Oktober 1917

Oktober 1917

Der Machtergreifung im Oktober 1917 war eine allseitige Vorbereitung seitens der Partei des Proletariats, der bolschewistischen Partei, vorangegangen. Alle Umstände waren reiflich durchdacht. Schon im Juli war spontan ein Aufstand ausgebrochen. Aber die Partei hatte klaren Kopf bewahrt; sie hielt die Zeit noch nicht für gekommen. Man durfte sich keinesfalls über die Tatsache hinwegtäuschen, dass die Massen noch nicht zu entscheidenden Aktionen bereit waren. Das Zentralkomitee beschloss deshalb, den Aufstand zu stoppen. Die aufgewühlten, zu allem entschlossenen Massen zu zügeln war gewiss keine leichte Aufgabe, es war eine schwere Aufgabe für die Bolschewiki. Doch sie taten, was ihre Pflicht war, denn sie wussten, wie viel von der Wahl des rechten Augenblicks für den Aufstand abhing.

Wenige Monate waren ins Land gegangen. Die Situation hatte sich geändert. Zwischen dem 12. und 14. September schrieb Lenin aus Finnland, wo er sich verbergen musste, einen Brief an das Zentralkomitee, das Petrograder und das Moskauer Komitee der Partei: „Nachdem jetzt die Bolschewiki in den Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten beider Hauptstädte die Mehrheit erhalten haben, können und müssen sie die Staatsmacht in ihre Hände nehmen."1 Weiter führte er aus, warum man gerade jetzt zur Machtergreifung schreiten müsse. Man war im Begriff, Petrograd dem Feind auszuliefern. Die Aussichten auf den Sieg verringerten sich dadurch. Alles sprach dafür, dass ein Separatfrieden zwischen den englischen und den deutschen Imperialisten zustande kommen würde. „Gerade jetzt den Völkern den Frieden anbieten, heißt siegen"2, schrieb Lenin.

In einem Brief an das Zentralkomitee legte Lenin eingehend dar, zu welchem Zeitpunkt man den Aufstand beginnen und auf welche Weise man ihn vorbereiten müsse: „Um erfolgreich zu sein, darf sich der Aufstand nicht auf eine Verschwörung, nicht auf die Partei stützen, sondern muss sich auf die fortgeschrittenste Klasse stützen. Dies zum ersten. Der Aufstand muss sich auf den revolutionären Aufschwung des Volkes stützen. Dies zum zweiten. Der Aufstand muss sich auf einen solchen Wendepunkt in der Geschichte der anwachsenden Revolution stützen, wo die Aktivität der vordersten Reihen des Volkes am größten ist, wo die Schwankungen in den Reihen der Feinde und in den Reihen der schwachen, halben, unentschlossenen Freunde der Revolution am stärksten sind. Dies zum dritten."3

Am Schluss seines Briefes erläuterte Lenin, wie man an den Aufstand, der vom marxistischen Standpunkt aus eine Kunst ist, heranzugehen habe. „Um uns aber zum Aufstand marxistisch, d. h. als zu einer Kunst zu verhalten, müssen wir gleichzeitig, ohne eine Minute zu verlieren, einen Stab der aufständischen Abteilungen organisieren, die Kräfte verteilen, die ergebenen Regimenter an den wichtigsten Punkten einsetzen, das Alexandertheater umzingeln, die Peter-Pauls-Festung besetzen, den Generalstab und die Regierung verhaften, gegen die Offiziersschüler und gegen die Wilde Division solche Truppen schicken, die eher zu sterben bereit sind als den Feind in die Zentren der Stadt vordringen zu lassen; wir müssen die bewaffneten Arbeiter mobilisieren, sie zum letzten, verzweifelten Kampf aufrufen; wir müssen sofort das Telegrafen- und das Telefonamt besetzen, unseren Aufstandsstab beim zentralen Telefonamt unterbringen, mit ihm alle Fabriken, alle Regimenter, alle Punkte des bewaffneten Kampfes usw. telefonisch verbinden.

Das alles natürlich beispielsweise, nur als Illustration dafür, dass man im jetzigen Augenblick dem Marxismus, der Revolution nicht treu bleiben kann, wenn man sich nicht zum Aufstand als zu einer Kunst verhält."4

Lenin machte sich in Finnland große Sorgen, dass der günstigste Augenblick zum Losschlagen ungenützt verstreichen könnte. Am 7. Oktober schreibt er an die Petrograder Stadtkonferenz, ferner an das Zentralkomitee, das Moskauer, das Petrograder Komitee der Partei und an die bolschewistischen Mitglieder der Sowjets von Moskau und Petrograd. Am 8. folgt ein Brief an die Genossen Bolschewiki, die Teilnehmer des Sowjetkongresses des Nordgebiets; Lenin ist höchst besorgt, ob dieser Brief auch ankommen würde. Am 9. reist Lenin nach Petrograd, wo er illegal im Wiborger Bezirk untertaucht. Von hier aus leitet er die Vorbereitung des Aufstandes.

Im letzten Monat war Lenin ausschließlich vom Gedanken an den Aufstand beherrscht; nur das erfüllte ihn. Seine Stimmung und sein Optimismus teilten sich auch seinen Gefährten mit.

Besonders wichtig ist Lenins letzter Brief aus Finnland, der Brief an die Genossen Bolschewiki, die Teilnehmer des Kongresses der Sowjets des Nordens. Er lautet:

„…der bewaffnete Aufstand ist eine besondere Form des politischen Kampfes, die besonderen Gesetzen unterworfen ist, und diese müssen gründlich durchdacht werden. Außerordentlich plastisch hat Karl Marx diese Wahrheit ausgedrückt, als er schrieb, dass der bewaffnete .Aufstand genau wie der Krieg eine Kunst' ist.

Die wichtigsten Regeln dieser Kunst sind nach Marx:

1. Nie mit dem Aufstand spielen, hat man ihn aber einmal begonnen, so muss man genau wissen, dass man bis zu Ende gehen muss.

2. Am entscheidenden Ort und im entscheidenden Augenblick muss ein großes Kräfteübergewicht konzentriert werden, denn sonst wird der Feind, der besser ausgebildet und organisiert ist, die Aufständischen vernichten.

3. Sobald der Aufstand begonnen hat, gilt es, mit der größten Entschiedenheit zu handeln und unter allen Umständen und unbedingt die Offensive zu ergreifen. ,Die Defensive ist der Tod des bewaffneten Aufstandes.'

4. Man muss bestrebt sein, den Feind zu überrumpeln und den Augenblick abzupassen, wo seine Truppen zerstreut sind.

5. Es gilt, täglich (handelt es sich um eine Stadt, so können wir sagen stündlich), wenn auch kleine Erfolge zu erreichen, und dadurch um jeden Preis das ,moralische Übergewicht' festzuhalten.

Marx hat die Lehren aus allen Revolutionen bezüglich des bewaffneten Aufstands mit ,den Worten Dantons, des größten bisher bekannten Meisters revolutionärer Taktik', so zusammengefasst: ,De l'audace, de l'audace, encore de l'audace!'

Auf Russland und auf den Oktober 1917 angewandt, heißt das: gleichzeitige, möglichst überraschende und schnelle Offensive auf Petrograd, unbedingt sowohl von außen wie von innen, sowohl aus den Arbeitervierteln wie aus Finnland, aus Reval und aus Kronstadt, Offensive der gesamten Flotte und Konzentrierung eines ungeheuren Kräfteübergewichtes gegen unsere 15.000- bis 20.000-köpfige (vielleicht auch stärkere) ,Bürgerwehr' (Offiziersschüler), unsere ,Vendée-Truppen' (ein Teil der Kosaken) usw.

Unsere drei Hauptkräfte: die Flotte, die Arbeiter und die Truppenteile, sind so zu kombinieren, dass unbedingt besetzt und um den Preis beliebiger Verluste behauptet werden: a) das Telefonamt, b) das Telegrafenamt, c) die Bahnhöfe und vor allem d) die Brücken.

Aus den entschlossensten Elementen (aus unseren ,Stoßtruppen' und der Arbeiterjugend und ebenso aus den besten Matrosen) sind kleine Abteilungen zu bilden, die die wichtigsten Punkte besetzen und überall, bei allen wichtigen Operationen eingesetzt werden, zum Beispiel:

Petrograd umzingeln und abschneiden, es durch einen kombinierten Angriff der Flotte, der Arbeiter und der Truppen einnehmen – das ist eine Aufgabe, die Geschick und dreifache Kühnheit erfordert.

Aus den besten Arbeitern sind mit Gewehren und Bomben bewaffnete Abteilungen zu bilden, um die ,Zentren' des Feindes (Offiziersschulen, Telegrafen-, Telefonamt und so weiter) anzugreifen und zu umzingeln. Die Losung dieser Abteilungen muss sein: Auch wenn wir alle zugrunde gehen, der Feind wird nicht durchgelassen.

Wir wollen hoffen, dass, wenn die Aktion beschlossen wird, die Führer mit Erfolg das große Vermächtnis von Danton und Marx befolgen werden.

Der Erfolg der russischen sowohl wie der Weltrevolution hängt von zwei, drei Tagen des Kampfes ab."5

Dieser Brief wurde am 21. (8.) Oktober geschrieben. Am 22. (9.) Oktober weilte Lenin bereits in Petrograd. Tags darauf fand die Sitzung statt, in der Lenin die Resolution über den bewaffneten Aufstand zur Abstimmung vorlegte. Gegen den Aufstand waren Sinowjew und Kamenew; sie forderten, dass eine außerordentliche Plenarsitzung des Zentralkomitees einberufen würde. Kamenew erklärte demonstrativ, er werde aus dem Zentralkomitee austreten. Lenin verlangte Verhängung der strengsten Parteistrafe über ihn.

Im harten Kampf gegen die opportunistischen Strömungen bereitete die Partei mit aller Energie den Aufstand vor. Am 26. (13.) Oktober fasste das Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets den Beschluss, das Revolutionäre Militärkomitee zu gründen. Am 29. (16.) fand eine erweiterte Sitzung des Zentralkomitees mit Vertretern der Parteiorganisationen statt. Am gleichen Tag wurde in der ZK-Sitzung das Parteizentrum zur militärischen Leitung des Aufstandes gebildet; ihm gehörten Stalin, Swerdlow, Dzierzynski und andere an.

Am 30. (17.) wurde der Vorschlag zur Gründung des Revolutionären Militärkomitees sowohl vom Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets wie auch vom Sowjet in seiner Gesamtheit bestätigt. Nach weiteren fünf Tagen erkannte die Versammlung der Regimentskomitees das Petrograder Revolutionäre Militärkomitee als leitendes Organ aller Truppenteile der Petrograder Garnison an und beschloss, keinen Befehl des Stabes auszuführen, der nicht vom Revolutionären Militärkomitee gegengezeichnet war.

Am 5. November (23. Oktober) entsandte das Revolutionäre Militärkomitee bereits Kommissare in die Truppenteile. Einen Tag später, am 6. November (24. Oktober), entschloss sich die Provisorische Regierung, Strafverfahren gegen die Mitglieder des Komitees einzuleiten, und erließ Haftbefehle gegen die bei den Truppenteilen eingesetzten Kommissare. Die Offiziersschüler wurden am Winterpalast zusammengezogen. Doch es war zu spät. Die Truppen standen auf Seiten der Bolschewiki, die Arbeiter wollten die Übergabe der Macht an die Sowjets; das Revolutionäre Militärkomitee stand unter unmittelbarer Leitung des Zentralkomitees, dessen Mitglieder in ihrer Mehrzahl, darunter Stalin, Swerdlow, Molotow, Dzierzynski, Bubnow und andere, dem Komitee angehörten. Der Aufstand nahm seinen Anfang.

Am 6. November (24. Oktober) hielt sich Lenin noch illegal im Wiborger Bezirk in der Wohnung unserer Genossin Margarita Wassiljewna Fofanowa (Ecke Bolschoi Sampsonjewski und Serdobolskaja 92/1, Wohnung 42) verborgen. Er war über alle Vorbereitungsaktionen unterrichtet und litt natürlich furchtbar unter der Tatsache, dass er selber der Entwicklung der Dinge in einem solchen Augenblick fern stehen musste. Durch Margarita schickte er mir Briefchen, die ich weitergeben sollte; es stand darin, dass man keinesfalls mit dem Aufstand zögern dürfe. Abends kam endlich Eino Rachja zu ihm, ein finnischer Genosse, der gute Verbindung zu den Betrieben und zur Parteiorganisation hatte und Verbindungsmann zwischen Lenin und der Organisation war. Eino berichtete Lenin, dass der Patrouillendienst in der Stadt verstärkt sei. Die Provisorische Regierung habe angeordnet, die Newa-Brücken aufzuziehen, um auf diese Weise die Arbeiterbezirke voneinander zu isolieren; die Brücken wurden von Truppen bewacht. Eins war klar – wir standen unmittelbar vor dem Aufstand. Iljitsch wollte Eino bitten, den Genossen Stalin zu ihm zu bringen. Aber im Gespräch stellte sich heraus, dass dies so gut wie unmöglich war: Stalin weilte vermutlich im Revolutionären Militärkomitee, im Smolny, aller Wahrscheinlichkeit nach verkehrte die Straßenbahn nicht mehr, kurz, es würde viel Zeit in Anspruch nehmen. Da beschloss Iljitsch, selber in den Smolny zu gehen, und machte sich eilig auf den Weg. Er ließ einen Zettel für Margarita zurück: „Ich bin dorthin gegangen, wohin Sie nicht wollten, dass ich gehe. Auf Wiedersehen. Iljitsch."

In dieser Nacht bewaffnete sich der Wiborger Bezirk und traf die letzten Vorbereitungen zum Aufstand. Eine Arbeitergruppe nach der andern kam ins Bezirkskomitee, um Waffen und Instruktionen in Empfang zu nehmen. Ich ging nachts zu Iljitsch, in die Wohnung der Genossin Fofanowa; dort wurde mir gesagt, dass Iljitsch zum Smolny gegangen war. Ein Lastwagen, den unsere Leute aus irgendeinem Grunde zum Smolny schickten, nahm mich und Schenja Jegorowa, die Sekretärin des Wiborger Bezirkskomitees, mit. Ich wollte Gewissheit haben, dass Lenin wohlbehalten im Smolny angelangt war. Ob ich ihn damals selber gesehen oder nur von andern gehört habe, dass er dort ist, kann ich nicht mehr mit Sicherheit sagen. Jedenfalls habe ich nicht mit ihm gesprochen, denn Lenin war voll und ganz mit der Leitung des Aufstandes beschäftigt, und wie immer, wenn er eine Sache leitete, drang er in alle Einzelheiten ein.

Der hell erleuchtete Smolny glich einem Bienenstock. Aus allen Stadtteilen kamen Rotgardisten, Abgesandte der Arbeiter und Soldaten, um sich Anweisungen zu holen. Schreibmaschinen klapperten, Fernsprecher schrillten, unsere jungen Genossinnen entzifferten Berge von Telegrammen, im dritten Stock tagte ununterbrochen das Revolutionäre Militärkomitee. Auf dem Platz vor dem Smolny dröhnten Panzerwagen, ein dreizölliges Geschütz war aufgefahren, Holzstöße lagen bereit, falls es zum Barrikadenbau kommen sollte. Vor dem Tor standen Maschinengewehre und Geschütze, der Eingang wurde von Posten bewacht.

Am 25. Oktober (7. November), um zehn Uhr früh, wurde der Aufruf des Revolutionären Militärkomitees des Petrograder Sowjets „An die Bürger Russlands!" bereits gedruckt. Es hieß dort:

Die Provisorische Regierung ist gestürzt. Die Staatsmacht ist in die Hände des Organs des Petrograder Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten, des Revolutionären Militärkomitees, übergegangen, das an der Spitze des Petrograder Proletariats und der Petrograder Garnison, steht.

Die Sache, für die das Volk gekämpft hat: das sofortige Angebot eines demokratischen Friedens, die Aufhebung des Eigentums der Gutsbesitzer an Grund und Boden, die Arbeiterkontrolle über die Produktion, die Bildung einer Sowjetregierung – diese Sache ist gesichert.

Es lebe die Revolution der Arbeiter, Soldaten und Bauern!"6

Obgleich der Sieg der Revolution eine Tatsache war, arbeitete das Revolutionäre Militärkomitee am Morgen des 25. Oktober mit unverminderter Anspannung weiter; es besetzte die Regierungsstellen und -ämter und sorgte für ihre Bewachung.

Um 2 Uhr 30 begann die Sitzung des Petrograder Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten. Mit jubelnder Begeisterung nahm der Sowjet die Mitteilung entgegen, dass die Provisorische Regierung nicht mehr bestand. Einige Minister waren bereits festgenommen, die anderen würden ebenfalls in Haft genommen werden, das Vorparlament war aufgelöst, die Bahnhöfe, die Post, das Telegrafenamt sowie die Staatsbank befanden sich in den Händen des Volkes. Um den Winterpalast wurde hart gekämpft, noch war der Sturmangriff nicht abgeschlossen, doch das Schicksal des Palasts war bereits besiegelt. Mit unerhörtem Heldenmut schlugen sich die Soldaten. Der Umsturz war ohne Blutvergießen verlaufen.

Donnernder Beifall brach aus, als Lenin den Saal betrat. Er hielt das Referat. Ohne große Worte schilderte er kurz den Sieg, den die Arbeiterklasse errungen hatte. Und das war ein charakteristischer Wesenszug Iljitschs. Das Hauptgewicht seiner Rede legte er auf etwas anderes: auf die dringenden Aufgaben, die die Sowjetmacht nun zu lösen hatte.

Eine neue Epoche in der Geschichte Russlands ist angebrochen, sagte er. Die Sowjetregierung wird ohne die Bourgeoisie das Land lenken. Ein Dekret über die Abschaffung des Privateigentums an Grund und Boden wird erlassen. Die Produktion wird unter wirksame Arbeiterkontrolle gestellt. Der Kampf um den Sozialismus hat begonnen und wird immer breitere Formen annehmen. Der alte Staatsapparat wird zerschlagen, zerbrochen, an seine Stelle tritt eine neue Macht, die der Sowjetorganisationen. Die Massenorganisationen sind in unserm Land eine Kraft, die alles bezwingt. Die nächste Aufgabe ist jetzt, dass das Land Frieden erhält. Doch das wird nur möglich sein, wenn das Kapital besiegt wird. Das internationale Proletariat, in dessen Reihen sich bereits Anzeichen einer revolutionären Gärung bemerkbar machen, wird uns helfen, Frieden zu erlangen.

Diese Rede entsprach dem Denken und Fühlen der Mitglieder des Petrograder Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten. In der Tat, eine neue Phase in der Geschichte Russlands war angebrochen. Nichts ist stärker als die gesammelte Kraft der Massenorganisationen. Die Massen haben sich erhoben, die Macht der Bourgeoisie ist gestürzt. Den Grundbesitzern nehmen wir das Land weg, den Fabrikanten legen wir Zügel an, die Hauptsache aber ist, dass wir den Frieden erzwingen. Die Weltrevolution wird uns zu Hilfe kommen. Iljitsch hatte recht. Die letzten Worte seiner Rede gingen in stürmischem Beifall unter.

Abends stand die Eröffnung des II. Sowjetkongresses bevor; auf ihm sollte die Sowjetmacht verkündet und der Sieg gesetzeskräftig verankert werden.

Die Delegierten trafen bereits in Petrograd ein. Unter ihnen wurde heftig agitiert. Die Arbeitermacht musste sich auf die Bauernschaft stützen und ihr Führer sein. Als Partei der Bauernschaft galten aber die Sozialrevolutionäre. Die reichen Bauern, die sogenannten Kulaken, hatten ihre Ideologen in Gestalt der rechten Sozialrevolutionäre. Die Ideologen der Kleinbauernschaft, die Linken, waren typische Vertreter des Kleinbürgertums mit allen dieser Schicht eigenen Schwankungen zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Das Petrograder Komitee der Sozialrevolutionäre wurde von Natanson, Spiridonowa und Kamkow geleitet. Mit Natanson war Lenin schon aus seiner ersten Emigrationszeit bekannt. Damals, im Jahre 1904, stand Natanson dem Marxismus nahe, meinte aber, dass die Sozialdemokraten die Bedeutung der Bauernschaft unterschätzten. Spiridonowa war zu jener Zeit sehr bekannt. Als Siebzehnjährige hatte sie in der ersten Revolution, im Jahre 1906, einen gewissen Luschenowski getötet, der die Bauernbewegung im Tambower Gouvernement blutig niedergeschlagen hatte. Nach brutalen Folterungen war sie zu einer Zuchthausstrafe verurteilt worden, die sie bis zur Februarrevolution in Sibirien verbüßte. Die Linken in Petrograd standen unter dem starken Einfluss der bolschewistisch gestimmten Massen; ihr Verhältnis zu den Bolschewiki war positiver als das der übrigen Gruppen und Strömungen. Sie sahen, dass die Bolschewiki ernstlich darangingen, den gesamten Bodenbesitz der Gutsherren zu konfiszieren und den Bauern zu übergeben. Die Linken waren für eine ausgleichende Bodennutzung, während die Bolschewiki eine grundlegende sozialistische Umgestaltung in der Agrarwirtschaft für notwendig hielten. Iljitsch war jedoch der Ansicht, das Dringendste sei im Augenblick die Konfiskation der Gutsbesitzerländereien; das Leben selbst würde schon zeigen, wie die weitere Umgestaltung verlaufen soll.

Im Geiste überlegte er Inhalt und Wortlaut des Dekrets über den Boden.

In den Memoiren von M. W. Fofanowa findet sich eine bemerkenswerte Stelle: „Ich entsinne mich", schreibt sie, „dass Wladimir Iljitsch mir eines Tages auftrug, ihm alle bereits erschienenen Nummern der ,Nachrichten des Gesamtrussischen Sowjets der Bauerndeputierten' zu beschaffen, was ich natürlich erledigte. Ich weiß nicht mehr, wie viel Nummern ich ihm brachte, jedenfalls waren es sehr viele, kurz, ein ansehnlicher Berg Material zum Bearbeiten. Zwei Tage lang saß Iljitsch sogar in den Nachtstunden an diesem Material, dann sagte er an einem Morgen zu mir: ,So, nun habe ich die Sozialrevolutionäre, glaube ich, von A bis Z kennengelernt. Heute bleibt mir nur noch der Wählerauftrag der Bauern zu lesen.' Zwei Stunden später rief er mich. Er war gut aufgelegt und sagte, wobei er mit der Hand auf eine Zeitung klopfte (ich sah, es waren die .Bauernnachrichten' vom 19. August): .Nun, das Abkommen mit den linken Sozialrevolutionären wäre fertig. Allerhand, der Wählerauftrag ist von 242 Deputierten aus dem ganzen Land unterzeichnet. Wir legen ihn dem Gesetz über den Boden zugrunde, und dann wollen wir doch einmal sehen, ob die linken Sozialrevolutionäre dazu nein sagen können.' Er zeigte mir das an vielen Stellen mit Blaustift bekritzelte Zeitungsblatt und setzte hinzu: ,Wir müssen nur einen kleinen Anhaltspunkt haben, dann können wir ihre Sozialisierung nachher nach unserer Art ummodeln.'"

Margarita war von Beruf Agronomin, sie hatte in ihrer Arbeit mit diesen Fragen zu tun. Daher unterhielt sich Iljitsch besonders gern mit ihr über solche Themen.

Werden die Sozialrevolutionäre den Kongress verlassen oder nicht?

Der II. Gesamtrussische Sowjetkongress wurde am 25. um 22 Uhr 45 eröffnet. Er sollte sich in dieser Abendsitzung konstituieren, eine Versammlungsleitung wählen sowie seine Machtbefugnisse festlegen. Von den 670 Delegierten waren nur 300 Bolschewiki; die Sozialrevolutionäre verfügten über 193 Delegierte, die Menschewiki über 68. Die rechten Sozialrevolutionäre, Menschewiki und Bundisten tobten, sie waren außer sich vor Entrüstung und beschimpften die Bolschewiki in der tollsten Weise. Sie verlasen eine Protesterklärung gegen „die von den Bolschewiki hinterm Rücken der anderen im Sowjet vertretenen Parteien und Fraktionen organisierte bewaffnete Verschwörung und Machtergreifung". Sodann verließen sie den Kongress. Ein Teil der internationalistischen Menschewiki schloss sich ihnen an. Die linken Sozialrevolutionäre, die unter den Deputierten ihrer Partei die überwiegende Mehrheit hatten (169 von 193), blieben. Insgesamt hatten 50 Delegierte den Kongress verlassen. Iljitsch wohnte der Sitzung am 25. Oktober nicht bei.

Im Augenblick der Eröffnung des II. Sowjetkongresses tobte der Kampf um den Winterpalast. Kerenski hatte sich schon am Vorabend, als Matrose verkleidet, davongemacht und war im Auto nach Pskow geflohen. Das Pskower Revolutionäre Militärkomitee verhaftete ihn nicht, obgleich ein von Dybenko und Krylenko unterzeichneter dahingehender Befehl vorlag. Und Kerenski reiste nach Moskau weiter, um den Marsch auf das siegreiche Petrograd der Arbeiter und Soldaten vorzubereiten. Die andern Minister, voran Kischkin, hatten sich im Winterpalast verkrochen, wo sie sich unter dem Schutz der dort zusammengezogenen Offiziersschüler und des Frauenbataillons sicher glaubten. Die Menschewiki, die rechten Sozialrevolutionäre und die Bundisten ergingen sich auf dem Kongress in hysterischen Entrüstungsausbrüchen wegen der Belagerung des Winterpalastes. Ehrlich erklärte, ein Teil der Abgeordneten der Stadtduma werde sich unbewaffnet auf den Platz vor dem Winterpalast begeben, direkt vor die Läufe der Geschütze, um auf diese Weise gegen die fortdauernde Beschießung des Palastes zu protestieren. Das Exekutivkomitee des Sowjets der Bauerndeputierten sowie die Fraktionen der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre schlossen sich dieser Erklärung an. Nach dem Abzug der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre trat eine Verhandlungspause ein. Als die Sitzung um 3 Uhr 10 wieder begann, wurde bekanntgegeben, dass der Winterpalast eingenommen worden ist, die Minister verhaftet, die Offiziere und Offiziersschüler entwaffnet worden sind und das 3. Radfahrerbataillon, das Kerenski gegen Petrograd ausgesandt hatte, auf die Seite des revolutionären Volkes übergegangen ist.

Iljitsch hatte in der vorangegangenen Nacht fast kein Auge zugetan; die Leitung des Aufstandes nahm ihn voll und ganz in Anspruch. Nun aber, wo der Sieg feststand und es klar war, dass die linken Sozialrevolutionäre nicht den Kongress verlassen würden, ging er zu den Bontsch-Brujewitschs, die in der Nähe des Smolny in der Peskistraße wohnten, um dort zu übernachten. Obwohl ihm dort ein eigenes Zimmer zur Verfügung stand, fand er doch keinen Schlaf. Schließlich stand er leise auf und begann das bereits in allen Einzelheiten durchdachte Dekret über den Grund und Boden niederzuschreiben.

Am 26. Oktober (8. November) abends hielt Lenin auf dem Kongress ein Referat, in dem er das Dekret über den Grund und Boden begründete. Er sagte: „Hier wurden Stimmen laut, das Dekret und der Wählerauftrag selbst seien ja von den Sozialrevolutionären abgefasst worden. Sei's drum. Es ist einerlei, von wem sie abgefasst worden sind, als demokratische Regierung können wir jedoch einen Beschluss der Volksmassen nicht umgehen, auch wenn wir mit ihm nicht einverstanden wären. Sobald die Bauern ihn in der Praxis anwenden und bei sich zu Hause durchführen, werden sie in der lebendigen Wirklichkeit selbst erkennen, wo die Wahrheit liegt… Das Leben ist der beste Lehrmeister, es wird zeigen, wer recht hat; sollen die Bauern an die Lösung dieser Frage von dem einen Ende herangehen und wir von dem anderen. Das Leben wird es mit sich bringen, dass wir in dem allgemeinen Strom der revolutionären schöpferischen Arbeit, bei der Ausarbeitung der neuen Staatsformen einander näher kommen … Die Bauern haben in den acht Monaten unserer Revolution manches gelernt, sie wollen selber alle Bodenfragen lösen. Deshalb sind wir gegen jede Abänderung dieses Gesetzentwurfs, wir wollen keine Detaillierung, weil wir eben ein Dekret und kein Aktionsprogramm schreiben."7

In dieser Rede atmete alles Iljitschs Geist; da war keine Spur von kleinlichem Ehrgeiz – es ging Lenin nicht darum, wer etwas ausgesprochen hatte, die Hauptsache, es war richtig. Er berücksichtigte stets die Meinung der Massen, er wusste um die schöpferische Kraft der Revolution und dass die Massen vor allem durch Tatsachen, durch das praktische Leben überzeugt werden, und er war zutiefst gewiss, dass eben diese Tatsachen die Massen dahin führen werden, dass sie den Standpunkt der Bolschewiki als richtig erkennen. Das Dekret über den Grund und Boden, das Lenin vertrat, wurde vom Kongress bestätigt. Seither sind sechzehn Jahre vergangen.8 Das Eigentum der Gutsbesitzer an Grund und Boden ist aufgehoben; im steten Kampf gegen die alte Kleineigentümermentalität und die überkommenen Lebensgewohnheiten ist eine neue Wirtschaftsform entstanden – die Kollektivierung der Landwirtschaft, von der heute die meisten Bauernwirtschaften erfasst sind. Der Kleinbesitz von ehemals und die alte Kleineigentümermentalität gehören immer mehr der Vergangenheit an. Eine stabile, leistungsfähige Grundlage der sozialistischen Wirtschaft ist geschaffen worden.

In der Abendsitzung vom 26. Oktober (8. November) wurden die Dekrete über den Frieden und über den Grund und Boden angenommen. In diesen Fragen konnte eine Verständigung mit den Sozialrevolutionären erzielt werden. Schlimmer verhielt es sich mit der Frage der Regierungsbildung. Die linken Sozialrevolutionäre waren auf dem Kongress geblieben; sie konnten ihn nicht verlassen, weil sie wussten, dass sie dadurch ihren Einfluss unter der Bauernschaft völlig eingebüßt hätten. Doch der Abzug der rechten Sozialrevolutionäre und der Menschewiki am 25. Oktober, ihre hysterischen Beschuldigungen, die Bolschewiki hätten einen Handstreich verübt und die Macht an sich gerissen usw. usf., blieben nicht ohne Wirkung auf ihre linken Fraktionsgenossen und lösten große Unruhe bei ihnen aus. Nachdem die rechten Sozialrevolutionäre nebst Gleichgesinnten dem Kongress den Rücken gekehrt hatten, verkündete Kamkow, einer der Führer der linken Sozialrevolutionäre, seine Gruppe sei für eine einheitliche demokratische Regierung und werde alles daransetzen, eine solche zu schaffen. Die linken Sozialrevolutionäre erboten sich, zwischen den Bolschewiki und den Parteien, deren Vertreter den Kongress verlassen hatten, zu vermitteln. Die Bolschewiki lehnten Verhandlungen nicht ab, jedoch war sich Iljitsch im Klaren, dass dabei nichts herauskommen würde. Nicht dazu hatte man die Macht erobert und eine Revolution gemacht, um jetzt den Schwan, den Hecht und den Krebs9 vor den Sowjetkarren zu spannen, das heißt eine Regierung zu bilden, bei der an eine einigermaßen ersprießliche Zusammenarbeit nicht zu denken war und die ihren Aufgaben keineswegs gerecht werden konnte. Eine Koalition mit den linken Sozialrevolutionären hielt Lenin dagegen für möglich.

Wenige Stunden vor Beginn der Sitzung am 26. Oktober fand mit den Vertretern der linken Sozialrevolutionäre eine Beratung über diese Frage statt. Das Bild habe ich noch deutlich vor Augen: ein Zimmer im Smolny mit weichen dunkelroten Polsterbänken; auf einer dieser Bänke sitzt Spiridonowa, eine der Führerinnen der linken Sozialrevolutionäre, neben ihr steht Lenin und spricht leise, doch leidenschaftlich und eindringlich auf sie ein. Es kam zu keiner Verständigung mit den linken Sozialrevolutionären; sie lehnten die Regierungsbeteiligung ab. So beantragte Lenin denn, die Ministerposten in der sozialistischen Regierung ausschließlich mit Bolschewiki zu besetzen.

Die Sitzung am 26. Oktober (8. November) begann um 21 Uhr. Ich war anwesend und erinnere mich noch gut an Lenins Rede: er sprach sehr ruhig, als er das Dekret über den Grund und Boden befürwortete. Der Saal hörte gespannt zu. Während Iljitsch das Dekret verlas, fiel mir der Gesichtsausdruck eines Delegierten auf, der in meiner Nähe saß. Es war ein älterer, bäuerlich aussehender Mann. Er war so bewegt, dass sein Gesicht etwas fast Durchscheinendes, Wachsartiges annahm, in seinen Augen leuchtete ein seltsames Feuer.

Der Kongress schaffte die Todesstrafe ab, die Kerenski an der Front eingeführt hatte, bestätigte die Dekrete über den Frieden, über den Grund und Boden, die Arbeiterkontrolle und nominierte den Rat der Volkskommissare, der ausnahmslos aus Bolschewiki bestand. Vorsitzender des Rates der Volkskommissare wurde Wladimir Uljanow (Lenin); Volkskommissar für Innere Angelegenheiten A. I. Rykow; für Landwirtschaft W. P. Miljutin; für Arbeit A. G. Schljapnikow; für Heer- und Marineangelegenheiten wurde ein leitender Ausschuss, bestehend aus W. A. Owsejenko (Antonow), N. W. Krylenko und P. J. Dybenko, gebildet; für Handel und Industrie W. P. Nogin; für Volksbildung A. W. Lunatscharski; für Finanzen I. I. Skworzow (Stepanow); für Auswärtige Angelegenheiten L. D. Bronstein (Trotzki); für Justizwesen G. I. Oppokow (Lomow); für Lebensmittelangelegenheiten I. A. Teodorowitsch; für Post und Telegraf N. P. Awilow (Glebow); Vorsitzender für Nationalitätenangelegenheiten J. W. Dschugaschwili (Stalin). Der Posten des Volkskommissars für Verkehrswesen blieb unbesetzt.

Genosse Eino Rachja erzählte später, er habe in einer Ecke gesessen und zugehört, während die bolschewistische Fraktion die Liste der ersten Volkskommissare aufstellte. Einer der Vorgeschlagenen sträubte sich und begründete seine Weigerung damit, dass er in dieser Arbeit keine Erfahrung habe. Darauf lachte Lenin hell auf und sagte: „Meinen Sie vielleicht, wir hätten Erfahrung?!" Natürlich hatte niemand je eine solche Arbeit geleistet. Doch Wladimir Iljitsch sah im Geist bereits deutlich die Gestalt des Volkskommissars vor sich, eines Ministers von neuem Typ, der in engem Kontakt mit den Massen Organisator und Führer im jeweiligen Ressort der Staatsführung ist.

Wladimir Iljitsch dachte viel und angestrengt über die neuen Formen der Verwaltung nach. Wie musste ein Staatsapparat beschaffen sein, der, fern von jedem Bürokratismus, auf die Massen gestützt, diese in einer Weise organisiert, dass sie ihrerseits bei der Staatsarbeit helfen, und der imstande ist, einen neuen Funktionärstyp heranzubilden. In dem Beschluss des II. Sowjetkongresses über die Bildung der Arbeiter-und-Bauern-Regierung findet man das folgendermaßen formuliert: „Die Leitung der einzelnen Zweige des staatlichen Lebens wird Kommissionen übertragen, deren Zusammensetzung die Durchführung des vom Kongress verkündeten Programms ermöglichen muss, in engster Zusammenarbeit mit den Massenorganisationen der Arbeiter, Arbeiterinnen, Matrosen, Soldaten, Bauern und Angestellten. Die Regierungsgewalt wird von dem Kollegium der Vorsitzenden dieser Kommissionen ausgeübt, d. h. von dem Rat der Volkskommissare."10

Ich erinnere mich noch an Gespräche mit Iljitsch über diese Probleme in der Zeit, als er bei Genossin Fofanowa wohnte. Ich arbeitete damals im Wiborger Bezirk und ging restlos in meiner Arbeit auf. Mit ungeheurem Interesse beobachtete ich, wie sich im Laufe der Revolution die schöpferische Initiative der Massen entfaltete, wie sich das ganze Leben von Grund auf veränderte und mit neuem Inhalt erfüllt wurde. Bei jeder Begegnung mit Wladimir Iljitsch erzählte ich ihm vom Leben und Treiben in unserem Bezirk. Einmal schilderte ich auch eine eigenartige Volksgerichtsverhandlung, der ich beigewohnt hatte. Gerichtsverhandlungen dieser Art hatte es schon da und dort während der Revolution 1905 gegeben, zum Beispiel in Sormowo. Genosse Tschugurin, ein Arbeiter, den ich bereits aus der Parteischule von Longjumeau bei Paris gut kannte und mit dem ich nun bei der Arbeit in der Wiborger Bezirksverwaltung zu tun harte, war ein Sormower. Von ihm stammte der Vorschlag, auch in unserm Bezirk solche Gerichtsverfahren zu veranstalten. Die erste Gerichtsverhandlung fand im Volkshaus statt, der Saal war gesteckt voll, die Leute standen dicht gedrängt; man stand auf den Bänken und sogar auf den Fensterbrettern. Ich erinnere mich nicht mehr genau, welche Fälle damals verhandelt wurden. Im Grunde genommen waren es gar keine Verbrechen im eigentlichen Sinn, sondern eher allerhand kleine Vorkommnisse aus dem täglichen Leben. So standen unter anderem zwei verdächtige Typen vor Gericht, die versucht hatten, Tschugurin zu verhaften. Ein anderer „Delinquent" war ein hochgewachsener dunkelhäutiger Nachtwächter, der seinen halbwüchsigen Sohn prügelte, ihn ausbeutete und nicht in die Schule gehen ließ. Aus dem überfüllten Saal traten Arbeiter und Arbeiterinnen vor und hielten leidenschaftliche Reden. Der „Angeklagte" wischte sich fortwährend den Schweiß von der Stirn, aber schließlich rollten Tränen über sein Gesicht, und er versprach, er werde den Jungen von nun an gut behandeln. Faktisch war das kein Gericht, sondern es handelte sich eher darum, dass das Verhalten der Menschen unter öffentliche Kontrolle gestellt wurde, wobei es hauptsächlich darauf ankam, die neue, proletarische Ethik herauszubilden. Wladimir Iljitsch zeigte riesiges Interesse für dieses „Gericht" und wollte alle Einzelheiten von mir wissen.

Doch meist erzählte ich ihm von den neuen Formen der Kulturarbeit. Ich leitete die Volksbildungsabteilung im Bezirk. Im Sommer waren die Schulen geschlossen, daher hatte ich vorwiegend mit politischer Aufklärungsarbeit zu tun. Dabei kamen mir meine fünfjährigen Erfahrungen aus den neunziger Jahren, als ich in der Sonntagsschule hinter der Newskaja-Sastawa unterrichtete, gut zu statten. Allerdings hatten sich die Zeiten inzwischen gründlich geändert, und wir konnten die Arbeit in ganz anderem Ausmaß ankurbeln.

Allwöchentlich riefen wir die Vertreter von etwa vierzig Betrieben zusammen. Dann wurde gemeinsam beraten, was zu tun war und in welcher Weise das eine oder andere am besten durchzuführen sei. Jeder Beschluss wurde sogleich in die Tat umgesetzt. So beschlossen wir beispielsweise, das Analphabetentum zu liquidieren. In jedem der Betriebe wurden die Analphabeten von den Belegschaftsvertretern registriert, man beschaffte Räume für den Unterricht und gab der Fabrikleitung keine Ruhe, bis die erforderlichen Mittel bewilligt waren. Jeder Lese- und Schreibschule wurde ein Arbeiter als Bevollmächtigter zugeteilt, dem die Sorge oblag, dass alles Notwendige für den Unterricht – wie Schultafeln, Kreide, Fibeln – vorhanden war. Außerdem wurden Bevollmächtigte ernannt, die kontrollierten, ob der Unterricht in der richtigen Weise geführt wurde, und die auch die Arbeiter über ihre Meinung befragten. Wir instruierten die Beauftragten und ließen uns von ihnen Bericht erstatten, riefen die Vertreter der Soldatenfrauen zu uns, besprachen mit ihnen die Lage in den Kinderheimen und Waisenhäusern, die sie unter ihre Kontrolle nahmen, standen ihnen mit Rat und Tat zur Seite und leisteten überhaupt eine umfassende Aufklärungsarbeit unter ihnen. Wir führten auch Beratungen mit den Bibliothekaren des Bezirks über die Arbeit der Volksbibliotheken durch, zu denen Arbeiter hinzugezogen wurden, die eine nie dagewesene Initiative an den Tag legten. Die Volksbildungsabteilung war für viele von ihnen ein Zentrum, wo sie stets Hilfe und Unterweisung erhielten. Iljitsch pflegte damals zu sagen, dass unser Staatsapparat und die künftigen Minister ihre Arbeit nach unserem Muster gestalten müssten, nämlich in Form von Ausschüssen, gebildet aus Arbeitern und Arbeiterinnen, die mitten im Leben stehen, die Lebens- und Arbeitsbedingungen kennen und stets genau wissen, was die Arbeiter zur Zeit am meisten bewegt. Wladimir Iljitsch fand, dass ich gut die Arbeiter zur Staatsarbeit heranzuziehen verstünde, deshalb unterhielt er sich gern mit mir über diese Themen. Vor allem machte er dann seinem Ärger über den „lausigen" Bürokratismus Luft, der buchstäblich durch alle Ritzen dringe. Später, als es notwendig wurde, die Verantwortlichkeit der Volkskommissare und Abteilungsleiter in den Volkskommissariaten zu erhöhen, weil diese ihre Verantwortung nicht selten auf die Kollegien und Ausschüsse abwälzten, tauchte eine neue Frage auf, die der individuellen Leitung. Ganz unerwartet ernannte mich Iljitsch zum Mitglied der Kommission beim Rat der Volkskommissare, die sich mit dieser Frage beschäftigen sollte. Iljitsch war der Auffassung, dass die individuelle Leitung auf keinen Fall die Initiative und Selbständigkeit der Kommissionen erdrücken und zu einer Lockerung der Verbindungen mit den Massen führen dürfe; man müsse im Gegenteil die individuelle Leitung mit guter Massenarbeit zu verbinden wissen. Iljitsch war bestrebt, die Erfahrungen jedes einzelnen für den Aufbau des Staates von neuem Typus auszuwerten. Die Sowjetmacht, deren Staatsoberhaupt Iljitsch nun war, hatte die Aufgabe, einen Staatsapparat zu schaffen, für den es bisher in der Welt noch kein Vorbild gegeben hat, der sich auf die breitesten werktätigen Massen stützt und die gesamte Gesellschaft, alle menschlichen Beziehungen auf neue, sozialistische Weise umbildet.

Doch zunächst galt es, die Sowjetmacht vor dem Feind zu schützen, der sie von außen gewaltsam zu stürzen und von innen zu zersetzen trachtete. Dazu mussten vor allem die eigenen Reihen gefestigt werden.

Die Zeit vom 9. bis 16. November stand im Zeichen des Kampfes um das Bestehen der Sowjetmacht.

Die Erfahrungen der Pariser Kommune, des ersten proletarischen Staates der Welt, die Lenin sorgfältig studierte, zeigten ihm, wie verhängnisvoll sich die Nachsicht der Arbeiterschaft und ihrer Regierung gegenüber notorischen Feinden auf das Geschick der Pariser Kommune ausgewirkt hat. Daher pflegte Iljitsch sozusagen „die Zügel straff zu ziehen", wenn vom Kampf gegen die Feinde die Rede war; er fürchtete seine eigne Weichherzigkeit und die der Massen.

Zu Beginn der Oktoberrevolution war noch häufig übertriebene Milde zu beobachten. Man hatte Kerenski entwischen lassen, desgleichen zahlreiche Minister, man ließ die Offiziersschüler, die sich im Winterpalast verschanzt hatten, gegen Ehrenwort in Freiheit und verhängte über General Krasnow, den Befehlshaber der angreifenden Kerenski-Truppen, nur Hausarrest. Als ich eines Tags in einem der Durchgangszimmer des Smolny auf einem Haufen Soldatenmäntel saß und auf jemanden wartete, hörte ich unfreiwillig eine Unterredung zwischen Genossen Krylenko und dem nach Petrograd überführten verhafteten General Krasnow an. Sie kamen herein, nahmen an einem Tischchen Platz, das etwas unmotiviert inmitten des großen leeren Raumes stand, und unterhielten sich ganz ruhig miteinander. Ich weiß noch, dass mich der friedliche Ton ihres Gesprächs sehr verwunderte. Am 17. (4.) November, auf der Sitzung des Zentralexekutivkomitees, erklärte Iljitsch: „Wir sind mit Krasnow milde umgegangen. Er bekam nur Hausarrest. Wir sind gegen den Bürgerkrieg. Wenn er aber trotzdem fortdauert, was bleibt uns dann zu tun übrig?"11

Kerenski, den die Pskower hatten laufen lassen, organisierte umgehend den Marsch auf Petrograd; die gegen Ehrenwort freigelassenen Offiziersschüler organisierten am 11. November einen Aufstand; Krasnow machte sich aus dem Hausarrest davon, ging an den Don und brachte dort mit Hilfe der deutschen Regierung eine fast hunderttausend Mann starke weiße Armee zusammen.

Das Volk war vom imperialistischen Gemetzel erschöpft, es sehnte sich nach einer unblutigen Revolution. Doch die Feinde zwangen es, zu kämpfen. Und Iljitsch, dem vor allem die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft am Herzen lag, musste sich vor allem der Verteidigung der Revolution zuwenden.

Am 9. November nahm Kerenski Gatschina ein. Genosse Podwoiski schildert in dem Artikel „Lenin in den Tagen des Umsturzes" („Krasnaja Gaseta" vom 6. November 1927) sehr lebendig die gewaltige Arbeit Lenins bei der Verteidigung Petrograds. Er beschreibt, wie Lenin in den Bezirksstab kam und einen Bericht über die Lage verlangte. Antonow-Owsejenko erläuterte in großen Zügen den Plan der Aktion, zeigte an Hand einer Karte die Stellungen unserer Truppen sowie die vermutlichen Stellungen des Gegners und nannte die ungefähre Stärke der gegnerischen Kräfte. „Genosse Lenin studierte lange die Karte. Dann stellte er Fragen, die jedem erfahrenen Strategen und Feldherrn Ehre gemacht hätten: Warum ist dieser oder jener Punkt nicht gesichert? Warum ist dieser Schritt und nicht ein anderer vorgesehen? Warum wird keine Unterstützung aus Kronstadt, Wiborg, Helsingfors usw. angefordert … Im Austausch der Meinungen stellte sich dann heraus, dass wir wirklich einiges versäumt hatten und nicht in dem Maße, wie es die bedrohte Lage Petrograds erfordert hätte, alle Kräfte und Mittel zur Verteidigung der Stadt aufgeboten hatten." Am 9. abends setzte sich Lenin über die direkte Leitung mit Helsingfors in Verbindung; er bat um Entsendung zweier Torpedoboote und des Linienschiffes „Republik" zum Schutz Petrograds, zur Sicherung seines Vorgeländes.

Iljitsch fuhr mit dem Genossen Antonow-Owsejenko ins Putilow-Werk, um sich zu vergewissern, wie die Arbeit an dem so dringend benötigten Panzerzug voranschritt. Er sprach dort mit den Arbeitern. Der Stab wurde in den Smolny verlegt; Lenin überblickte die gesamte Tätigkeit des Stabes und half tatkräftig, die Aktivität der Massen zu entfachen. Genosse Podwoiski schreibt, er habe Lenins Fähigkeiten besonders während der von Lenin einberufenen Beratung der Vertreter der Arbeiterorganisationen, Bezirkssowjets, Fabrikkomitees, Gewerkschaften und Truppenteile schätzen gelernt „Hier begriff ich, worin Lenins Kraft lag. In einem entscheidenden Augenblick konzentrierte er unsere Kräfte und Mittel bis zum Äußersten. Wir zersplitterten uns oft, gingen planlos an die Verteilung und Zusammenfassung der Kräfte heran, das machte unsere Aktionen unbestimmt, verschwommen, ließ Unbestimmtheit und Verschwommenheit auch in den Stimmungen der Massen aufkommen, und die Folge war Mangel an Aktivität, Initiative und Entschlossenheit. Die Massen spürten keinen eisernen Willen und keinen festen Plan, wo wie bei einer Maschine alles aufeinander abgestimmt ist und ineinandergreift. Lenin hämmerte unablässig den einen Gedanken in die Köpfe ein – alles für die Verteidigung. Und aus diesem Gedanken heraus entwickelte er seinen Plan, der jedem verständlich war und in dem jeder Mann, jeder Betrieb und jeder Truppenteil wie die einzelnen Teile in einem komplizierten Getriebe seine Bestimmung hatten. Er konnte sich hier, während der Beratung, ganz konkret die weitere Arbeit vorstellen, wobei er nie das Gefühl des Zusammenhangs zwischen seiner Tätigkeit und der Arbeit der ganzen Republik verlor. Daher empfand er die ganze Verantwortung, die die Diktatur des Proletariats ihm auferlegte. Die Massen heranziehen, ihnen das feste Bewusstsein geben, dass nicht die Führer die Revolution machen, sondern dass die Massen mit eigener Kraft ihr Leben umgestalten und ihren Staat verteidigen müssen – in diesem unablässigen Bestreben offenbarte sich Lenin als ein echter Volksführer. Er wusste nicht nur die Massen von der Lebensnotwendigkeit eines Schrittes zu überzeugen, er brachte sie dahin, dass sie diesen Schritt selber taten, nicht blind, im Gefolge eines Führers, sondern mit vollem Bewusstsein."

Genosse Podwoiski hat das richtig gesehen. Iljitsch verstand es, die Aktivität der Massen anzufachen und ihnen stets konkrete Ziele zu stellen.

Die Arbeiter Petrograds erhoben sich zur Verteidigung ihrer Stadt, alt und jung strömte an die Front, um den Kerenski-Truppen den Weg zu versperren. Die Kosaken und die aus den Provinzen herangezogenen Truppen waren an und für sich wenig kampfgestimmt. Die Agitation der Petrograder Arbeiter brachte sie vollends dazu, dass sie ihre Stellungen verließen und auch die Geschütze und Waffen mitnahmen.

Die Front der Kerenski-Truppen war in voller Auflösung. Trotzdem kamen viele Petrograder bei der Verteidigung ihrer Stadt ums Leben. Unter den Opfern war Wera Slutzkaja, eine Kommunistin aus dem Bezirk Wassiljewski Ostrow. Sie fuhr auf einem Lastwagen zur Front; der Wagen erhielt einen Volltreffer. Auch aus unserm Wiborger Stadtteil fielen zahlreiche Genossen; an ihrer Beisetzung nahm der ganze Bezirk teil.

Am 11. November (29. Oktober), als Kerenski seinen Angriff noch mit aller Kraft fortsetzte, brach ein Aufstand der Offiziersschüler aus, die man gegen Ehrenwort freigelassen hatte. Er war als eine Hilfsaktion für Kerenski gedacht. Ich wohnte damals noch nicht im Smolny, sondern bei Verwandten Wladimir Iljitschs auf der Petrograder Seite. Bei Tagesanbruch begannen die Kämpfe bei der nahe gelegenen Pawlower Offiziersschule. Die Wiborger Rotgardisten und die Arbeiter der Wiborger Betriebe rückten aus, um den Aufstand niederzuschlagen. Vom Geschützfeuer bebte unser Haus. Die Spießer waren zu Tode erschrocken. Als ich frühmorgens zur Arbeit ging, kam mir ein Stubenmädchen aus dem Nebenhaus aufgeregt entgegen gestürzt und schrie: „Um Gottes willen, was ich eben gesehen habe! Da haben sie einen Offiziersschüler aufs Bajonett gespießt wie einen Käfer!" Unterwegs sah ich noch einen Trupp Wiborger Rotgardisten anmarschieren, der ebenfalls ein Geschütz bei sich hatte. Der Aufstand wurde schnell niedergeschlagen.

An diesem Tag sprach Iljitsch in der Versammlung der Regimentsvertreter der Petrograder Garnison. „Der Versuch Kerenskis ist ein ebenso klägliches Abenteuer wie der Versuch Kornilows. Aber der Augenblick ist jetzt schwierig. Wir müssen energische Maßnahmen ergreifen zur Regelung der Lebensmittelversorgung, zur Beseitigung der Kriegsnöte. Wir können nicht warten, können keinen einzigen Tag den Aufstand Kerenskis dulden. Wenn die Kornilow-Leute einen neuen Vormarsch organisieren, so werden wir ihnen ebenso antworten, wie wir heute auf den Aufstand der Offiziersschüler geantwortet haben. Mögen die Offiziersschüler die Vorwürfe an ihre eigene Adresse richten. Wir haben die Macht fast ohne Blutvergießen ergriffen. Wenn es Opfer gegeben hat, so nur auf unserer Seite … Die durch den Willen der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten gebildete Regierung wird es nicht dulden, dass die Kornilow-Leute sie verhöhnen."12

Am 14. November war der Kerenski-Aufstand unterdrückt, Gatschina befand sich wieder in unserer Hand, Kerenski hatte die Flucht ergriffen. In Petrograd war die Revolution siegreich. Doch im Lande entbrannte der Bürgerkrieg. Schon am 8. November (26. Oktober) hatte General Kaledin im Dongebiet den Kriegszustand verhängt; er mobilisierte die Kosaken gegen die Sowjetmacht. Am 9. November eroberte der Kosakenataman Dutow die Stadt Orenburg. In Moskau stand die Entscheidung noch aus; die Weißen hatten dort den Kreml besetzt; die Kämpfe verliefen erbitterter als in Petrograd.

Die rechten Sozialrevolutionäre, die Menschewiki und andere Fraktionen, die am 8. November (26. Oktober) den II. Sowjetkongress verlassen hatten, gründeten ein „Komitee zur Rettung des Vaterlandes und der Revolution", um das sie alle Gegner der Sowjetmacht zu vereinigen gedachten. Dem Komitee gehörten neun Vertreter der Zentralen Stadtduma an, das gesamte Präsidium des Vorparlaments, je drei Vertreter des Exekutivkomitees des Gesamtrussischen Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten und des Sowjets der Bauerndeputierten, Vertreter der Fraktion der Sozialrevolutionäre und der Menschewiki, Vertreter der Menschewiki-Objedinenzen und des Zentroflot sowie zwei Vertreter der Plechanowschen Gruppe „Jedinstwo". Ihr Ziel war, die Heimat und die Revolution vor den bolschewistischen „Abenteurern" zu retten, die, wie sie behaupteten, hinter ihrem Rücken die Macht erobert hatten. Aber sie vermochten so gut wie nichts auszurichten. Die Losungen „Frieden" und „Land" waren unter den Massen derart populär, dass diese mit größter Begeisterung und ohne Bedenken den Bolschewiki folgten.

In Moskau entstand ein „Komitee der öffentlichen Sicherheit", das sich dem Petrograder „Komitee zur Rettung des Vaterlandes und der Revolution" anschloss. Das Moskauer Komitee war auf Initiative der dortigen Stadtduma, an deren Spitze, der rechte Sozialrevolutionär Rudnew stand, gebildet worden. Es unterstützte unverhüllt die Konterrevolution.

Moskau brauchte Hilfe. Aber man konnte keine Truppen nach Moskau senden, weil das Gesamtrussische Exekutivkomitee der Eisenbahnarbeiter und -angestellten, abgekürzt Wikschel, dem im Wege stand. Das Wikschel unterstützte die Fraktionen, die den Kongress verlassen hatten; die Arbeiter besaßen keinen Einfluss in dieser Organisation. Das Wikschel erklärte, es werde im beginnenden Bürgerkrieg „Neutralität" wahren und keine Truppen, weder die der einen noch die der andern Seite, befördern. Diese sogenannte Neutralität schadete aber faktisch nur den Bolschewiki und hinderte sie, Hilfstruppen nach Moskau zu entsenden. Die Eisenbahner machten selber dieser Sabotage ein Ende und fertigten die Truppenzüge ab. Am 16. (3.) November gingen die vom Revolutionären Militärkomitee abgesandten Transporte von Petrograd nach Moskau, doch ehe die Truppen dort ankamen, war der Widerstand der Weißen bereits gebrochen.

Im schwersten Augenblick, als in Petrograd der Offiziersschüleraufstand gerade erst niedergeschlagen worden war, als Kerenski seinen Angriff noch fortsetzte und in Moskau hart gekämpft wurde, machten sich bei einigen Mitgliedern des Zentralkomitees Schwankungen bemerkbar. Sie waren der Ansicht, man müsse Zugeständnisse machen, und hielten die Lage überhaupt für aussichtslos. Besonders deutlich zeigten sich diese Stimmungen bei den Verhandlungen mit dem Wikschel. Am 9. November fasste das Wikschel einen Beschluss über die Notwendigkeit der Gründung einer Regierung aus sämtlichen sozialistischen Parteien, von den Bolschewiki bis zu den Volkssozialisten, und bot seine Dienste als Vermittler an. Anfangs verhandelte nur der linke Teil des Wikschels mit dem Zentralkomitee, das seinerseits L. B. Kamenew und G. J. Sokolnikow mit der Führung der Verhandlungen beauftragt hatte. Die Menschewiki und die rechten Sozialrevolutionäre sahen zuerst von einer Einmischung ab. Doch als sie annahmen, die Bolschewiki seien durch die Kerenski-Offensive und die Ereignisse in Moskau zum Nachgeben gezwungen, und als überdies beginnende Schwankungen im Zentralkomitee bekannt wurden, stieg ihre Unverschämtheit bis zum Äußersten. Sie kamen am 12. und 13. November (30.-31. Oktober) in die Wikschelsitzung und stellten ihre Forderungen: Verzicht auf die Sowjetmacht, Ausschluss sämtlicher am Oktoberumsturz Schuldigen aus der Regierung, vor allem Absetzung Lenins und Bildung einer neuen Regierung unter Vorsitz von Tschernow oder Awksentjew. Die bolschewistische Delegation unter Leitung Kamenews verließ hierauf nicht die Sitzung und duldete somit, dass die Vorschläge der Menschewiki und rechten Sozialrevolutionäre überhaupt zur Erörterung kamen. Tags darauf, am 14. (1.) November, wurde eine Sitzung des Zentralkomitees einberufen. Lenin verlangte sofortigen Abbruch der Verhandlungen mit dem Wikschel, das sich faktisch auf die Seite von Kaledin und Kornilow gestellt hatte. Das Zentralkomitee nahm eine entsprechende Resolution an. Am 17. (4.) November traten Nogin, Rykow, W. Miljutin und Teodorowitsch von ihren Posten als Volkskommissare zurück mit der Begründung, der Augenblick erfordere eine aus sämtlichen sozialistischen Parteien gebildete Regierung. Ihnen folgten einige andere Kommissare. Kamenew, Rykow, Sinowjew, Nogin und W. Miljutin erklärten ebenfalls ihren Austritt aus dem Zentralkomitee. Sie alle befürworteten zu einer Zeit, als die Oktoberrevolution bereits gesiegt hatte, eine aus sämtlichen Parteien bestehende Koalitionsregierung. Das Zentralkomitee verlangte von ihnen, dass sie sich der Parteidisziplin fügten. Iljitsch war empört und versuchte sie auf jede Weise zu einer Änderung ihrer Stellungnahme zu bewegen. Sinowjew veröffentlichte schließlich eine Erklärung, dass er ins Zentralkomitee zurückkehren werde.

Durch die weiteren Siege der Bolschewiki und die schroff ablehnende Stellung der Petrograder und der Moskauer Organisation zum Verhalten der genannten Genossen konnte die Partei diesen Zwischenfall in verhältnismäßig kurzer Zeit überwinden. Unwillkürlich drängte sich die Erinnerung an die Vergangenheit auf, an den II. Parteitag, der 1903, vierzehn Jahre vor den genannten Ereignissen, stattgefunden hatte. Die Partei war damals erst im Entstehen, und als Martow sich weigerte, der Redaktion der „Iskra" beizutreten, hatte das zu einer überaus schweren Parteikrise geführt, die Lenin manche schwere Stunde bereitet hatte. Diesmal ergaben sich nur zeitweilige Schwierigkeiten aus dem Verhalten der Genossen, die ihre Posten in der Regierung und in der Partei niedergelegt hatten. Der allgemeine Aufschwung der revolutionären Bewegung half rasch über diesen Zwischenfall hinweg. Iljitsch pflegte bei unsern gemeinsamen Spaziergängen stets über das zu sprechen, was ihn im Augenblick am meisten bewegte; doch er erwähnte kein einziges Mal diesen Vorfall. Sein Denken war jetzt ausschließlich mit der Frage beschäftigt, wie man schon jetzt sozialistische Verhältnisse schaffen und die Beschlüsse des II. Sowjetkongresses in die Tat umsetzen könne.

Am 17. (4.) November sprach Lenin in der Sitzung des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees und auf einer gemeinsamen Sitzung des Petrograder Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten mit Abgesandten von der Front. Lenins Reden waren von Siegeszuversicht durchglüht, von der festen Überzeugung, dass die politische Linie der Bolschewiki richtig ist und volle Unterstützung bei den Massen findet.

Die verbrecherische Passivität der Kerenski-Regierung hat das Land und die Revolution an den Rand des Abgrunds gebracht. Zögern wäre hier wirklich gleichbedeutend mit Untergang. Indem die neue Regierung Gesetze erlässt, die den Hoffnungen und Wünschen der breiten Volksmassen entgegenkommen, errichtet sie Marksteine auf dem Wege der Entwicklung neuer Lebensformen. Die örtlichen Sowjets können die grundlegenden Bestimmungen der Regierung je nach den örtlichen Verhältnissen, je nach der Zeit modifizieren, erweitern und ergänzen. Die lebendige, schöpferische Tätigkeit der Massen ist der Hauptfaktor des neuen öffentlichen Lebens. Die Arbeiter müssen an die Organisierung der Arbeiterkontrolle in ihren Fabriken und Werken gehen, müssen das Land mit Industrieerzeugnissen versorgen und sie gegen Brot austauschen. Über jedes Erzeugnis, jedes Pfund Brot muss Buch geführt werden, denn Sozialismus ist vor allen Dingen Rechnungslegung. Der Sozialismus wird nicht auf Befehl von oben geschaffen. Seinem Wesen ist der amtlich-bürokratische Automatismus fremd. Der lebendige, schöpferische Sozialismus ist das Werk der Volksmassen selbst."13 (Hervorhebung von mir. N. K.) Welch herrliche Worte!

Die Macht gehört unserer Partei, die sich auf das Vertrauen der breiten Volksmassen stützt. Wenn auch einige unserer Genossen eine Stellung einnehmen, die nichts mit dem Bolschewismus gemein hat, so werden doch die Arbeitermassen Moskaus den Rykow und Nogin keine Gefolgschaft leisten"14, sagte Lenin. „Das Zentralexekutivkomitee beauftragt den Rat der Volkskommissare, zur nächsten Sitzung Kandidaturen für die Posten der Volkskommissare für Inneres, für Industrie und Handel aufzustellen, und schlägt dem Genossen Kolegajew vor, den Posten des Volkskommissars für Landwirtschaft zu übernehmen"15, schloss Lenin seine Rede auf der Sitzung des Zentralexekutivkomitees. Kolegajew war linker Sozialrevolutionär, er lehnte den ihm angetragenen Posten ab. Die Partei der linken Sozialrevolutionäre wollte sich noch immer nicht bereit finden, die Verantwortung mitzutragen.

Die Menschewiki, die rechten Sozialrevolutionäre und die andern Parteien hetzten zu Sabotage auf. Die Beamten weigerten sich, unter Leitung der Bolschewiki zu arbeiten, und blieben ihren Ämtern fern. In seiner Rede am 17. (4.) November im Petrograder Sowjet sagte Lenin: „Man behauptet, wir seien isoliert. Die Bourgeoisie hat um uns eine Atmosphäre der Lügen und der Verleumdungen geschaffen, aber ich habe noch keinen Soldaten gesehen, der nicht mit Begeisterung den Übergang der Macht an die Sowjets begrüßt hätte. Ich habe keinen Bauern gesehen, der sich gegen die Sowjets ausgesprochen hätte."16 Und aus dieser Gewissheit schöpfte Lenin seine Siegeszuversicht.

Am 21. November 1917 wurde Jakow Michailowitsch Swerdlow an Stelle von L. B. Kamenew, der abgesetzt worden war, zum Vorsitzenden des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees gewählt. Lenin selber hatte Swerdlow für diesen Posten nominiert. Die Wahl war sehr günstig getroffen. Swerdlow war ein Mensch von großer Charakterfestigkeit. Im Kampf um die Sowjetmacht, im Kampf gegen die Konterrevolution stand er wie kein anderer seinen Mann. Für die unabsehbare Arbeit, die geleistet werden musste, um den Staat von neuem Typus zu schaffen, war ein Organisator von großem Format erforderlich. Diese Eigenschaft besaß Jakow Michailowitsch Swerdlow in vollem Maße.

Zwei Jahre später wurde Jakow Michailowitsch durch den Tod aus seiner unermüdlichen, dem Lande so nützlichen Tätigkeit herausgerissen. Er starb am 18. März 1919. Auf der Außerordentlichen Sitzung des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees widmete ihm Iljitsch eine Abschiedsrede, die als das schönste Denkmal für diesen selbstlosen Kämpfer der Arbeiterklasse in die Geschichte eingegangen ist.

Vollständiger und reiner als irgend jemand anders vermochte Genosse Swerdlow im Verlauf unserer Revolution und ihrer Siege die wichtigsten Wesenszüge der proletarischen Revolution zu verkörpern …", erklärte Lenin. „… die Fähigkeit, die proletarischen Massen, die Werktätigen zu organisieren", fuhr Iljitsch fort, „war und bleibt eine viel wesentlichere, ständige Eigenschaft dieser Revolution und Voraussetzung ihres Sieges. Eben in der Organisierung von Millionen Werktätigen liegen die besten Entwicklungsbedingungen der Revolution, liegt die unerschöpfliche Quelle ihrer Siege … Dieser Wesenszug der proletarischen Revolution hat auch einen solchen Menschen hervorgebracht wie J. M. Swerdlow, der vor allem und in erster Linie ein Organisator war." Iljitsch bezeichnete Swerdlow als den „ausgeprägtesten Typus eines Berufsrevolutionärs", der uneingeschränkt und selbstlos der Revolution ergeben war, durch lange Jahre der Illegalität gestählt, – niemals die Verbindung mit den Massen verlor, niemals Russland verließ, als einen Revolutionär, der nicht nur zu einem von den Arbeitern geliebten Führer wurde, „der die praktische Arbeit am umfassendsten und gründlichsten kannte, sondern auch zu einem Organisator der fortgeschrittensten Proletarier … nur das außergewöhnliche Organisationstalent dieses Menschen gab uns das, worauf wir bisher so stolz waren, worauf wir mit vollem Recht stolz waren. Er ermöglichte uns in vollem Umfang eine einmütige, zweckentsprechende, wirklich organisierte Arbeit, eine Arbeit, die der organisierten proletarischen Masse würdig war und den Erfordernissen der proletarischen Revolution entsprach – jene einträchtige organisierte Arbeit, ohne die wir keinen einzigen Erfolg hätten erringen können, ohne die wir nicht eine der zahllosen Schwierigkeiten überwunden, nicht eine der schweren Prüfungen überstanden hätten, durch die unser Weg bisher geführt hat und noch immer führt." Iljitsch bezeichnete Swerdlow als einen Organisator von „absolut unanfechtbarer Autorität", als einen Organisator der „ganzen Sowjetmacht in Russland", als einen „mit einzigartigem Wissen ausgerüsteten Organisator der Arbeit jener Partei, die die Sowjets geschaffen und die Sowjetmacht praktisch verwirklicht hat…"17

Die Oktoberrevolution schuf neue Kampfbedingungen. Diese neuen Kampfbedingungen erforderten mehr Entschlossenheit, Beharrlichkeit, mehr „Grifffestigkeit", wie Lenin es nannte, kurz, sie erforderten Organisationstalent von großem Format. „Der Angelpunkt beim Aufbau des Sozialismus ist die Organisation", pflegte Iljitsch zu sagen. Und es war kein Zufall, dass durch den Gang der Ereignisse nun solche Menschen in den Vordergrund rückten, die keine Verantwortung scheuten, Menschen, die in den illegalen Verhältnissen durch die ständigen Verhaftungen und Verbannungen nicht voll zur Geltung hatten kommen können. Zu diesen Menschen gehörte Genosse Stalin, der bedeutendste Organisator der Partei und des Oktobersieges. Nicht zufällig hatte Iljitsch auf dem II. Sowjetkongress, als die Volkskommissare nominiert wurden, ihn zum Vorsitzenden für Nationale Angelegenheiten vorgeschlagen. Iljitsch hatte Jahrzehnte für die Befreiung der Nationalitäten gekämpft, dafür, dass ihnen ermöglicht wird, sich allseitig zu entwickeln. In den letzten Jahren kämpfte er ganz besonders für das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung. Ich erinnere mich, wie Iljitsch jede Kleinigkeit naheging, die diese Frage betraf. Ich weiß noch, wie zornig er einst wurde, als er von mir hörte, dass man im Volkskommissariat für Bildungswesen noch schwankte, ob man gewisse wertvolle Denkmäler der Vergangenheit den Polen zurückerstatten solle oder nicht. Lenin hasste den Großmachtchauvinismus, und es war sein leidenschaftlicher Wunsch, dass die Sowjetrepublik der imperialistischen Unterdrückungspolitik gegenüber den schwachen Völkern eine Politik der vollen nationalen Befreiung und brüderlichen Hilfe entgegensetzte. Lenin kannte gut Stalins Auffassung über die nationale Frage, sie hatten in Krakau viel über diese Frage gesprochen, und er war überzeugt, dass es für Stalin Ehrensache sei, nicht in Worten, sondern in der Tat das zu verwirklichen, was seit langem durchdacht und allseitig erörtert war. Die Völker mussten das Recht auf Selbstbestimmung erhalten. Erschwerend war allerdings, dass dieses Recht in einer Zeit erbitterten Klassenkampfes verwirklicht werden musste. Es galt somit, die gesamte Tätigkeit, die den Nationen die Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechtes gewährleisten sollte, mit dem Kampf um die Diktatur des Proletariats und die Sowjetmacht zu verbinden. In engem Zusammenhang damit standen die Probleme des internationalen revolutionären Kampfes und des Bürgerkrieges. Der Mann, der für die Arbeit an der nationalen Front hauptverantwortlich war, musste einen weiten Gesichtskreis, tiefe Überzeugung und die Fähigkeit besitzen, die Sache praktisch zu organisieren. Deshalb fiel Lenins Wahl für diesen Posten auf Stalin.

Allen Parteifunktionären erwuchs nun eine neue Aufgabe: Sie mussten lernen, auf neue Weise zu arbeiten, mussten ihre alten Gewohnheiten ablegen, denn aus revolutionären Oppositionellen galt es zu verantwortungsbewussten, klugen und tüchtigen Erbauern der sozialistischen Gesellschaftsordnung zu werden.

Iljitsch und ich übersiedelten nach dem Smolny, wo uns das Zimmer einer ehemaligen Erzieherin zugewiesen wurde. Hinter einem Wandschirm stand ein Bett. Um in das Zimmer zu gelangen, musste man durch den Waschraum gehen. Iljitschs Arbeitszimmer konnte man mit dem Fahrstuhl erreichen. Ein kleines Zimmer gegenüber diente als Empfangszimmer. Eine Delegation löste die andere ab. Besonders viele Delegationen kamen von der Front. Wenn man zu Iljitsch ging, traf man ihn meistens im Empfangszimmer an. Dicht gedrängt standen hier die Soldaten, reglos lauschten sie den Worten Iljitschs, der am Fenster stand und sie über irgend etwas aufklärte. Hier, in diesem ewig überfüllten Smolny, lebte und wirkte Lenin. Alle zog es zum Smolny hin. Ein Regiment Maschinengewehrschützen bewachte den Smolny. Dieses Regiment stand im Sommer 1917 auf der Wiborger Seite und befand sich völlig unter dem Einfluss der Arbeiter jenes Stadtteils. Am 3. Juli 1917 erhob sich dieses Regiment als erstes, bereit, sich in den Kampf zu stürzen. Kerenski hatte beschlossen, an diesem Regiment ein Exempel zu statuieren. Die Soldaten wurden entwaffnet, auf einen Platz geführt und als Verräter gebrandmarkt. Der Maschinengewehrschützen bemächtigte sich jetzt ein noch stärkerer Hass gegen die Provisorische Regierung. Im Oktober hatten sie für die Sowjetmacht gekämpft, und danach übernahmen sie den Schutz des Smolny. Lenin wurde einer der Maschinengewehrschützen beigegeben, und zwar Genosse Scheltyschow, ein Bauer aus dem Gouvernement Ufa. Er hing mit großer Liebe an Iljitsch, war um ihn sehr besorgt, bemühte sich in jeder Weise um ihn und brachte ihm das Mittagessen aus der Küche des Smolny. Scheltyschow war grenzenlos naiv. Es gab nichts, worüber er sich nicht wunderte; er staunte über den Spirituskocher und besonders darüber, dass er brannte. Eines Tages komme ich ins Zimmer, da hockt er neben dem auf dem Fußboden stehenden glühenden Spirituskocher und übergießt ihn mit Spiritus. Jedes Leitungsrohr, jeder Wasserhahn im Hause, das Geschirr – alles setzte ihn in Erstaunen. Die Maschinengewehrschützen, die den Smolny bewachten, fanden irgendwo Schatullen, die den ehemaligen Zöglingen des Smolny-Instituts gehörten. Es interessierte sie sehr, was sie enthielten. Mit den Bajonetten rissen sie sie auf und fanden Tagebücher, allerlei Krimskrams, Bänder usw. Die Maschinengewehrschützen verteilten all diese Dinge an die im Umkreis wohnenden Kinder. Scheltyschow brachte mir auch eine Kleinigkeit – ein rundes Spiegelchen in einem geschnitzten Rahmen mit der Inschrift „Niagara". Bis heute habe ich mir dieses Spiegelchen aufbewahrt. Manchmal wechselte Iljitsch ein paar Worte mit Scheltyschow, der jederzeit bereit war, für Iljitsch durchs Feuer zu gehen. Scheltyschow musste auch Trotzki betreuen, der mit seiner Familie uns gegenüber wohnte, im Zimmer der ehemaligen Direktorin des Instituts. Aber Trotzki mochte er nicht. „Er hat so etwas Herrisches an sich", schrieb er mir einmal.

Scheltyschow lebt jetzt in einer Kollektivwirtschaft in der Republik Baschkirien. Er hat eine große Familie; mit seiner Gesundheit steht es nicht zum Besten; er beschäftigt sich mit Bienenzucht. Ab und zu bekomme ich Briefe von ihm, und in jedem Brief erwähnt er Iljitsch.

Ich arbeitete von früh bis spät, anfangs im Wiborger Bezirk und später im Volkskommissariat für Bildungswesen. Es konnte sich niemand so recht um Iljitsch kümmern, Scheltyschow brachte ihm das Mittagessen und Brot – Iljitsch erhielt die für alle übliche Ration. Manchmal brachte ihm Maria Iljinitschna etwas zu essen; da ich aber nicht zu Hause war, gab es niemand, der sich darum kümmerte, dass Iljitsch regelmäßig die Mahlzeiten einnahm. Vor kurzem erzählte mir ein junger Bursche namens Korotkow, der damals zwölf Jahre alt war und bei seiner Mutter wohnte, einer Reinemachefrau in der Küche des Smolny, sie hätte einmal Schritte im Speisesaal vernommen, habe hineingeschaut und Iljitsch gesehen, der ein Stück Schwarzbrot mit Hering verzehrte. Als er die Reinemachefrau gesehen habe, sei er ein wenig verlegen geworden und habe lächelnd gesagt: „Ich habe Hunger bekommen." Korotkowa kannte Wladimir Iljitsch. Als jedoch Iljitsch einige Tage nach der Revolution einmal die Treppe hoch ging und sah, wie sie, vom Treppenwischen müde, sich auf das Treppengeländer stützte, sei er mit ihr ins Gespräch gekommen. Damals habe sie noch nicht gewusst, wer er war. Iljitsch habe sie gefragt: „Nun, Genossin, was meinen Sie, lebt es sich unter der Sowjetmacht besser als unter der alten Regierung?" Darauf hatte sie erwidert: „Mir ist es gleich, wenn man nur für seine Arbeit bezahlt bekommt." Als sie später erfahren habe, dass sie mit Lenin gesprochen hatte, sei sie ganz außer sich gewesen. Nie hatte sie vergessen, was sie ihm damals geantwortet hatte. Jetzt lebt sie als Rentnerin; ihr Sohn, der damals in der Expedition des Smolny arbeitete, hat die Kunsthochschule beendet und ist Maler geworden.

Zu guter Letzt hatte sich die Mutter Schotmans, eine Finnin, unserer angenommen. Sie hing mit großer Liebe an ihrem Sohn und war sehr stolz darauf, dass er als Delegierter am II. Parteitag teilgenommen hatte und Lenin behilflich gewesen war, sich in den Julitagen zu verbergen. Nun herrschte eine solche Sauberkeit und Ordnung in unserem Heim, wie Lenin sie liebte. Sie belehrte jetzt Scheltyschow, die Reinemachefrauen und die Serviererinnen im Speisesaal. Beruhigt konnte ich jetzt aus dem Hause gehen, da ich wusste, dass für Lenins leibliches Wohl gesorgt wurde.

Abends, wenn es schon dämmerte, kehrte ich von der Arbeit zurück, und wenn Lenin nicht gerade sehr beschäftigt war, machten wir einen Spaziergang in der Gegend des Smolny und unterhielten uns über alles, was uns bewegte. Sehr wenige kannten damals Lenin, und er ging noch ohne jede Bewachung aus, doch jedes Mal, wenn er das Haus verließ, sorgten sich die Maschinengewehrschützen sehr, dass ihm nur nichts zustoße; sie gaben acht, dass sich keinerlei feindliche Elemente in der Nähe des Smolny ansammelten. Einmal haben sie ein Dutzend Hausfrauen festgenommen, die an einer Straßenecke zusammenstanden und über Lenin schimpften. Am nächsten Morgen ließ mich der Kommandant des Smolny, Genosse Malkow, zu sich kommen und sagte: „Wir haben da gestern einige Frauen festgenommen, sie skandalisierten, was soll ich nun mit ihnen machen?" Wie sich herausstellte, hatten die meisten bereits selbst das Weite gesucht, übriggeblieben waren nur einige richtige Kleinbürgerinnen, die von nichts eine Ahnung hatten; es wäre lächerlich gewesen, sie weiter in Haft zu behalten, und ich gab Malkow den Rat, sie so schnell wie möglich freizulassen. Eine von diesen Frauen kehrte noch einmal zurück und fragte mich, auf Malkow zeigend, im Flüsterton: „Ist das Lenin?" Ich winkte ab. Im Smolny wohnten wir bis zum März 1918, bis zu unserer Übersiedlung nach Moskau.

1 W. I. Lenin: Das Jahr 1917, S. 351.

2Ebenda, S. 353.

3 Ebenda, S. 354/355.

4 Ebenda, S. 360.

5 Ebenda, S. 445-447.

6 Ebenda, S. 474.

7 Ebenda. S. 493/494.

8 Nadeschda Krupskaja hat diese Erinnerungen 1933 geschrieben.

9 Aus einer bekannten russischen Fabel von Krylow.

10 W. I. Lenin: Werke, 4. Ausgabe, Bd. 26, S. 230, russ.

11 Ebenda, S. 252.

12 Ebenda, S. 236.

13 Ebenda, S. 254/255.

14 Ebenda, S. 256.

15 Ebenda, S. 259.

16 Ebenda, S. 262.

17 W. I. Lenin: Über den Parteiaufbau, Dietz Verlag, Berlin 1958, S. 553/554, 555. 556, 557.

Kommentare