Unter der Maske der Einigung der sozialdemokratischen Kräfte war ein Block gegen die Bolschewiki zustande gekommen. In Russland aber war die Arbeiterbewegung im Aufstieg begriffen. Das hatten die Wahlen gezeigt. Sofort nach den Wahlen kam Genosse Muranow zu uns; er kam illegal, hatte heimlich die Grenze überschritten. Lenin war einfach starr. „Das wäre aber ein Skandal geworden", sagte er zu Muranow, „wenn man Sie erwischt hätte! Sie sind doch Abgeordneter, Ihre Person ist immun, es hätte Ihnen ja nichts passieren können, auch wenn Sie legal gereist wären. So aber hätte es zu einem schönen Skandal kommen können." Muranow berichtete viel Interessantes über die Wahlen in Charkow, über seine Parteiarbeit, erzählte, wie seine Frau Flugblätter verbreitete, wenn sie auf den Markt einkaufen ging usw. Muranow war ein eingefleischter Konspirator, und der Begriff „Abgeordnetenimmunität" wollte ihm nicht recht einleuchten. Nachdem sich Lenin mit ihm über die bevorstehende Dumaarbeit ausgesprochen hatte, drängte er ihn zur Rückreise. Von da an kamen die Abgeordneten ganz legal hierher. Die erste Konferenz mit ihnen fand um die Jahreswende statt. Als erster kam Malinowski, und zwar in sehr erregter Verfassung. Im ersten Augenblick gefiel er mir absolut nicht, sein Blick und seine künstliche Aufgeräumtheit machten auf mich einen unangenehmen Eindruck; aber alle diese Eindrücke schwanden bei dem ersten sachlichen Gespräch. Sodann kamen Petrowski und Badajew. Die Deputierten berichteten über den ersten Monat ihrer Tätigkeit, über ihre Arbeit unter den Massen. Ich erinnere mich, wie Badajew, in der Tür stehend und mit der Mütze herumfuchtelnd, ausrief: „Die Massen, sie sind ja doch gewachsen in diesen Jahren!" Malinowski machte den Eindruck eines sehr begabten, einflussreichen Arbeiters. Badajew und Petrowski waren ziemlich verlegen, aber man erkannte sofort, dass beide ehrliche, ergebene Arbeiter, wirkliche Proletarier waren, auf die man sich verlassen konnte. Auf dieser Konferenz wurde der Arbeitsplan entworfen. Der Charakter der Reden, der Charakter der Arbeit unter den Massen, die Notwendigkeit, die Arbeit in der Duma aufs Engste mit der Parteiarbeit, mit ihrer illegalen Tätigkeit zu verbinden, wurde erörtert. Badajew wurde die Sorge für die „Prawda" übertragen. Mit den Deputierten zusammen kam damals auch Genosse Medwedjew. Er erzählte über seine Arbeit: die Herstellung von Flugblättern usw. Lenin war sehr zufrieden. „Malinowski, Petrowski und Badajew", schrieb er Anfang Januar 1913 an Gorki, „lassen Sie herzlichst grüßen und senden Ihnen die besten Glückwünsche." Und dann fügte er hinzu: „Die Krakauer Basis hat sich als nützlich erwiesen: Unsere Übersiedlung nach Krakau hat sich (vom Standpunkt der Sache) vollauf ,bezahlt gemacht'."7 Im Herbst sah es im Zusammenhang mit der Einmischung der „Großmächte" in die Balkanangelegenheiten sehr nach Krieg aus. Das Internationale Büro organisierte überall Protestversammlungen. Auch in Krakau fanden solche Versammlungen statt; diese waren sehr eigenartig, es waren eher Versammlungen, die den Hass der Massen gegen Russland schürten, als Protestversammlungen gegen den Krieg. Das Internationale Sozialistische Büro berief für den 11. und 12. November einen außerordentlichen Kongress der Sozialistischen Internationale nach Basel ein. Der Vertreter des Zentralkomitees der SDAPR auf dem Baseler Kongress war Kamenew. Lenin war empört über einen in der „Neuen Zeit" veröffentlichten Artikel Kautskys, der durch und durch opportunistisch war und in dem gesagt wurde, es würde ein Fehler sein, wenn die Arbeiter einen bewaffneten Aufstand oder Streik gegen den Krieg organisieren würden. Über die organisierende Rolle der Streiks in der Revolution von 1905 hatte Lenin schon damals sehr viel geschrieben. Nach dem Artikel Kautskys behandelte er diese Fragen nun in einer Reihe von Aufsätzen noch gründlicher. Lenin maß dem Streik, wie auch jeder anderen unmittelbaren Aktion der Arbeitermassen, größte Bedeutung bei. Auf dem Stuttgarter Kongress im Jahre 1907, fünf Jahre vor dem Baseler Kongress, war bereits über die Kriegsfrage verhandelt und waren Beschlüsse im Geist des revolutionären Marxismus gefasst worden. In diesen fünf Jahren hatte der Opportunismus ganz enorme Fortschritte gemacht. Der Artikel Kautskys war ein deutlicher Beweis dafür. Immerhin wurde auf dem Baseler Kongress noch einstimmig ein Manifest gegen den Krieg angenommen, und es wurde eine gegen den Krieg gerichtete Massenprotestdemonstration organisiert. Und erst das Jahr 1914 zeigte, wie die II. Internationale durch und durch vom Opportunismus vergiftet war. In der Krakauer Periode, in den Jahren, die dem Ausbruch des imperialistischen Weltkrieges unmittelbar vorangingen, befasste sich Lenin ganz besonders mit der nationalen Frage. Von frühester Jugend an verabscheute er jede nationale Unterdrückung. Marx' Worte, dass es kein größeres Pech für ein Volk gebe, als ein anderes unterjocht zu haben, waren ihm verwandt und verständlich. Der Weltkrieg nahte heran, die nationalistischen Stimmungen der Bourgeoisie vertieften sich; sie schürte den nationalen Hass auf jede Weise. Der herannahende Krieg brachte die Unterdrückung der schwachen Nationen, die Unterjochung ihrer Selbständigkeit mit sich. Aber für Lenin unterlag es keinem Zweifel, dass der Krieg sich unbedingt in einen Aufstand verwandeln und dass die unterdrückten Nationen ihre Selbständigkeit erkämpfen würden, wie es ihr Recht ist. Schon der Londoner Kongress von 1896 hatte dieses Recht bestätigt. In einer solchen Situation wie Ende 1912 und Anfang 1913 angesichts des herannahenden Krieges rief die Unterschätzung der Frage des Selbstbestimmungsrechts der Nationen bei Lenin schärfste Missbilligung hervor. Der Augustblock stand nicht nur nicht auf der Höhe, die die Lage erforderlich machte, er ignorierte nicht nur die Wichtigkeit dieser Fragen, sondern er konstatierte, dass die national-kulturelle AutonomieE, über die schon 1903 während des II. Parteitags gestritten und die damals als Programmpunkt nicht angenommen worden war, mit dem Punkt des Programms über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen vereinbar sei. Das bedeutete die Aufgabe von Positionen in der nationalen Frage, bedeutete Beschränkung des ganzen Kampfes lediglich auf den Kampf für kulturelle Befreiung, als ob die Kultur nicht mit tausend Fäden unlöslich mit der gesamten politischen Struktur verbunden wäre. Lenin sah darin einen Opportunismus, wie er schlimmer nicht sein konnte. Am schärfsten aber wurde über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen mit den Polen diskutiert. Sie behaupteten – darunter auch Rosa Luxemburg und die „Rozłamowcy" –, dass das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung nicht das Recht auf Lostrennung bedeute. Lenin verstand sehr wohl, wo die Wurzeln dieser Vorsicht der Polen in der Frage des Selbstbestimmungsrechtes lagen. Die polnischen Massen waren erfüllt von Hass gegen den Zarismus – das konnte man in Krakau Tag für Tag beobachten: Der eine erinnerte sich an das, was sein Vater durchgemacht hatte, der während des polnischen Aufstands mit Mühe und Not dem Galgen entronnen war, der andere hatte nicht vergessen, wie die zaristischen Behörden die Gräber seiner Angehörigen geschändet, Schweine auf den Kirchhof getrieben hatten usw. usw. Der russische Zarismus unterdrückte nicht allein, er kannte in seiner Verhöhnung der nationalen Minderheiten überhaupt keine Grenzen. Der Krieg rückte heran, und es wuchs nicht nur der Nationalismus der „Schwarzhunderter", nicht nur der Chauvinismus der Bourgeoisie der herrschenden Nationen – es wuchsen auch die Hoffnungen der unterdrückten Nationen auf Befreiung. Die PPS (Polnische Sozialistische Partei) träumte immer mehr von der Unabhängigkeit Polens. Der zunehmende Separatismus der PPS – einer durch und durch kleinbürgerlichen Partei – rief bei den polnischen Sozialdemokraten Besorgnis hervor. Und darum sprachen sich die polnischen Sozialdemokraten gegen die Lostrennung aus. Lenin traf mit den Mitgliedern der PPS zusammen, sprach verschiedentlich mit einem ihrer hervorragendsten Führer, Jodko, hörte die Reden Daszyńskis, und daher war es ihm klar, was die Befürchtungen der Polen hervorrief. „Man darf aber", sagte er, „die Frage des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen nicht allein vom polnischen Standpunkt aus behandeln!" Die Diskussion über die nationale Frage, die schon während des II. Parteitags entbrannt war, nahm 1913/14, am Vorabend des Krieges, besondere Schärfe an und wurde dann 1916, mitten im imperialistischen Krieg, fortgesetzt. Lenin spielte in dieser Diskussion die führende Rolle, er formulierte die Fragen klar und deutlich, und diese Diskussion ging nicht spurlos vorüber. Sie war es, die unserer Partei die Möglichkeit gab, später die nationale Frage im Sowjetstaat richtig zu lösen, durch die Gründung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, in der die Nationalitäten gleichberechtigt sind, in der es keinerlei Beschränkung ihrer Rechte gibt. Wir sehen in der Sowjetunion das schnelle kulturelle Wachstum der verschiedenen Nationalitäten, die früher unter einem unerträglichen Joch lebten, wir sehen, wie in der Sowjetunion das Bündnis aller Nationalitäten, die sich zum gemeinschaftlichen Aufbau des Sozialismus vereinigt haben, immer enger wird. Es wäre jedoch ein Fehler, anzunehmen, dass die nationale Frage während der Krakauer Periode bei Lenin andere Fragen, wie zum Beispiel die Bauernfrage, der er stets größte Bedeutung beimaß, in den Hintergrund gedrängt hätte. In der Krakauer Periode schrieb Lenin über vierzig Artikel zur Bauernfrage. Für den Deputierten Schagow schrieb er ein umfangreiches Referat „Zur Frage der (allgemeinen) Agrarpolitik der jetzigen Regierung", ebenso verfasste er für Petrowski das Referat „Zur Budgetfrage des Landwirtschaftsministeriums". Auf Grund des Studiums amerikanischen Materials begann Lenin eine große Arbeit „Neue Daten über die Entwicklungsgesetze des Kapitalismus in der Landwirtschaft". Amerika ist wegen der Genauigkeit und Reichhaltigkeit seiner Statistiken berühmt. Der Zweck dieser Arbeit war, die Ansichten Himmers zu widerlegen. (Himmer ist der durch seine Schädlingsarbeit jetzt zu so trauriger Berühmtheit gelangte Suchanow.) „Himmer", schreibt Lenin, „ist nicht der erstbeste, nicht der zufällige Verfasser eines zufälligen Zeitschriftenartikels, sondern einer der bekanntesten unter den Ökonomen, die die am meisten demokratische und am weitesten linke bürgerliche Richtung des gesellschaftlichen Denkens in Russland und Europa vertreten. Gerade deshalb können die Ansichten des Herrn Himmer – und unter den nichtproletarischen Bevölkerungsschichten haben sie es zum Teil schon getan – besonders weite Verbreitung und Einfluss gewinnen. Denn es handelt sich hier nicht um seine persönlichen Auffassungen, nicht um seine individuellen Fehler, sondern um einen lediglich besonders demokratisch zurechtgestutzten, besonders mit scheinsozialistischen Phrasen verbrämten Ausdruck allgemein-bürgerlicher Anschauungen, zu denen unter den Verhältnissen der kapitalistischen Gesellschaft sowohl der amtlich bestallte Professor, der ausgetretene Wege geht, als auch der kleine Landwirt, der aus Millionen seinesgleichen durch seine Einsicht herausragt, am allerleichtesten gelangen. Die Theorie der nichtkapitalistischen Entwicklung der Landwirtschaft in der kapitalistischen Gesellschaft, wie sie von Herrn Himmer verfochten wird, ist im Grunde genommen die Theorie der gewaltigen Mehrheit der bürgerlichen Professoren, der bürgerlichen Demokraten und der Opportunisten in der Arbeiterbewegung der ganzen Welt."8 Die in Krakau begonnene Broschüre über die amerikanische Landwirtschaft wurde 1915 fertig, aber erst 1917 gedruckt. 1923, acht Jahre später, blätterte der schon kranke Lenin in den Aufzeichnungen Suchanows über die Revolution und diktierte im Zusammenhang mit ihnen einen Artikel („Über unsere Revolution" nannte ihn die „Prawda"). In diesem Artikel sagt er: „Gegenwärtig kann schon kein Zweifel mehr darüber bestehen, dass wir im Wesentlichen den Sieg davongetragen haben."9 Suchanow verstand das nicht. Lenin diktierte: „Ich blätterte in diesen Tagen in Suchanows Aufzeichnungen über die Revolution. Besonders auffallend ist die Pedanterie all unserer kleinbürgerlichen Demokraten wie auch aller Helden der II. Internationale. Ganz abgesehen davon, dass sie außerordentlich feige sind …, springt ihre sklavische Nachäffung der Vergangenheit ins Auge. Sie alle nennen sich Marxisten, fassen aber den Marxismus unerhört pedantisch auf. Das, was für den Marxismus entscheidend ist, haben sie absolut nicht begriffen: nämlich seine revolutionäre Dialektik … In ihrem ganzen Verhalten zeigen sie sich als feige Reformisten, die sich fürchten, von der Bourgeoisie abzurücken oder gar mit ihr zu brechen …"10 Und weiter spricht Lenin davon, dass der imperialistische Weltkrieg Verhältnisse geschaffen habe, „da wir gerade jene Verbindung des ,Bauernkrieges' mit der Arbeiterbewegung verwirklichen konnten, von der, als einer der möglichen Perspektiven, ein solcher ,Marxist' wie Marx im Jahre 1856 in Bezug auf Preußen geschrieben hat"11. Weitere acht Jahre sind vergangen. Lenin weilt nicht mehr unter den Lebenden. Suchanow aber versteht ebenso wenig wie früher, welche Voraussetzungen der Oktober für den Aufbau des Sozialismus geschaffen hat, sucht aktiv zu verhindern, dass die Überreste des Kapitalismus mit der Wurzel herausgerissen werden, sieht nicht, wie sich das Gesicht unseres Landes verändert hat. Kollektivwirtschaften und Sowjetwirtschaften festigen sich immer mehr. Brachland wird mit Hilfe von Traktoren bearbeitet, die alten, ungepflügten Grenzstreifen gehören der Vergangenheit an, die Arbeit wird auf neue Weise organisiert, die ganze Landwirtschaft ist eine andere geworden. In den zahlreichen Artikeln, die Lenin in Krakau geschrieben hat, berührt er eine ganze Reihe von wichtigen Fragen, die die Lage der bäuerlichen und Grundbesitzerwirtschaft deutlich beleuchten, das Agrarprogramm der verschiedenen Parteien kennzeichnen, das Wesen der Regierungsmaßnahmen bloßlegen; die Artikel lenken die Aufmerksamkeit auf eine ganze Reihe höchst wichtiger Probleme; auf das Umsiedlungswesen, die Lohnarbeit in der Landwirtschaft, die Kinderarbeit, die Bodenspekulation, die Mobilisierung des Bauernlandes usw. Lenin kannte das Dorf und die Nöte der Bauernschaft sehr genau, und das fühlten und wussten sowohl die Arbeiter als auch die Bauern. Den Aufschwung der revolutionären Arbeiterbewegung Ende 1912 und die Rolle, die die „Prawda" bei diesem Aufschwung spielte, erkannten alle, auch die „Wperjod"-Leute. Im November 1912 wandte sich Alexinski im Namen der Pariser Gruppe des „Wperjod" an die Redaktion der „Prawda" und machte das Anerbieten, an der „Prawda" mitzuarbeiten. Alexinski schrieb eine Reihe von Artikeln für die „Prawda", und in dem dritten Sammelband der „Wperjod"-Gruppe „Über Tagesfragen" schrieb er sogar über die Notwendigkeit, den Kampf innerhalb der bolschewistischen Partei einzustellen und einen Block aller Bolschewiki zum Kampf gegen die Liquidatoren zu bilden. Die Redaktion der „Prawda" nahm in die Liste ihrer Mitarbeiter nicht nur die Mitglieder der Pariser Gruppe auf, zu der Alexinski gehörte, sondern auch Bogdanow. Das erfuhr Lenin erst aus den Zeitungen. Ein besonderer Zug Lenins war, dass er es verstand, die prinzipiellen Meinungsverschiedenheiten von Intrigen, von persönlichen Zänkereien zu trennen und die Sache selbst über alles zu stellen. Wenn ihn Plechanow noch so sehr beschimpft hatte und es im Interesse der Sache wichtig war, sich mit ihm zu einigen, so tat es Lenin. Mochte auch Alexinski damals in die Sitzung unserer Gruppe hereingestürmt sein und sich in unerhörter Weise aufgeführt haben – wenn er jetzt zu der Ansicht gekommen war, dass man mit voller Hingabe an der „Prawda" mitarbeiten, die Liquidatoren bekämpfen, für die Partei einstehen müsse, so war Lenin darüber aufrichtig froh. Man könnte viele solcher Beispiele anführen. Wenn ein Gegner über Lenin herfiel, so brauste er auf, wehrte sich rücksichtslos, verteidigte seinen Standpunkt. Wenn man aber dann vor neuen Aufgaben stand und es sich herausstellte, dass es möglich war, mit dem Gegner zusammenzuarbeiten, dann verstand es Lenin, dem Gegner von gestern wie einem Genossen gegenüberzutreten. Und dazu brauchte er sich absolut keinen Zwang anzutun. Darin lag Lenins große Stärke. Bei aller seiner prinzipiellen Vorsicht war er ein großer Optimist den Menschen gegenüber. Er irrte sich mitunter, aber im Großen und Ganzen war dieser Optimismus für die Sache sehr nützlich. Ohne eine prinzipielle Übereinstimmung jedoch kam auch keine persönliche Versöhnung zustande. In einem Brief an Gorki schrieb Lenin: „Ich bin von ganzem Herzen bereit, Ihre Freude über die Rückkehr der ,Wperjod'-Leute zu teilen, wenn… ja wenn Ihre Annahme richtig ist; dass, wie Sie schreiben, ,der Machismus, die Gottbildnerei und all diese Geschichten sich für immer festgefahren haben'. Wenn das stimmt, wenn die ,Wperjod'-Leute das begriffen haben oder jetzt begreifen, schließe ich mich Ihrer Freude über ihre Rückkehr von Herzen an. Aber ich unterstreiche ,wenn', denn dies liegt vorläufig noch mehr im Bereich der Wünsche als der Tatsachen … Ich weiß nicht, ob Bogdanow, Basarow, Wolski (ein halber Anarchist), Lunatscharski und Alexinski fähig sind, aus den schweren Erfahrungen von 1908 bis 1911 die Lehren zu ziehen. Haben sie begriffen, dass der Marxismus eine ernstere und tiefgründigere Sache ist, als ihnen das schien, dass es nicht angeht, seinen Spott mit ihm zu treiben, wie das Alexinski tat, oder ihn wie ein totes Ding zu behandeln, wie das die übrigen taten? Wenn sie es begriffen haben, so seien sie tausendmal gegrüßt, und alles Persönliche (was der scharfe Kampf unvermeidlich mit sich gebracht hat) wird im Augenblick verschwunden sein. Wenn sie es aber nicht begriffen, wenn sie nichts gelernt haben, dann sollen sie nicht um Nachsicht flehen: da hilft keine Freundschaft, der Strauß wird ausgefochten. Gegen Versuche, den Marxismus zu schmähen oder in die Politik der Arbeiterpartei Verwirrung zu tragen, werden wir kämpfen auf Tod und Leben. Es freut mich sehr, dass der Weg zur allmählichen Rückkehr der ,Wperjod'-Leute gerade über die ,Prawda' gefunden worden ist, die nicht unmittelbar den Kampf gegen sie geführt hat. Das freut mich sehr. Aber gerade im Interesse einer dauerhaften Annäherung muss man jetzt langsam, vorsichtig an sie herangehen. So habe ich auch an die ,Prawda' geschrieben. Hierauf müssen auch die Freunde einer Wiedervereinigung der ,Wperjod'-Leute mit uns ihre Anstrengungen richten: eine vorsichtige, durch die Erfahrung zu prüfende Rückkehr der ,Wperjod'-Leute vom Machismus, Otsowismus, von der Gottbildnerei kann verteufelt viel geben. Die kleinste Unvorsichtigkeit und ,ein Rückfall in die machistische, otsowistische etc. Krankheit' – und der Kampf flammt noch wütender auf… Bogdanows neue ,Philosophie der lebendigen Erfahrung' habe ich nicht gelesen: wahrscheinlich ist es derselbe Machismus in neuem Gewande …"12 Wenn man jetzt diese Zeilen liest, steigt dieser ganze Kampf mit der „Wperjod"-Gruppe in dieser Periode des Zerfalls von 1908 bis 1911 in der Erinnerung auf. Jetzt, da diese Periode des tiefsten Zerfalls schon weit zurücklag und Lenin sich bereits gänzlich der Arbeit in Russland hingab, von dem immer stärker werdenden Aufschwung ergriffen war, sprach er bedeutend ruhiger über die „Wperjod"-Gruppe, aber er glaubte kaum, oder besser gesagt, er glaubte gar nicht daran, dass Alexinski fähig wäre, vom Leben zu lernen, dass Bogdanow aufhören könnte, ein Machist zu sein. Und wie Lenin erwartet hatte, so geschah es auch. Mit Bogdanow kam es sehr bald zu einem scharfen Konflikt: Unter dem Deckmantel einer populären Erklärung des Wortes „Ideologie" versuchte er, seine Philosophie in die „Prawda" hinein zu tragen Das Ende der Sache war, dass Bogdanow aufhörte, zu den Mitarbeitern der „Prawda" zu zählen. Bereits in der Krakauer Periode waren die Gedanken Lenins auf den sozialistischen Aufbau gerichtet. Natürlich kann man das nur sehr bedingt sagen, denn in jener Zeit war sogar der Weg der sozialistischen Revolution in Russland durchaus noch nicht klar: trotzdem aber wäre es ohne diese Krakauer Zeit der Halbemigration, in der die Leitung des politischen Kampfes der Dumafraktion mit allen konkreten Fragen des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens zusammenstieß, schwer gewesen, in der ersten Zeit nach dem Oktober sofort alle notwendigen Faktoren des Sowjetaufbaus zu erfassen. Die Krakauer Periode war sozusagen die „Vorschulklasse" des sozialistischen Aufbaus. Natürlich hatte man hier fürs erste nur eine ganz rohe Formulierung aller dieser Fragen, aber diese Formulierung war eine so lebensfähige, dass sie ihre Bedeutung bis heute noch nicht verloren hat. Große Aufmerksamkeit schenkte Lenin in jener Zeit den Kulturfragen. Ende Dezember wurden in Petersburg unter den Schülern des Witmer-Gymnasiums Verhaftungen und Haussuchungen vorgenommen. Das Witmer-Gymnasium unterschied sich von den anderen Gymnasien sehr wesentlich. Die Leiterin des Gymnasiums und ihr Mann hatten in den neunziger Jahren an den ersten marxistischen Zirkeln aktiven Anteil genommen, und in den Jahren 1905 bis 1907 waren sie den Bolschewiki auf viele Art behilflich gewesen. Im Witmer-Gymnasium war es den Schülern nicht verboten, sich mit Politik zu beschäftigen, Zirkel zu gründen usw. Auf dieses Gymnasium hatte die Polizei nun ihren Angriff gerichtet. In der Duma wurde eine Anfrage über die Schülerverhaftungen gestellt. Der Minister Kasso gab Erklärungen ab, die aber mit Stimmenmehrheit als ungenügend bezeichnet wurden. In dem Artikel „Wachsende Missverhältnisse", den er für Nr. 3 und 4 der Zeitschrift „Prosweschtschenije", Jahrgang 1913, schrieb, konstatiert Lenin im 10. Kapitel, dass die Reichsduma dem Minister für Volksaufklärung, Kasso, im Zusammenhang mit den Schülerverhaftungen im Witmer-Gymnasium ein Misstrauensvotum erteilt habe, und schreibt, dass das Volk nicht nur dies wissen müsse. „Das Volk und die Demokratie müssen die Motive dieses Misstrauens kennen, um die Ursachen jener Erscheinung in der Politik zu verstehen, die als nicht normal erkannt wurden, und um den Ausweg zum Normalen zu finden."13 Und Lenin erörtert weiterhin die Tagesordnungsanträge der verschiedenen Parteien. Bei der Analyse des Tagesordnungsantrags der Sozialdemokraten schreibt er: „Man kann auch diesen Antrag kaum als einwandfrei bezeichnen. Man kann nicht umhin, ihm eine populärere und ausführlichere Darstellung zu wünschen, man kann nicht umhin zu bedauern, dass die Berechtigung der Beschäftigung mit Politik nicht erwähnt ist usw. usw. Aber unsere Kritik aller Tagesordnungsanträge ist durchaus nicht gegen redaktionelle Einzelheiten, sondern ausschließlich gegen die politischen Grundideen der Verfasser gerichtet. Der Demokrat musste die Hauptsache sagen: Zirkel und Diskussionen sind natürlich und erfreulich. Das ist das Wesentliche. Jede Verurteilung der Beschäftigung mit Politik, wenn auch der ,frühen', ist Heuchelei und Obskurantismus. Der Demokrat musste die Frage vom ,vereinigten Ministerium' bis zur Staatsordnung anschneiden. Der Demokrat musste die ,unlösbare Verbindung' erstens mit der ,Herrschaft der Ochrana', zweitens mit der Herrschaft der Klasse der Großgrundbesitzer feudalistischen Typs im ökonomischen Leben konstatieren."14 So lehrte Lenin die konkreten Kulturfragen mit den großen politischen Fragen zu verbinden. Wenn Lenin über Kultur sprach, hob er stets den Zusammenhang der Kultur mit der allgemeinen politischen und ökonomischen Struktur hervor. Er wandte sich darauf gegen die Losung der kulturell-nationalen „Autonomie" und schrieb: „Solange verschiedene Nationen in einem Staat zusammenleben, sind sie durch Millionen und Milliarden von Fäden ökonomischen und rechtlichen Charakters und der Lebensweise miteinander verbunden. Wie kann man das Schulwesen aus diesem Zusammenhang herausreißen? Kann man es der ,Leitung des Staates' entziehen, wie die in ihrer plastischen Hervorhebung der Sinnlosigkeit geradezu klassische Formulierung des ,Bund' lautet? Wenn die Ökonomik die in einem Staat beisammen lebenden Nationen zusammen schmiedet, ist der Versuch, sie auf dem Gebiet der ,kulturellen' und insbesondere der Schulfragen ein für allemal zu trennen, unsinnig und reaktionär. Es muss im Gegenteil eine Vereinigung der Nationen im Schulwesen angestrebt werden, um in der Schule das vorbereiten zu können, was im Leben verwirklicht wird. Gegenwärtig sehen wir nicht-gleichberechtigte Nationen mit ungleichem Entwicklungsniveau; unter solchen Verhältnissen bedeutet die Trennung des Schulwesens nach Nationalitäten in Wirklichkeit unweigerlich eine Verschlechterung für die rückständigeren Nationen. In Amerika werden in den Südstaaten, den Gebieten der ehemaligen Sklavenwirtschaft, heute noch die Kinder der Neger in besondere Schulen geschickt, während im Norden Weiße und Neger zusammen unterrichtet werden."15 Im Februar 1913 schrieb Lenin einen speziellen Artikel „Russen und Neger", in dem er zu beweisen sucht, dass die Kulturlosigkeit, die kulturelle Rückständigkeit einer Nation die Kultur der anderen Nation ansteckt, dass die kulturelle Rückständigkeit der einen Klasse der Kultur des ganzen Landes ihren Stempel aufdrückt. Äußerst interessant ist das, was Lenin zu jener Zeit über die proletarische Politik im Schulwesen gesagt hat. Er protestiert gegen die national-kulturelle Autonomie, dagegen, dass man das Schulwesen „der Leitung des Staates" entzieht, und schreibt: „Die Interessen der Demokratie überhaupt und die Interessen der Arbeiterklasse insbesondere verlangen gerade das Gegenteil: man muss die Vereinigung der Kinder aller Nationalitäten in einheitlichen Schulen des betreffenden Gebiets anstreben; die Arbeiter aller Nationalitäten müssen gemeinsam im Schulwesen diejenige proletarische Politik treiben, die der Deputierte der Wladimirer Arbeiter, Samoilow, im Namen der Sozialdemokratischen Arbeiterfraktion Russlands in der Reichsduma so gut zum Ausdruck gebracht hat."16 Samoilow forderte die Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche, forderte die vollkommen weltliche Schule. Lenin sprach auch darüber, dass das Studium der nationalen Kultur durch die nationalen Minderheiten bei wahrer Demokratie, bei restloser Beseitigung des Bürokratismus und des „Peredonowtums"F im Schulwesen mit Leichtigkeit organisiert werden könnte. Im Sommer 1913 schrieb Lenin für den Genossen Badajew einen Entwurf für seine Dumarede „Zur Frage der Politik des Ministeriums für Volksbildung". Badajew hielt die Rede auch, aber der Vorsitzende ließ ihn nicht zu Ende sprechen und entzog ihm das Wort. In diesem Entwurf führt Lenin eine Reihe von Zahlen an, die die ungeheure kulturelle Rückständigkeit des Landes und die Geringfügigkeit der Mittel kennzeichnen, die für die Volksbildung ausgegeben werden. Er beweist, dass die zaristische Politik neun Zehnteln der Bevölkerung den Weg zur Bildung versperrt. Er spricht in diesem Entwurf über die „leichtfertige, schamlose, abscheuliche Willkür der Regierung den Lehrern gegenüber". Und wieder zieht er Amerika zum Vergleich heran. In Amerika gab es 11 Prozent Analphabeten, unter den Negern jedoch 44 Prozent Analphabeten, „und doch sind die amerikanischen Neger in Bezug auf Volksbildung doppelt so gut daran wie die russischen Bauern"17. 1900 gab es unter den Negern deshalb weniger Analphabeten als unter den russischen Bauern, weil das amerikanische Volk ein halbes Jahrhundert zuvor mit dem Sklavenbesitz vollständig aufgeräumt hatte. In der für den Genossen Schagow geschriebenen Rede sprach Lenin davon, dass nur die Übergabe der Gutsbesitzerländereien an die Bauern Russland helfen kann, sein Analphabetentum zu verringern. In einem in derselben Zeit geschriebenen Artikel „Was kann man für die Volksbildung tun?" schildert Lenin eingehend das Bibliothekswesen in Amerika und schreibt über die Notwendigkeit, Volksbibliotheken auch bei uns in derselben Weise zu organisieren. Im Juni schrieb er seinen Artikel „Die Arbeiterklasse und der Neomalthusianismus", in dem er sagt: „Wir kämpfen besser als unsere Väter. Unsere Kinder werden noch besser kämpfen, und sie werden siegen. Die Arbeiterklasse geht nicht zugrunde, sondern wächst, erstarkt, wird mannbar, schließt sich zusammen, wird im Kampf aufgeklärt und gestählt. Wir sind Pessimisten in Bezug auf den Feudalismus, den Kapitalismus und die Kleinproduktion, aber wir sind glühende Optimisten in Bezug auf die Arbeiterbewegung und ihre Ziele. Wir legen schon das Fundament eines neuen Gebäudes, und unsere Kinder werden es zu Ende bauen."18 Lenin schenkte nicht nur den Fragen des kulturellen Aufbaus seine Aufmerksamkeit, sondern auch einer ganzen Reihe anderer Probleme, die für den Aufbau des Sozialismus von praktischer Bedeutung sind. Charakteristisch gerade für die Krakauer Periode sind solche Artikel wie „Ein großer Sieg der Technik", in dem Lenin die Rolle der großen Erfindungen unter dem Kapitalismus und unter dem Sozialismus vergleicht. Unter dem Kapitalismus führen die Erfindungen zur Bereicherung einer Handvoll Millionäre, für die Arbeiter dagegen zur Verschlechterung ihrer allgemeinen Lage, zum Anwachsen der Arbeitslosigkeit. „Im Sozialismus wird die Anwendung des Verfahrens von Ramsay, indem es Millionen Bergarbeiter usw. von der Arbeit ,befreit', gestatten, den Arbeitstag für alle sofort von acht Stunden auf beispielsweise sieben Stunden oder sogar noch weniger zu verkürzen. Die ,Elektrifizierung' aller Fabriken und Eisenbahnen wird die Arbeitsbedingungen hygienischer gestalten, wird Millionen von Arbeitern von Rauch, Staub und Schmutz befreien, wird die Verwandlung der schmutzigen, abscheulichen Werkstätten in saubere, helle, menschenwürdige Laboratorien beschleunigen. Die elektrische Beleuchtung und elektrische Heizung in jedem Haus wird die Millionen ,Haussklavinnen' davon erlösen, sich drei Viertel ihres Lebens in einer dunstigen Küche abquälen zu müssen. Die Technik des Kapitalismus wächst mit jedem Tag mehr und mehr über die gesellschaftlichen Bedingungen hinaus, die die Werktätigen zur Lohnsklaverei verdammen."19 Vor 18 Jahren schon dachte Lenin an die „Elektrifizierung", an den siebenstündigen Arbeitstag, an die „Großküchen", an die Befreiung der Frau von der häuslichen Sklaverei. Der Artikel „Einer der modernen Industriezweige" beweist, dass Lenin schon vor 18 Jahren voraussah, welche große Bedeutung die Entwicklung des Automobilwesens unter dem Sozialismus haben wird. In seinem Artikel „Das Eisen in der Bauernwirtschaft" nannte Lenin das Eisen das „eiserne Fundament der Kultur des Landes". „Über Kultur, über die Entwicklung der Produktivkräfte, über Hebung der Bauernwirtschaft usw. zu schwatzen – darin sind wir große Meister, da sind wir große Liebhaber. Sowie aber die Rede davon ist, das Hindernis zu beseitigen, das die ,Hebung' der Millionen verelendeter, hungriger, nackter, unterdrückter, vertierter Bauern verhindert – sowie davon die Rede ist, klebt unseren Millionären die Zunge am Gaumen fest… Die Millionäre unserer Industrie ziehen es vor, ihre mittelalterlichen Privilegien mit Purischkewitsch zu teilen und über die Notwendigkeit der Befreiung des Vaterlandes von der mittelalterlichen Kulturwidrigkeit zu seufzen."20 Besonders interessant ist jedoch der Artikel Lenins „Die Ideen des fortschrittlichen Kapitals". In diesem Artikel erörtert er die Ideen des amerikanischen Millionärs Phelan, der die Massen davon überzeugen will, dass die Unternehmer ihre Führer werden müssten, weil sie das Gemeinsame ihrer eigenen Interessen und der Interessen der Massen angeblich immer besser verstehen lernen. Die Demokratie wächst, die Kraft der Massen wächst, die Teuerung wächst. Der Parlamentarismus und die in Millionen von Exemplaren verbreitete Tagespresse informieren die Massen immer eingehender. Die Massen betrügen, sie davon überzeugen wollen, dass es keinen Gegensatz gibt zwischen den Interessen der Arbeit und denen des Kapitals, und zu diesem Zweck einige Opfer bringen (Beteiligung der Angestellten und qualifizierten Arbeiter am Gewinn) – das sind die Ideen des fortschrittlichen Kapitals. Nach eingehender Analyse dieser Ideen ruft Lenin aus: „Sehr geehrter Herr Phelan! Sind Sie denn so völlig überzeugt, dass die Arbeiter der ganzen Welt hoffnungslose Einfaltspinsel sind?"21 Diese Artikel, die vor achtzehn Jahren geschrieben wurden, zeigen, welche Fragen Lenin damals vom Standpunkt des Aufbaus interessierten; und später, nach der Aufrichtung der Sowjetmacht, waren alle diese Fragen dann nichts Fremdes mehr, das, was bereits durchdacht war, brauchte nur verwirklicht zu werden. Im Herbst 1912 lernten wir Nikolai Iwanowitsch Bucharin kennen. Außer Bagocki, mit dem wir häufig zusammentrafen, besuchte uns in der ersten Zeit auch der Pole Kasimir Czapinski, der in der Krakauer Zeitung „Naprzód" (Vorwärts) arbeitete. Czapinski erzählte viel von dem berühmten Krakauer Kurort Zakopane, von seinen landschaftlichen Schönheiten und großartigen Bergen und sagte unter anderem, dass dort der Sozialdemokrat Orlow wohne, der schöne Zeichnungen von den Zakopaner Bergen mache. Bald nachdem wir aus Zwierzyniec in die Stadt gezogen waren, sahen wir eines Tages vom Fenster aus einen jungen Mann mit einem riesigen Leinensack auf dem Rücken herankommen. Und das war Orlow alias Bucharin. Er unterhielt sich eingehend mit Lenin. Bucharin lebte damals in Wien. Von diesem Augenblick an standen wir mit Wien in enger Verbindung. Dort wohnten auch die Trojanowskis. Als wir Bucharin nach seinen Zeichnungen fragten, holte er aus seinem Rucksack einige prächtige Reproduktionen von Werken deutscher Künstler hervor, die wir mit Interesse ansahen. Böcklin war darunter und eine Reihe anderer Künstler. Lenin liebte die Malerei. Ich erinnere mich, wie er einmal einen ganzen Stoß illustrierter Kunstschriften von Worowski lieh und dann abends lange dasaß und die Bildbeilagen anschaute. Nach Krakau kamen jetzt viele Menschen. Alle Genossen, die nach Russland fuhren, reisten über Krakau, um mit Lenin ihre Arbeit zu vereinbaren. Einmal wohnte etwa zwei Wochen lang Nikolai Nikolajewitsch Jakowlew, der Bruder von Warwara Nikolajewna, bei uns. Er fuhr nach Moskau, um die Herausgabe des bolschewistischen Blattes „Nasch Put"22 zu organisieren. Er war ein stahlharter und zuverlässiger Bolschewik. Lenin unterhielt sich sehr eingehend mit ihm. Er brachte die Zeitung dann auch in Moskau zustande, aber sie wurde bald verboten, und Jakowlew selbst wurde verhaftet. Das war weiter kein Wunder, denn bei dieser Arbeit „half" ihm Malinowski, der Moskauer Deputierte. Malinowski erzählte viel über seine Reisen im Moskauer Gouvernement und über die Arbeiterversammlungen, die er abhielt. Ich erinnere mich, wie er einmal berichtete, dass auf einer dieser Versammlungen ein „Gorodowoi"23 anwesend war, der sehr aufmerksam zuhörte und bemüht war, ihm gefällig zu sein. Als Malinowski das erzählte, lachte er. Er sprach viel über sich selbst und erzählte auch davon, warum er freiwillig an dem Russisch-Japanischen Krieg teilgenommen habe: während der Mobilmachung sei eine Demonstration vorübergezogen, er habe sich nicht beherrschen können und habe aus dem Fenster eine Ansprache gehalten; dafür sei er verhaftet worden, und später habe dann der Hauptmann mit ihm gesprochen und ihm gesagt, er würde ihn im Gefängnis verfaulen lassen, wenn er sich nicht als Kriegsfreiwilliger melden würde. So habe er, Malinowski, keinen anderen Ausweg gehabt. Er sprach auch davon, dass seine Frau sehr religiös sei, und als sie erfahren habe, er sei Atheist, habe sie einen Selbstmordversuch verübt, und auch gegenwärtig habe sie häufig Nervenanfälle. Die Erzählungen Malinowskis waren sehr sonderbar. Zweifellos war etwas Wahres daran, er erzählte sicherlich wirklich Erlebtes, offenbar jedoch erzählte er nicht alles bis zu Ende, ließ Wesentliches aus, stellte vieles falsch dar. Später dachte ich oft daran, dass es sich mit dieser Geschichte bei der Demonstration vielleicht in Wahrheit so verhielt, dass man ihm in diesem Zusammenhang, als er von der Front zurückgekehrt war, das Ultimatum stellte, entweder Provokateur zu werden oder ins Gefängnis zu wandern. Seine Frau schien wirklich irgend etwas Schweres durchzumachen; sie hatte tatsächlich einen Selbstmordversuch unternommen; aber vielleicht war der Grund dafür ein ganz anderer, vielleicht trieb sie gerade die Tatsache, dass sie ihren Mann bereits im Verdacht hatte, ein Provokateur zu sein, dazu. Jedenfalls waren in den Erzählungen Malinowskis Wahrheit und Lüge eng verflochten, und das gab ihnen den Anschein der Wahrheit. Anfangs dachte niemand auch nur im Traum daran, dass er ein Lockspitzel sein könne. Außer Malinowski versuchte die Regierung noch einen anderen Provokateur unmittelbar bei der „Prawda" anzubringen. Das war Tschernomasow. Er lebte in Paris, und auf dem Wege nach Russland suchte er uns in Krakau auf. Er fuhr nach Russland, um an der „Prawda" mitzuarbeiten. Uns gefiel Tschernomasow gar nicht, ich bot ihm nicht einmal an, bei uns zu übernachten, so dass er die Nacht hindurch in den Straßen Krakaus umherwandern musste. Lenin maß der „Prawda" große Bedeutung bei und sandte ihr fast täglich Beiträge. Er verfolgte eifrig, wo und welche Sammlungen für die „Prawda" veranstaltet wurden, zählte, wie viel und über welche Fragen sie Artikel brachte usw. Und er war höchst erfreut, wenn die „Prawda" gute Artikel veröffentlichte, wenn sie die richtige Linie verfolgte. Ende 1913 ließ sich Lenin ein Abonnentenverzeichnis der „Prawda" kommen, danach saß ich etwa zwei Wochen lang mit meiner Mutter Abend für Abend über den Listen; wir zerschnitten sie und ordneten die Leser nach Orten. Es waren zu neun Zehnteln Arbeiter. Wenn auf irgendeinen Ort viel Leser kamen, so stellte es sich dann jedes Mal heraus, dass dort irgendeine große Fabrik war, von deren Existenz ich nichts gewusst hatte. Diese Karte der Verbreitung der „Prawda" wurde sehr interessant… Aber sie erschien nicht – wahrscheinlich hat sie Tschernomasow in den Papierkorb geworfen. Lenin gefiel sie jedenfalls sehr gut. Aber es kamen noch unangenehmere Sachen vor. So verschwanden mitunter, wenn auch nur selten, Artikel von Lenin spurlos. Manchmal wurden Artikel von ihm zurückgehalten und erschienen nicht sogleich. Dann wurde er sehr nervös und schrieb wütende Briefe an die „Prawda" – aber das half wenig. Nicht nur die Genossen, die unterwegs nach Russland waren, kamen zu uns nach Krakau, es kamen auch direkt aus Russland Genossen, um sich mit Lenin über die laufenden Aufgaben zu beraten. So erinnere ich mich, dass Nikolai Wassiljewitsch Krylenko, bald nachdem Inès Armand ihn besucht hatte, zu uns kam. Er wollte feste Vereinbarungen über die Verbindungen treffen. Und Lenin freute sich sehr über diesen Besuch. Im Sommer 1913 kamen Gnewitsch und Danski zu uns, um mit Lenin über die Herausgabe der „Woprosy Strachowanija"24 im Verlag „Priboi" zu sprechen. Lenin maß der Versicherungskampagne große Bedeutung bei, weil er der Ansicht war, dass sie die Verbindung mit den Massen festigen würde. Mitte Februar 1913 fand in Krakau eine Konferenz der Mitglieder des Zentralkomitees statt; unsere Deputierten trafen ein, unter ihnen auch Stalin. Lenin kannte Stalin von der Tammerforser Konferenz, vom Stockholmer und Londoner Parteitag her. Diesmal sprach er mit Stalin viel über die nationale Frage und freute sich, dass er einen Genossen gefunden hatte, der sich ernsthaft für diese Frage interessierte und gut darin bewandert war. Bevor Stalin zu uns kam, hatte er zwei Monate in Wien zugebracht, hatte sich dort mit Studien über die nationale Frage befasst und die in Wien lebenden Genossen Bucharin, Trojanowski und andere kennengelernt. Nach der Konferenz schrieb Lenin an Gorki über Stalin: „Hier hat sich ein prächtiger Georgier an die Arbeit gemacht und schreibt für das ,Prosweschtschenije' einen großen Artikel, für den er sämtliche österreichische und andere Materialien zusammengetragen hat."25 Lenin war damals sehr unruhig wegen der „Prawda", ebenso Stalin, und sie berieten sich eingehend, wie diese Sache geregelt werden könnte. Soviel ich mich entsinne, nahm an dieser Beratung auch Trojanowski teil. Es wurde über die Zeitschrift „Prosweschtschenije" gesprochen. Wladimir Iljitsch setzte auf Trojanowskis große Hoffnungen. Jelena Fjodorowna Trojanowskaja (Rosmirowitsch) war im Begriff, nach Russland zu fahren. Es wurde auch darüber gesprochen, dass die „Prawda" eine Reihe von Broschüren herausgeben müsse. Wir hatten sehr große Pläne. Kurz zuvor hatte ich von zu Hause ein Paket mit allerhand guten Sachen bekommen – Lachs, Stör, Kaviar; da holte ich denn das Kochbuch meiner Mutter hervor und veranstaltete ein „Bliny-Essen"26. Und Iljitsch, der froh war, wenn er Genossen reichlich und schmackhaft bewirten konnte, war mit dieser ganzen Veranstaltung höchst zufrieden. Nach seiner Rückkehr nach Russland am 22. Februar wurde Stalin in Petersburg verhaftet. Wenn keine Leute eintrafen, verlief unser Leben in Krakau ziemlich eintönig. „Wir leben wie in Schuschenskoje", schrieb ich einmal an Iljitschs Mutter, „alle Gedanken sind bei der Post. Bis elf Uhr vormittags schlagen wir die Zeit irgendwie tot, um elf Uhr kommt der erste Briefträger, und danach scheint einem dann das Warten bis sechs Uhr abends eine Ewigkeit." Mit den Krakauer Bibliotheken konnte sich Lenin nur schwer befreunden. Er begann Schlittschuh zu laufen, aber bald kamen Tauwetter und der Frühling. Kurz vor Ostern gingen wir in den „Wolski las". Der Frühling ist in Krakau sehr schön, es war herrlich im Walde, die Sträucher standen in voller Blüte, die Zweige der Bäume trugen pralle Knospen. Der Frühling machte uns ganz trunken, erst nach langem Wandern kehrten wir in die Stadt zurück; wir mussten den ganzen Weg bis nach Hause zu Fuß zurücklegen, weil am Ostersonnabend keine Straßenbahnen verkehrten, und ich war schließlich völlig erschöpft. Im Winter zuvor war ich erkrankt, das Herz machte mir zu schaffen, die Hände zitterten, und ich litt an allgemeinen Schwächezuständen. Lenin bestand darauf, dass ich einen Arzt zu Rate zog; der Arzt konstatierte eine schwere Erkrankung mit Nerven- und Herzbeschwerden: Basedowsche Krankheit. Er riet, ich sollte in die Berge fahren, nach Zakopane. Als ich nach Hause kam und erzählte, was der Arzt gesagt hatte, meinte unsere Aufwärterin, eine Schuhmachersfrau, die uns die Öfen heizte, Einkäufe besorgte usw., ganz entrüstet: „Sie sollen nervös sein? Die gnädigen Frauen, die sind nervös, die schmeißen mit Tellern herum!" Nun, mit Tellern warf ich nicht herum, aber für die Arbeit war ich in diesem Zustand nur wenig tauglich. Für den Sommer zogen Sinowjews, wir und Bagockis mit ihrem berühmten Hund „Schulik" nach Poronin, sieben Kilometer von Zakopane. Zakopane war uns zu unruhig und zu teuer, Poronin war bedeutend einfacher und billiger. Wir mieteten ein großes Landhaus. Der Ort liegt 700 Meter hoch im Vorgebirge der Tatra. Die Luft dort ist wundervoll, aber fast immer war es neblig und rieselte ein feiner Regen; mitunter jedoch hatte man eine prächtige Aussicht auf die Berge. Wir erstiegen häufig ein Hochplateau, das bei unserem Hause anfing, und genossen die Aussicht auf die schneebedeckten Tatra-Gipfel. Wie herrlich waren sie! Lenin fuhr einige Male mit Bagocki nach Zakopane, und von dort aus machten sie zusammen mit Zakopaner Genossen (Wigelew) Ausflüge in die Berge. Lenin liebte das Bergsteigen. Der Aufenthalt im Gebirge half mir nur wenig, ich wurde immer mehr zum Invaliden, und nachdem sich Iljitsch mit Bagocki beraten hatte – er war Neurologe – bestand er darauf, dass wir nach Bern reisten, wo ich mich von Professor Kocher operieren lassen sollte. Mitte Juni fuhren wir ab und unterbrachen die Reise in Wien, wo wir Bucharin besuchten. Bucharins Frau Nadeschda Michailowna lag krank im Bett. Bucharin besorgte darum die Wirtschaft selbst, tat Zucker statt Salz in die Suppe, unterhielt sich angelegentlichst mit Lenin über alle Fragen, die diesen interessierten, und erzählte von den in Wien lebenden Genossen. Wir trafen uns mit einigen Wiener Genossen und durchstreiften die Stadt. Wien ist eine interessante Großstadt, die uns nach Krakau besonders gut gefiel. In Bern nahmen uns die Schklowskis unter ihre Obhut und sorgten in jeder Weise für uns. Sie wohnten allein in einem kleinen Haus mit einem Gärtchen. Lenin trieb seine Späße mit den kleinen Mädchen, neckte Schenjurka. Ich brachte etwa drei Wochen im Krankenhaus zu; Iljitsch saß den halben Tag bei mir, die übrige Zeit arbeitete er in den Bibliotheken. Er las viel, unter anderem auch eine ganze Reihe von medizinischen Büchern über die Basedowsche Krankheit, und machte sich Auszüge über die Fragen, die ihn besonders interessierten. Während ich im Krankenhaus lag, fuhr er nach Zürich, Genf und Lausanne, wo er Vorträge über die nationale Frage hielt; auch in Bern sprach er über dieses Thema. Nachdem ich das Krankenhaus verlassen hatte, fand in Bern eine Konferenz der Auslandsgruppen statt, auf der die Lage in der Partei beraten wurde. Nach der Operation sollte ich eigentlich auf Kochers Rat noch etwa zwei Wochen zur Nachkur in den Gebirgsort Beatenberg fahren. Aus Poronin trafen jedoch Nachrichten ein, dass äußerst dringende Angelegenheiten vorlägen. Sinowjew schickte ein Telegramm, und so machten wir uns denn schleunigst auf den Heimweg. Unterwegs besuchten wir München. Dort lebte Boris Knipowitsch, ein Neffe von Djadenka – Lidia Michailowna Knipowitsch –, den ich schon seit seiner Kindheit kannte und dem ich einst Märchen erzählt hatte. Der vierjährige blauäugige Boris liebte es, auf meinen Schoß zu klettern, seine Ärmchen um meinen Hals zu schlingen und zu betteln: „Krupa – das Märchen von dem Zinnsoldaten!" In den Jahren 1905 bis 1907 war Boris aktiver Organisator von sozialdemokratischen Gymnasiastenzirkeln. Im Sommer 1907, nach dem Londoner Parteitag, lebte Lenin in dem Landhaus der Knipowitschs in Styrs Udde in Finnland. Boris war damals noch Gymnasiast, interessierte sich jedoch schon für den Marxismus. Er achtete genau auf alles, was Lenin sagte, und wusste, wie groß die Verehrung und Liebe war, die Djadenka diesem entgegenbrachte. 1911 wurde Boris verhaftet und später nach dem Ausland ausgewiesen, wo er dann an der Münchner Universität studierte. Im Jahre 1912 erschien seine erste Arbeit „Zur Frage der Differenzierung der russischen Bauernschaft", die er Lenin schickte. Lenins Antwort an Boris ist erhalten geblieben. Ganz besondere Aufmerksamkeit und Fürsorge für den jungen Autor spricht aus ihr. „Ich habe Ihr Buch mit großem Vergnügen gelesen und freue mich sehr, dass Sie sich an eine ernste, große Arbeit gemacht haben. An Hand solcher Arbeit wird es Ihnen sicherlich gelingen, Ihre marxistischen Überzeugungen zu überprüfen, zu vertiefen und zu festigen." Und weiter macht dann Lenin in äußerst vorsichtiger, taktvoller Weise einige Bemerkungen, gibt einige methodische Hinweise. Beim Durchlesen dieses Briefes kommt es mir in Erinnerung, wie sich Lenin unerfahrenen Autoren gegenüber benahm. Er achtete auf das Wesentliche, auf den Kern der Arbeit, dachte darüber nach, wie er helfen konnte, Fehler zu berichtigen. Alles das tat er aber sehr behutsam, so dass der Betreffende mitunter gar nicht merkte, dass er berichtigt wurde. Jemand in der Arbeit zu helfen, ihn zu unterstützen – darin war Lenin Meister. Wollte er beispielsweise irgend jemand beauftragen, einen Artikel zu schreiben, war aber nicht davon überzeugt, dass der Betreffende ihn auch so schreiben würde, wie es nötig war, so unterhielt er sich mit ihm erst eingehend über das ihm vorschwebende Thema, entwickelte seinen Gedankengang, weckte das Interesse des andern, sondierte ihn nach allen Richtungen und schlug ihm schließlich vor: „Wollen Sie nicht über dieses Thema einen Artikel schreiben?" Und der Genosse merkte auf diese Weise gar nicht, wie sehr ihm diese Unterhaltung mit Lenin geholfen hatte, merkte nicht, wenn er in seinem Artikel Aussprüche und Redewendungen von Lenin brachte. Wir hatten die Absicht, uns in München ein bis zwei Tage aufzuhalten, um die Stadt wiederzusehen (wir hatten 1902 dort gelebt). Da wir aber große Eile hatten, blieben wir nur wenige Stunden dort, bis wir weiter Anschluss hatten. Boris Knipowitsch und seine Frau waren auf dem Bahnhof, wir verbrachten die Zeit zwischen unseren Zügen im „Hofbräuhaus", das durch sein ausgezeichnetes Bier berühmt ist. An den Wänden, auf den Biergläsern, kurz überall stehen die Anfangsbuchstaben „H. B." – „Narodnaja Wolja" (Volkswille) wie ich lachend ergänzte.27 In dieser „Narodnaja Wolja" saßen wir den ganzen Abend mit Boris zusammen. Lenin lobte mit Kennermiene das Münchner Bier und unterhielt sich mit Boris über die Differenzierung der Bauernschaft; wir sprachen von Djadenka, Lidia Michailowna Knipowitsch, die ebenfalls an Basedowscher Krankheit litt, und Lenin schrieb einen Brief an sie, in dem er sie aufforderte, unbedingt ins Ausland zu reisen und sich von Kocher operieren zu lassen. Anfang August kamen wir in Poronin an, meiner Erinnerung nach war es am sechsten. Dort empfing uns der übliche Poroniner Regen. Genosse Kamenew teilte uns eine ganze Reihe von Neuigkeiten mit, die Russland betrafen. Für den 9. August war eine Konferenz der Mitglieder des Zentralkomitees einberufen worden. Die „Prawda" war verboten worden. Statt ihrer erschien die „Rabotschaja Prawda"28, jedoch fast jede Nummer wurde konfisziert. Eine Streikwelle ergoss sich über das Land; gestreikt wurde in Petersburg, Riga, Nikolajew, Baku. Kamenew wohnte in unserem Hause, und nach dem Abendessen pflegte er lange mit Lenin in unserer großen Küche zu sitzen; sie besprachen die Nachrichten, die aus Russland eingetroffen waren. Die Vorbereitungen zur Parteikonferenz, der sogenannten „Sommerkonferenz", waren in vollem Gang. Sie fand vom 22. September bis 1. Oktober in Poronin statt. Alle Deputierten, mit Ausnahme Samoilows, trafen ein: zwei Moskauer Wahlmänner, Nowoschilow und Balaschow, Rosmirowitsch aus Kiew, Sima Derjabina aus dem Ural, Schotman aus Petersburg und andere. Vom „Prosweschtschenije" war Trojanowski anwesend, von den Polen Hanecki und Domski und noch zwei „Rozłamowcy" (der Einfluss der „Rozłamowcy" erstreckte sich auf auf die vier größten Industriebezirke – den Warschauer, Łódźer, Dombrower und Kalischer Bezirk). Von den Deputierten erinnere ich mich nur an Malinowski. Es wurde über die „Rabotschaja Prawda" gesprochen, über die Moskauer Zeitung, über das „Prosweschtschenije", über den Verlag „Priboi", über die auf den bevorstehenden Kongressen – dem Genossenschaftskongress und dem Kongress der Handlungsgehilfen – einzuschlagende Taktik und über die Tagesaufgaben. Inès Armand traf um einige Tage verspätet ein. Sie war im September 1912 verhaftet worden und hatte unter falschem Namen im Gefängnis gesessen, wo die schlechten Verhältnisse ihre Gesundheit untergruben; sie zeigte Anzeichen einer beginnenden Tuberkulose. Ihre Energie hatte trotz alledem keineswegs nachgelassen, mit noch größerer Leidenschaft als früher widmete sie sich allen Fragen des Parteilebens. Wir Krakauer freuten uns alle außerordentlich über die Ankunft von Inès. Insgesamt nahmen 22 Personen an der Konferenz teil. Es wurde beschlossen, die Frage der Einberufung des Parteitags aufzuwerfen. Seit dem V. (Londoner) Parteitag waren schon sechs Jahre vergangen, und vieles hatte sich seitdem geändert. Das Wachstum der Arbeiterbewegung machte die Einberufung des Parteitags unbedingt notwendig. Auf der Tagesordnung der Konferenz standen folgende Fragen: die Streikbewegung, Vorbereitung des politischen Generalstreiks, Aufgaben der Agitation, Herausgabe einer Reihe von populären Broschüren, Unzulässigkeit der Beschneidung der Losung „demokratische Republik" bei der Agitation, Konfiskation des Gutsbesitzerbodens, Achtstundentag. Es wurde die Frage diskutiert, wie in den legalen Vereinigungen gearbeitet und wie die sozialdemokratische Arbeit in der Duma geführt werden sollte. Besonders wichtig waren die Beschlüsse über die Notwendigkeit, die Gleichberechtigung der bolschewistischen und der menschewistischen Gruppe in der sozialdemokratischen Fraktion zu erreichen, sowie über die Unzulässigkeit der Überstimmung der Bolschewiki mit einer Stimme durch die sieben menschewistischen Abgeordneten, die die Interessen einer nur unbedeutenden Minderheit der Arbeiterschaft vertraten.G Eine andere wichtige Resolution wurde zur nationalen Frage angenommen, die die Ansichten Lenins klar zum Ausdruck brachte. Ich erinnere mich noch lebhaft an die über diese Frage in unserer Küche entbrannten Debatten, an die Leidenschaftlichkeit, mit der diese Frage diskutiert wurde. Diesmal legte Malinowski besonders starke Nervosität an den Tag. Er trank die Nächte hindurch, weinte, beklagte sich, dass man ihm misstraue. Ich entsinne mich, wie empört die Moskauer Wahlmänner Balaschow und Nowoschilow über dieses Benehmen waren. Irgendeine Falschheit, irgendeine Komödie klang aus allem, was Malinowski sagte, heraus. Nach der Konferenz blieben wir noch etwa zwei Wochen in Poronin, gingen viel spazieren, besonders nach dem sogenannten Czarny staw, einem schönen Gebirgssee, und machten noch andere Ausflüge ins Gebirge. Im Herbst wurde unsere Freundschaft, die Freundschaft unserer gesamten Krakauer Gruppe mit Inès noch enger. Sie strahlte eine ganz besondere Lebensfreude und Energie aus. Zwar kannten wir sie schon von Paris her, aber die Pariser Kolonie war sehr groß, während wir in Krakau in einem engen, abgeschlossenen Kreise von Genossen lebten. Inès hatte ein Zimmer bei der Wirtin gemietet, bei der Kamenew wohnte. Besonders meine Mutter hatte sich eng an Inès angeschlossen. Inès kam oft zu ihr, um bei ihr zu sitzen, zu rauchen und zu plaudern. Es wurde gemütlicher und heiterer, sobald Inès ins Zimmer trat. Unser ganzes Leben war angefüllt mit Sorgen und Arbeit für die Partei; es glich eher einem Studenten- als einem Familienleben, und wir waren über Inès' Anwesenheit außerordentlich froh. Sie erzählte mir in jener Zeit viel über ihr Leben, ihre Kinder, zeigte mir deren Briefe, und allen ihren Erzählungen entströmte große Wärme. Iljitsch und ich gingen viel mit ihr spazieren. Sinowjew und Kamenew hatten uns den Spitznamen „Partei der Spaziergänger" gegeben. Wir gingen aus der Stadt hinaus, wo Wiesen und Felder begannen. Wiese heißt auf polnisch „blon", und Inès hatte sich sogar in Erinnerung an diese Spaziergänge das Pseudonym „Blonina" gewählt. Sie liebte Musik sehr und veranlasste uns, alle Beethovenkonzerte zu besuchen; sie spielte selbst gut Klavier. Lenin liebte besonders die „Sonate pathétique". Oft bat er Inès, sie zu spielen. Viel später, schon nach der Revolution, ging er einmal zu Zjurupa, wo irgendein berühmter Musiker diese Sonate spielte. Wir sprachen viel über schöne Literatur. „Wir lechzen hier nach Belletristik", schrieb ich damals an Lenins Mutter. „Wolodja kann Nadson und Nekrassow schon fast auswendig. ,Anna Karenina', die wir wohl hundertmal gelesen haben, ist ganz zerpflückt. Wir haben unsere schöne Literatur (einen ganz geringen Teil dessen, was wir in Petersburg besaßen) in Paris zurückgelassen, und hier kann man kein einziges russisches Buch kaufen. Neiderfüllt lesen wir mitunter Buchhändleranzeigen über irgendwelche 28 Bände Uspenski, 10 Bände Puschkin usw. usw. Ausgerechnet jetzt ist Wolodja ein großer ,Belletrist' geworden. Und dazu ein fürchterlicher Nationalist. Von den polnischen Künstlern will er um keinen Preis der Welt etwas wissen, dafür aber hat er bei Bekannten einen fort geworfenen alten Katalog der Tretjakow-Galerie aufgestöbert, in den er sich nun immer wieder vertieft."29 Anfangs war beabsichtigt, dass Inès sich in Krakau niederlassen und ihre Kinder aus Russland kommen lassen sollte, und ich ging mit ihr zusammen auf Wohnungssuche. Aber das Leben in Krakau war sehr abgeschlossen, es erinnerte ein wenig an die Verbannung. Es fand sich hier kein geeignetes Tätigkeitsfeld, wo Inès ihre Energie, die sie gerade in dieser Periode in Überfluss besaß, anwenden konnte. Deshalb beschloss sie, zuerst alle unsere Auslandsgruppen zu besuchen, eine Reihe von Vorträgen zu halten und sich dann in Paris niederzulassen, um dort die Arbeit des Komitees unserer Auslandsorganisationen in Fluss zu bringen. Vor ihrer Abreise sprachen wir eingehend über die Arbeit unter den Frauen. Inès trat leidenschaftlich für eine großzügige Propaganda unter den Arbeiterinnen ein und forderte die Herausgabe einer besonderen Zeitschrift für Arbeiterinnen in Petersburg Lenin schrieb an seine Schwester Anna Iljinitschna, dass es notwendig sei, ein solches Organ zu gründen, und bald darauf begann es auch zu erscheinen. Inès tat später sehr viel für die Entfaltung der Tätigkeit unter den Arbeiterinnen und opferte nicht wenig Kraft für diese Arbeit. Im Januar 1914 kam Malinowski nach Krakau und fuhr mit Lenin zusammen nach Paris und von dort nach Brüssel, um dem IV. Parteitag der Sozialdemokraten Lettlands beizuwohnen, der am 13. Januar eröffnet wurde. In Paris hielt Malinowski einen – wie Lenin sagte – sehr guten Vortrag über die Arbeit der Dumafraktion. Lenin hielt einen großen öffentlichen Vortrag über die nationale Frage, außerdem hielt er eine Rede auf einer dem 9. Januar30 gewidmeten Versammlung und sprach in der Gruppe der Pariser Bolschewiki über das Bestreben des Internationalen Sozialistischen Büros, in die russischen Angelegenheiten einzugreifen, um eine Versöhnung herbeizuführen, sowie über die Rede Kautskys auf der Dezemberkonferenz des Internationalen Büros, in der dieser erklärt hatte, dass die Sozialdemokratische Partei in Russland tot sei. Diese Einmischung des Internationalen Sozialistischen Büros in die russischen Angelegenheiten hatte Lenin in große Aufregung versetzt, da nach seiner Meinung diese Einmischung zu einem Hindernis für den wachsenden Einfluss der Bolschewiki in Russland werden musste. Lenin sandte einen Bericht an Huysmans über die Lage in der Partei. Auf dem IV. Parteitag der lettischen Sozialdemokratie siegten die Bolschewiki. An dem Parteitag nahmen die Genossen Bersin, Lacis, German und eine Reihe anderer lettischer Bolschewiki teil. Lenin forderte in einer Rede auf dem Parteitag die Letten auf, sich dem Zentralkomitee anzuschließen. In einem Brief an seine Mutter schrieb Wladimir Iljitsch, dass ihn diese Reise nach Paris sehr erfrischt habe. „Paris ist eine Stadt, in der es mit bescheidenen Mitteln schwer zu leben ist, und eine sehr ermüdende Stadt. Jedoch für einen kurzen Aufenthalt, für Besuche und Spazierfahrten, gibt es keine schönere und heiterere Stadt. Ich habe mich gut erholt."31 Im Winter, bald nach der Rückkehr Lenins aus Paris, wurde beschlossen, Kamenew zur Leitung der „Prawda" und zur Arbeit mit der Dumafraktion nach Petersburg zu schicken. Die Zeitung sowohl wie die Dumafraktion brauchten Unterstützung. Kamenews Frau kam mit ihrem kleinen Sohn, um ihren Mann abzuholen. Der kleine Kamenew und Sinowjews Sohn Stjopa stritten damals sehr ernsthaft miteinander, ob Petersburg eine Stadt sei oder Russland … Die Vorbereitungen zur Abreise begannen. Wir alle begleiteten Kamenews auf den Bahnhof. Es war ein kalter Winterabend. Es wurde wenig gesprochen, nur das Söhnchen Kamenews erzählte irgend etwas. Alle waren ernst gestimmt, jeder dachte, ob sich Kamenew würde lange halten können. Wann würde man sich wiedersehen? Wann würden wir selbst nach Russland fahren? Jeder sehnte sich insgeheim nach Russland, jeden zog es unbändig dorthin. Ich sah im Traum häufig die Newskaja Sastawa32. Wir vermieden es alle, über dieses Thema zu sprechen, aber in Gedanken beschäftigte sich jeder damit. Am 8. März 1914 erschien in Petersburg die erste Nummer der populären Arbeiterinnenzeitschrift „Robotnicza"; sie kostete vier Kopeken. Das Petersburger Komitee gab Flugblätter für den Frauentag heraus. Für die „Robotnicza" schrieben von Paris aus Inès und die Genossin Stal, von Krakau aus die Genossin Lilina und ich. Insgesamt erschienen sieben Nummern. Die Nr. 8 sollte Artikel über den bevorstehenden sozialistischen Frauenkongress in Wien bringen, aber sie erschien nicht mehr – der Krieg war ausgebrochen. Der Parteitag sollte während des Internationalen Kongresses stattfinden, der im August in Wien abgehalten werden sollte. Man ging von der Annahme aus, dass ein Teil der Teilnehmer legal reisen könne. Außerdem war geplant, mit Unterstützung von Krakauer Druckereiarbeitern die Grenze als eine große Touristengruppe zu überschreiten. Im Mai übersiedelten wir wieder nach Poronin. Zur Durchführung der Vorbereitungskampagne zum Parteitag wurden in Petersburg Kisseljow, Glebow-Awilow und Anja Nikiforowa mobilisiert. Sie kamen nach Poronin, um alles mit Lenin zu besprechen. Am ersten Tag saßen wir lange auf dem kleinen Hügel in der Nähe unseres „Landhauses", und die Genossen erzählten von der Arbeit in Russland. Es waren junge Leute, voller Energie, an denen Lenin seine Freude hatte. Glebow-Awilow war ein früherer Schüler der Schule in Bologna und jetzt ein standfester Lenin-Anhänger. Lenin riet den Genossen, einen Ausflug in die Berge zu machen; er selbst fühlte sich jedoch nicht wohl, so dass sie sich allein auf den Weg machten. Später erzählten sie lachend von ihrem Ausflug – wie sie einen steilen Gipfel erklommen hatten, wobei ihnen die Rucksäcke sehr hinderlich waren; sie beschlossen daher, sie abwechselnd zu tragen. Wie dann die Reihe an Anja gekommen war und sie die Rucksäcke schleppte, lachten alle Leute, denen sie begegneten, und rieten Anja, sich auch noch die Männer auf den Rücken zu laden. Man einigte sich über den Charakter der Agitation für den Parteitag, jeder erhielt die nötigen Anweisungen; Kisseljow begab sich in die baltischen Provinzen, Glebow-Awilow und Anja fuhren nach der Ukraine. Aus Moskau kam Alja nach Krakau, ein ehemaliger Schüler der Schule auf Capri, der ein Lockspitzel geworden war. Ich besinne mich nicht mehr, unter welchem Vorwand er kam, das Gespräch mit ihm drehte sich jedenfalls um den bevorstehenden Parteitag, über den die Ochrana selbstverständlich genaues Material haben wollte. Inès hatte für den Sommer ihre Kinder aus Russland kommen lassen und wohnte mit ihnen am Meer in Triest. Sie arbeitete an ihrem Referat für den internationalen Frauenkongress, der gleichzeitig mit dem Kongress der Internationale in Wien stattfinden sollte. Außerdem hatte sie auch noch auf anderem Gebiet zu arbeiten. Für Mitte Juni beabsichtigte das Internationale Sozialistische Büro, in Brüssel eine Konferenz der Vertreter von 11 Organisationen der verschiedensten Richtungen der SDAPR einzuberufen, um einen Meinungsaustausch zwischen diesen Organisationen herbeizuführen, der die Einigkeit herstellen sollte. Es unterlag jedoch keinem Zweifel, dass die Sache damit nicht zu Ende sein würde, dass die Liquidatoren, Trotzkisten, Bundisten und andere diese Gelegenheit benutzen würden, um die Tätigkeit der Bolschewiki einzuschränken, sie durch eine Reihe von Beschlüssen zu binden. Der Einfluss der Bolschewiki in Russland nahm zu. Wie Genosse Badajew in seinem Buch „Die Bolschewiki in der Reichsduma" mitteilt, hatten im Sommer 1914 die Bolschewiki im Vorstand von 14 der insgesamt in Petersburg existierenden 18 Gewerkschaftsverbände die Mehrheit… Auf Seiten der Bolschewiki standen alle großen Gewerkschaften, darunter der Metallarbeiterverband, die größte und stärkste aller Gewerkschaften. Dasselbe Verhältnis bestand auch in der Arbeitergruppe der Versicherungsanstalten. Als Bevollmächtigte für die hauptstädtischen Versicherungsorgane hatten die Arbeiter 37 Bolschewiki und 7 Menschewiki gewählt, in die gesamtrussischen Versicherungsorgane 47 Bolschewiki und 10 Menschewiki.33 Die Wahlen für den Internationalen Kongress in Wien wurden auf breiter Basis organisiert. Die Mehrheit der Arbeiterorganisationen übertrug die Mandate für den Internationalen Sozialistenkongress den Bolschewiki. Auch die Vorbereitungen zum Parteitag entwickelten sich erfolgreich. Seit Frühjahr wurden alle mit der Einberufung des Parteitags verbundenen Vorbereitungsarbeiten ununterbrochen verstärkt. „Die vor uns stehende Aufgabe", schreibt Badajew, „– in der Periode vor dem Parteitag die örtlichen Parteizellen zu festigen und zu erweitern – war durch den gewaltigen Aufschwung der revolutionären Bewegung im Lande innerhalb dieser Monate zum großen Teil gelöst worden. Unter den Arbeitermassen verstärkte sich der Drang zur Partei, neue Kader revolutionär gestimmter Arbeiter traten den Parteiorganisationen bei. Die Arbeit der leitenden Kollektive der Partei verbesserte sich ständig. Im Zusammenhang damit war dem bevorstehenden Kongress und den auf der Tagesordnung des Parteitages angesetzten Fragen die starke Beachtung der parteiverbundenen Arbeitermassen sicher."34 Bei Badajew gingen ziemlich bedeutende Geldsummen ein, die für den Fonds zur Organisierung des Parteitages gesammelt wurden. Ebenso erhielt er eine ganze Reihe von Mandaten, Direktiven, Resolutionen zu den Fragen, die auf der Tagesordnung des Parteitags standen usw. Badajew schildert in seinem Buch sehr anschaulich, wie in der ganzen Arbeit die legale Tätigkeit mit der illegalen eng verflochten war. „Die Sommerzeit", schreibt er, „begünstigte die Einberufung illegaler Versammlungen außerhalb der Stadt, in den Wäldern, wo wir relativ in Sicherheit vor den Überfällen der Polizei waren. Wenn es notwendig wurde, mehr oder minder erweiterte Versammlungen einzuberufen, wurden sie als angeblicher Ausflug irgendeines Bildungsvereins veranstaltet. Wir fuhren einige Dutzend Werst aus Petersburg heraus und begaben uns alsdann ,zu einem Spaziergang' in die Tiefe des Waldes, stellten Posten auf, die auf eine ausgemachte Parole hin den Weg wiesen, und führten mitten im Walde die Versammlungen durch … Unzählige Polizeispitzel umkreisten alle Arbeiterorganisationen und brachten den bekannten Zentren der Parteiarbeit, wie sie die Redaktion der ,Prawda' und die Räume unserer Fraktion waren, besondere Beachtung entgegen. Doch mit der Verstärkung der Ochranatätigkeit zugleich verstärkte sich auch unsere konspirative Technik, und obwohl einzelne Genossen verhaftet wurden, konnte die Aufdeckung größerer Gruppen vermieden werden."35 Somit rechtfertigte sich also voll und ganz die Linie des Zentralkomitees, die auf den Ausbau der legalen Presse, auf die Einhaltung einer bestimmten Linie durch die Presse, auf die Intensivierung der Arbeit der Fraktion innerhalb und außerhalb der Duma, auf eine präzise Formulierung aller Fragen, auf die Verbindung von illegaler und legaler Arbeit gerichtet war. Der Versuch, durch das Internationale Sozialistische Büro diese Linie zu sprengen, die Arbeit zu stören, machte Lenin rasend. Er beschloss, sich nicht selbst zu der Brüsseler Einigungskonferenz zu begeben. Inès sollte fahren. Sie beherrschte die französische Sprache (es war ihre Muttersprache), ließ sich nicht leicht aus dem Konzept bringen und hatte einen unerschütterlich festen Charakter. Man konnte sich darauf verlassen, dass sie keine Position aufgeben würde. Lenin sandte ihr den Bericht des Zentralkomitees, den er verfasst hatte, nach Triest und schickte ihr außerdem eine ganze Reihe von Anweisungen, wie sie sich in diesem oder jenem Falle verhalten sollte; er überlegte alle Einzelheiten. Zur Delegation des Zentralkomitees gehörten außer Inès noch M. F. Wladimirski und N. F. Popow. Den Bericht des Zentralkomitees verlas Inès in französischer Sprache. Wie erwartet, blieb es nicht beim bloßen Meinungsaustausch. Kautsky reichte im Namen des Exekutivbüros eine Resolution ein, die die Spaltung verurteilte und behauptete, dass keine grundlegenden Differenzen vorhanden seien. Für die Resolution stimmten alle, mit Ausnahme der Delegation des Zentralkomitees und der Letten, die sich weigerten, an der Abstimmung teilzunehmen, ungeachtet der Drohung des Sekretärs des Internationalen Büros, Huysmans, er würde beim Internationalen Kongress in Wien beantragen, den sich der Stimme Enthaltenden die Verantwortung für die Sprengung des Einigungsversuches aufzuerlegen. Die Liquidatoren, die Trotzkisten, die„Wperjod"-Gruppe, die Plechanow-Anhänger und die Kaukasische Gebietsorganisation gründeten auf einer privaten Beratung in Brüssel einen „Block" gegen die Bolschewiki, der beschloss, die entstandene Lage auszunutzen und einen Druck auf die Bolschewiki auszuüben. Lenin war im Sommer 1914, abgesehen von dem Brüsseler Einigungsgetue, von einer anderen bösen Affäre in Anspruch genommen, nämlich von der Affäre Malinowski. Als der General Dschunkowski zum Stellvertreter des Ministers des Innern ernannt worden war und von der Lockspitzeltätigkeit Malinowskis Kenntnis erhalten hatte, verständigte er den Vorsitzenden der Reichsduma, Rodsjanko, davon und sprach von der Notwendigkeit, diese Sache aus der Welt zu schaffen, um einen riesigen politischen Skandal zu vermeiden. Am 8. Mai überreichte Malinowski Rodsjanko seine Austrittserklärung aus der Dumafraktion. Darauf reiste er ins Ausland. Die lokalen und zentralen Parteiorganisationen verurteilten die Handlungsweise Malinowskis als anarchistisch und desorganisatorisch und schlossen Malinowski aus der Partei aus. Was jedoch seine Provokateurtätigkeit anbelangt, so schien diese Beschuldigung so ungeheuerlich, dass das Zentralkomitee eine spezielle Kommission zur Untersuchung dieser Angelegenheit unter dem Vorsitz Haneckis ernannte, der auch Lenin und Sinowjew angehörten. Gerüchte über die Provokateurtätigkeit Malinowskis waren schon lange im Umlauf. Sie stammten aus menschewistischen Kreisen. Sehr starke Verdachtsmomente hatte Jelena Fjodorowna Rosmirowitsch in Zusammenhang mit den Umständen ihrer Verhaftung – sie hatte in der Dumafraktion gearbeitet, und die Gendarmerie war über solche Einzelheiten unterrichtet, die sie nur durch Verrat erfahren haben konnte. Irgendwelche Informationen hatte auch Bucharin. Lenin hielt es für absolut unmöglich, dass Malinowski ein Lockspitzel sein könnte. Nur ein einziges Mal war ein Zweifel bei ihm aufgetaucht: Ich entsinne mich, wie er einmal in Poronin, als wir von Sinowjews, wo über diese umlaufenden Gerüchte gesprochen worden war, nach Hause gingen, plötzlich auf der Brücke stehenblieb und sagte: „Und wenn es nun wahr ist?" Und sein Gesicht drückte größte Besorgnis aus. „Wo denkst du denn hin!" antwortete ich. Und Iljitsch beruhigte sich und schimpfte auf die Menschewiki, dass sie im Kampf gegen die Bolschewiki vor keinem Mittel zurückscheuten. Seitdem hatte er in dieser Frage nie mehr Zweifel oder Verdacht. Nachdem die Kommission alle Gerüchte über die Provokateursrolle Malinowskis geprüft und die Erklärung Burzews, dass er eine solche für unwahrscheinlich halte, entgegengenommen hatte, nachdem sie Bucharin und Jelena Rosmirowitsch angehört hatte, fühlte sie sich doch außerstande, die Tatsache der Lockspitzeltätigkeit Malinowskis als erwiesen zu konstatieren. Der bestürzte, gänzlich aus dem Gleis geratene Malinowski trieb sich in Poronin herum. Allah mag wissen, was er in dieser Zeit durchgemacht hat. Wohin er sich von Poronin aus begab, wusste niemand. Die Februarrevolution brachte Malinowskis Entlarvung. Nach der Oktoberrevolution kehrte er freiwillig nach Russland zurück und stellte sich der Sowjetregierung. Laut Urteil des Obersten Gerichtshofs wurde er erschossen. In Russland hatte sich zu jener Zeit der Kampf verschärft. Die Streikbewegung dehnte sich aus – in Baku brach ein besonders großer Streik aus. Die Arbeiterschaft unterstützte die Streikenden in Baku. Die Polizei schoss auf eine Versammlung von 12.000 Arbeitern der Putilow-Werke, die Zusammenstöße wurden immer erbitterter; die Deputierten verwandelten sich in Führer des aufständischen Proletariats. Ein Massenstreik brach aus. Am 7. Juli streikten in Petersburg 130.000 Arbeiter. Das Proletariat bereitete sich zum Kampf vor. Der Streik flaute nicht ab, sondern wuchs; in den Straßen des roten Petersburg wurden Barrikaden errichtet. Aber da brach der Krieg aus. Deutschland erklärte am 1. August Russland, am 3. August Frankreich und am 4. August Belgien den Krieg. Am gleichen Tage erklärte England Deutschland den Krieg, am 6. August erfolgte die Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Russland, am 11. August erklärten Frankreich und England Österreich-Ungarn den Krieg. Der Weltkrieg hatte begonnen. Er brachte die anschwellende revolutionäre Bewegung in Russland vorübergehend zum Stillstand, schüttelte die ganze Welt durcheinander, er rief eine Reihe tiefster Krisen hervor, warf die wichtigsten Fragen des revolutionären Kampfes in neuer, bedeutend verschärfter Form auf, hob die Rolle des Proletariats als Führer aller Werktätigen hervor, erweckte neue Schichten zum Kampf und machte den Sieg des Proletariats für Russland zu einer Frage von Leben oder Tod. 1 W. I. Lenin: Werke, 4. Ausgabe, Bd. 34. S. 385, russ. 2 Die Zeitschrift „Sowremennaja Schisn" (Das Leben der Gegenwart) erschien vom März bis April 1911. 3 Die Zeitschrift „Prosweschtschenije" (Die Aufklärung) erschien von 1911 bis 1914 und 1917. A Suren Spandarian war Delegierter von Baku. Als Iljitsch sich nach der Konferenz in Berlin aufhielt, war Suren auch dort, er machte Lenin mit einer alten Freundin seiner Familie bekannt: Woski-Joanissian, die der Partei viele Dienste erwies. Es wurde vereinbart, durch sie den Briefwechsel mit Russland zu führen. Suren konnte sich nicht lange halten, schon Ende April bekamen wir die Mitteilung von seiner Verhaftung. In Paris lebte Surens Vater. Iljitsch und ich besuchten ihn, um Einzelheiten von der Verhaftung seines Sohnes zu erfahren. Der Vater war ein kranker, alter Mann, der völlig vereinsamt und verlassen lebte und gänzlich mittellos war – er hatte nicht einmal so viel, um seine Miete zu bezahlen; sein Gedächtnis war schwach geworden, und es kam vor, dass er Briefe schrieb und sie ohne Adresse wegschickte. Lenin hatte großes Mitgefühl mit diesem Greis. Auch die Nachrichten aus Baku waren unfreundlicher Art: Suren hatte in der Haft unter sehr schlechten Verhältnissen zu leiden, es war niemand da, der sich seiner annahm. Als wir nach Hause kamen, schrieb Lenin sofort einen Brief an Woski, in dem er sie bat, sich um die beiden Spandarians zu kümmern; er schrieb über den Vater: „Seine Lage ist eine höchst traurige, eine geradezu verzweifelte. Wir haben ihm durch ein kleines Darlehen geholfen. Aber ich habe mich trotzdem entschlossen, Ihnen zu schreiben. Wahrscheinlich kennen Sie Bekannte und Freunde der Spandarians in Baku und in Paris. Kennen Sie jemand in Baku, dem man über Suren schreiben und ihn bitten könnte, sich um ihn zu kümmern? Und ferner, falls Sie gemeinsame Bekannte haben, wäre es äußerst wichtig, sich um den Vater zu kümmern … Ich hoffe, dass Sie für die beiden Spandarians alles, was nur möglich ist, tun werden, und bitte Sie, mir ein paar Worte darüber zu schreiben." N. K. 4 W. I. Lenin: Dem Gedächtnis Herzens. In: Ausgewählte Werke, Bd. I, S. 583. B „Romanow-Affäre" wurde der bewaffnete Überfall auf die Verbannten des Jakutsker Gebietes im Jahre 1904 genannt, der auf Anordnung der Behörden unternommen wurde, weil die Verbannten gegen die unerhörte Unterdrückung und Willkür der Administration gegenüber den politischen Gefangenen protestierten. Die Protestierenden schlossen sich am 18. Februar in dem Haus des Jakuten Romanow ein (daher der Name „Romanow-Affäre"). Während der Schießerei, die von beiden Seiten geführt wurde, wurde einer der Verbannten, der Genosse Matlachow, getötet, und drei wurden verwundet. Von den Soldaten wurden zwei getötet. Am 7. März mussten sich die „Romanower" ergeben. Die Teilnehmer an dem Protest kamen vor das Jakutsker Gericht; jeder der 55 Angeklagten wurde zu 12 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. N. K. C Tschitaer oder Transbaikalische Republik – die Periode der faktischen Machtergreifung in Tschita Ende 1905 durch die Arbeiter der Eisenbahnwerkstätten, denen sich die aus der Mandschurei nach Beendigung des Russisch-Japanischen Kriegs zurückkehrenden Soldaten anschlossen. Am 21. Januar traf in Tschita die Strafexpedition des Generals Rennenkampf ein und ertränkte die Bewegung in Blut. N. K. D Der General Meller-Sakomelski wurde berühmt durch seine Strafexpeditionen im Baltikum und in Sibirien in den Jahren 1905 und 1906. N. K. 5 W. I. Lenin: Werke, 4. Ausgabe, Bd. 35, S. 26, russ. 6 Zentralkomitee der polnischen sozialdemokratischen Partei. Anm. d. russ. Red. 7 W. I. Lenin: Werke, 4. Ausgabe, Bd. 35, S. 42/43. russ. E Die Forderung nach national-kultureller Autonomie wurde 1905 vom „Bund" aufgestellt und auf folgende Weise formuliert: Funktionen, die mit Kulturfragen verknüpft sind (Volksbildung usw.), müssen der Leitung durch den Staat und die lokalen und Gebiets-Selbstverwaltungsorgane entzogen und der Nation übergeben werden, in Gestalt besonderer lokaler und zentraler Institutionen, die von allen ihren Mitgliedern auf Grund des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts gewählt werden. N. K. 8 W. I. Lenin: Werke, Bd. 22, S. 6/7. 9 W. I. Lenin: Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd. II, Dietz Verlag, Berlin 1959, S. 1021. 10 Ebenda, S. 1018. 11 Ebenda, S. 1020. 12 W. I. Lenin: Werke, 4. Ausgabe, Bd. 35, S. 43/44, russ. 13 W. I. Lenin: Werke, 4. Ausgabe, Bd. 18, S. 537, russ. 14 Ebenda, S. 541. 15 W. I. Lenin: Werke, 4. Ausgabe, Bd. 19, S. 455/456. russ. 16 Ebenda, S. 482. F Peredonow – Held des Sologubschen Romans „Melki Bes" (Der kleine Satan) – Gymnasiallehrer, ein Kleinbürger durch und durch, ein platter und schmutziger Charakter, ein Kriecher und Heuchler, kleinlich und boshaft, ein dünkelhafter Bürokrat, der jede Gelegenheit benutzt, um anderen Unannehmlichkeiten zu bereiten. N. K. 17W. I. Lenin, Werke, 4. Ausgabe, Bd. 19, S. 115, russ. 18 Ebenda, S. 289. 19 Lenin/Stalin: Zu Fragen der sozialistischen Industrie, Dietz Verlag, Berlin 1955, S. 8/9. 20 W. I. Lenin: Werke, 4. Ausgabe, Bd. 19, S. 276/277, russ. 21 Ebenda, S. 246. 22 „Nasch Put“ (Unser Weg) erschien von August bis September 1913 in Moskau 23„Gorodowoi" – zaristischer Schutzmann. 24„Woprosy Strachowanija“ (Fragen des Versicherungswesens) – legale bolschewistische Zeitschrift, erschien 1913-1918 in Petersburg 25 W. I. Lenin: Über Kultur und Kunst, S. 512. 26 Bliny – beliebtes russisches Gericht, eine Art dünner Pfannkuchen, der mit saurer Sahne, Lachs, Kaviar usw. gegessen wird. 27 Die deutschen Buchstaben H und B sind mit den russischen Buchstaben N und W identisch. 28 Unter dem Namen „Rabotschaja Prawda" (Arbeiterprawda) erschien die „Prawda" vom 13. Juli bis 1. August 1913. G Die sozialdemokratische Fraktion der IV. Reichsduma bestand aus 13 Mitgliedern (und einem nicht voll berechtigten – Jagiello, dem Vertreter der PPS), Vertretern beider Fraktionen: der Bolschewiki (sechs) und der Menschewiki (sieben). Der bolschewistische Teil der Fraktion bestand ausnahmslos aus Arbeitern und vertrat die breiten Massen des russischen Proletariats, während die Siebenergruppe mehr die Interessen des Kleinbürgertums und der radikalen Intelligenz vertrat. Indem sie ihr formales zahlenmäßiges Übergewicht ausnutzten, brachten die Menschewiki bei allen wichtigen prinzipiellen Fragen ihre Resolutionen im Namen der sozialdemokratischen Fraktion ein. Die Sechsergruppe forderte die Anerkennung ihrer Gleichberechtigung bei der Entscheidung aller Fragen, die in der Duma behandelt werden. Die Menschewiki lehnten das ab. Da trat die Sechsergruppe aus der vereinigten sozialdemokratischen Fraktion aus und bildete eine selbständige „russische sozialdemokratische Arbeiterfraktion". N. K. 29 W. I. Lenin: Briefe an Verwandte, S. 396/397, russ. 30 9. Januar 1905, der „blutige Sonntag", an dem der Zar in die vor dem Winterpalais friedlich demonstrierende Menge schießen ließ. 31 W. I. Lenin: Briefe an Verwandte, 8.400/401, russ. 32 Petersburger Vorstadt. 33 Siehe Alexej Badajew: Die Bolschewiki in der Reichsduma, Dietz Verlag, Berlin 1957, S. 388. 34 Ebenda, S. 389. 35 Ebenda, S. 390 u. 391. |