Die zweite Emigration

Teil II

Die zweite Emigration

Die zweite Emigration zerfällt in drei Perioden: Die erste Periode (1908-1911) umfasst die Jahre, in denen in Russland die finsterste Reaktion herrschte. Die zaristische Regierung übte grausame Rache an den Revolutionären. Die Gefängnisse waren überfüllt, das schlimmste Zuchthausregime herrschte in ihnen, Misshandlungen waren an der Tagesordnung, ein Todesurteil folgte auf das andere. Die Partei musste in die tiefste Illegalität gehen. Das gelang nur schlecht. Während der Revolution war die Zusammensetzung der Partei eine andere geworden: Sie hatte Zuzug erhalten von Kadern, die die vorrevolutionäre illegale Tätigkeit nicht kannten und an konspirative Arbeit nicht gewöhnt waren. Andererseits scheute die zaristische Regierung keine Mittel, um das Spitzelsystem auszubauen. Das ganze Provokations- und Spitzelsystem war außerordentlich gut durchdacht, weit verzweigt und umgab die Zentralorgane der Partei mit einem dichten Netz. Die Regierung war über alles ausgezeichnet informiert.

Gleichzeitig wurde auch die Tätigkeit aller legalen Vereinigungen, der Gewerkschaften und der Presse systematisch verfolgt. Die Regierung strebte mit allen Kräften danach, den Arbeitermassen die in den Jahren der Revolution eroberten Rechte wieder zu entreißen. Aber die Vergangenheit konnte nicht wieder zu neuem Leben erweckt werden. Die Revolution war an den Massen nicht spurlos vorübergegangen, und die Selbsttätigkeit der Arbeiterschaft brach immer und immer wieder hervor.

Dies waren die Jahre des großen ideologischen Zerfalls in den Reihen der Sozialdemokratie. Es wurden Versuche gemacht, die Grundlagen des Marxismus einer Revision zu unterziehen, es entstanden philosophische Strömungen, die versuchten, die materialistische Weltanschauung, auf der der gesamte Marxismus aufgebaut ist, ins Wanken zu bringen. Die Wirklichkeit war grau und trübe. Und darum suchte man einen Ausweg durch Schaffung einer neuen, verfeinerten Religion, die man philosophisch zu begründen bestrebt war. An der Spitze dieser neuen philosophischen Schule, die jeglicher Gottsucherei und jedem Gottbildnertum Tür und Tor öffnete, stand Bogdanow; ihm schlossen sich Lunatscharski, Basarow und andere an. Marx war über die Philosophie, über den Kampf gegen den Idealismus zum Materialismus gelangt. Plechanow hatte seinerzeit der Begründung der materialistischen Weltanschauung größte Aufmerksamkeit geschenkt. Lenin hatte alle diesbezüglichen Arbeiten studiert, er hatte sich schon in der Verbannung intensiv mit Philosophie beschäftigt. Er musste die Bedeutung einer philosophischen Revision des Marxismus, ihr besonderes Schwergewicht in diesen Jahren der Reaktion berücksichtigen. Und Lenin bekämpfte mit aller Schärfe Bogdanow und seine Schule.

Bogdanow war nicht nur an der philosophischen Front ein Gegner. Er gruppierte die Otsowisten und Ultimatisten um sich. Die „Otsowisten" standen auf dem Standpunkt, dass die Reichsduma so reaktionär geworden sei, dass man die sozialdemokratische Fraktion abberufen müsse. Die „Ultimatisten" vertraten die Ansicht, man müsse von der Fraktion ultimativ verlangen, sie solle von der Dumatribüne aus durch ihr Auftreten ihren Hinauswurf provozieren. Im Grunde genommen bestand zwischen den Otsowisten und Ultimatisten kein Unterschied. Zu den Ultimatisten gehörten Alexinski, Marat und andere. Die Otsowisten und die Ultimatisten waren auch gegen die Mitarbeit der Bolschewiki in den Gewerkschaften und legalen Vereinigungen – die Bolschewiki sollten hart wie Stein und unbeugsam sein. Lenin hielt diesen Standpunkt für falsch, da er zum Aufgeben jeder praktischen Arbeit führte, zur Entfernung von den Massen, von ihrer Organisierung im Verlauf der lebendigen, praktischen Arbeit. Die Bolschewiki hatten verstanden, in der Periode, die der Revolution von 1905 voranging, jede legale Möglichkeit auszunutzen, hatten verstanden, sich unter schwierigsten Verhältnissen einen Weg zu bahnen, der sie vorwärts führte, und die Massen mitzureißen. Vom Kampf um heißes Teewasser in den Betrieben und für gute Ventilation führten sie die Massen Schritt für Schritt zum bewaffneten Volksaufstand. Sich den schwierigsten Verhältnissen anpassen, dabei stets konsequent bleiben, keine Prinzipien, keine revolutionäre Position aufgeben – das waren die Traditionen des Leninismus. Die Otsowisten hatten mit diesen bolschewistischen Traditionen gebrochen. Der Kampf gegen den Otsowismus war ein Kampf für die erprobte bolschewistische, leninistische Taktik.

Und schließlich waren diese Jahre 1908 bis 1911 Jahre schärfsten Kampfes für die Partei, für ihre illegale Organisation.

Es ist nur natürlich, dass die Anzeichen von Niedergangsstimmungen in der Periode der Reaktion in erster Linie bei den Praktikern aus dem Lager der Menschewiki zutage traten, die mit der liberalen Bourgeoisie eng verbunden waren und auch früher stets geneigt waren, sich mit dem Strom treiben zu lassen und die revolutionären Losungen zu beschneiden. Diese Niedergangsstimmungen zeigten sich besonders deutlich in dem Bestreben sehr breiter Schichten der Menschewiki, die Partei zu liquidieren. Die Liquidatoren behaupteten, eine illegale Partei führe nur zum Auffliegen der Organisationen und schränke die Schwungkraft der Arbeiterbewegung ein. Tatsächlich aber hätte die Liquidierung der illegalen Partei Verzicht auf eine selbständige Politik des Proletariats, Unterdrückung der revolutionären Stimmung des proletarischen Kampfes, Schwächung der Organisationen und der Einheit proletarischer Aktionen bedeutet. Die Liquidierung der Partei hätte Verzicht auf die Lehre von Marx, auf alle seine Prinzipien bedeutet.

Selbstverständlich konnten solche Menschewiki wie Plechanow, die seinerzeit soviel für die Propaganda des Marxismus, für den Kampf gegen den Opportunismus geleistet hatten, nicht umhin, das reaktionäre Wesen der liquidatorischen Stimmungen zu erkennen. Als sich die Propaganda für die Auflösung der Partei in eine Propaganda für die Liquidierung der Grundfesten des Marxismus selbst auszuwachsen begann, suchte Plechanow sich auf jede Weise von solchen Stimmungen abzugrenzen und gründete seine eigene Gruppe, die sogenannte Gruppe der „parteitreuen Menschewiki".

Der so entbrannte Kampf um die Partei schuf in einer ganzen Reihe von Organisationsfragen Klarheit, vertiefte und verfeinerte in den breiten Massen der Parteimitglieder das Verständnis für die Rolle der Partei, für die Pflichten ihrer Mitglieder.

Dieser Kampf für die materialistische Weltanschauung, für die Verbindung mit den Massen, für die leninistische Taktik, der Kampf für die Partei spielte sich unter den Verhältnissen der Emigration ab.

In den Jahren der Reaktion nahm die Emigration stark zu, sie wurde ständig aufgefüllt von Leuten, die vor den erbarmungslosen Verfolgungen der zaristischen Regierung ins Ausland flüchteten, Leuten mit untergrabener Gesundheit, zerrütteten Nerven, ohne einen Pfennig Geld, ohne irgendwelche Aussichten auf eine Existenzmöglichkeit oder auf Unterstützung aus Russland. Alles das verlieh dem Kampf einen ganz besonders schweren Charakter. Auch Zänkereien und Intrigen gab es mehr als genug.

Jetzt, viele Jahre später, ist es sonnenklar, um was sich dieser Kampf drehte. Jetzt, da das Leben die Richtigkeit der Linie Lenins bestätigt hat, scheint dieser Kampf für viele nur von geringem Interesse zu sein. Indessen hätte ohne diesen Kampf die Partei in den Jahren des Aufschwungs ihre Arbeit nicht so schnell entfalten können, wäre ihr Weg zum Siege schwieriger gewesen. Der Kampf spielte sich ab, als die oben erwähnten Strömungen eben erst entstanden, wurde ausgefochten zwischen Menschen, die noch vor kurzem Seite an Seite gekämpft hatten, und vielen schien es, als liege der ganze Grund in der Unverträglichkeit Lenins, in seiner Schärfe, seinem schlechten Charakter. In Wirklichkeit aber wurde um die Existenz der Partei, um ihre konsequente Linie, um die Richtigkeit ihrer Taktik gekämpft. Die Schärfe der polemischen Formen wurde auch durch die Kompliziertheit der Fragen diktiert, und häufig stellte Lenin die Fragen besonders scharf, weil ohne diese Schärfe das eigentliche Wesen der Probleme unklar geblieben wäre.

Die Jahre von 1908 bis 1911 waren nicht einfach Jahre des Aufenthalts im Ausland, es waren Jahre angestrengtesten Kampfes an der wichtigsten Front – der Front des ideologischen Kampfes.

Die zweite Periode der zweiten Emigration, die Jahre von 1911 bis 1914, war in Russland eine Periode des Aufschwungs. Das Anwachsen der Streikkämpfe, die Ereignisse an der Lena, die eine einmütige Aktion der Arbeiterklasse auslösten, die Entwicklung der Arbeiterpresse, die Dumawahlen und die Tätigkeit der Dumafraktion – alles das rief neue Formen der Parteiarbeit hervor, verlieh ihr ganz neue Ausmaße, machte die Partei ihrer Zusammensetzung nach viel mehr zu einer Arbeiterpartei, brachte sie den Massen näher.

Schnell festigte sich die Verbindung mit Russland, wuchs der Einfluss auf die dortige Arbeit. Die Prager Parteikonferenz vom Januar 1912 schloss die Liquidatoren aus der Partei aus; die illegale Parteiorganisation bildete sich heraus. Plechanow ging nicht mit den Bolschewiki.

1912 übersiedelten wir nach Krakau. Der Kampf um die Partei, um ihre Festigung war jetzt nicht mehr eine Angelegenheit der Auslandsgruppen. Die Krakauer Zeit war diejenige Periode, in der die Praxis in Russland die völlige Rechtfertigung der Leninschen Taktik brachte. Lenin widmete sich völlig den Fragen der praktischen Arbeit. Aber während in Russland die Arbeiterbewegung vorwärtsschritt, blitzte am internationalen Horizont schon hier und da ein Wetterleuchten auf, und das Herannahen des Krieges machte sich immer deutlicher bemerkbar. Und Lenin dachte schon an jene neuen Beziehungen zwischen den Nationen, die entstehen mussten, wenn sich der herannahende Weltkrieg in einen Bürgerkrieg verwandeln würde. Als wir in Krakau lebten, kam Lenin häufiger mit den polnischen Sozialdemokraten, mit ihren Ansichten über die Nationalitätenfrage in Berührung. Er kämpfte hartnäckig gegen ihre Fehler, spitzte die Formulierungen zu und präzisierte sie. Während der Krakauer Periode wurden von den Bolschewiki eine Reihe von Resolutionen über die Nationalitätenfrage angenommen, die von außerordentlicher Bedeutung waren.

Die dritte Periode der zweiten Emigration (1914-1917) umfasst die Kriegsjahre, in denen sich der Charakter unseres Emigrantenlebens wieder von Grund aus änderte. In dieser Periode gewannen die Fragen internationalen Charakters entscheidende Bedeutung, und in dieser Zeit konnten auch unsere russischen Angelegenheiten nur vom Standpunkt der internationalen Bewegung aus behandelt werden.

Eine andere, bedeutend breitere Basis, die internationale Basis, musste der Behandlung dieser Fragen nunmehr unbedingt zugrunde gelegt werden. Alles, was wir von einem neutralen Lande aus für die Propaganda des Kampfes gegen den imperialistischen Krieg, für die Propaganda der Verwandlung dieses Kriegs in einen Bürgerkrieg, für die Grundsteinlegung der neuen Internationale tun konnten, wurde getan. Diese Arbeit erforderte in den ersten Kriegsjahren (Ende 1914 und 1915) die ganze Kraft Lenins.

Gleichzeitig aber erwachte in ihm unter dem Einfluss der sich um uns vollziehenden Ereignisse eine Reihe neuer Ideen: Es zog ihn zu einer eingehenden Arbeit über Fragen des Imperialismus, über den Charakter des Krieges, über die neuen Formen der Staatsgewalt, die am Tage nach dem Sieg des Proletariats aufgerichtet werden würde, über die dialektische Methode in ihrer Anwendung auf die Politik und Taktik der Arbeiterklasse. Wir übersiedelten von Bern nach Zürich, wo man besser arbeiten konnte. Lenin widmete sich mit Eifer seinen schriftstellerischen Arbeiten, verbrachte ganze Tage in den Bibliotheken – bis schließlich die Nachricht von der Februarrevolution eintraf und die Vorbereitungen für die Rückkehr nach Russland begannen.

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