Lenins Übersiedlung nach Moskau und die ersten Monate seiner Tätigkeit in Moskau

Lenins Übersiedlung nach Moskau und die ersten Monate seiner Tätigkeit in Moskau

Der Vormarsch der Deutschen, die Besetzung Pskows – das zeigte, welcher Gefahr die Regierung in Petrograd ausgesetzt war. In Finnland tobte der Bürgerkrieg. Es wurde die Evakuierung nach Moskau beschlossen. Das war auch vom organisatorischen Standpunkt eine Notwendigkeit. Man musste im Zentrum des wirtschaftlichen und politischen Lebens arbeiten.

Am 12. März übersiedelte die Sowjetregierung nach Moskau – dem Zentrum der RSFSR, das weiter von der Grenze entfernt und mehreren Gouvernements näher lag, mit denen engste Verbindung hergestellt werden musste.

Am 11. März, am Tage seiner Übersiedlung nach Moskau, schrieb Lenin den Artikel „Die Hauptaufgabe unserer Tage". Dieser Artikel, der programmatischen Charakter trug, wurde am 12. März in der „Iswestija des ZEK" veröffentlicht. Hier kam die damalige Stimmung Iljitschs besonders gut zum Ausdruck.

Der Artikel wird eingeleitet mit einem Zitat aus der Nekrassowschen Dichtung „Wer lebt glücklich in Russland?":

Du bist armselig und reich,

mächtig und ohnmächtig zugleich,

Mütterchen Russland!"

In kurzer, gedrängter Form würdigt Iljitsch in diesem Artikel die ganze Bedeutung der großen proletarischen Revolution und weist auf das Entwürdigende des Brester Friedensvertrages hin.

Weiter geht er auf den Kampf um ein mächtiges und reiches Russland ein.

Russland wird das werden, wenn es allen Kleinmut und alle Phrasen abstreift, wenn es die Zähne zusammenbeißt und alle seine Kräfte ballt, wenn es jeden Nerv anstrengt, jeden Muskel anspannt, wenn es begreift, dass die Rettung nur auf dem Wege der internationalen sozialistischen Revolution möglich ist, den wir beschritten haben. Auf diesem Wege voranschreiten, bei Niederlagen nicht verzagen, Stein um Steinchen zusammentragen für ein festes Fundament der sozialistischen Gesellschaft, unermüdlich arbeiten an der Schaffung von Disziplin und Selbstdisziplin, überall und allenthalben arbeiten an der Stärkung der Organisiertheit, der Ordnung, der Sachlichkeit, des harmonischen Zusammenwirkens der Kräfte des ganzen Volkes, der allgemeinen Rechnungsführung und Kontrolle über die Produktion und die Verteilung der Produkte – das ist der Weg zur Schaffung einer militärischen Macht und einer sozialistischen Macht."1

Seit dem 25. Oktober 1917 sind wir Vaterlandsverteidiger", schrieb Lenin. „Wir sind für die ,Verteidigung des Vaterlands', aber der vaterländische Krieg, dem wir entgegengehen, ist ein Krieg für das sozialistische Vaterland, für den Sozialismus als Vaterland, für die Sowjetrepublik als Trupp der Weltarmee des Sozialismus."2

Inzwischen sind achtzehn Jahre vergangen, seit dieser Artikel geschrieben wurde. Wir haben einen weiten Weg zurückgelegt, sind im Aufbau des Sozialismus weit vorangekommen, und der Sozialismus hat in unserem Lande entscheidende Siege errungen; jetzt, wo wir „mit dem Liede das Leben durchschreiten" und schon mit vollem Recht vom Reichtum und von der Macht unserer sozialistischen Heimat sprechen können, jetzt, wo Millionen von Menschen mit einer bisher nie dagewesenen Energie und Initiative die von Lenin in seinem Artikel „Die Hauptaufgabe unserer Tage" aufgestellten Ziele verwirklichen – erscheint dieser Artikel so einfach, so selbstverständlich. Wenn man aber an die Zeit zurückdenkt, in der er entstanden ist, dann kann man erst seine ganze Bedeutung für die damalige Zeit ermessen.

Iljitsch war voller Energie und Kampfbereitschaft.

In der ersten Zeit lebten wir (Iljitsch, Maria Iljinitschna und ich) in Moskau im „National" (dem ersten Haus der Sowjets). Man hatte uns im zweiten Stock zwei Zimmer mit Bad zur Verfügung gestellt. Es war Frühling, die Sonne schien über Moskau. Dicht am Hotel „National" begann der „Ochotny Rjad" mit seinen Verkaufsläden, wo der Straßenhandel florierte; hier bot sich das alte Moskau dar; hier nistete noch das alte Krämergesindel, das die Haufen der Schwarzhunderter stellte, die in früheren Jahren die Studenten hingemordet hatten. Iljitsch wurde von vielen Menschen aufgesucht, häufig kamen Angehörige der Armee zu ihm.

Am 18. März hatten die Engländer 400 bis 500 Matrosen in Murmansk gelandet, angeblich zum Schutz der Heeresbestände der Entente, die seinerzeit für die zaristische Regierung bereitgestellt worden waren. Die wahren Absichten dieser Landungstruppe waren klar.

Im „National" bekamen wir englische Fleischkonserven zu essen, die gleichen, wie sie die englischen Frontsoldaten erhielten. Einmal bemerkte Lenin beim Essen: „Und womit werden wir unsere Soldaten an der Front verpflegen …" Unser Leben im „National" glich irgendwie einem Biwak, und Iljitsch drängte darauf, dass man uns möglichst bald eine feste Unterkunft zuwies, um mit der Arbeit richtig beginnen zu können.

Die Regierungsinstitutionen und die führenden Mitglieder der Regierung sollten im Kreml untergebracht werden. Auch wir sollten dort wohnen.

Ich erinnere mich, wie Jakow Michailowitsch Swerdlow und Wladimir Dmitrijewitsch Bontsch-Brujewitsch uns zum ersten Mal in den Kreml brachten, um unsere künftige Wohnung zu besichtigen. Wir sollten im ehemaligen „Senatsgebäude" Quartier erhalten. Eine alte, von den vielen Besuchern der vergangenen Jahrzehnte abgenutzte Steintreppe führte zum dritten Stock, zur Wohnung des ehemaligen Staatsanwalts beim Obersten Gerichtshof. Es waren für uns die Küche und die angrenzenden drei Zimmer mit besonderem Eingang vorgesehen. Die übrigen Räume standen zur Verfügung des Rates der Volkskommissare. Das größte Zimmer sollte als Sitzungssaal (dort werden auch jetzt noch die Sitzungen des Rates der Volkskommissare der UdSSR abgehalten) dienen. Anschließend das Arbeitszimmer Wladimir Iljitschs, das dem Haupteingang, durch den die Besucher zu ihm gelangen konnten, am nächsten lag. Es war sehr bequem. Aber im ganzen Hause war es unheimlich schmutzig, die Öfen waren beschädigt, die Decken ließen Wasser durch. Besonders verwahrlost waren die Räume, in die wir einziehen sollten und in denen vorerst die Wache hauste. Die Zimmer mussten unbedingt renoviert werden.

Vorübergehend wurden wir in dem sogenannten Kavalier-Haus untergebracht; uns standen hier zwei saubere Zimmer zur Verfügung.

Iljitsch liebte es, im Kreml spazieren zugehen Von hier bot sich eine herrliche Aussicht auf die Stadt. Am liebsten benutzte er den Bürgersteig gegenüber dem Großen Palais, hier konnte sich das Auge an so manchem erfreuen, auch liebte er die Wege dicht an der Kremlmauer, die im Grünen lagen und wenig benutzt waren.

In einem der Zimmer, das wir im „Kavalier-Haus" bewohnten, lag auf dem Tisch eine alte Ausgabe eines Albums, das Aufnahmen vom Kreml und die Geschichte des Kreml enthielt, ebenso Angaben über die einzelnen Bauten, über die Geschichte und die Bedeutung jedes einzelnen Turms. Iljitsch blätterte gern in diesem Album. Der Kreml des Jahres 1918 hatte wenig Ähnlichkeit mit dem Kreml von heute. Damals spürte man noch den Hauch der Vergangenheit. Neben dem „Senatsgebäude" befand sich das rosa angestrichene Tschudow-Kloster mit seinen kleinen Gitterfenstern; am Abhang das Denkmal Alexanders II.; unten an der Mauer stand eine uralte Kirche. Gegenüber dem „Senatsgebäude", im Kremlgebäude, waren Arbeiter beschäftigt. Neue Bauten gab es noch nicht, auch gab es keine Grünanlagen. Bewacht wurde der Kreml von Rotarmisten.

Die alte Armee war zersetzt und wurde demobilisiert. Es musste eine neue, starke, revolutionäre Armee geschaffen werden, die erfüllt war von Begeisterung und vom Willen zum Sieg.

In der ersten Zeit hatte die Rote Armee sehr wenig Ähnlichkeit mit einer Armee im üblichen Sinne. Sie war voller glühender Begeisterung – doch das Äußere der Rotarmisten war durchaus nicht militärisch: es gab keine einheitliche Uniform – jeder trug, was er gerade hatte –, keine feste Ordnung, kein Reglement. Die Feinde der Sowjetmacht spotteten über die Rotarmisten, sie glaubten nicht daran, dass es den Bolschewiki gelingen würde, eine mächtige und kampffähige Armee zu schaffen. Die Spießer fürchteten die Rotarmisten, in ihren Augen waren es einfach Räuber. Ich erinnere mich an einen Fall aus dem Jahre 1919: Eine Übersetzerin, die für den Genossen Adoratski arbeitete, sollte sich ein Manuskript aus dem Kreml abholen, sie konnte sich nicht dazu entschließen, weil sie Angst vor den Rotarmisten hatte, die den Kreml bewachten. Die Ausländer konnten sich nicht genug darüber wundern, dass unsere Posten sich nicht an das allgemeine Reglement hielten.

Iljitsch erzählte mir gelegentlich von einem Besuch Mirbachs. Der Posten, der vor Lenins Arbeitszimmer Wache hielt, saß wie immer am Tischchen und las. Damals nahm niemand Anstoß daran. Der deutsche Botschafter Graf Mirbach, der nach dem Abschluss des Friedens mit Deutschland nach Russland kam, machte, wie es sich geziemt, eine „Antrittsvisite" beim Regierungsoberhaupt im Kreml, beim Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare, Lenin. Der Wachhabende saß und las und nahm keinerlei Notiz von Mirbach, der in Lenins Arbeitszimmer ging. Mirbach sah ihn recht erstaunt an. Als er nach dem Empfang wieder am Wachhabenden vorbeikam, saß der immer noch und las, ohne auch nur für einen Augenblick aufzusehen. Mirbach blieb stehen, nahm das Buch vom Tisch und bat den Übersetzer, ihm den Titel des Buches zu übersetzen. Es war Bebels Werk „Die Frau und der Sozialismus". Ohne ein Wort zu sagen, gab Mirbach dem Soldaten das Buch zurück.

Die Rotarmisten lernten eifrig. Sie begriffen, dass Wissen unerlässlich ist für den Sieg.

Wenn Lenin schnellen Schrittes den Korridor entlang zu seinem Arbeitszimmer ging, mit Zeitungen, Papieren und Büchern schwer beladen, begrüßte er immer recht herzlich die Wachhabenden. Er kannte ihre Stimmung und ihre Bereitschaft, ihr Leben für die Sowjetmacht einzusetzen.

Auf dem VII. Parteitag (6. bis 8. März 1918) wurde der Abschluss eines Friedensvertrages mit Deutschland beschlossen, trotz noch so harter und noch so erniedrigender Bedingungen. Diesem Beschluss ging ein harter Kampf voraus. Die Frage der Ratifikation des Friedensvertrages mit Deutschland behandelte Lenin im politischen Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees, als Korreferent trat N. I. Bucharin von der Gruppe „linker Kommunisten" auf. Alle Fragen wurden äußerst konkret gestellt. Am Parteitag nahmen 46 Genossen, die 300.000 Mitglieder vertraten, mit beschließender Stimme teil. Damals sah es in der Partei nicht so aus wie heute, es fehlte noch die Einheit und Geschlossenheit, wie wir sie jetzt haben. Von den 46 waren 30 für die Ratifikation des Brester Vertrages, 12 stimmten dagegen, und 4 enthielten sich der Stimme; mit anderen Worten – etwa ein Drittel der Parteitagsdelegierten stimmte gegen die Linie des ZK, gegen den Leninschen Standpunkt. Darunter waren viele führende Bolschewiki. Am 23. Februar hatten 6 von ihnen ihre verantwortlichen Posten in der Partei und im Sowjet niedergelegt, wobei sie sich die Freiheit der Agitation, sowohl in der Partei als auch außerhalb der Partei, vorbehielten. Am 24. Februar hatte das Moskauer Gebietsbüro ein Misstrauensvotum gegen das ZK ausgesprochen und erklärt, dass es sich keinerlei Beschlüssen unterordnen werde, „die der Realisierung des mit Österreich und Deutschland abgeschlossenen Friedensvertrages dienen". In der Zusatzerklärung zur Resolution hieß es, dass das Büro „eine Spaltung der Partei in der nächsten Zeit als kaum vermeidbar betrachte". Das Moskauer Gebietsbüro spielte Anfang 1918 die Rolle eines organisatorischen Zentrums der „linken Kommunisten" im gesamtrussischen Maßstab.

Es ist durchaus begreiflich, dass Lenin sich besonders leidenschaftlich gegen die „linken Kommunisten" und gegen die revolutionäre Phrase wandte. Am 21. Februar 1918 schrieb er in der „Prawda":

Es gilt, gegen die revolutionäre Phrase zu kämpfen, man muss sie bekämpfen, muss sie unbedingt bekämpfen, damit nicht einst von uns die bittere Wahrheit erzählt werde: ,Die revolutionäre Phrase vom revolutionären Krieg hat die Revolution zugrunde gerichtet.'"3

Iljitsch wusste, dass die Massen ihm folgen würden und nicht den „linken Kommunisten". Der IV. Außerordentliche Sowjetkongress musste den Friedensvertrag ratifizieren. Die „linken Kommunisten" waren sogar bereit, die Sowjetmacht aufzugeben. In ihrer Erklärung vom 24. Februar hieß es: „Im Interesse der Weltrevolution halten wir es für zweckmäßig, unter Umständen selbst die Sowjetmacht preiszugeben, die sich zu einer rein formalen Angelegenheit entwickelt." Tief entrüstet war Lenin über diese Phrase. Am 12. März sprach er in der Sitzung des Moskauer Sowjets der Arbeiter-, Bauern- und Rotarmistendeputierten, voller Leidenschaft waren seine Worte, die er an die Vertreter der Massen richtete:

Die russische Revolution schuf etwas, wodurch sie sich krass von den Revolutionen in Westeuropa unterscheidet (von mir hervorgehoben. N. K.). Sie schuf eine revolutionäre Masse, die durch das Jahr 1905 zur selbständigen Aktion vorbereitet worden war; sie schuf die Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten, die unendlich demokratischere Organe sind als alle früheren Organe und es ermöglichen, die rechtlose Masse der Arbeiter, Soldaten und Bauern zu erziehen, zu heben, sie mitzureißen …“4

In dieser Rede charakterisierte Lenin auch die Provisorische Regierung und die Paktierer. Auf die Februarrevolution eingehend, sagte er folgendes:

Wenn damals die Macht an die Sowjets übergegangen wäre, wenn die Paktierer damals, anstatt Kerenski dabei zu helfen, die Armee ins Feuer zu treiben, einen demokratischen Frieden angeboten hätten, dann wäre die Armee nicht so zugrunde gerichtet worden. Sie hätten ihr sagen müssen: Gewehr bei Fuß! In der einen Hand hätte sie den zerrissenen Geheimvertrag mit den Imperialisten und das Angebot eines demokratischen Friedens an alle Völker und in der anderen Hand das Gewehr und die Kanone halten müssen, und die Front hätte ganz unversehrt bleiben müssen. Dann hätte man die Armee und die Revolution retten können."5

Jetzt, da unsere Rote Armee mit modernsten Waffen ausgerüstet, mächtig und gut organisiert „Gewehr bei Fuß" steht, da sind diese Worte Iljitschs jedem bewussten Bürger unserer großen Heimat verständlich und vertraut. Und als Iljitsch damals, auf dem IV. Sowjetkongress, der in der Zeit vom 14. bis 16. März tagte, vor den Vertretern der Sowjets mit der ihm eigenen Aufrichtigkeit und Leidenschaft sprach, machte er so nebenbei eine Äußerung, die für ihn als revolutionären Kämpfer besonders kennzeichnend war:

Man sagt, wir gäben die Ukraine preis, die Tschernow, Kerenski und Zeretelli zugrunde richten wollen; man sagt uns: ihr Verräter, ihr habt die Ukraine verraten! Ich sage: Genossen, ich habe genug gesehen und erlebt in der Geschichte der Revolution, um mich nicht durch feindliche Blicke und Schreiereien von Leuten irre machen zu lassen, die sich dem Gefühl überlassen und nicht urteilen können."6

Iljitsch ließ sich weder von feindlichen Auffassungen noch vom Geschrei beirren, das bisweilen seine nächsten Kampfgenossen anstimmten, aber er war doch nur ein Mensch und litt besonders schwer, wenn es galt, sich von jenen zu trennen, mit denen er bis dahin Hand in Hand gearbeitet hatte; er konnte nachts nicht schlafen, seine Nerven gingen durch … Diesmal kam es nicht zur Spaltung. Der IV. Gesamtrussische Sowjetkongress ratifizierte den Vertrag mit 784 gegen 261 Stimmen; 115 Deputierte enthielten sich der Stimme. Auf dem IV. Sowjetkongress waren nicht nur Bolschewiki vertreten. Gegen den Abschluss des Friedensvertrages stimmten die Menschewiki, die Anarcho-Kommunisten und die rechten und linken Sozialrevolutionäre. Ihre Vertreter hatten sich am 23. Februar in der Sitzung des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees gegen die Annahme der deutschen Friedensbedingungen gewandt. Unter diesen Umständen bedeutete das Abstimmungsergebnis – 784 gegen 261 – einen ernsten Sieg der Leninschen Linie.

Da die Frage des Friedensvertrages mit Deutschland entschieden war, rechnete Lenin mit einer Atempause, die von der Sowjetmacht zur breiten Entfaltung der Arbeit innerhalb des Landes genutzt werden musste. Iljitsch machte sich daran, die Broschüre „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht" zu schreiben. Solange wir noch im „Kavalier-Haus" wohnten, besuchte uns des öfteren Jakow Michailowitsch Swerdlow. Er sah, wie Lenin seine Arbeiten mit der Hand schrieb, und versuchte ihn zu überreden, einen Stenografen in Anspruch zu nehmen. Lange sträubte sich Iljitsch dagegen, doch schließlich hatte er sich doch überreden lassen, und Swerdlow schickte den besten Stenografen. Aber es klappte nicht; der Stenograf bat zwar Lenin, auf ihn keinerlei Rücksicht zu nehmen und so zu tun, als wäre er gar nicht da, aber es ging eben nicht. Iljitsch hatte seinen eigenen Arbeitsstil: Er schrieb gewöhnlich 1-2 Seiten, und dann dachte er lange darüber nach, ob man nicht das eine oder andere besser ausdrücken könnte, und dabei störte ihn die Anwesenheit eines fremden Menschen. Nur während seiner schweren Krankheit im Jahre 1923, als er selbst nicht schreiben konnte, diktierte er seine Artikel, aber das kostete ihn viel Mühe. Zum Diktat kamen Fotijewa, Gljasser, Manutscharjanz und Woloditschewa, die schon seit Längerem im Sekretariat arbeiteten und Lenin gut bekannt waren, und doch hörte man ihn ab und zu nervös auflachen.

Angespannt arbeitete Iljitsch Ende März/April 1918 an seinem Artikel „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht", der am 28. April in den „Iswestija" abgedruckt wurde. Dieser Artikel war für die Bolschewiki viele Jahre hindurch die Anleitung zum Handeln. Mir scheint, dass Lenin an keiner anderen Stelle so einfach, so klar, so eindrucksvoll und anschaulich die besonderen Schwierigkeiten beim Aufbau des Sozialismus in unserem Lande in jener Periode aufgezeigt hat wie in dieser Broschüre. Unser Land war vor dem Oktober ein kleinbäuerliches Land. Millionen von Bauern waren von der Psychologie der Kleineigentümer beherrscht. Jeder dachte nur an sich, an seine Wirtschaft, an sein Stück Land, die anderen interessierten ihn nicht. „Jeder für sich, und Gott für alle“ – hieß es bei den Bauern. Dutzende Male schrieb Lenin über diese Psychologie der Kleineigentümer und über ihre Schädlichkeit, aber jetzt, wo nach der Auflösung der Konstituierenden Versammlung die Machtfrage endgültig entschieden war und der Brester Friedensvertrag eine gewisse Atempause gewährte, gewann die Frage der Umerziehung der Massen, der Veränderung ihrer Psychologie, die Anerziehung eines Kollektivgeistes besondere Bedeutung.

Die große proletarische Revolution hatte die Gutsbesitzer und Kapitalisten gestürzt, gleichzeitig aber brach das kleinbürgerliche Element durch. Man war mit der Aufteilung des Eigentums der Gutsbesitzer beschäftigt und trieb Schacher mit dem eroberten Gut. Wie sollte dieses kleinbürgerliche Element gebannt, die Massen umerzogen, eine neue, sozialistische Ordnung geschaffen und die Verwaltung organisiert werden? Das waren die Fragen, die im März/April 1918 die ganze Aufmerksamkeit Lenins in Anspruch nahmen.

Über die Organisierung einer allumfassenden Rechnungsführung und Kontrolle, über die Hebung der Arbeitsproduktivität, darüber, wie man lernt, richtig zu arbeiten, wie man die Teilnahme der Massen am gesellschaftlichen Leben fördert, ihr Bewusstsein hebt, wie man die Arbeit auf neue Weise organisiert und eine neue Arbeitsdisziplin schafft – all das behandelte Lenin in seiner Broschüre „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht". Ein Kapitel ist speziell dem sozialistischen Wettbewerb gewidmet.

Aus dieser Broschüre kann man auch heute noch vieles lernen. Jetzt begreift ein jeder die große Rolle, die der sozialistische Wettbewerb beim Aufbau des Sozialismus gespielt hat und noch spielt, aber damals ging man an dieser Frage irgendwie vorbei (zum Teil mag es an dem bald darauf ausgebrochenen Bürgerkrieg gelegen haben). Der sozialistische Wettbewerb fand seine breite Anwendung in den Jahren des Kampfes um die Erfüllung des ersten Fünfjahresplanes, so etwa 1928 – zehn Jahre nach dem Erscheinen der Broschüre.

Diese Broschüre enthält ein besonderes Kapitel: „Die Hebung der Arbeitsproduktivität". Wie immer behandelte Iljitsch auch diese Frage nicht isoliert, sondern im Zusammenhang und in Wechselwirkung mit einer Reihe anderer grundlegender Fragen.

Die Hebung der Arbeitsproduktivität erfordert vor allem die Sicherung der materiellen Grundlage der Großindustrie: die Entwicklung der Produktion von Brennstoffen und Eisen, des Maschinenbaus, der chemischen Industrie …

Eine andere Bedingung für die Steigerung der Arbeitsproduktivität ist erstens die Hebung des Bildungs- und Kulturniveaus der Masse der Bevölkerung. Dieser Aufstieg geht jetzt mit ungeheurer Schnelligkeit vor sich, was die von der bürgerlichen Routine geblendeten Menschen nicht sehen, die nicht begreifen können, welcher Drang zum Licht und wie viel Initiative sich jetzt dank der sowjetischen Organisation im ,niederen' Volk entfaltet. Voraussetzung des wirtschaftlichen Aufstiegs ist zweitens die Hebung der Disziplin der Werktätigen, ihres produktiven Könnens, ihrer Geschicklichkeit, die Steigerung der Arbeitsintensität und die bessere Arbeitsorganisation."7

Die Frage der Hebung der Arbeitsproduktivität verband Lenin mit der Frage des Wettbewerbs.

In der Broschüre „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht" weist Wladimir Iljitsch besonders darauf hin, dass die Hebung der Arbeitsproduktivität ein langwieriger Prozess ist: „Wenn man sich der zentralen Staatsgewalt in ein paar Tagen bemächtigen kann, wenn man den militärischen (und den durch Sabotage geübten) Widerstand der Ausbeuter sogar in den verschiedenen Ecken und Enden eines großen Landes in ein paar Wochen brechen kann, so erfordert eine dauerhafte Lösung der Aufgabe, die Arbeitsproduktivität zu steigern, auf jeden Fall (besonders nach dem qualvollen und verheerenden Krieg) mehrere Jahre. Die objektiven Umstände verleihen der Arbeit hier zwangsläufig einen langwierigen Charakter."8

Gegenwärtig, zu Beginn des Jahres 1936, erleben wir die Stachanowbewegung, wir sehen, wie auf der Basis einer neuen, im Verlauf der ersten zwei Planjahrfünfte entstandenen Technik sich eine mächtige Bewegung zur Steigerung der Arbeitsproduktivität von unten her, aus der Arbeitermasse selbst entwickelt. Wir sind Zeugen eines gewaltigen Aufschwungs der Arbeitsproduktivität, und Lenins Broschüre „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht" erscheint uns in neuem Licht, die ganze Bedeutung der von ihm darin aufgezeigten Linie wird uns klar.

Wladimir Iljitsch hatte oft Gelegenheit, mit Arbeitern und Bauern zu sprechen, auf Schritt und Tritt konnte er beobachten, wie schlecht sie noch zu arbeiten verstanden, aber nicht nur das sah er, sondern vor allem die durch die jahrhundertelange Knechtschaft überkommene Einstellung zur Arbeit, die sie als Fluch empfanden, als etwas, von dem man sich soweit wie möglich frei machen sollte. Die Revolution hatte die Aufseher, die Gesellen, die die Arbeiter ständig antrieben, sie beschimpften und mit Ohrfeigen nicht kargten, beseitigt. Glücklich war der Arbeiter, dass er von keinem mehr angetrieben wurde, dass er sich auch mal hinsetzen und rauchen konnte, wenn er müde war. In der ersten Zeit haben die Betriebsorganisationen ohne weiteres die Arbeiter zur Teilnahme an Versammlungen beurlaubt. Ich erinnere mich an folgenden Fall: Eine Arbeiterin kam zu mir ins Volkskommissariat für Bildungswesen, um Auskünfte einzuholen. Wir kamen ins Gespräch. Ich fragte sie, in welcher Schicht sie arbeite. Ich nahm an, dass sie Nachtschicht hätte und daher am Tage hierher kommen konnte. „Heute wird bei uns nicht gearbeitet. Wir hatten gestern Betriebsversammlung, und da sich bei uns allen Haushaltsarbeiten angehäuft haben, haben wir abgestimmt und beschlossen, heute nicht zu arbeiten. Schließlich sind wir doch jetzt die Herren." Wenn man das heute, nach 18 Jahren, den Genossen erzählt, so erscheint ihnen ein solcher Fall unglaubwürdig und keineswegs typisch, während das Anfang 1918 Gang und Gäbe war. Man hatte die Herren Ausbeuter, ihre Handlanger und die Antreiber verjagt, aber es fehlte noch das Bewusstsein, dass die Werke in den Besitz der Gesellschaft übergegangen sind und dass man dieses gesellschaftliche Eigentum hüten und festigen muss, dass die Steigerung der Arbeitsproduktivität unumgänglich ist. Gerade darum betonte Lenin mit besonderem Nachdruck diese Seite der Sache: Er verstand es, der Wahrheit ins Auge zu sehen. Man musste das Bewusstsein der Arbeiter heben, ihr bewusstes Verhalten zur Arbeit fördern, die Arbeit in ihrem gesamten Ablauf sinnvoll organisieren.

Besonders scharf wandte sich Iljitsch in der Broschüre „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht" gegen die linken Sozialrevolutionäre – die Repräsentanten des Kleinbürgertums, die die Bedeutung praktischer, sachlicher Arbeit nicht begriffen, sie als Praktizismus, als „Allmählichkeitstheorie" abtaten und von einem „revolutionären Krieg" usw. usf. träumten.

Die einzige Klasse, auf die Iljitsch seine Hoffnungen setzte, an deren führende Kraft er glaubte, war das Proletariat, obwohl es noch eine höhere Stufe erreichen, noch viel an sich arbeiten und noch wachsen musste:

Führen kann die werktätigen und ausgebeuteten Massen nur eine Klasse, die ohne Schwankungen ihren Weg geht, nicht kleinmütig wird und auch bei den mühsamsten, schwersten und gefährlichsten Übergängen nicht in Verzweiflung gerät. Hysterische Aufwallung brauchen wir nicht. Wir brauchen den gemessenen Schritt der eisernen Bataillone des Proletariats."9

Das waren die Worte, mit denen Iljitsch seinen Artikel „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht" schloss.

Am 28. April erschien dieser Artikel in der „Iswestija des ZEK", am 29. April referierte Iljitsch in der Sitzung des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees.

Um dem Moskauer Arbeiteraktiv die Möglichkeit zu geben, dem Referat Lenins über die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht beizuwohnen, fand die Sitzung im Polytechnischen Museum statt. Begeistert begrüßten die Anwesenden Lenin, mit größter Aufmerksamkeit lauschten sie seinen Worten; behandelte er doch eine Frage, die allen besonders am Herzen lag. Ungewöhnlich leidenschaftlich war seine Rede, noch heute kann man nicht ohne innere Anteilnahme seine damaligen Ausführungen lesen. Iljitsch sprach von den Besonderheiten unserer Revolution, von den Ursachen, die zu ihrem Siege führten, von den Schwierigkeiten des sozialistischen Aufbaus in einem kleinbürgerlichen Lande; er kennzeichnete unsere Bourgeoisie und ihre Schwäche, forderte auf, bei der westlichen und amerikanischen Bourgeoisie, bei den Organisatoren der Truste zu lernen, wie man die Produktion organisiert; er geißelte die linken Sozialrevolutionäre, die Vertreter des kleinbürgerlichen Elements, fand scharfe Worte gegen die „linken Kommunisten", die sich diesen Einflüssen unterworfen hatten, obwohl er sie immer noch als unsere Freunde von gestern, heute und morgen bezeichnete. Lenin sprach über die Rolle des Proletariats, den Einfluss des kleinbürgerlichen Elements, über die Bedeutung der sozialistischen Organisation, darüber, dass unser Proletariat sich auf neue Weise organisieren müsse: nur dann würde es imstande sein, die gesamte werktätige Masse zu führen.

„…solange die fortgeschrittenen Arbeiter es nicht lernen werden, Dutzende von Millionen zu organisieren", sagte Iljitsch, „solange werden sie keine Sozialisten und keine Schöpfer einer sozialistischen Gesellschaft sein und nicht die notwendigen organisatorischen Kenntnisse erlangen. Der Weg der Organisation ist ein langer Weg, und die Aufgaben des sozialistischen Aufbaus erfordern hartnäckige, langwierige Arbeit und entsprechende Kenntnisse, an denen es uns mangelt."10

In seiner Rede in der Sitzung des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees am 29. April sprach Lenin auch davon, dass das Proletariat, welches in der Großindustrie Disziplin gelernt hat, es vom Standpunkt der augenblicklichen Aufgaben verstehen wird, die Losung des ZK zum 1. Mai richtig zu würdigen: „Wir haben das Kapital besiegt, wir werden auch unsere eigene Unorganisiertheit besiegen." Auf die Bedeutung der Eisenbahnen eingehend, sagte er: „Ohne Eisenbahnen aber wird es nicht nur keinen Sozialismus geben, sondern alle werden einfach vor Hunger krepieren wie die Hunde, während nebenan Getreide liegt", denn „die Eisenbahnen sind der Angelpunkt, sind eine der Erscheinungsformen engster Verbindung zwischen Stadt und Land, zwischen Industrie und Landwirtschaft, auf die sich der Sozialismus voll und ganz stützt. Um diese Verbindung zwecks planmäßiger Tätigkeit im Interesse der gesamten Bevölkerung herzustellen, dazu braucht man die Eisenbahnen."11

Wie verständlich und vertraut ist uns jetzt, nach 18 Jahren, diese Rede!

Damals haben gewiss nicht alle ihre Bedeutung begriffen, aber sie bewog zum Nachdenken und erfüllte die Massen mit Enthusiasmus.

Nach dem IV. Sowjetkongress, am 29. März, beschlossen die „linken Kommunisten", die an der Spitze des Moskauer Gebietsbüros der KPR(B) standen, dennoch die Herausgabe einer eigenen Wochenzeitschrift „Kommunist", um dort ihre Auffassungen zu verteidigen. Die erste, am 20. April erschienene Nummer dieser Zeitschrift brachte die von der Redaktion veröffentlichten „Thesen über die gegenwärtige Lage". Iljitschs Rede in der Sitzung des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees vom 29. April war gleichsam eine Antwort auf die dort von ihnen entwickelten Auffassungen. Noch ausführlicher ging Lenin darauf in seinem Artikel „Über ,linke' Kinderei und über Kleinbürgerlichkeit" ein (erschienen in der „Prawda" vom 9. und 11. Mai 1918), wo er ihren Standpunkt genauer analysierte. Von besonderem Interesse ist die Stelle, wo Lenin von der Vergesellschaftung spricht.

Gehen wir nun", schrieb Lenin, „über zu den Missgeschicken unserer ,linken' Kommunisten auf dem Gebiet der Innenpolitik. Man kann kaum ohne ein Lächeln solche Phrasen in den Thesen über die gegenwärtige Lage lesen, wie:

,Eine planmäßige Ausnutzung der unversehrt gebliebenen Produktionsmittel ist nur bei entschlossenster Vergesellschaftung denkbar' … ,Keine Kapitulation vor der Bourgeoisie und ihren kleinbürgerlichen intelligenzlerischen Handlangern, sondern gänzliche Vernichtung der Bourgeoisie und endgültiges Brechen der Sabotage …'

Diese lieben ,linken Kommunisten', wie viel Entschlossenheit ist bei ihnen zu finden … und wie wenig Überlegung! Was heißt das – ,entschlossenste Vergesellschaftung'?

Man kann in der Frage der Nationalisierung, der Konfiskation entschlossen oder unentschlossen sein. Aber das ist es ja gerade, dass selbst die allergrößte ,Entschlossenheit' nicht hinreicht, um den Übergang von der Nationalisierung und der Konfiskation zur Vergesellschaftung zu vollziehen. Das ist eben das Pech unserer ,Linken', dass sie mit dieser naiven, kindischen Wortverbindung ,entschlossenste … Vergesellschaftung' offenbaren, dass sie den Angelpunkt der Frage, den Angelpunkt der ,gegenwärtigen' Lage absolut nicht verstehen Darin besteht ja das Missgeschick der ,Linken', dass sie das eigentliche Wesen der ,gegenwärtigen Lage', den Übergang von den Konfiskationen (bei deren Durchführung die Haupteigenschaft des Politikers Entschlossenheit ist) zur Vergesellschaftung (bei deren Durchführung von einem Revolutionär eine andere Eigenschaft gefordert wird) nicht bemerkt haben.

Gestern war es der Angelpunkt der gegebenen Lage, möglichst entschieden zu nationalisieren, zu konfiszieren, die Bourgeoisie zu schlagen und zu vernichten, die Sabotage zu brechen. Heute sehen nur Blinde nicht, dass wir mehr nationalisiert, konfisziert, zerschlagen und zerbrochen haben, als wir zu erfassen vermochten. Die Vergesellschaftung aber unterscheidet sich gerade dadurch von einfacher Konfiskation, dass zum Konfiszieren bloße ,Entschlossenheit', ohne die Fähigkeit, richtig zu registrieren und richtig zu verteilen, genügt, während man ohne eine solche Fähigkeit nicht vergesellschaften kann."12

Jetzt, wo ein langer Weg des Kolchosaufbaus hinter uns liegt und wir Gelegenheit hatten zu beobachten, wie man „vor Erfolgen von Schwindel befallen" wird, verstehen wir erst die Worte Iljitschs richtig zu schätzen.

Auf die in der Zeitschrift „Kommunist" veröffentlichten Materialien eingehend, gab Lenin den „linken Kommunisten" folgende negative Einschätzung:

An der Zeitschrift ,Kommunist' sehen wir auf Schritt und Tritt, dass unsere ,Linken' keine Ahnung haben von der proletarischen eisernen Disziplin und ihrer Vorbereitung, dass sie völlig durchtränkt sind von der Mentalität des deklassierten kleinbürgerlichen Intellektuellen."13

Mit der vierten Nummer stellte der „Kommunist" sein Erscheinen im Juni ein.

Bedeutend entschiedener kämpften gegen die Leninsche Linie die linken Sozialrevolutionäre.

Am 2. und 3. Mai 1918 verlangten die linken Sozialrevolutionäre, geführt von Spiridonowa und Karelin, ultimativ, dass ihnen das Volkskommissariat für Landwirtschaft völlig ausgeliefert wird. Lenin beriet sich mit den in diesem Volkskommissariat tätigen Bolschewiki (W. N. Meschtscherjakow, S. Sereda und anderen). Die bolschewistische Fraktion sprach sich entschieden dagegen aus, und das Zentralkomitee lehnte den Antrag der linken Sozialrevolutionäre ab. Der Einfluss der linken Sozialrevolutionäre im Volkskommissariat für Landwirtschaft ging zurück.

Am 22. Mai schrieb Lenin in seinem Brief an die Petrograder Arbeiter:

Genossen! Dieser Tage war ein Delegierter von Euch bei mir, ein Parteigenosse, ein Arbeiter aus den Putilow-Werken. Dieser Genosse schilderte mir eingehend das außerordentlich drückende Bild der Hungersnot in Petrograd. Wir alle wissen, dass es in einer ganzen Reihe von Industriegouvernements um die Versorgung ebenso kritisch bestellt ist, dass der Hunger ebenso quälend an die Tür der Arbeiter und der Armen überhaupt pocht.

Daneben aber beobachten wir eine Orgie von Schiebungen mit Getreide und anderen Lebensmitteln. Die Hungersnot rührt nicht daher, dass es in Russland kein Getreide gäbe, sondern daher, dass die Bourgeoisie und alle Reichen der Herrschaft der Werktätigen, dem Staat der Arbeiter, der Sowjetmacht in der wichtigsten und brennendsten Frage, der Frage des Brotes, das entscheidende, letzte Gefecht liefern.

Die Bourgeoisie und alle Reichen, einschließlich der Dorfreichen, der Kulaken, hintertreiben das Getreidemonopol, sie untergraben die staatliche Verteilung des Getreides zugunsten und im Interesse der Brotversorgung der ganzen Bevölkerung, in erster Linie der Arbeiter, der Werktätigen, der Bedürftigen. Die Bourgeoisie sabotiert die festen Preise, spekuliert mit Getreide, profitiert hundert, zweihundert und mehr Rubel an einem Pud Getreide, zerrüttet das Getreidemonopol und die richtige Verteilung des Getreides, zerrüttet es durch Bestechungsgelder, durch Korruption, durch böswillige Unterstützung alles dessen, was der Arbeitermacht verderblich ist, die danach strebt, das erste, grundlegende Hauptprinzip des Sozialismus zu verwirklichen: ,Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen.'"14

In Moskau blühte die Spekulation. Ich denke gerade an eine amüsante Episode. Ich fuhr mit Iljitsch nach den Worobjowy Gory. Iljitsch kannte man damals noch wenig von Angesicht; auf der Straße fiel er nicht weiter auf. Da sitzt so ein gut genährter Bauer mit einem leeren Sack und dreht sich eine Zigarette. Ich ging an ihn heran und begann ein Gespräch mit ihm, wie es ihm ginge, wie es mit dem Brot stände. „Ach ja, es lebt sich jetzt nicht schlecht, an Brot haben wir keinen Mangel, man kann gut Handel damit treiben. In Moskau da fehlt es an Brot, die Leute befürchten, dass es bald überhaupt keins geben wird. Brot wird jetzt gut bezahlt, man bekommt ganz schönes Geld dafür. Man muss es nur verstehen, zu handeln. Ich kenne einige Familien, denen bringe ich regelmäßig Brot, und bekomme mühelos mein Geld …"

Iljitsch kam hinzu und hörte sich das Gespräch an. „Da am ,Sumpf', da lebt eine Familie …"„An welchem ,Sumpf?" fragte ich. Da stierte mich der Bauer an und meinte: „Woher stammst du denn, wenn du nicht einmal den,Sumpf' kennst?" Später erfuhr ich, dass man in Moskau den Markt, der sich neben dem jetzigen Haus der Regierung befand, so bezeichnete. Dort wurde hauptsächlich mit Gemüse und Äpfeln gehandelt. „Ich bin Petrograderin", antwortete ich, „und vor kurzem erst nach Moskau gekommen."

Pe-tro-gra-de-rin", und seine Gedanken nahmen eine andere Richtung, sie wandten sich Petrograd und Lenin zu. Er schwieg eine Weile, und dann kam es: „Lenin allein stört nur. Ich kann diesen Lenin nicht begreifen. Ist doch ein ganz blöder Kerl. Da brauchte seine Frau eine Nähmaschine, und nun ordnete er an, dass man den Leuten in den Dörfern die Nähmaschinen wegnimmt. Meiner Nichte hat man auch die Nähmaschine weggenommen. Der ganze Kreml soll jetzt, wie man sagt, voll Nähmaschinen stehen …" Ich gab mir die größte Mühe, nur nicht Iljitsch anzusehen, damit ich nicht herausplatzte.

Dieser Kleineigentümer, ein wohlhabender Bauer, konnte sich überhaupt nicht vorstellen, dass Lenin nicht für sich persönlich die Sachen verwendet. Es ist ihm zu Gehör gekommen, dass Lenin von Maschinen sprach. Der im Vorort lebende Bauer konnte nicht begreifen, warum sich Lenin für Maschinen interessierte, um was für Maschinen es sich überhaupt handelte, wozu er sie benötigte, welchen Nutzen er davon haben könnte.

So lächerlich auch dieses Gespräch gewesen sein mochte, so zeigt es doch, welch schweren Weg die Partei und die Sowjetregierung noch zurückzulegen hatten im Ringen um den Sozialismus, im Kampf gegen die Reichen, die Kulaken, gegen die Psychologie der Kleineigentümer, die niedrige Arbeitsproduktivität, gegen Unwissenheit und wirtschaftliche Rückständigkeit.

Ende Mai richtete Iljitsch einen Brief an die Petrograder Arbeiter. Die Artikel und Reden Iljitschs waren sehr unterschiedlich abgefasst. Entscheidend war, für wen sie geschrieben, an wen sie gerichtet waren. Mit dem Brief vom 22. Mai wandte sich Lenin an diejenigen, auf die er die größten Hoffnungen setzte, an deren schöpferische Kräfte er besonders glaubte, an die Petrograder Arbeiter. In diesem Brief schrieb er:

Petrograd ist nicht Russland. Die Petrograder Arbeiter sind ein kleiner Teil der Arbeiter Russlands. Sie sind jedoch einer der besten, führenden, klassenbewusstesten, revolutionärsten, standfestesten, für hohle Phrasen, charakterlose Verzweiflung und Einschüchterung durch die Bourgeoisie am wenigsten anfälligen Trupps der Arbeiterklasse und aller Werktätigen Russlands. Und in kritischen Augenblicken im Leben der Völker ist es mehr als einmal vorgekommen, dass selbst zahlenmäßig schwache führende Trupps der führenden Klassen alle mit sich rissen, in den Massen das Feuer des revolutionären Enthusiasmus entzündeten und größte historische Heldentaten vollbrachten."15

Wladimir Iljitsch schrieb den Petrograder Arbeitern von der großen organisatorischen Arbeit, die ihnen bevorstand. Er maß der organisatorischen Arbeit außerordentliche Bedeutung bei.

Der Heroismus einer langwierigen und beharrlichen organisatorischen Arbeit im gesamtstaatlichen Maßstab ist unermesslich viel schwieriger, dafür aber auch unermesslich viel größer als der Heroismus von Aufständen. Die Stärke der Arbeiterparteien und der Arbeiterklasse bestand jedoch stets darin, der Gefahr kühn, gerade und offen ins Gesicht zu schauen, sie furchtlos anzuerkennen, nüchtern abzuwägen, welche Kräfte in ,ihrem' und welche im ,fremden' Lager, im Lager der Ausbeuter, stehen. Die Revolution schreitet vorwärts, entwickelt sich und wächst. Es wachsen auch die Aufgaben, vor denen wir stehen. Der Kampf wächst in die Breite und in die Tiefe."16

Durch seine tiefe Überzeugung und seinen festen Glauben an den Sieg der Revolution begeisterte Iljitsch die Massen und spornte sie an.

Mit Hingabe und hartnäckig arbeitete er; seine Arbeitsweise war ein Beispiel jenes Heroismus der organisatorischen Arbeit, von der er sprach.

Wladimir Iljitsch organisierte nicht nur die Verteidigung des Landes vor äußeren und inneren Feinden, leitete nicht nur den Bürgerkrieg, der gerade begonnen hatte, sondern leistete auch eine gewaltige Arbeit für den sozialistischen Aufbau. Er erließ Dekrete über die Nationalisierung der Industrie, verfasste Instruktionen für die Arbeiter der nationalisierten Betriebe, referierte auf dem Gewerkschaftskongress, im Obersten Volkswirtschaftsrat, auf dem I. Kongress der Volkswirtschaftsräte, sprach auf dem Kongress der Kommissare für Arbeit, in der Versammlung der Betriebszellen-Vertreter, auf der Konferenz der Fabrikkomitees, empfing Arbeiter aus Petrograd, Jelez usw., verabschiedete mobilisierte Kommunisten vor ihrer Abfahrt zur Front; gleichzeitig aber – in den schwersten Augenblicken, wie etwa am 25. Mai, vor der Verkündung des Kriegszustandes in Moskau – legt er dem Rat der Volkskommissare den Entwurf eines Dekrets über die Sozialistische Akademie für Gesellschaftswissenschaften vor, am 5. Juni spricht er bei den internationalistischen Lehrern, am 10. Januar verfasst er einen Aufruf anlässlich des tschechoslowakischen konterrevolutionären Aufstandes, am gleichen Tage wirft er im Rat der Volkskommissare die Frage auf, die Ingenieure zur Arbeit heranzuziehen; zwei Tage vor seiner Verwundung spricht er auf der Konferenz für Bildungswesen von der gewaltigen Bedeutung der Schule für den Aufbau des Sozialismus.

Einmal in der Woche begab sich Iljitsch in die Bezirke; nicht selten sprach er an einem Tage in mehreren Versammlungen.

Die Arbeit mit den Massen, die organisatorische, Richtung gebende Arbeit war nicht umsonst. Gerade sie trug zum Siege bei.

Wenn man heute, da man sich schon ein klares Bild von dem verzweifelten Kampf der gutsbesitzerlich-kapitalistischen Ordnung um ihre Existenz machen kann, sich wieder mal der Geschichte des Bürgerkrieges von 1918 zuwendet, sieht man, dass die Revolution nur siegen konnte, weil man die Arbeiter zum Kampf aufrief und unter ihnen eine gigantische Arbeit geleistet wurde, weil die Massen immer deutlicher erkannten, worum es in diesem Kampf ging, weil sie diesen Kampf als ihren empfanden und ihn begriffen.

Den Frühling und den Sommer 1918 verlebte Lenin in Moskau, die Arbeit hatte völlig von ihm Besitz ergriffen. Wenn er mal eine freie Minute fand, fuhr er mit mir und Maria Iljinitschna in die Umgebung Moskaus; er liebte es, immer neue Orte aufzusuchen, während der Fahrt seinen Gedanken nachzuhängen und aus voller Brust zu atmen. Kein Detail entging seinem Auge.

Die Mittelbauern sympathisierten mit der Sowjetmacht: Die Sowjetmacht kämpfte für den Frieden, war gegen die Gutsbesitzer; aber die Bauern glaubten nicht an ihre Dauerhaftigkeit und waren nicht abgeneigt, sich dann und wann einen harmlosen Scherz zu erlauben.

Einmal kamen wir an eine Brücke, die nicht sehr stabil aussah. Wladimir Iljitsch wandte sich an einen Bauern, der an der Brücke stand, mit der Frage, ob man wohl mit dem Auto über diese Brücke fahren könnte. Der Bauer schüttelte mit dem Kopf und sagte spöttisch lächelnd: „Das kann ich Ihnen nicht sagen, denn mit Verlaub gesagt: es ist doch eine sowjetische Brücke." Iljitsch hat später des öfteren diesen Ausspruch des Bauern lächelnd wiederholt.

Ein andermal kehrten wir von einer Spazierfahrt mit dem Auto zurück. Wir mussten über eine Eisenbahnbrücke. Eine Kuhherde kam uns seelenruhig entgegen und gab uns den Weg nicht frei; auch Schafe liefen verwirrt vor uns hin und her. Ein Bauer, der des Weges kam, sah Lenin an und meinte ironisch: „Und den Kühen mussten Sie sich doch fügen."

Sehr bald mussten die Bauern jedoch ihre Kleineigentümer-Neutralität aufgeben: In der zweiten Hälfte des Monats Mai entbrannte der Klassenkampf in voller Stärke.

Besonders schwer war der Sommer 1918. Iljitsch schrieb nichts mehr, er schlief keine Nacht. Ein Foto, das Ende August, kurz vor seiner Verwundung, gemacht worden ist, ist erhalten geblieben: Lenin steht da, in Gedanken versunken, er sieht so aus, als hätte er eine schwere Krankheit hinter sich. Es war eine schwere Zeit.

Die Bourgeoisie, die durch die große proletarische Revolution alles verloren hatte, wandte sich hilfesuchend an das Ausland: Heute ließ sie sich von den Alliierten Geld zur Organisierung eines Aufstandes geben, morgen rief sie die deutschen Truppen zu Hilfe, überließ die Bevölkerung ihrem Schicksal und gab sie der Ausplünderung preis; sie schwankte hin und her, von einer Orientierung zur anderen. Die Deutschen halfen den Weißen in Finnland, okkupierten die Ukraine, die Türken kamen den aserbaidschanischen Mussawatisten und den georgischen Menschewiki zu Hilfe, die Deutschen besetzten die Krim, die Engländer Murmansk, die Alliierten halfen den Tschechoslowaken und den rechten Sozialrevolutionären, Sibirien von den Zentralgebieten abzuschneiden. Die Getreidelieferungen aus der Ukraine und Sibirien blieben aus, beide Hauptstädte hungerten. Die Fronten rückten immer näher, immer enger schloss sich der Ring.

Am 21. Mai sandte Iljitsch ein Telegramm an die Petrograder Arbeiter, in dem es hieß:

„… die Lage der Revolution ist kritisch. Denkt daran, dass nur Ihr die Revolution retten könnt, sonst niemand …

Die Zeit drängt: auf den maßlos schweren Mai werden die noch schwereren Monate Juni und Juli und vielleicht auch noch ein Teil des August folgen."17

Eine Periode konterrevolutionärer Aufstände brachte das Kulakentum auf die Beine, organisierte es. Die Kulaken versteckten das Getreide. Der Kampf gegen den Hunger verschmolz mit dem Kampf gegen die Konterrevolution. Wladimir Iljitsch bestand auf der Organisierung der Komitees der Dorfarmut, führte eine verstärkte Agitation dafür, dass die Arbeiter den Beschaffungskomitees beitreten und ihre revolutionären Erfahrungen ins Dorf bringen sollten. Gegenwärtig sei der Kampf um das Brot dem Kampf um den Sozialismus gleichzusetzen, sagte er den Arbeitern.

Es ist notwendig, „dass der fortgeschrittene Arbeiter als Leiter der Armen, als Führer der dörflichen werktätigen Masse, als Erbauer des Staates der Arbeit ,ins Volk'"18 geht, schrieb Wladimir Iljitsch an die Petrograder Arbeiter. Er hob hervor, dass die im Kampf erprobten und gestählten Arbeiter die Avantgarde der Revolution bilden.

Eben diese Avantgarde der Revolution – in Petrograd wie im ganzen Land – muss den Kampfruf ertönen lassen, muss sich als Masse erheben, muss begreifen, dass in ihren Händen die Rettung des Landes liegt, dass von ihr nicht weniger Heroismus gefordert wird als im Januar und Oktober 1905, als im Februar und im Oktober 1917, dass ein großer ,Kreuzzug' gegen die Getreidespekulanten, die Kulaken, die Blutsauger des Dorfes, die Desorganisatoren und die Schmiergeldnehmer organisiert werden muss, ein großer ,Kreuzzug' gegen alle, die die strenge staatliche Ordnung bei der Beschaffung, Zufuhr und Verteilung des Brots für Menschen und des Brots für Maschinen stören.

Nur wenn die fortgeschrittenen Arbeiter sich in Massen erheben, sind das Land und die Revolution zu retten. Man braucht Zehntausende von Vorkämpfern, von gestählten Proletariern, die klassenbewusst genug sind, um den Millionen von Armen in allen Ecken und Enden des Landes die Sache klarzumachen und sich an die Spitze dieser Millionen zu stellen …"19

Die Petrograder Arbeiter folgten dem Ruf Iljitschs. Sie organisierten den ,Kreuzzug'. Immer enger schloss sich die Dorfarmut um die Sowjetmacht zusammen. Am 11. Juni nahm das Gesamtrussische Zentralexekutivkomitee das Dekret über die Bildung von Komitees der Dorfarmut an. Die Dorfarmut begann Iljitsch, von dem die Arbeiter und Soldaten ihr soviel erzählten, als ihren Führer zu betrachten. Aber nicht nur Iljitsch sorgte sich um die Armen, die Armen sorgten sich auch um Iljitsch. Lidia Alexandrowna Fotijewa, die Sekretärin Iljitschs, erzählte von einem Rotarmisten – einem armen Bauern –, der in den Kreml gekommen war, um mit Iljitsch seinen Laib Brot zu teilen. Er meinte: „Soll er nur essen, wir leben doch in einer Hungerzeit" – er hatte nicht einmal darum gebeten, zu Lenin vorgelassen zu werden, er wollte ihn nur von weitem sehen und bat, ihm Lenin zu zeigen, wenn er gerade hier vorbeikommen sollte.

Iljitsch konnte außer sich sein, wenn man für ihn besonders günstige Bedingungen schaffen, ihm ein höheres Gehalt festsetzen wollte oder ähnliches. Ich erinnere mich, wie wütend er war, als ihm der damalige Kremlkommandant, Genosse Malkow, einmal einen Eimer Chalwa brachte.

Am 23. Mai 1918 schrieb Iljitsch folgende Zeilen an W. D. Bontsch-Brujewitsch:

An den Chef der Kanzlei beim Rat der Volkskommissare, Wladimir Dmitrijewitsch Bontsch-Brujewitsch.

Da Sie meiner dringenden Forderung, mir den Grund für die Erhöhung meines Gehalts ab 1. März 1918 von 500 auf 800 Rubel mitzuteilen, nicht nachgekommen sind, und es sich ganz offensichtlich um eine gesetzwidrige Erhöhung handelt, die von Ihnen im Einverständnis mit dem Sekretär des Rates, Genossen Nikolai Petrowitsch Gorbunow, eigenmächtig beschlossen worden ist und gegen das Dekret des Rates der Volkskommissare vom 23. November 1917 verstößt, erteile ich Ihnen eine strenge Rüge.

Vorsitzender des Rates der Volkskommissare

W. Uljanow (Lenin)."20

Die Deutschen hatten nach dem Abschluss des Brester Friedens mit der RSFSR und mit der Einstellung der Kriegshandlungen noch keineswegs ihre Pläne, Russland zu erobern, aufgegeben. Bereits während der Brester Verhandlungen hatte die deutsche Regierung ein Abkommen mit der Ukrainischen Rada getroffen, ihr im Kampf gegen die Bolschewiki beizustehen. Nachdem die Deutschen die Ukraine besetzt und die Sowjetmacht gestürzt hatten, trieben sie die Rada auseinander und setzten den Zarengeneral Skoropadski als Hetman – zum Beherrscher der Ukraine – ein. Die Ukraine wurde faktisch zur deutschen Kolonie. Getreide, Vieh, Zucker und Rohstoffe wurden in großen Mengen aus der Ukraine nach Deutschland ausgeführt.

Die deutschen Imperialisten bemühten sich in jeder Weise, den Bürgerkrieg zu entfachen. Der zum Don geflüchtete Ataman Krasnow wandte sich um Hilfe an Deutschland, und die Deutschen halfen ihm, weiße Kosakenabteilungen aufzustellen und sie zu einem Heer zu vereinen.

Mit Hilfe der Deutschen gelang es den Weißfinnen, die Revolution in Finnland zu unterdrücken und mit den finnischen Revolutionären grausam abzurechnen.

Aber nicht nur die Deutschen drangen vor. Anfang April landeten die Japaner und Engländer Truppen in Wladiwostok.

Bereits im April hatte sich eine Reihe sowjetfeindlicher Parteien im „Bund der Wiedergeburt" zusammengeschlossen. Ihm gehörten Sozialrevolutionäre, Kadetten, Volkssozialisten, Menschewiki und die Gruppe „Jedinstwo" an. Der „Bund der Wiedergeburt" hatte mit der Entente ein Abkommen geschlossen, wonach die Entente Truppen gegen die Bolschewiki senden sollte, außerdem sollte mit Hilfe des Tschechoslowakischen Korps der Umsturz in Russland vorbereitet und die Sowjetmacht gestürzt werden. Zur Zeit Kerenskis zählte das Tschechoslowakische Korps 42.000 Mann; dort gab es unzählige russische Generale und Offiziere aus den Reihen der Schwarzhunderter. Gemeinsam mit der französischen Militärmission berieten die Mitglieder des ZK der Sozialrevolutionäre und die Vertreter der Sozialrevolutionäre Sibiriens den Umsturzplan. Es wurde beschlossen, dass die tschechoslowakischen Truppen, die nach dem Fernen Osten evakuiert werden sollten, Stützpunkte an der Uraler, der Sibirischen und der Ussurischen Eisenbahnlinie besetzen sollten.

Ende Mai hatten die Tschechoslowaken Tscheljabinsk, Petropawlowsk, die Eisenbahnstation Taiga und Tomsk besetzt, Anfang Juni Omsk und Samara. Ende Mai wurde in Moskau die weißgardistische Verschwörung, angeführt vom „Bund zum Schutz der Freiheit und des Vaterlandes", aufgedeckt; es gab eine konterrevolutionäre Erhebung auf der Krim; ein Umsturz in der Baltischen Flotte war in Vorbereitung; am 4. Juni hatte sich auf der Krim eine bürgerlich-nationalistische Regierung gebildet; am 19. Juni organisierten die Konterrevolutionäre einen Aufstand in Irkutsk; am 20. Juni in Koslow und Jekaterinburg; am 29. Juni wurde eine monarchistische Verschwörung in Kostroma aufgedeckt; am 30. Juni wurde von der Sibirischen Gebietsduma eine bürgerliche Regierung eingesetzt. Hand in Hand mit der Bourgeoisie gingen die Sozialrevolutionäre. Am 8. Juni, nach der Besetzung Samaras durch die Tschechoslowaken, wurde dort ein Komitee der Konstituierenden Versammlung gebildet, am 19. Juni erhoben sich die rechten Sozialrevolutionäre in Tambow, am Tag darauf wurde Genosse Wolodarski von ihnen in Petrograd ermordet.

Auch die linken Sozialrevolutionäre waren auf den Weg der Konterrevolution abgeglitten.

Sie hatten am 24. Juni den Beschluss gefasst, den deutschen Gesandten Graf Mirbach zu ermorden und einen bewaffneten Aufstand gegen die Sowjetmacht zu organisieren. Am 27. Juni landeten englische Truppen in Murmansk, am 1. Juli wurden in Moskau mehrere Militärzüge angehalten, in denen sich weißgardistische Einheiten befanden, die mit Unterstützung der französischen Mission aufgestellt worden waren, am 4. Juli wurde der V. Gesamtrussische Sowjetkongress eröffnet, und am 6. Juli ermordeten die Sozialrevolutionäre Graf Mirbach und organisierten einen Aufstand in Moskau und Jaroslawl.

Am 5. Juli geißelte Iljitsch noch in seiner Rede auf dem V. Gesamtrussischen Sowjetkongress die linken Sozialrevolutionäre wegen ihrer Charakterlosigkeit, Panikmacherei und Ignoranz gegenüber der wirklichen Lage, aber er dachte nicht, dass sie zum Aufstand greifen würden.

Am 6. Juli erschienen die linken Sozialrevolutionäre Bljumkin und Andrejew in der deutschen Botschaft, in der Deneschny-Gasse und baten um eine persönliche Unterredung mit dem deutschen Botschafter Graf Mirbach. Als sie zu Mirbach vorgelassen wurden, warfen sie eine Bombe, die ihn tödlich verletzte, und flüchteten. Sie fanden Unterschlupf bei der in der Trjochswjatitel-Gasse stationierten Abteilung der Tscheka, die unter dem Kommando des Sozialrevolutionärs Popow stand. Hierher hatte auch das gesamte ZK der linken Sozialrevolutionäre seinen Sitz verlegt. Als der Vorsitzende der Gesamtrussischen Tscheka, Dzierzynski, sich dorthin begab, um die Mörder zu verhaften, wurde er selbst festgenommen. Gleichzeitig wurden in die benachbarten Straßen von Popow Patrouillen ausgesandt, die den Vorsitzenden des Moskauer Sowjets, Smidowitsch, den Volkskommissar für Post- und Telegrafenwesen, Podbelski, das Mitglied des Kollegiums der Tscheka Lacis und andere in Haft nahmen und das Post- und Telegrafenamt besetzten. Das ZK der linken Sozialrevolutionäre verbreitete in ganz Russland und an der tschechoslowakischen Front die Nachricht vom Aufstand in Moskau und rief zum Krieg gegen Deutschland auf. Die militärischen Aktionen der linken Sozialrevolutionäre veranlassten den Rat der Volkskommissare, gegen die Abteilung Popows, die 2000 Infanteristen zählte, über 8 Geschütze und einen Panzerwagen verfügte, vorzugehen. Am Morgen des 8. Juli wurde die Trjochswjatitel-Gasse umzingelt und mit Artilleriefeuer belegt. Die Sozialrevolutionäre versuchten, den Kreml unter Beschuss zu nehmen, aber nur einige wenige Geschosse erreichten den Kremlhof. Nach kurzem Widerstand trat die Abteilung Popows den Rückzug zur Wladimir-Chaussee an, wo sie sich bald auflöste. Etwa 300 Personen wurden gefangengenommen.

Nachdem die Sozialrevolutionäre aus der Trjochswjatitel-Gasse herausgeschlagen worden waren, wollte Iljitsch die Villa besichtigen, die zeitweilig den aufständischen Sozialrevolutionären als Stabsquartier gedient hatte. Er ließ ein Auto kommen, und wir fuhren im offenen Wagen dorthin. Als unser Wagen am Oktober-Bahnhof vorbeikam, hörten wir jemand „Halt!" schreien. Da niemand zu sehen war, fuhr der Chauffeur, Genosse Gil, weiter. Aber da fielen schon Revolverschüsse, und eine Gruppe Bewaffneter eilte auf das Auto zu. Wie sich herausstellte, waren das Rotgardisten. Iljitsch begann auf sie einzureden: „So geht es doch nicht, Genossen, man kann doch nicht einfach drauflos schießen, ohne zu sehen, auf wen man schießt." Sie wurden ganz verlegen. Iljitsch fragte noch einmal nach dem Weg zur Trjochswjatitel-Gasse. Ohne weiteres konnten wir das Haus betreten, und man führte uns durch die Zimmer. Iljitsch interessierte es, warum die Sozialrevolutionäre ausgerechnet dieses Haus zu ihrem Stabsquartier gewählt und wie sie den Schutz des Hauses organisiert hatten, aber bald erlosch sein Interesse, denn weder die Gesamtlage des Hauses noch seine innere Einrichtung waren von diesem Standpunkt aus irgendwie interessant. Das einzige, was in meinem Gedächtnis haftenblieb, war der Fußboden, der mit einer Unmenge zerfetzten Papiers bedeckt war. Offensichtlich vernichteten die Sozialrevolutionäre während der Belagerung auf diese Weise ihre Dokumente.

Obwohl es schon Abend geworden war, hatte Iljitsch noch den Wunsch, durch den Park von Sokolniki zu fahren. Als wir uns der Eisenbahnunterführung näherten, stießen wir auf eine Komsomolzen-Patrouille. „Halt!" Wir hielten. „Ausweise!" Iljitsch zeigte seinen Ausweis: „Vorsitzender des Rates der Volkskommissare W. Uljanow." „Kann jeder erzählen!" Iljitsch wurde von den Jugendlichen verhaftet und zum nächsten Polizeirevier gebracht. Dort hatte man ihn sofort erkannt, und es gab ein großes Gelächter. Iljitsch kehrte zurück, und wir setzten unsere Fahrt fort. Wir bogen in den Park ein. Als wir auf eine der Parkstraßen kamen, fielen wieder Schüsse. Es stellte sich heraus, dass hier in der Nähe ein Munitionslager war. Unsere Ausweise wurden kontrolliert, man ließ uns weiterfahren, aber nicht ohne brummige Bemerkung, dass wir des Nachts der Teufel weiß wo herumkutschierten. Auf dem Rückweg in die Stadt mussten wir wieder an der Jugend-Patrouille vorbei; aber als die Jugendlichen unser Auto von weitem erblickten, verschwanden sie sofort.

Am 8. Juli beschloss der V. Sowjetkongress, alle linken Sozialrevolutionäre, die sich mit dem Aufstand am 6. und 7. Juli solidarisierten, aus den Sowjets auszuschließen. Am 10. Juli nahm der Kongress die Sowjetverfassung an und beendete seine Tagung.

Während des ganzen Monats Juli war die Lage ungemein schwer.

Die Truppen, die gegen die Tschechoslowaken eingesetzt waren, standen unter dem Kommando des linken Sozialrevolutionärs Murawjow. Nach der Oktoberrevolution ging er auf die Seite der Sowjetmacht über, kämpfte gegen die Truppen Kerenskis und Krasnows, die auf Petrograd marschierten, stand im Kampf gegen die Zentralrada und auch an der Rumänischen Front. Als es aber am 6. und 7. Juli zum Aufstand der Sozialrevolutionäre gekommen war, schlug er sich auf ihre Seite und wollte seine Truppen gegen Moskau in Bewegung setzen. Doch die Truppenteile, auf die er seine Hoffnungen setzte, versagten ihm die Gefolgschaft; er glaubte sich auf den Simbirsker Sowjet stützen zu können, aber der Sowjet machte nicht mit. Murawjow, der bei seiner Verhaftung Widerstand leistete, wurde erschossen. Kurz darauf besetzten die Tschechoslowaken Simbirsk und näherten sich Jekaterinburg, wo Nikolaus II. in Haft gehalten wurde. Am 16. Juli wurden Nikolaus II, und seine Familienangehörigen von uns erschossen; es gelang den Tschechoslowaken nicht, ihn zu retten, da sie erst am 25. Juli in Jekaterinburg einmarschierten.

Im Norden hatten die englisch-französischen Truppen einen Teil der Murmansker Eisenbahn in ihren Händen.

Die Bakuer Menschewiki hatten englische Truppen nach Baku gerufen

Die Freiwilligen-Armee besetzte die Eisenbahnstation Tichorezkaja und anschließend Armawir.

Die Deutschen forderten die Stationierung eines Bataillons deutscher Soldaten zum Schutz der deutschen Botschaft in Moskau.

Trotz der äußerst schwierigen Lage ließ Iljitsch nicht den Mut sinken. In seinem Brief an Clara Zetkin vom 26. Juli kommt seine Stimmung voll zum Ausdruck.

Sehr geehrte Genossin Zetkin!

Besten und wärmsten Dank für Ihren Brief vom 27. 6., den mir Genossin Herta Gordon gebracht hat. Ich werde alles tun, um der Genossin Gordon zu helfen.

Es freut uns alle in höchstem Maße, dass Sie, Genosse Mehring und andere ,Spartakusgenossen' in Deutschland ,mit Kopf und Herz mit uns' sind. Das bringt uns Zuversicht, dass die besten Elemente der westeuropäischen Arbeiterschaft uns doch – trotz aller Schwierigkeiten – zu Hilfe kommen werden.

Wir erleben hier jetzt vielleicht die schwierigsten Wochen der ganzen Revolution. Der Klassenkampf und Bürgerkrieg sind in die Tiefe der Bevölkerung gegangen: in allen Dörfern Spaltung – die Armen sind für uns, die Großbauern wütend gegen uns. Die Entente hat die Tschechoslowaken gekauft, der konterrevolutionäre Aufstand tobt, die gesamte Bourgeoisie macht alle Anstrengungen, um uns zu stürzen. Wir hoffen jedoch mit Zuversicht, dass wir diesen ,gewöhnlichen' (wie 1794 und 1849) Gang der Revolution vermeiden und die Bourgeoisie besiegen werden.

Mit großer Dankbarkeit, besten Grüßen und wärmster Hochachtung

Ihr Lenin.“21

Und dann fügte er noch hinzu:

Man hat mir soeben das neue Staatssiegel gebracht. Hier der Abdruck. Die Aufschrift heißt: Sozialistische Föderative Sowjet-Republik Russland. Proletarier aller Länder, vereinigt euch!"22

Der konterrevolutionäre Aufstand wütete weiter. Die Tschechoslowaken besetzten Kasan und die englisch-französischen Truppen Archangelsk, wo sich eine sozialrevolutionäre „Regierung Nordrusslands" gebildet hatte. In Ischewsk organisierten die Sozialrevolutionäre einen Aufstand, Sarapul wurde von den Truppen der Ischewsker rechten Sozialrevolutionäre erobert. Die Sowjettruppen hatten Tschita geräumt, Jekaterinodar war in den Händen der Freiwilligen-Armee; doch die missglückten Aufstände in Moskau und Jaroslawl lösten gewisse Schwankungen bei den Sozialrevolutionären aus; die Kämpfe zwischen den Deutschen und Alliierten, die mit neuer Kraft wieder entbrannten, schwächten die Intervention und lenkten ihre Aufmerksamkeit von Russland ab. Am 16. August erlitten die Tschechoslowaken am Fluss Bjelaja eine Niederlage; unsere bewaffneten Streitkräfte begannen sich zusammenzuschließen; eine Reihe wichtiger organisatorischer Maßnahmen wurde ergriffen, es wurden Dekrete erlassen, die die Mitwirkung der Arbeiterorganisationen an der Getreidebeschaffung, die Bildung von Ernteeinsatzabteilungen und Sperrabteilungen festlegten – die Brotversorgung wurde etwas besser, die bürgerliche Presse wurde verboten und konnte keine Unruhe mehr in die Massen tragen. Es setzte eine verstärkte Agitation unter den ausländischen Arbeitern gegen die Intervention ein. Am 9. August wandte sich das Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten an die amerikanische Regierung mit einem Friedensangebot an die alliierten Mächte.

Die rechten Sozialrevolutionäre spürten, dass sie den Boden unter den Füßen verloren, und beschlossen, eine Reihe bolschewistischer Führer zu ermorden, darunter auch Lenin.

Am 30. August erhielt Iljitsch aus Petrograd die Nachricht, dass um zehn Uhr morgens der Vorsitzende der Petrograder Tscheka, Genosse Uritzki, ermordet worden war.

Am Abend des gleichen Tages sollte Iljitsch im Auftrag des Moskauer Komitees in zwei Stadtbezirken Moskaus – im Basmanny und Samoskworezki – sprechen.

Bucharin, der an diesem Tage bei uns zu Mittag aß, gab sich die größte Mühe, Iljitsch vom Besuch dieser Versammlungen abzuhalten. Iljitsch lachte nur darüber, winkte ab, und um endlich diesem Gespräch ein Ende zu machen, sagte er, dass er möglicherweise nicht dahin fahren werde. Maria Iljinitschna hatte an diesem Tage nicht das Haus verlassen, da sie sich nicht wohl fühlte. Vor seiner Abfahrt, schon in Mantel und Mütze, ging Iljitsch zu ihr ins Zimmer. Sie bat ihn, er möge sie mitnehmen. „Kommt gar nicht in Frage, bleib schön zu Hause", sagte er und begab sich, ohne jegliche Bewachung, zur Versammlung.

In der 2. Staatlichen Moskauer Universität fand eine Beratung über Fragen der Volksbildung statt. Vor zwei Tagen hatte Lenin hier gesprochen. Die Sitzung ging dem Ende zu, ich machte mich schon zur Heimfahrt fertig und wollte noch eine Lehrerin im Wagen mitnehmen, die im Bezirk Samoskworetschje wohnte. Vor der Tür wartete ein Auto aus dem Kreml, aber der Chauffeur war mir nicht bekannt. Er fuhr zum Kreml; ich sagte ihm, dass ich erst meine Bekannte nach Hause bringen möchte; der Chauffeur reagierte mit keinem Wort darauf, hielt am Kreml, machte die Wagentür auf und ließ meine Gefährtin aussteigen. Ich wunderte mich über sein eigenwilliges Verhalten, wollte schon meinem Unwillen Ausdruck geben, aber da hielt das Auto schon vor unserer Einfahrt zum Hof des Zentralexekutivkomitees. Dort wurde ich von Genossen Gil, unserem ständigen Chauffeur, erwartet, und er erzählte mir, dass er Iljitsch nach dem Michelson-Werk gefahren hätte und dass eine Frau dort auf Iljitsch einen Schuss abgefeuert und ihn leicht verletzt hätte. Es war ganz offensichtlich, dass er mich vorbereiten wollte. Er sah ganz verstört aus. „Sagen Sie mir bloß, ob Iljitsch am Leben ist oder nicht", fragte ich. Gil erwiderte, er sei am Leben, und ich eilte nach oben. In unserer Wohnung waren viele Menschen, am Kleiderhaken hingen irgendwelche Mäntel, die Türen standen sperrangelweit auf, wie es bei uns nie üblich war. An der Flurgarderobe stand Jakow Michailowitsch Swerdlow, sein Gesicht war ernst und entschlossen. Als ich ihn ansah, glaubte ich, alles wäre schon zu Ende. „Was soll nun weiter werden?" entschlüpfte es mir. „Ich habe mit Iljitsch alles vereinbart", antwortete er. „Vereinbart, also muss doch wohl alles zu Ende sein", ging es mir durch den Kopf. Ich musste durch das kleine Zimmer in unser Schlafzimmer, doch dieser kurze Gang dahin schien mir eine Ewigkeit. Iljitschs Bett stand in der Mitte des Zimmers, und er lag da, ganz blass, keinen Blutstropfen im Gesicht. Er sah mich, eine Minute verstrich, und dann sagte er mit leiser Stimme: „Du bist gekommen, bist müde. Geh, leg dich." Die Worte waren ohne Sinn, doch die Augen sprachen etwas ganz anderes: „Es geht zu Ende." Ich verließ das Zimmer, um ihn nicht aufzuregen, stellte mich so an die Tür, dass ich ihn sehen konnte, ohne dass er mich sah. Als ich im Zimmer war, hatte ich von den Anwesenden keinerlei Notiz genommen, erst jetzt stellte ich fest, wer noch dort war. Am Bett stand Anatoli Wassiljewitsch Lunatscharski – ich wusste nicht, ob er eben erst gekommen oder schon länger da war – und sah Lenin mit einem erschrockenen mitleidigen Blick an. Iljitsch sagte: „Nun, was gibt es da zu sehen." Unsere Wohnung verwandelte sich in ein Feldlager. Um den Kranken bemühten sich Wera Michailowna Bontsch-Brujewitsch und Wera Moissejewna Krestinskaja – beide Ärztinnen. Im kleinen Nebenzimmer wurde so etwas wie eine Sanitätsstelle eingerichtet: Sauerstoffkissen wurden gebracht, Feldscher herbeigerufen, hier lag Watte, standen Büchsen und Glasgefäße mit verschiedenen Lösungen herum.

Die Hausangestellte, die vorübergehend bei uns war, eine Lettin, war so erschrocken, dass sie sich in ihrem Zimmer einschloss. In der Küche hantierte jemand mit dem Petroleumkocher; Genossin Kisas wusch in der Wanne die blutigen Binden und Handtücher. Als ich sie so bei dieser Arbeit sah, wurde in mir die Erinnerung an die ersten Nächte im Smolny – während der Oktoberrevolution – wach, damals saß Genossin Kisas Tag und Nacht, ohne ein Auge zu schließen, über Bergen von Telegrammen, die von überall her kamen, und sortierte sie.

Endlich kamen die Chirurgen: Wladimir Nikolajewitsch Rosanow, Minz und andere. Zweifellos schwebte Iljitsch in Lebensgefahr, sein Leben hing an einem Haar. Als der Chauffeur Gil und die Genossen aus dem Michelson-Werk den verwundeten Lenin in den Kreml gebracht hatten und ihn die Treppe hinauftragen wollten, sträubte sich Iljitsch und ging selbst die drei Stockwerke hoch. Das Blut ergoss sich in die Lunge. Die Ärzte befürchteten auch, dass die Kugel die Speiseröhre durchbohrt haben könnte, und verboten Iljitsch das Trinken. Ihn plagte aber der Durst. Kurz nachdem die Ärzte das Haus verlassen hatten, bat er die aus dem städtischen Krankenhaus zu seiner Betreuung herbeigerufene Krankenschwester, das Zimmer zu verlassen und mich zu rufen. Ich trat ein. Iljitsch schwieg eine Weile, dann sagte er: „Hör mal, bring mir doch ein Glas Tee." „Du weißt doch, die Ärzte haben dir das Trinken verboten." Diese List hat ihm nichts genutzt. Iljitsch schloss die Augen: „Geh." Maria Iljinitschna kümmerte sich um die Ärzte, um die Arzneien. Ich stand an der Tür. Während der Nacht ging ich einige Male in Iljitschs Arbeitszimmer am entgegengesetzten Ende des Korridors. Dort hatten Swerdlow und andere Genossen, zusammengekauert, auf Stühlen die Nacht zugebracht.

Die Verwundung Iljitschs beunruhigte nicht nur alle Parteiorganisationen, sondern auch die breitesten Massen der Arbeiter, Bauern und Rotarmisten: allen wurde es besonders bewusst, was Lenin für die Revolution bedeutete. Voll Besorgnis verfolgte das Land die ärztlichen Bulletins.

Am Abend des 30. August veröffentlichte Swerdlow eine Mitteilung über den Mordanschlag auf Lenin. Darin hieß es: „Jedes Attentat auf ihre Führer wird die Arbeiterklasse mit noch größerem Zusammenschluss ihrer Kräfte und mit schonungslosem Terror gegen alle Feinde der Revolution beantworten."

Das Attentat bewirkte, dass das Proletariat disziplinierter auftrat, sich enger zusammenschloss, noch intensiver arbeitete.

Die Partei der Sozialrevolutionäre verfiel der Zersetzung.

Am Tage nach der Verwundung Wladimir Iljitschs erklärte das Moskauer Büro in der Presse, dass die Sozialrevolutionäre mit dem Attentat nichts zu tun hätten. Bereits nach dem Juliaufstand der linken Sozialrevolutionäre kehrten viele dieser Partei den Rücken, insbesondere Arbeiter. Es löste sich von der Partei eine Gruppe unter Führung von Kolegajew, Bizenko, A. Ustinow und anderen, die sich „Volkstümler-Kommunisten" nannten. Diese Gruppe war gegen den gewaltsamen Bruch des Brester Friedens, verurteilte terroristische Akte und den aktiven Kampf gegen die Kommunistische Partei. Die jetzt noch in der Partei verbliebenen Sozialrevolutionäre glitten immer weiter nach rechts ab, sie unterstützten die Kulakenaufstände, doch ging ihr Einfluss immer mehr zurück. Das Attentat auf Lenin beschleunigte den Zersetzungsprozess innerhalb der Partei der Sozialrevolutionäre, und ihr Einfluss auf die Massen schwand immer mehr.

Die Hoffnungen der Feinde der Sowjetmacht gingen nicht in Erfüllung. Iljitsch blieb am Leben. Von Tag zu Tag klangen die ärztlichen Gutachten optimistischer. Die Ärzte und alle, die Iljitsch umgaben, wurden wieder froh. Iljitsch scherzte mit ihnen. Es war ihm verboten, das Bett zu verlassen, aber heimlich, wenn es niemand sah, versuchte er doch aufzustehen. Er wollte möglichst bald wieder an die Arbeit gehen. Endlich, am 10. September, konnte die „Prawda" melden, dass die Gefahr vorüber sei. Iljitsch fügte dieser Meldung einige Zeilen hinzu. Er bat, man möchte die Ärzte nicht mehr durch telefonische Anrufe stören, da er sich auf dem Wege der Besserung befinde. Am 16. September wurde Iljitsch endlich erlaubt, zum Rat der Volkskommissare zu gehen. Vor lauter Aufregung konnte er kaum das Bett verlassen, aber er war so froh, dass er wieder seine Arbeit aufnehmen konnte.

Am 17. September führte Lenin den Vorsitz in der Sitzung des Rates der Volkskommissare. Am gleichen Tage richtete er ein Begrüßungsschreiben an das Präsidium der Konferenz der proletarischen Kultur- und Bildungsorganisationen. Damals hatte der Proletkult großen Einfluss. Iljitsch hielt es für einen Mangel, dass der Proletkult seine Arbeit nur im geringen Maße mit den allgemeinen politischen Aufgaben verband, wenig zur Erhöhung des Bewusstseins der Massen beitrug und nicht genügend dafür sorgte, dass die Arbeiter zur Verwaltung des Staates aufrückten und die notwendige Schulung für ihre Arbeit in den Sowjets erhielten. In seinem Begrüßungsschreiben an die Konferenz hob Iljitsch die politischen Aufgaben, die vor dem Proletkult standen, besonders hervor. Ein paar Tage später schrieb Lenin den Artikel „Über den Charakter unserer Zeitungen". Hier stellte er die Forderung auf, dass die Zeitungen sich eingehender mit den Vorgängen im Alltag beschäftigen sollten. „Näher heran ans Leben! Mehr Aufmerksamkeit dafür, wie die Arbeiter- und Bauernmassen in ihrer täglichen Arbeit in der Praxis etwas Neues bauen. Mehr Kontrolle darüber, wieweit dieses Neue kommunistisch ist."23

Kaum hatte Wladimir Iljitsch seine Tätigkeit wieder aufgenommen, da stürzte er sich auch schon in die Arbeit und wandte sich besonders den Fragen der Lebensmittelversorgung zu; er nahm aktiven Anteil an der Ausarbeitung des Dekrets über die Naturalsteuer, doch sehr bald fühlte er, dass die tägliche angespannte administrative Arbeit zu anstrengend für ihn war und über seine Kräfte ging; daher gab er sein Einverständnis, sich einige Wochen in der Umgebung Moskaus zu erholen. Man brachte ihn nach Gorki, in das ehemalige Gut von Reinbot, des früheren Stadthauptmannes von Moskau. Es war ein schönes, komfortabel eingerichtetes Haus mit Terrassen, Bad, elektrischem Licht und einem herrlichen Park. Im Parterre wurde die Wache untergebracht: Vor der Verwundung Iljitschs stand es mit der Bewachung recht problematisch. Für Iljitsch war es etwas Ungewohntes, und die Wache selbst hatte noch keine rechte Vorstellung von dem, was sie zu tun und wie sie sich zu benehmen hatte. Als Iljitsch ankam, wurde er von der Wache mit einer Begrüßungsansprache und einem großen Blumenstrauß empfangen. Iljitsch war ganz verlegen, und der Wache ging es nicht anders. Alles war hier irgendwie fremd. Wir waren von früher her an kleine einfache Wohnungen, billige möblierte Zimmer oder an billige Pensionen im Ausland gewöhnt und wussten gar nicht, was wir mit diesen Gemächern anfangen sollten. Das kleinste Zimmer wählten wir als Wohnzimmer, dasselbe Zimmer, in dem sechs Jahre später Iljitsch seine Augen schloss. Aber auch das kleine Zimmer hatte drei riesige Fenster und drei Trumeaus. Erst nach und nach gewöhnten wir uns an dieses Haus. Auch die Wache fand sich hier nicht gleich zurecht. Eine Begebenheit fällt mir ein. Es war Ende September, und die Tage wurden kalt. Im großen Zimmer, das an unseres angrenzte, waren zwei schöne Kamine. Kamine kannten wir von London her, da die meisten Wohnungen dort durch Kamine beheizt werden. Iljitsch bat mich, im Kamin Feuer zu machen. Man brachte Holz, suchte nach den Schornsteinen, es gab keine. Die Wache nahm an, dass Kamine auch ohne Schornstein geheizt werden könnten Es wurde Feuer gemacht. Nun stellte sich heraus, dass die Kamine nur zum Schmuck da waren, aber nicht zum Heizen. Der Dachstuhl fing Feuer, man begann zu löschen, und die Decke stürzte ein. In den nächsten Jahren hielt sich Iljitsch regelmäßig im Sommer in Gorki auf, und allmählich hatte er sich hier „akklimatisiert" und daran gewöhnt, Erholung mit Arbeit zu verbinden. Er fand jetzt Gefallen an den großen Fenstern und Balkons.

Nach seiner Verwundung kam Iljitsch sehr schwer wieder zu Kräften, es dauerte noch eine ganze Weile, bis er Spaziergänge auch außerhalb des Parks machen konnte. Aber er war in bester Stimmung, in einer Stimmung, wie sie Genesenden eigen ist; hinzu kam, dass sich eine Wendung in der ganzen Situation bemerkbar machte. Die Lage an der Front hatte sich verändert. Die Rote Armee schritt von Sieg zu Sieg. Am 3. September erhoben sich die Arbeiter in Kasan gegen die Tschechoslowaken und rechten Sozialrevolutionäre, die die Macht an sich gerissen hatten, am 7. September marschierten die Sowjettruppen in Kasan ein, am 12. eroberten sie Wolsk und Simbirsk, am 17. Chwalynsk, am 20. Tschistopol und am 7. Oktober Samara. Am 9. September waren Grosny und Uralsk in den Händen der Sowjettruppen. Es unterlag keinem Zweifel, dass sich eine Wendung vollzogen hatte. Mit vollem Recht konnte Lenin am ersten Jahrestag der Gründung des Sowjetstaates davon sprechen, dass aus den verstreuten Abteilungen der Roten Garde eine machtvolle Rote Armee geworden ist.

Ständig trafen in Gorki Nachrichten über das Heranreifen der Revolution in Deutschland ein.

Bereits am 1. Oktober schrieb Lenin nach Moskau an Swerdlow:

Die Dinge haben in Deutschland solch einen ,schnellen Lauf' genommen, dass auch wir nicht zurückbleiben dürfen. Heute aber sind wir bereits zurückgeblieben.

Man muss morgen eine gemeinsame Versammlung einberufen

des ZEK

des Moskauer Sowjets

der Rayonsowjets

der Gewerkschaften usw. usw. Es sind eine Reihe von Referaten über den Beginn der Revolution in Deutschland zu halten.

(Sieg unserer Taktik im Kampf gegen den deutschen Imperialismus. usw.) Eine Resolution ist anzunehmen.

Die internationale Revolution ist innerhalb einer Woche so nahe gerückt, dass wir mit ihr als einem Ereignis der nächsten Tage rechnen müssen.

Keinerlei Bündnisse, weder mit der Regierung Wilhelms noch mit der Regierung Wilhelms II. + Ebert und anderen Schurken.

Für die deutschen Arbeitermassen, für die Millionen deutscher Werktätiger aber, nachdem sie vom Geist der Empörung ergriffen sind (vorläufig nur von dem Geist),

bereiten wir

ein brüderliches Bündnis, Brot, militärische Hilfe vor.

Wir alle setzen das Leben dafür ein, um den deutschen Arbeitern zu helfen, die in Deutschland begonnene Revolution voranzutreiben.

Schlussfolgerung: 1. verzehnfachte Anstrengungen bei der Getreidebeschaffung {alle Vorräte sind einzuziehen – sowohl für uns als auch für die deutschen Arbeiter); 2. zehnmal mehr Meldungen zur Armee.

Im Frühjahr müssen wir eine 3-Millionen-Armee haben zur Unterstützung der internationalen Arbeiterrevolution.

Diese Resolution muss Mittwoch Nacht telegrafisch in die ganze Welt gehen.

Setzen Sie die Versammlung auf Mittwoch 2 Uhr an. Wir beginnen um 4, mir erteilen Sie das Wort für eine viertelstündige Eröffnung, ich komme und fahre dann sofort zurück. Schicken Sie mir morgen früh den Wagen (am Telefon sagen Sie nur: einverstanden).

Gruß! Lenin."24

Aus tiefer Sorge um Iljitschs Gesundheit wurde ihm die Teilnahme an der Versammlung nicht gestattet. Die gemeinsame Versammlung war für Donnerstag, den 3. Oktober, anberaumt, am Mittwoch, dem 2., schrieb Iljitsch einen Brief, der auf der Versammlung verlesen wurde. Es wurde eine Resolution im Sinne Lenins angenommen und per Funkspruch an alle Länder der Welt und innerhalb der RSFSR weitergegeben. Am Tage darauf wurde diese Resolution in der „Prawda" abgedruckt.

Iljitsch wusste, dass man keinen Wagen schicken würde, und doch saß er an diesem Tage am Wege und wartete … „Vielleicht schicken sie doch einen!"

Die Gärung unter den deutschen Arbeitern nahm zu. Lenin maß dem theoretischen Kampf, einer klaren theoretischen Position immer große Bedeutung bei. Er wusste, dass Kautsky durch seine Werke, in denen er die Lehre von Marx popularisiert hatte, und weil er seinerzeit gegen die opportunistischen Äußerungen Bernsteins aufgetreten war, große Autorität als Theoretiker in Deutschland genoss, daher erregte und empörte ihn besonders, dass die „Prawda" am 20. September Auszüge aus einem gegen den Bolschewismus gerichteten Artikel Kautskys veröffentlichte. Am gleichen Tag schrieb er an Worowski, der sich als Vertreter der RSFSR in der Schweiz aufhielt, Zetkin, Mehring und andere müssten mit einer prinzipiellen theoretischen Erklärung in der Presse hervortreten und aufzeigen, dass Kautsky in der Frage der Diktatur nicht den Marxismus vertrete, sondern plattestes Bernsteinianertum. Wladimir Iljitsch wies zugleich auf die Notwendigkeit hin, seine Arbeit „Staat und Revolution", die sich mit der reformistischen Position Kautskys beschäftigt, schnellstens ins Deutsche zu übersetzen; weiterhin bat er, ihm die Broschüre Kautskys „Die Diktatur des Proletariats", sobald sie erscheint, sowie alle Artikel Kautskys über den Bolschewismus zuzusenden.

Während seines Erholungsaufenthalts in Gorki begann er mit der Entlarvung Kautskys, deren Ergebnis die Broschüre „Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky" war. Die letzten Zeilen dieser Broschüre, die er am 9. November 1918 niederschrieb, lauten:

In der Nacht vom 9. zum 10. trafen aus Deutschland Nachrichten ein über den Beginn der siegreichen Revolution zuerst in Kiel und anderen Städten im Norden und an der Küste, wo die Macht in die Hände der Arbeiter- und Soldatenräte übergegangen ist, dann auch in Berlin, wo der Rat ebenfalls die Macht übernommen hat.

Der Schluss, den ich noch zu der Broschüre über Kautsky und die proletarische Revolution zu schreiben hätte, erübrigt sich dadurch."25

Am 18. Oktober kehrte Iljitsch nach Moskau zurück. Am 23. Oktober schrieb er an unseren Botschafter nach Berlin:

Übermitteln Sie unverzüglich Karl Liebknecht unseren heißesten Gruß. Die Befreiung des Vertreters der revolutionären Arbeiter Deutschlands aus dem Gefängnis ist das Zeichen einer neuen Epoche, der Epoche des siegreichen Sozialismus, die sich jetzt Deutschland wie auch der ganzen Welt eröffnet.

Im Namen des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Russlands (Bolschewiki).

Lenin Swerdlow Stalin."26

Am 23. Oktober wurde Liebknecht aus dem Gefängnis befreit, die Arbeiter demonstrierten vor der sowjetischen Botschaft.

Am 5. November 1918 verlangte die deutsche Regierung, dass die diplomatischen und konsularischen Vertreter der RSFSR, mit dem Botschafter Joffe an der Spitze, wegen ihrer Teilnahme an der revolutionären Bewegung in Deutschland sofort Berlin verlassen sollten. Am 9. November hat das revolutionäre Berlin, der Berliner Arbeiter- und Soldatenrat, Joffe und das gesamte Botschaftspersonal, das sich auf dem Wege nach Russland befand, wieder nach Berlin zurückberufen.

Die Feier zum ersten Jahrestag der Oktoberrevolution verlief in sehr gehobener Stimmung. Ende Oktober nimmt Lenin an der Abfassung des Aufrufs teil, der sich im Namen des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees und des Rates der Volkskommissare an die österreichischen Arbeiter wendet. Am 3. November spricht er auf einer Demonstration zu Ehren der österreichisch-ungarischen Revolution. Es war beschlossen worden, in den Oktobertagen den VI. Gesamtrussischen Sowjetkongress abzuhalten. Zur Eröffnung des Kongresses am 6. November spricht Iljitsch über den ersten Jahrestag der proletarischen Revolution; am gleichen Tage hält er die Ansprache in der Festsitzung des Gesamtrussischen Zentralrats und des Moskauer Rates der Gewerkschaften und in der Festveranstaltung des Moskauer Proletkults. Am 7. nimmt er an der Enthüllung der Gedenktafel für die Kämpfer der Oktoberrevolution teil und hält die Gedenkrede.

Am 7. November spricht Iljitsch bei der Enthüllung des Marx-Engels-Denkmals; er würdigt die Bedeutung ihrer Lehre und ihre Voraussicht.

Wir leben in einer glücklichen Zeit, in der sich das, was die großen Sozialisten vorausgesagt haben, zu erfüllen beginnt. Wir alle sehen, wie in einer ganzen Reihe von Ländern die Morgenröte der internationalen sozialistischen Revolution des Proletariats aufsteigt. Die unsagbaren Gräuel des imperialistischen Völkermordens rufen überall eine heldenhafte Erhebung der unterdrückten Massen hervor und verzehnfachen ihre Kräfte im Kampf um die Befreiung.

Mögen die Denkmäler für Marx und Engels die Millionen Arbeiter und Bauern immer wieder daran erinnern, dass wir in unserem Kampf nicht allein sind. An unserer Seite erheben sich die Arbeiter der fortgeschritteneren Länder. Ihrer und unser harren noch schwere Kämpfe. Im gemeinsamen Kampf werden wir das Joch des Kapitals zerbrechen, werden wir den Sozialismus endgültig erkämpfen!"27

Am 8., 9., 10. und 11. November sind es die Nachrichten über die Revolution in Deutschland, die Lenin völlig in ihrem Bann halten. In unzähligen Veranstaltungen ergreift er das Wort. Sein Gesicht strahlt die gleiche Freude aus wie am 1. Mai 1917. Die Oktobertage des Jahres 1918, da die Sowjetmacht ihr einjähriges Bestehen feierte, gehörten zu den glücklichsten Tagen seines Lebens.

Doch war er sich stets eingedenk, dass der Sowjetmacht noch ein schwerer Weg bevorstand. Am 8. November hält Lenin eine Rede vor den Delegierten der Komitees der Dorfarmut des Moskauer Gebietes.

Die Delegierten dieser Konferenz machten einen sehr zufriedenen Eindruck. Einer von den Delegierten, hochgewachsen, in einem blauen Kaftan, blieb im Treppenhaus vor der Büste eines Gelehrten stehen: „Das könnten wir im Dorf gut brauchen", meinte er lächelnd. Die Delegierten sprachen am meisten davon, was sie alles nehmen und unter sich verteilen werden. Vor Iljitsch saßen arme Einzelbauern und hörten ihn an, aber die Fragen der Kollektivierung der Landwirtschaft, der kollektiven Bodenbearbeitung hatten für sie noch keine aktuelle Bedeutung. Wenn man die damalige Stimmung der Delegierten der Komitees der Dorfarmut mit der Stimmung der Delegierten des II. Kongresses der Kollektivwirtschaftsbauern vergleicht, kann man ermessen, welche Strecke zurückgelegt, welche gewaltige Arbeit geleistet worden war.

Iljitsch fühlte, dass sich eine langwierige Arbeit als notwendig erweisen würde. Er sah deutlich alle Schwierigkeiten, aber hielt diese Frage für entscheidend. „Die Eroberung des Grund und Bodens ist, wie jede Errungenschaft der Werktätigen, nur dann von Dauer, wenn sie sich auf die Aktivität der Werktätigen, auf deren eigene Organisation, auf deren Beharrlichkeit und revolutionäre Standhaftigkeit stützt.

Hatten die werktätigen Bauern eine solche Organisation?

Leider nicht, und das ist der Grund, die Ursache dafür, dass der Kampf so schwer ist."28

Iljitsch wies den Weg zur Organisation: Kampf gegen das Kulakentum und fester Zusammenschluss mit der Arbeiterklasse.

„… wenn der Kulak ungeschoren davonkommt, wenn wir die Dorfwucherer nicht bezwingen, dann werden der Zar und der Kapitalist unvermeidlich wiederkehren.

Die Erfahrungen aller Revolutionen, die es bislang in Europa gegeben hat, bestätigen anschaulich, dass die Revolution unausbleiblich eine Niederlage erleidet, wenn die Bauernschaft nicht die Macht der Kulaken bricht.

Alle europäischen Revolutionen sind eben darum ergebnislos geblieben, weil das Dorf nicht verstand, mit seinen Feinden fertig zu werden. Die Arbeiter in den Städten haben die Monarchen gestürzt … und doch herrschten nach einiger Zeit wieder die alten Zustände …

In den früheren Revolutionen hatten die armen Bauern in ihrem schweren Kampf gegen die Kulaken niemanden, auf den sie sich hätten stützen können.

Das organisierte Proletariat, das stärker und erfahrener ist als die Bauernschaft (die Erfahrung hat es aus seinem früheren Kampf gewonnen), befindet sich heute in Russland an der Macht und ist im Besitz aller Produktionsinstrumente, aller Fabriken und Werke, aller Eisenbahnen, Schiffe usw.

Jetzt hat die arme Bauernschaft einen zuverlässigen und starken Bundesgenossen im Kampf gegen das Kulakentum. Die arme Bauernschaft weiß, dass die Stadt ihr zur Seite steht, dass das Proletariat ihr mit allem Verfügbaren helfen wird und tatsächlich schon hilft …

Die Kulaken haben mit Ungeduld auf die Tschechoslowaken gewartet, sie hätten gern einen neuen Zaren auf den Thron gesetzt, um die Ausbeutung ungestraft fortzusetzen, um die Landarbeiter wie früher zu knechten, um sich wie früher zu bereichern.

Und die einzige Rettung bestand darin, dass sich das Dorf mit der Stadt verbündete, dass die proletarischen und halbproletarischen Elemente des Dorfes, die keine fremde Arbeit ausbeuten, gemeinsam mit den Arbeitern in den Städten den Feldzug gegen die Kulaken und Dorfwucherer eröffneten."29

Und weiter zeigte Lenin die Perspektive auf, die sich aus der Umgestaltung des Lebens auf dem Lande ergeben wird.

Der einzige Ausweg liegt in der gemeinschaftlichen Bodenbestellung … Kommunen, artelmäßige Bodenbestellung, bäuerliche Genossenschaften – das ist die Rettung aus den Nachteilen des Kleinbetriebs, das ist das Mittel zur Hebung und Verbesserung der Wirtschaft, zur Einsparung von Kräften, zum Kampf gegen Kulakentum, Schmarotzertum und Ausbeutung."30

Am 16. November 1918 wurde der I. Gesamtrussische Arbeiterinnenkongress eröffnet, der von der Kommission für Agitation und Propaganda unter den Arbeiterinnen beim ZK der KPR(B) einberufen worden war. An der Organisierung dieses Kongresses nahmen starken Anteil die Genossinnen Inès, Samoilowa, Kollontai, Stal und A. D. Kalinina. Auf dem Kongress waren 1147 Delegierte anwesend. Das war ein Arbeiterinnenkongress; Bäuerinnen waren hier noch nicht vertreten; auch die Frage der Arbeit unter den nationalen Minderheiten stand noch nicht zur Debatte. Iljitsch ging jedoch in seiner Rede auf diesem Kongress hauptsächlich darauf ein, was ihn am meisten beschäftigte: Er sprach über das Dorf, sprach darüber, dass nur der Sozialismus imstande sein werde, die Frau aus ihrer früheren sklavischen Lage zu befreien.

Nur, wenn wir von den Kleinwirtschaften zur Gemeinwirtschaft und zur gemeinschaftlichen Bodenbestellung übergehen, nur dann wird die volle Befreiung und Entsklavung der Frauen Tatsache. Das ist eine schwierige Aufgabe, doch jetzt, wo die Komitees der Dorfarmut gebildet werden, bricht die Zeit an, da sich die sozialistische Revolution festigt.

Erst jetzt organisiert sich der ärmste Teil der ländlichen Bevölkerung, und in diesen Organisationen der Dorfarmut erhält der Sozialismus eine feste Grundlage.

Früher war es häufig so, dass die Stadt revolutionär wurde und erst danach das Dorf in Aktion trat.

Die jetzige Umwälzung stützt sich auf das Dorf, und darin liegt ihre Bedeutung und ihre Stärke."31

Wo Lenin auch immer auftrat, bei jeder Gelegenheit sprach er von der Bauernschaft, von der Vergesellschaftung des Grund und Bodens. In Gesprächen während unserer Spaziergänge erwähnte er des öfteren den Brief Karl Marx' an Friedrich Engels vom Jahre 1856, in dem Marx geschrieben hatte: „The whole thing in Germany [Die ganze Sache in Deutschland] wird abhängen von der Möglichkeit, to back the Proletarian revolution by some second edition of the Peasants' war [die proletarische Revolution durch eine Art zweite Auflage des Bauernkriegs zu unterstützen]. Dann wird die Sache vorzüglich."32

In seiner Rede auf dem I. Gesamtrussischen Kongress der Landabteilungen am 11. Dezember 1918 sagte Lenin folgendes:

In der alten Weise weiterleben, so wie vor dem Kriege, ist unmöglich, und ein solcher Raubbau an der menschlichen Kraft und Arbeit, wie er mit der kleinen bäuerlichen Einzelwirtschaft verbunden ist, darf nicht länger anhalten. Doppelt und dreifach würde die Produktivität der Arbeit steigen, das Doppelte und Dreifache an menschlicher Arbeitskraft würde für die Landwirtschaft, für die Wirtschaft überhaupt eingespart werden, wenn sich der Übergang von dieser zersplitterten Kleinwirtschaft zur Gemeinwirtschaft vollzöge."33

Bereits in der Schweiz hatte ich schwer unter der Basedowschen Krankheit zu leiden. Die Operation, der Aufenthalt in den Bergen dämmten die Krankheit ein; doch das Herz war angegriffen und die physischen Kräfte erschöpft. Durch die Aufregungen und die Sorge um das Leben und die Gesundheit Lenins nach seiner Verwundung bekam ich im Herbst einen schweren Rückfall meiner Krankheit. Die Ärzte verordneten mir die verschiedensten Medikamente, Bettruhe und verboten mir jede Arbeit; aber das half nicht viel. Damals gab es noch keine Sanatorien. Man brachte mich nach Sokolniki, in eine Waldschule, wo über Politik und Arbeit nicht gesprochen werden sollte. Ich freundete mich mit den Kindern an, abends kam dann gewöhnlich Iljitsch, meist in Begleitung von Maria Iljinitschna. Hier lebte ich von Ende Dezember 1918 bis einschließlich Januar 1919. Mit den Kindern war ich sehr vertraut, und sie erzählten mir alles, was sie bewegte. Sie brachten mir ihre Zeichnungen an, erzählten, wie sie Schi liefen; ein neunjähriger Junge war sehr betrübt, dass es niemand zu Hause gab, der für seine Mutter das Essen kochen konnte. Meist bereitete er selbst das Mittagessen: Kartoffelsuppe, oder aber er „briet" die Kartoffeln in Wasser; er wartete schon immer auf die Mutter, und wenn sie von der Arbeit zurückkehrte, stand das Essen bereit. Da war noch ein Mädelchen, das aus dem Kinderheim in die Waldschule übergeführt worden war. Sie hatte noch so manche üble Angewohnheit von da mitgebracht: Sie verstand es, sich bei besonders strengen Lehrerinnen einzuschmeicheln, auch war sie um eine kleine Lüge nicht verlegen. Ihre Mutter, eine Prostituierte, lebte auf dem Smolenski-Rynok. Leidenschaftlich liebte sie ihre Tochter, und mit gleicher Liebe hing das Mädchen an ihrer Mutter. Mit Tränen in den Augen erzählte mir das Mädchen eines Tages, dass ihre Mutter bei Frost fast barfuß zu ihr gekommen wäre, da ihr Liebhaber ihre Stiefel gestohlen und versoffen hätte, die Mutter hätte sich ihre Füße erfroren. Immerzu dachte die Tochter an ihre Mutter: Ihr Achtelpfund Brot hob sie für die Mutter auf, nach dem Mittagessen hielt sie Umschau, ob nicht irgendwo eine Brotrinde für ihre Mutter liegengeblieben war.

Viele Kinder erzählten mir von ihrem Leben; die Schule stand dem Leben fern. Vormittags wurde hier gelernt, darin liefen sie Schi, und abends fertigten sie Baumschmuck an.

Iljitsch scherzte oft mit den Kindern; die Kinder hatten ihn gern und warteten immer auf ihn. Anfang 1919 (Weihnachten nach altem Stil) organisierte die Schule eine Feier. Bei uns in Russland waren solche Weihnachtsfeiern nie mit religiösen Bräuchen verbunden, es war einfach als lustige Veranstaltung für die Kinder gedacht. Die Kinder hatten Iljitsch zu diesem Abend eingeladen. Er hatte auch zugesagt. Er bat Wladimir Dmitrijewitsch Bontsch-Brujewitsch, recht viel Geschenke für die Kinder zu kaufen. Auf dem Wege zu uns wurde das Auto von Banditen überfallen. Ganz verdutzt waren sie, als sie Iljitsch erkannten; alle mussten aussteigen – Wladimir Iljitsch, Maria Iljinitschna, ebenso der Chauffeur, der Genosse Gil, und der zum persönlichen Schutz Lenins beigegebene Genosse, der den Krug Milch nicht aus den Händen ließ – und die Banditen machten sich mit dem Auto auf und davon. Und wir warteten in der Waldschule und wunderten uns, warum Iljitsch und Maria Iljinitschna sich so verspäteten. Als sie endlich ankamen, sahen sie etwas verstört aus. Ich fragte sie im Korridor, was denn los sei. Sie wollten mich nicht aufregen und sagten im ersten Moment gar nichts, aber als wir in mein Zimmer kamen, erzählte Iljitsch den ganzen Vorfall recht ausführlich.

Ich war ja so froh, dass Iljitsch heil davongekommen war.

1 Ebenda, S. 148.

2 Ebenda, S. 150.

3 Ebenda, S. 12.

4 Ebenda, S. 152/153.

5 Ebenda, S. 153.

6 Ebenda, S. 173.

7 Ebenda, S. 248.

8 Ebenda, S. 247/248.

9 Ebenda, S. 268.

10 Ebenda, S. 291.

11 Ebenda, S. 300.

12 Ebenda, S. 325/326.

13 Ebenda, S. 321.

14 Ebenda, S. 385.

15 Ebenda, S. 389.

16 Ebenda, S. 390.

17 Ebenda, S. 384.

18 Ebenda, S. 392.

19 Ebenda, S. 389/390.

20 W. I. Lenin: Werke, 4. Ausgabe, Bd. 35, S. 272, russ.

21 Clara Zetkin: Erinnerungen an Lenin, Dietz Verlag, Berlin 1957, S. 101.

22 Ebenda, S. 102.

23W. I. Lenin: Werke, Bd. 28, S. 88.

24 W. I. Lenin: Über Deutschland und die deutsche Arbeiterbewegung, S. 448/449-

25 W. I. Lenin: Werke, Bd. 28, S. 320.

26 W. I. Lenin: Über Deutschland und die deutsche Arbeiterbewegung, S. 457.

27 W. I. Lenin: Werke, Bd. 28, S. 160/161.

28 W. l. Lenin: Werke, Bd. 28, S. 167.

29 Ebenda, S. 167/168, 169.

30 Ebenda, S. 171.

31 Ebenda, S. 176.

32 Karl Marx/Friedrich Engels: Briefwechsel, Bd. II, Dietz Verlag, Berlin 1949, S. 166.

33 W. I. Lenin: Werke, Bd. 28, S. 346.

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