Nach dem II. Parteitag (1903-1904) Nach dem Parteitag kehrten wir nach Genf zurück. Dort begann eine schwierige Zeit. Zunächst wurde Genf von Emigranten aus den anderen ausländischen Kolonien überflutet; darunter waren Mitglieder der Liga, die die Fragen stellten: „Was war denn auf dem Parteitag los? Worum ging der Streit? Weshalb die Spaltung?" Plechanow war dieser Fragen schon ganz überdrüssig. Er erzählte einmal: „N. N. ist angekommen. Er fragt und fragt und wiederholt dabei immer wieder: ,Ich komme mir vor wie Buridans Esel.' .Warum gerade Buridans?' fragte ich ihn." Auch aus Russland trafen Genossen ein. Unter anderem Jerema aus Petersburg, an den Wladimir Iljitsch ein Jahr zuvor seinen Brief an die Petersburger Organisation gerichtet hatte. Jerema ergriff sofort für die Menschewiki Partei. Bei uns führte er sich ein, indem er eine erztragische Miene aufsetzte und sich mit den Worten an Wladimir Iljitsch wandte: „Ich bin Jerema." Dann legte er gleich los, dass die Menschewiki recht hätten … Ein Mitglied des Kiewer Komitees kam immer wieder mit der Frage, welche Veränderungen der Technik denn die Spaltung auf dem Parteitag hervorgerufen hätten. Ich machte große Augen. Eine so primitive Auffassung des Verhältnisses von „Basis" und „Überbau" war mir noch nicht vorgekommen, ich hatte nicht für möglich gehalten, dass es so etwas geben könne. Leute, die uns bislang mit Geld unterstützt, ihre Wohnung für Zusammenkünfte zur Verfügung gestellt hatten oder dergleichen, lehnten ihre Hilfe unter dem Einfluss der Agitation der Menschewiki nunmehr ab. Einmal kam eine alte Bekannte von mir mit ihrer Mutter nach Genf, um ihre Schwester zu besuchen. Wir hatten als Kinder so herrlich miteinander gespielt – Wanderer und Wilde, die auf Bäumen hausten –, dass ich mich riesig über ihre Ankunft freute. Inzwischen war sie ein älteres Mädchen geworden, das einem ganz fremd war. Wir kamen darauf zu sprechen, dass ihre Familie die Sozialdemokraten immer unterstützt hatte. „Wir können euch unsere Wohnung jetzt nicht mehr zur Verfügung stellen", erklärte sie. „Die Spaltung zwischen den Bolschewiki und Menschewiki hat uns ganz und gar nicht gefallen. Diese persönlichen Zänkereien schaden der Sache sehr." Iljitsch und ich wünschten diese „Sympathisierenden" zum Teufel, die sich keiner Organisation anschlossen und sich einbildeten, durch ihre Wohnungen und ihre Pfennige den Lauf der Dinge in unserer proletarischen Partei beeinflussen zu können! Wladimir Iljitsch unterrichtete sogleich Claire und Kurz in Russland von dem Vorgefallenen. Die russischen Genossen seufzten, wussten aber keinen brauchbaren Rat. Sie schlugen zum Beispiel allen Ernstes vor, Martow solle nach Russland kommen, sich in irgendeinem verborgenen Winkel hinsetzen und populäre Broschüren schreiben. Man beschloss, Kurz ins Ausland zu berufen. Als Glebow nach dem Parteitag den Vorschlag machte, die alte Redaktion zu kooptieren, widersprach Wladimir Iljitsch dem nicht mehr. Lieber die alte Plage als Spaltung. Die Menschewiki lehnten ihre Mitarbeit ab. Wladimir Iljitsch machte den Versuch, sich mit Martow zu verständigen, er schrieb an Potressow und suchte ihn davon zu überzeugen, dass es keinen Grund zu einem Bruch gäbe. Er schrieb auch an Kalmykowa (Tante) über die Spaltung und legte ihr dar, wie alles gekommen war. Er wollte immer noch nicht daran glauben, dass es keinen Ausweg mehr geben sollte. Die Beschlüsse des Parteitages sabotieren und die Arbeit in Russland, die Stoßkraft der eben gebildeten russischen Partei aufs Spiel setzen, das erschien ihm als Wahnsinn; er hielt es für ganz unmöglich. In manchen Augenblicken erkannte er ganz klar, dass der Bruch unvermeidlich ist. Einmal begann er, Claire in einem Brief darzulegen, dass Claire sich von der Situation, wie sie war, gar kein rechtes Bild machen könne. Man müsse sich darüber Rechenschaft ablegen, dass die alten Beziehungen sich von Grund auf geändert hätten; die alte Freundschaft mit Martow sei aus; man müsse sie vergessen; nunmehr beginne der Kampf. Wladimir Iljitsch hat diesen Brief nicht beendet und nicht abgesandt. Es fiel ihm sehr schwer, mit Martow zu brechen. Die Zeit der Petersburger Arbeit, die Zeit der Zusammenarbeit in der alten „Iskra" hatte sie innig verbunden. Martow war ein äußerst empfindsamer Mensch, der vermöge seines Feingefühls Iljitschs Gedanken zu erfassen und talentvoll zu entwickeln vermochte. Später bekämpfte Wladimir Iljitsch die Menschewiki erbittert, aber jedes Mal, wenn Martow seine Linie auch nur ein wenig ausrichtete, wurde sein früheres Verhältnis zu Martow wieder wach. So zum Beispiel 1910, als Martow und Wladimir Iljitsch in Paris zusammen in der Redaktion des „Sozial-Demokrat"1 arbeiteten. So manchmal berichtete Wladimir Iljitsch erfreut, wenn er aus der Redaktion kam, dass Martow für die richtige Linie eintrete und sogar gegen Dan Stellung nehme. Und wie erfreut war Wladimir Iljitsch über Martows Verhalten in den Julitagen (viel später, schon in Russland), weniger aus dem Grund, weil es den Bolschewiki besonders nützlich gewesen wäre, als deshalb, weil Martow eine Haltung gezeigt hatte, wie sie sich für einen Revolutionär geziemte. Als Wladimir Iljitsch schon schwer krank war, sagte er mir einmal recht betrübt: „Auch Martow soll, wie ich hörte, im Sterben liegen." Die meisten bolschewistischen Parteitagsdelegierten kehrten zur Arbeit nach Russland zurück. Die Menschewiki reisten nicht alle zurück, ja Dan kam sogar noch hinzu. Im Ausland wuchs die Zahl ihrer Anhänger. Die Bolschewiki, die in Genf zurückgeblieben waren, kamen regelmäßig zusammen. In diesen Versammlungen war Plechanow am unversöhnlichsten. Er war guten Mutes, scherzte und ermunterte die andern. Endlich traf das ZK-Mitglied Kurz alias Wassiljew (Lengnik) in(Genf ein. Er fühlte sich ganz erdrückt von den Intrigen, die in Genf herrschten. Er hatte gleich eine Unmenge zu tun, um Konflikte zu schlichten, Leute nach Russland zu dirigieren usw. Die Menschewiki hatten bei den Emigranten im Ausland Erfolg. Sie beschlossen deshalb, den Bolschewiki eine Schlacht zu liefern. Es sollte nämlich ein Kongress der „Auslandsliga der russischen revolutionären Sozialdemokratie" einberufen werden, um den Bericht Lenins, ihres Delegierten zum II. Parteitag, entgegenzunehmen. Dem Vorstand der Liga gehörten damals Deutsch, Litwinow und ich an. Deutsch war es, der die Einberufung des Kongresses der Liga forderte, Litwinow und ich waren dagegen. Es war uns klar, dass der Kongress unter den obwaltenden Umständen mit einem großen Skandal enden würde. Da erinnerte sich Deutsch, dass Wetscheslow, der in Berlin wohnte, und Leiteisen, der sich in Paris aufhielt, noch dem Vorstand angehörten. Beide hatten zwar faktisch an der Arbeit des Vorstands der Liga in letzter Zeit keinen unmittelbaren Anteil genommen, waren aber offiziell nicht aus dem Vorstand ausgeschieden. Sie wurden zur Abstimmung herangezogen und stimmten für den Kongress. Kurz vor dem Kongress der Liga erlitt Wladimir Iljitsch einen Unfall. In Gedanken versunken, fuhr er mit seinem Fahrrad gegen einen Straßenbahnwagen und hätte sich beinahe ein Auge ausgeschlagen. Verbunden und blass ging er zum Kongress der Liga. Die Menschewiki griffen ihn mit wütendem Hass an. Ich entsinne mich noch der wüsten Szene, als Dan, Krochmal und andere mit wutverzerrten Gesichtern aufsprangen und wie toll mit ihren Pultdeckeln klapperten. Auf dem Kongress der Liga waren die Menschewiki zahlenmäßig stärker als die Bolschewiki, zudem gab es unter ihnen mehr „Generäle". Die Menschewiki brachten ein Statut der Liga durch, das aus der Liga einen Stützpunkt des Menschewismus machte. Es sicherte den Menschewiki einen eigenen Verlag zu und machte sie vom ZK unabhängig. Kurz (Wassiljew) bestand im Namen des ZK auf einer Abänderung des Statuts, und da die Liga sich dem nicht unterwarf, erklärte er sie für aufgelöst. Plechanows Nerven hielten den von den Menschewiki heraufbeschworenen Skandal nicht aus. Er erklärte, „außerstande zu sein, auf die eigenen Leute zu schießen". In der Versammlung der Bolschewiki forderte Plechanow, man solle nachgeben. „Es gibt Momente", meinte er, „wo sogar die Selbstherrschaft zum Nachgeben gezwungen ist." „Dann sagt man eben auch, dass sie schwankt", erwiderte Lisa Knunianz, worauf ihr Plechanow einen bösen Blick zuwarf. Um den Frieden in der Partei zu retten, wie er sagte, beschloss Plechanow, die alte Redaktion der „Iskra" zu kooptieren. Wladimir Iljitsch schied aus der Redaktion aus mit der Erklärung, er lehne die Mitarbeit ab und verlange nicht einmal, dass man sein Ausscheiden aus der Redaktion bekanntgebe. Plechanow solle versuchen, Frieden herbeizuführen, er werde dem Frieden in der Partei nicht im Wege sein. In einem Brief an Kalmykowa hatte Wladimir Iljitsch kurz vorher geschrieben: „Man kann in keine schlimmere Sackgasse geraten, als wenn man sich von der Arbeit entfernt." Durch sein Ausscheiden aus der Redaktion betrat er diesen Weg, das war ihm klar. Die Opposition verlangte noch die Kooptierung ihrer Vertreter in das ZK, zwei Plätze im Rat und die Anerkennung der Rechtmäßigkeit der Beschlüsse des Kongresses der Liga. Das ZK war einverstanden, zwei Vertreter der Opposition in das ZK zu kooptieren, ihr einen Platz im Rat einzuräumen und die Liga allmählich zu reorganisieren. Ein Frieden kam nicht zustande. Plechanows Nachgeben war Wasser auf die Mühle der Opposition. Plechanow verlangte, dass noch ein zweites ZK-Mitglied, Ru (Konjaga, sein richtiger Name war Galperin), aus dem Rat ausscheide, um den Menschewiki Platz zu machen. Wladimir Iljitsch war lange unschlüssig, ob er dieser neuen Konzession zustimmen sollte. Ich weiß noch, wie wir zu dritt – Wladimir Iljitsch, Konjaga und ich – eines Abends am Ufer des Genfer Sees standen. Der See stürmte; Konjaga redete auf Wladimir Iljitsch ein, in seinen Austritt einzuwilligen. Endlich entschloss sich Wladimir Iljitsch, zu Plechanow zu gehen und ihm zu sagen, dass Ru aus dem Rat ausscheiden werde. Martow gab die Broschüre „Der Belagerungszustand" heraus. Sie strotzte von den unglaublichsten Beschuldigungen. Auch Trotzki ließ eine Broschüre erscheinen, „Bericht der sibirischen Delegation", in der er die Ereignisse völlig im Sinne Martows beleuchtete. Plechanow wurde als eine Schachfigur in der Hand Lenins dargestellt usw. Wladimir Iljitsch begann, eine Erwiderung an Martow zu schreiben, die Broschüre „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück". Darin analysierte er die Ereignisse auf dem Parteitag eingehend. Indessen war auch in Russland der Kampf entbrannt. Die Delegierten der Bolschewiki erstatteten Bericht über den Parteitag. Das Programm, das der Parteitag angenommen hatte, und die meisten Resolutionen des Parteitags wurden in den Ortsgruppen mit großer Befriedigung aufgenommen. Um so weniger verstand man die Haltung der Menschewiki. In Resolutionen wurde gefordert, dass jeder sich den Beschlüssen des Parteitags zu fügen habe. Von unseren Delegierten setzte sich in dieser Zeit Djadenka besonders energisch ein. Als alte Revolutionärin konnte sie einfach nicht begreifen, wie man sich dem Parteitag gegenüber so disziplinlos verhalten könne. Sie und andere Genossen aus Russland schrieben ermunternde Briefe. Die Komitees stellten sich eins nach dem andern auf den Boden der Parteimehrheit. Claire traf ein. Er hatte keine Vorstellung davon, welche Kluft indessen zwischen den Bolschewiki und den Menschewiki entstanden war. Er glaubte, man könne Bolschewiki und Menschewiki noch miteinander versöhnen, und ging zu Plechanow, um sich mit ihm auszusprechen. Er sah aber ein, dass ein Ausgleich völlig unmöglich war, und reiste in gedrückter Stimmung ab. Wladimir Iljitsch wurde noch finsterer. Anfang 1904 kamen Zilja Selikson, Baron (E. E. Essen), ein Vertreter der Petersburger Organisation, und der Arbeiter Makar nach Genf. Alle drei waren Anhänger der Bolschewiki. Wladimir Iljitsch kam häufig mit ihnen zusammen. Sie sprachen nicht nur über die Auseinandersetzungen mit den Menschewiki, sondern auch über die Arbeit in Russland. Baron, damals noch ein ganz junger Bursche, war hingerissen von der Arbeit in Petersburg. „Wir bauen die Organisation jetzt auf kollektiven Grundlagen auf", sagte er. „Wir haben einzelne Kollektive gebildet: ein Kollektiv der Propagandisten, eins der Agitatoren, eins der Organisatoren." Wladimir Iljitsch hörte zu. „Aus wie viel Leuten setzt sich das Kollektiv der Propagandisten zusammen?" fragte er. „Vorläufig aus mir allein", erwiderte Baron etwas verlegen. „Etwas wenig", bemerkte Iljitsch. „Und das Kollektiv der Agitatoren?" Baron errötete bis über beide Ohren und antwortete: „Vorläufig auch nur aus mir allein." Iljitsch lachte ungestüm. Auch Baron lachte mit. Iljitsch verstand es immer, durch wenige Fragen, die die verwundbarste Stelle berührten, aus dem Wust von schönen Schemata und effektvollen Berichten die reale Wirklichkeit herauszuschälen. Später trafen Olminski (Michail Stepanowitsch Alexandrow), der sich den Bolschewiki anschloss, und Swerka2 ein. Swerka hatte sich aus der Verbannung in die Freiheit gerettet. Sie war voll sprühender Energie und steckte damit ihre ganze Umgebung an. Sie zeigte keine Spur irgendwelcher Zweifel, irgendwelcher Unschlüssigkeit. Sie lachte jeden aus, der wegen der Spaltung den Kopf hängen ließ. Die Streitigkeiten im Ausland berührten sie anscheinend gar nicht. Zu dieser Zeit kamen wir auf den Einfall, bei uns in Secheron einmal wöchentlich „jours fixes" zu veranstalten, um die Bolschewiki einander näher zubringen Bei diesen „jours fixes" kam es zwar zu keiner „richtigen" Aussprache, aber sie trugen doch dazu bei, die durch die ganze Auseinandersetzung mit den Menschewiki hervorgerufene Depression zu vertreiben. Wie lustig klang es, wenn Swerka flott einen „Wanka" zu singen begann und der lange kahlköpfige Arbeiter Jegor in den Gesang einstimmte. Einmal ging Jegor zu Plechanow, um sich mit ihm offen auszusprechen; er legte dafür sogar einen Kragen um. Aber er kam enttäuscht und deprimiert von Plechanow zurück. „Sei nicht traurig, Jegor", tröstete ihn Swerka, „lass uns mal wieder ,Wanka' singen; wir schaffen es schon." Iljitsch wurde zusehends munterer. Swerkas Übermut und Frische zerstreute seine trübe Stimmung. Bogdanow tauchte auf. Wladimir Iljitsch kannte damals seine philosophischen Arbeiten noch wenig, und als Menschen kannte er ihn gar nicht. Man sah ihm an, dass er ein führender Genosse war. Er war nur für kurze Zeit ins Ausland gekommen. In Russland hatte er weitreichende Verbindungen. Die Zeit der endlosen Streitereien war vorbei. Am schwersten fiel es Wladimir Iljitsch, endgültig mit Plechanow zu brechen. Im Frühjahr lernte Wladimir Iljitsch einen alten Revolutionär kennen, den Volksrechtler Natanson, und dessen Frau. Natanson war ein ausgezeichneter Organisator vom alten Schlag. Er kannte sehr viele Menschen, wusste jeden vorzüglich einzuschätzen und sah gleich, wozu er sich eignete und zu welcher Aufgabe man ihn gebrauchen konnte. Was Wladimir Iljitsch besonders überraschte, war, dass er nicht nur die Zusammensetzung seiner eigenen, sondern auch die unserer sozialdemokratischen Organisation ausgezeichnet kannte, besser als viele unserer damaligen ZK-Mitglieder. Natanson wohnte in Baku und war mit Krassin, Postolowski und anderen bekannt. Wladimir Iljitsch hielt es für möglich, Natanson für die Sozialdemokratie zu gewinnen. Natanson stand dem sozialdemokratischen Standpunkt sehr nahe. Später hörte ich von jemand, wie dieser alte Revolutionär geweint haben soll, als er in Baku zum ersten Male in seinem Leben eine grandiose Demonstration sah. In einem Punkt konnte Wladimir Iljitsch mit Natanson nicht übereinkommen. Und zwar war Natanson mit der damaligen Stellung der Sozialdemokratie zur Bauernschaft nicht einverstanden. Der Roman mit Natanson dauerte etwa zwei Wochen. Natanson war mit Plechanow gut bekannt, er stand mit ihm auf du und du. Wladimir Iljitsch sprach einmal mit Natanson über unsere Parteiangelegenheiten, über die Spaltung mit den Menschewiki. Natanson erbot sich, mit Plechanow zu reden. Er kam irgendwie betreten von Plechanow zurück. Man müsse nachgeben, meinte er. Der Roman mit Natanson war aus. Wladimir Iljitsch ärgerte sich über sich selbst, dass er mit dem Mitglied einer fremden Partei über die Angelegenheiten der Sozialdemokratie gesprochen hatte, dass Natanson als eine Art Vermittler fungiert hatte. Er ärgerte sich über sich selbst und ärgerte sich über Natanson. Inzwischen führte das ZK in Russland eine zweideutige, versöhnlerische Politik, aber die Komitees waren für die Bolschewiki. Es blieb nichts anderes übrig, als sich auf Russland zu stützen und einen neuen Parteitag einzuberufen. Als Antwort auf die Julideklaration des ZKE, die Wladimir Iljitsch die Möglichkeit nahm, seinen Standpunkt zu verteidigen und mit Russland in Verbindung zu bleiben, trat Wladimir Iljitsch aus dem ZK aus. Die Gruppe der Bolschewiki, insgesamt 22 Mann, nahm eine Resolution an, die die Notwendigkeit aussprach, einen III. Parteitag einzuberufen. Wladimir Iljitsch und ich packten unsere Rucksäcke und gingen für einen Monat ins Gebirge. Swerka hatte sich uns angeschlossen und wanderte anfangs mit uns. Sie blieb aber bald zurück. „Ihr sucht euch stets eine Gegend aus, wo man keinem Hund begegnet. Ich kann aber nicht ohne Menschen sein", sagte sie. In der Tat wählten wir immer die abgelegensten Pfade, mitten durchs Dickicht, möglichst weit von Menschen entfernt. So vagabundierten wir einen ganzen Monat. Wir wussten heute nicht, wo wir morgen sein würden. Abends fielen wir todmüde ins Bett und schliefen sofort ein. Wir hatten wenig Geld und ernährten uns meist von Käse und Eiern. Dazu tranken wir Wein oder Quellwasser. Zu Mittag aßen wir nur selten. In einem sozialdemokratischen Wirtshaus trafen wir einmal einen Arbeiter, der uns den Rat gab: „Essen Sie nie mit den Touristen, sondern mit den Fuhrleuten, Chauffeuren und Tagelöhnern, das ist halb so teuer und viel sättigender." Das taten wir denn auch. Der kleine Beamte, der Ladenbesitzer und ähnliche Leute, die es der Bourgeoisie nachmachen möchten, verzichten lieber auf eine Wanderung, als dass sie sich mit Dienstboten an einen Tisch setzen. Dieses Spießertum steht in Europa überall in Blüte. Das Wort Demokratie führt man dort dauernd im Mund, aber sich mit den Dienstboten nicht bei sich zu Hause, sondern in einem eleganten Hotel an einen Tisch setzen zu sollen – das geht über die Kräfte des Spießers, der etwas werden will. Wladimir Iljitsch machte es ein besonderes Vergnügen, im Bedientenraum zu Mittag zu essen; er aß dort mit besonderem Appetit und lobte das billige und nahrhafte Mittagessen. Danach schnallten wir wieder unsere Rucksäcke auf und wanderten weiter. Die Rucksäcke waren recht schwer: Wladimir Iljitsch hatte ein schweres französisches Wörterbuch in seinem Rucksack, und in meinem lag ein ebenso schweres französisches Buch, das ich kürzlich zum Übersetzen bekommen hatte. Aber weder das Wörterbuch noch mein Buch wurden auch nur ein einziges Mal während unserer Wanderung aufgeschlagen. Wir schauten nicht ins Wörterbuch, wir betrachteten lieber die von ewigem Schnee bedeckten Berge, die blauen Seen, die stürmischen Wasserfälle. Nach einem Monat, den wir auf diese Weise zubrachten, kamen Wladimir Iljitschs Nerven wieder ins Gleichgewicht. Als hätte er sich mit dem Wasser aus einem Bergquell gewaschen und das ganze Spinngewebe kleinlichen Gezänks von sich abgestreift. Den August verbrachten wir zusammen mit Bogdanow, Olminski und Perwuchin in einem entlegenen Dörfchen in der Nähe des Lac de Bret. Mit Bogdanow verabredeten wir den Arbeitsplan. Bogdanow beabsichtigte, Lunatscharski, Stepanow und Basarow zur literarischen Arbeit heranzuziehen. Wir fassten ins Auge, ein eigenes Organ im Ausland herauszugeben und in Russland die Agitation für den Parteitag zu entfalten. Iljitsch wurde ganz vergnügt, und abends, wenn er von Bogdanow nach Hause kam, ertönte ein ungestümes Bellen – Iljitsch neckte im Vorbeigehen den Kettenhund. Als wir im Herbst nach Genf zurückkehrten, zogen wir aus dem Vorort mehr ins Zentrum. Wladimir Iljitsch trat der „Société de Lecture" bei, die über eine riesige Bibliothek mit vorzüglichen Arbeitsbedingungen verfügte. Es gab dort eine Menge Zeitungen und Zeitschriften in französischer, englischer und deutscher Sprache. Man konnte dort ganz ungestört arbeiten; die Mitglieder des Vereins – meist alte Professoren – benutzten die Bibliothek nur wenig. Iljitsch stand ein ganzer Raum zur Verfügung. Er konnte dort schreiben, auf und ab gehen, seine Artikel überlegen, jedes beliebige Buch vom Regal nehmen. Er konnte sicher sein, dass hierher kein russischer Genosse kommen und erzählen werde, dass die Menschewiki das und das gesagt, dieses und jenes gemacht hätten. Hier konnte er nachdenken, ohne abgelenkt zu werden, und es gab so manches, worüber man nachdenken musste. Russland hatte den japanischen Krieg begonnen, der die ganze Morschheit der Zarenmonarchie besonders krass zum Vorschein kommen ließ. Im japanischen Krieg wünschten nicht nur die Bolschewiki eine Niederlage Russlands, auch die Menschewiki und sogar die Liberalen waren Defätisten. Eine Welle der Empörung ging durch das Volk. Die Arbeiterbewegung war in eine neue Phase eingetreten. Die Nachrichten über Massenkundgebungen, die trotz der Polizeiverbote veranstaltet wurden, über direkte Zusammenstöße der Arbeiter mit der Polizei häuften sich. Angesichts der heranwachsenden revolutionären Massenbewegung konnten einen die kleinen fraktionellen Streitigkeiten schon längst nicht mehr so aufregen wie noch vor kurzem, obwohl diese Streitigkeiten manchmal ganz wilde Formen annahmen. Einmal traf zum Beispiel der Bolschewik Wassiljew aus dem Kaukasus ein und wollte ein Referat über die Lage in Russland halten. Obwohl es sich nicht um eine Parteiversammlung handelte, sondern nur um ein öffentliches Referat, zu dem jedes beliebige Parteimitglied Zutritt hatte, verlangten die Menschewiki die Wahl eines Präsidiums. Der Versuch der Menschewiki, aus jedem Referat eine Art Wahlkampf zu machen, war der Versuch, die Bolschewiki „auf demokratische Weise" mundtot zu machen. Beinahe wäre es zu einem Handgemenge, zu einem Kampf um die Kasse gekommen. Natalja Bogdanowa (Bogdanows Frau) wurde sogar der Mantel zerrissen, und jemand kam zu Fall und verletzte sich. Aber all das regte einen jetzt viel weniger auf als früher. Jetzt dachte alles an Russland. Man empfand die ungeheure Verantwortung für die Arbeiterbewegung, die sich in Petersburg, in Moskau, in Odessa und anderen Städten Russlands entwickelte. Sämtliche Parteien – die Liberalen, die Sozialrevolutionäre – begannen ihr wahres Gesicht besonders deutlich zu zeigen. Auch die Menschewiki entpuppten sich. Jetzt trat das, was die Bolschewiki und Menschewiki trennte, ganz deutlich hervor. In Wladimir Iljitsch lebte der tiefe Glaube an den Klasseninstinkt des Proletariats, an seine schöpferische Kraft, an seine geschichtliche Mission. Dieser Glaube war bei Wladimir Iljitsch nicht auf einmal entstanden, er erwuchs in ihm in jenen Jahren, als er die Marxsche Theorie des Klassenkampfes studierte, als er die russische Wirklichkeit studierte, als er im Kampf mit der Weltanschauung der alten Revolutionäre lernte, dem Heldenmut individueller Kämpfer die Kraft und das Heldentum des Klassenkampfes entgegenzusetzen. Es war das kein blinder Glaube an eine unbekannte Macht, es war die tiefe Überzeugung von der Kraft des Proletariats, von seiner gewaltigen Rolle im Kampf für die Befreiung der Werktätigen, eine Überzeugung, die auf tiefer Sachkenntnis beruhte, auf gewissenhaftestem Studium der Wirklichkeit. Die Tätigkeit unter den Petersburger Arbeitern hatte diesem Glauben an die Macht der Arbeiterklasse lebendige Gestalt verliehen. Ende Dezember begann die bolschewistische Zeitung „Wperjod"3 zu erscheinen. In die Redaktion wurden außer Iljitsch noch Olminski und Orlowski4 berufen. Bald kam ihnen Lunatscharski zu Hilfe. Seine von Pathos erfüllten Artikel und Reden brachten die damalige Stimmung der Bolschewiki besonders gut zum Ausdruck. Die revolutionäre Bewegung in Russland wuchs, und zugleich wuchs auch unsere Korrespondenz mit Russland. Sie kam bald bis auf dreihundert Briefe im Monat. Für die damalige Zeit war das eine enorme Menge. Wie viel Material für Iljitsch! Er verstand es, die Briefe der Arbeiter zu lesen. Ich entsinne mich noch eines Briefes von Arbeitern der Odessaer Steinbrüche. Ein kollektiver Brief mit einigen urwüchsigen Handschriften, ohne Subjekt und Prädikat, ohne Punkte und Kommas, aber er atmete unerschöpfliche Energie, Bereitschaft zum Kampf bis zum letzten, bis zum Sieg, ein Brief, farbenprächtig durch jedes seiner naiven und überzeugten, unerschütterlichen Worte. Ich weiß nicht mehr, wovon in diesem Brief die Rede war, aber ich erinnere mich noch deutlich seines Aussehens, des Papiers, der vergilbten Tinte. Wladimir Iljitsch las diesen Brief immer wieder, und dann ging er tief in Gedanken auf und ab. Die Arbeiter der Odessaer Steinbrüche hatten sich die Mühe nicht umsonst gemacht, als sie den Brief an Iljitsch schrieben, sie schrieben dem Genossen, dem sie schreiben mussten, der sie am besten verstanden hat. Einige Tage nach dem Schreiben von den Arbeitern der Odessaer Steinbrüche kam ein Brief von einer jungen Propagandistin aus Odessa, Tanjuscha mit Namen, die gewissenhaft und ausführlich über eine Versammlung der Odessaer Handwerker berichtete. Iljitsch las auch diesen Brief und setzte sich sogleich hin, um Tanjuscha zu antworten: „Haben Sie Dank für den Brief, schreiben Sie häufiger. Für uns ist jede Mitteilung außerordentlich wichtig, die die alltägliche Arbeit beschreibt. Wir bekommen verteufelt wenig solche Mitteilungen." Fast in jedem Brief bat Iljitsch die russischen Genossen dringend, ihm mehr Verbindungen zu schaffen. „Die Stärke einer revolutionären Organisation besteht in der Zahl ihrer Verbindungen", heißt es in einem Brief an Gussew. Er bat Gussew, das ausländische Zentrum der Bolschewiki mit der Jugend zu verbinden. „Eine ganz idiotische, philisterhafte, Oblomowsche Furcht vor der Jugend besteht bei uns", schreibt er. Alexej Andrejewitsch Preobraschenski, einen alten Bekannten in Samara, der damals auf dem Lande wohnte, bat er in einem Brief um Verbindungen mit den Bauern. Er drang darauf, dass die Arbeiterbriefe von den Petersburger Genossen dem ausländischen Zentrum nicht nur im Auszug bekanntgegeben, sondern ungekürzt eingesandt würden. Die Revolution näherte sich und wuchs. Das sah Iljitsch am deutlichsten aus diesen Arbeiterbriefen. Das Jahr 1905 stand vor der Tür. 1 Der „Sozial-Demokrat", das Zentralorgan der SDAPR, wurde als illegale Zeitung von Februar 1908 bis Januar 1917 herausgegeben. Die erste Nummer erschien in Russland, die übrigen in Paris und Genf. 2 M. M. Essen E So wurde die von dem versöhnlerischen Teil des ZK, das damals eine menschewistische Politik durchführte, und von den Menschewiki in Abwesenheit Lenins angenommene Resolution genannt. Sie enthielt 26 Punkte, von denen aber nur 10 in Nr. 72 der „Iskra" vom 25. August 1904 veröffentlicht wurden. In der Antwort der Redaktion an Lenin, der darüber empört war, dass von der Partei die Beschlüsse ihres leitenden Organs geheimgehalten wurden, verteidigte Plechanow den Standpunkt, dass die örtlichen Komitees über die Meinungsverschiedenheiten der Führer nicht in allen Einzelheiten unterrichtet sein müssten: „Sich bemühen, das Proletariat zum Richter über unzählige Zwistigkeiten zu machen, die in den Zirkeln ausbrechen, hieße zur übelsten aller Arten des Pseudodemokratismus neigen." (Iskra Nr. 53 vom 25. November 1903.) Einer der Punkte dieser Deklaration lautet: „Das ZK spricht sich entschieden gegen die Einberufung eines Sonderparteitags im gegenwärtigen Moment aus sowie gegen die Agitation für diesen Parteitag." N. K. 3 „Wperjod" (Vorwärts) – illegale bolschewistische Zeitung, die von Dezember 1904 bis Mai 1905 erschien. 4 W. W. Worowski. |