Petersburg und Finnland

Petersburg und Finnland (1905-1907)

Der Dezemberaufstand war niedergeschlagen, und die Regierung rechnete grausam mit den Aufständischen ab.

Wladimir Iljitsch schätzte in seinem Artikel vom 4. Januar 1906 („Die Arbeiterpartei und ihre Aufgaben in der gegenwärtigen Lage") die entstandene Lage folgendermaßen ein: „Der Bürgerkrieg tobt. Der politische Streik als solcher beginnt sich zu erschöpfen und als eine überlebte Form der Bewegung der Vergangenheit anzugehören. In Petersburg z. B. erwiesen sich die erschöpften und entkräfteten Arbeiter als außerstande, den Dezemberstreik durchzuführen. Anderseits hat sich die Bewegung im Ganzen, die gegenwärtig von der Reaktion niedergehalten wird, unzweifelhaft auf eine weit höhere Stufe erhoben … Die Kanonen Dubassows haben neue Volksmassen in einem noch nie dagewesenen Ausmaß revolutioniert…

Was nun?

Wir wollen der Wirklichkeit ohne Scheu ins Auge schauen. Es steht jetzt die neue Arbeit bevor, sich die Erfahrungen der letzten Kampfformen anzueignen und sie zu verarbeiten, die Kräfte in den Hauptzentren der Bewegung vorzubereiten und zu organisieren."1 (Hervorhebung von mir. N. K.)

Iljitsch litt sehr unter der Moskauer Niederlage. Es war klar, dass die Arbeiter schlecht bewaffnet, dass die Organisation schwach war, dass selbst die Verbindung zwischen Petersburg und Moskau schlecht war. Ich erinnere mich, wie Lenin der Erzählung Anna Iljinitschnas zuhörte, die auf einem Moskauer Bahnhof eine Moskauer Arbeiterin getroffen hatte, die bitter die Petersburger anklagte: „Besten Dank, ihr Petersburger, ihr habt uns gut unterstützt, habt uns das Semjonowski-Regiment geschickt!"

Und gleichsam als Antwort auf diese Anklage schrieb Wladimir Iljitsch: „Für die Regierung wäre es äußerst vorteilhaft, so wie früher vereinzelte Erhebungen des Proletariats niederzuwerfen. Die Regierung möchte die Arbeiter gern auch in Petersburg sofort zum Kampf herausfordern, und zwar unter Bedingungen, die für die Arbeiter am ungünstigsten sind. Aber die Arbeiter werden auf diese Provokation nicht hereinfallen und sich von ihrem Weg, von der selbständigen Vorbereitung der nächsten gesamtrussischen Erhebung, nicht abbringen lassen."2

Iljitsch dachte, dass sich im Frühjahr 1906 die Bauernschaft erheben und dass sich das auf die Truppenteile auswirken würde, und er sagte: „Man muss die kolossalen Aufgaben des neuen aktiven Auftretens bestimmter stellen, muss sie praktisch stellen, muss sich disziplinierter, systematischer, hartnäckiger darauf vorbereiten und mit den Kräften des Proletariats, das durch den Streikkampf erschöpft ist, soviel wie möglich haushalten. (Hervorhebung von mir. N. K.) …

Möge die Arbeiterklasse ihre Aufgaben klar vor sich sehen! Nieder mit den konstitutionellen Illusionen! Man muss die neuen Kräfte zusammenfassen, die sich dem Proletariat anschließen. (Hervorhebung von mir. N. K.) Man muss die ,Erfahrungen auswerten', die in den beiden großen Monaten der Revolution (November und Dezember) gesammelt worden sind. Man muss sich wieder einstellen auf die restaurierte Selbstherrschaft, muss es verstehen, überall dort, wo es notwendig ist, wieder in die Illegalität unterzutauchen."3

Wir verkrochen uns wieder in die Illegalität und spannen die Netze der konspirativen Organisation. Aus allen Ecken und Enden Russlands kamen Genossen, mit denen wir die Arbeit und die Linie, die durchgeführt werden musste, besprachen. Zuerst kamen die eintreffenden Genossen zu den Treffpunkten, wo sie entweder von mir und Wera Rudolfowna oder von Michail Sergejewitsch empfangen wurden. Die besonders nahestehenden und wertvollen Genossen brachte ich mit Iljitsch zusammen; wenn es sich um militärische Angelegenheiten handelte, vermittelte Michail Sergejewitsch eine Zusammenkunft mit Nikititsch (Krassin). Solche Treffpunkte richteten wir an verschiedenen Stellen ein: bald bei der Zahnärztin Dora Dwoires (irgendwo auf dem Newski-Prospekt), bald bei der Zahnärztin Lawrentjewa (in der Nikolajewski-Straße), bald im Bücherlager des „Wperjod"4 sowie bei verschiedenen Sympathisierenden.

Ich entsinne mich zweier Episoden. Einmal richtete ich mich mit Wera Rudolfowna Menschinskaja im Lager des „Wperjod" ein, wo man uns für diesen Zweck ein besonderes Zimmer zur Verfügung gestellt hatte, um angekommene Freunde zu empfangen. Irgendein Genosse aus dem Bezirk war gerade mit einem Paket Flugblätter gekommen, ein anderer saß da und wartete, bis er an die Reihe kam. Da öffnete sich die Tür, und ein Polizeikommissar steckte seinen Kopf ins Zimmer herein. „Aha", sagte er und drehte den Schlüssel herum. Was tun? Durch das Fenster hinaus zu klettern wäre unzweckmäßig gewesen; wir saßen da und sahen uns ratlos an. Dann beschlossen wir, zunächst die Flugblätter und alles andere illegale Material zu verbrennen; das taten wir sogleich und verabredeten uns zu sagen, dass wir populäre Literatur für das Dorf auswählten. So machten wir es dann auch. Der Polizeikommissar sah uns spöttisch lächelnd an, verhaftete uns aber nicht. Unsere Personalien wurden aufgeschrieben; natürlich gaben wir fiktive Adressen und Namen an.

Ein andermal wäre ich fast hereingefallen, als ich zum ersten Mal zum Treffpunkt bei der Lawrentjewa ging. Anstatt Nr. 32 hatte man mir das Haus Nr. 33 angegeben. Ich nähere mich der Tür und sehe verwundert: das Namensschild ist abgerissen. „Eine merkwürdige Art von Konspiration", denke ich. Ein Offiziersbursche öffnet mir die Tür, und ich dränge mich, ohne ein Wort zu sagen, mit Literatur und verschiedenen chiffrierten Adressen beladen, direkt in den Korridor; mir nach stürmt der Offiziersbursche, der ganz bleich geworden ist und am ganzen Körper zittert. Ich bleibe stehen: „Ist denn heute kein Empfangstag? Ich habe Zahnschmerzen." Der Bursche sagt stotternd: „Herr Oberst sind nicht zu Hause." „Welcher Oberst?" „Der Herr Oberst Riman." Es stellte sich nun heraus, dass ich in die Wohnung Rimans, des Obersten des Semjonowski-Regiments, geraten war, der den Moskauer Aufstand unterdrückt und auf der Moskau-Kasaner Eisenbahn grausame Abrechnung gehalten hatte.

Er fürchtete anscheinend ein Attentat und ließ deswegen sein Namensschild von der Tür entfernen – und ich war ohne Anmeldung zu ihm in die Wohnung eingedrungen und hatte mich in den Korridor gedrängt.

Ich habe mich also geirrt, ich wollte zum Zahnarzt", sagte ich und machte, dass ich fortkam.

Iljitsch war gezwungen, bald hier, bald dort zu übernachten, was ihm sehr lästig war; die höfliche Sorge liebenswürdiger Wirte machte ihn immer verlegen. Er liebte in der Bibliothek oder zu Hause zu arbeiten, und hier musste er sich jedes Mal an die neue Umgebung anpassen.

Wir pflegten uns im Restaurant „Wena" (Wien) zu treffen, da man aber dort in Gegenwart von so viel Menschen nicht frei sprechen konnte, nahmen wir gewöhnlich, nachdem wir dort ein wenig gesessen oder uns an einer verabredeten Stelle auf der Straße getroffen hatten, eine Droschke und fuhren in ein Hotel gegenüber dem Nikolajew-Bahnhof und ließen uns dort das Abendessen in ein Séparée bringen. Ich erinnere mich, dass wir einmal auf der Straße Józef (Dzierzynski) bemerkten, den Kutscher anhielten und ihn einluden, mit uns zu fahren. Er setzte sich auf den Bock. Iljitsch war die ganze Zeit beunruhigt, ob er auch bequem sitze, er aber lachte und erzählte, dass er auf dem Lande aufgewachsen sei und auf dem Bock eines Schlittens zu fahren verstehe.

Schließlich hatte Iljitsch genug von dieser Quälerei, und wir zogen zusammen in die Pantelejmon-Straße (in das große Haus gegenüber der Pantelejmon-Kirche) zu einer Wirtin, die den Schwarzhundertern angehörte.

Von den Reden Iljitschs aus jener Zeit erinnere ich mich an sein Auftreten in einer Versammlung von Propagandisten verschiedener Bezirke, die in der Wohnung von Knipowitschs stattfand. Iljitsch sprach über das Dorf. Ich erinnere mich, dass ihm ein gewisser Nikolai, der hinter dem Newski-Tor arbeitete, eine Frage stellte, die mir wegen ihrer Schablonenhaftigkeit und auch wegen der Art zu sprechen, die Nikolai an sich hatte, sehr wenig gefiel. Nach der Versammlung fragte ich Djadenka, die als Organisator hinter dem Newski-Tor arbeitete, wer dieser Nikolai sei. Sie bezeichnete ihn als begabten Burschen, der fest mit dem Dorf verbunden sei, klagte aber, dass er nicht systematisch mit der Masse zu arbeiten verstehe, sondern sich nur mit einer kleinen Gruppe von Arbeitern beschäftige. 1906 war Nikolai trotzdem einer der aktivsten Funktionäre. In den Reaktionsjahren wurde er Provokateur, hielt es aber nicht aus und verübte Selbstmord. Nikolai gehörte zu der Gruppe von Genossen, die danach strebten, in alle Schichten der ärmsten Bevölkerung einzudringen. Ich entsinne mich, dass er in Nachtasyle ging und dort agitierte. Genosse Krylenko, damals ein ganz junger Hitzkopf, kam einmal in eine Versammlung von Sektierern, die ihn fast verprügelt hätten. Sergej Woitinski verstrickte sich auch immer in allerhand Geschichten.

An Iljitsch hefteten sich wieder die Spürhunde. Einmal war er auf irgendeiner Versammlung (ich glaube, bei dem Rechtsanwalt Tschekerul-Kusch) und hielt einen Vortrag. Die Spitzel waren ihm so dicht auf den Fersen, dass er beschloss, nicht nach Hause zu gehen. Und so saß ich die ganze Nacht bis zum Morgen am Fenster, überzeugt, dass man ihn irgendwo verhaftet hatte. Iljitsch entkam mit knapper Not der Verfolgung und gelangte mit Hilfe Baskas (einem damals angesehenen Mitglied der Spilka) nach Finnland, wo er bis zum Stockholmer Parteitag blieb.

Dort schrieb er im April die Broschüre „Der Sieg der Kadetten und die Aufgaben der Arbeiterpartei". Er bereitete die Resolutionen zum Vereinigungsparteitag vor, die dann in Petersburg, wohin auch Iljitsch kam, in der Wohnung Witmers besprochen wurden. Sie lag in einem Gymnasium, und die Sache ging in einem der Klassenzimmer vor sich.

Zum ersten Mal seit dem II. Parteitag waren die Bolschewiki und Menschewiki gemeinsam auf einem Parteitag. Obgleich die Menschewiki während der letzten Monate schon zur Genüge ihr wahres Gesicht gezeigt hatten, hoffte Iljitsch trotzdem, dass der neue Aufschwung der Revolution, an dem er nicht zweifelte, sie ergreifen und mit der bolschewistischen Linie aussöhnen würde.

Ich selbst kam mit einer kleinen Verspätung zum Parteitag. Ich fuhr zusammen mit Tutschapski hin, mit dem ich von früher, von der Vorbereitung zum I. Parteitag her, bekannt war, und mit Klawdia Timofejewna Swerdlowa; Swerdlow wollte auch zum Parteitag kommen, da er aber im Ural riesigen Einfluss besaß, wollten ihn die Arbeiter um keinen Preis fahren lassen. Ich hatte ein Mandat aus Kasan, es fehlte aber eine kleine Stimmenzahl, darum billigte mir die Mandatskommission nur eine beratende Stimme zu. Schon die kurze Zeit, die ich in der Mandatskommission mitarbeitete, ließ mich die ganze Atmosphäre spüren – es war eine rechte Fraktionsatmosphäre.

Die Bolschewiki hielten fest zusammen. Sie vereinigte die Gewissheit, dass die Revolution, ungeachtet der zeitweiligen Niederlage, vorwärtsschritt.

Ich erinnere mich an die Sorgen Djadenkas, die gut schwedisch konnte und deshalb die ganzen Scherereien mit der Unterbringung der Delegierten auf dem Halse hatte. Auch Iwan Iwanowitsch Skworzows und Wladimir Alexandrowitsch Basarows entsinne ich mich, dessen Augen in Momenten des Kampfes besonders feurig blitzten. Das veranlasste Wladimir Iljitsch zu der Bemerkung, Basarow habe eine starke politische Ader und lasse sich vom Kampf mitreißen. Auch ein Ausflug ist mir in Erinnerung geblieben, an dem Rykow, Strojew und Alexinski teilnahmen; wir sprachen über die Stimmungen der Arbeiter. An dem Parteitag nahmen auch Woroschilow (Wolodja Antimekow5) und K. Samoilowa (Natascha Bolschewikowa) teil. Schon allein diese beiden Decknamen, die von jugendlicher Angriffslust zeugten, waren für die Stimmung der bolschewistischen Delegierten auf dem Vereinigungsparteitag charakteristisch. Die bolschewistischen Delegierten verließen den Parteitag noch fester zusammengeschlossen als früher.

Am 27. April wurde die erste Reichsduma eröffnet; es fand eine Demonstration von Arbeitslosen statt, unter denen Woitinski arbeitete. Mit großer Begeisterung wurde der 1. Mai gefeiert. Von Ende April an erschien an Stelle der „Nowaja Schisn" die Zeitung „Wolna"6, und die kleine bolschewistische Zeitschrift „Westnik Schisni"7 begann zu erscheinen. Die Bewegung ging wieder aufwärts.

Nach der Rückkehr vom Stockholmer Parteitag zogen wir auf den Sabalkanski-Prospekt, ich mit dem Pass auf den Namen Praskowja Onegina und Iljitsch mit dem Pass von Tschcheïdse. Es war ein Durchgangshaus, und man hätte dort sehr bequem leben können, wenn nicht der Nachbar gewesen wäre, irgendein Militärangehöriger, der seine Frau häufig grausam verprügelte und sie an den Zöpfen durch den Korridor schleifte, und nicht die Liebenswürdigkeit der Wirtin, die Iljitsch eifrig nach seinen Verwandten ausfragte und ihn davon überzeugen wollte, dass sie ihn gekannt hatte, als er ein vierjähriger Bengel war, nur hätte er damals schwarze Haare gehabt..,

Iljitsch schrieb für die Petersburger Arbeiter einen Bericht über den Vereinigungsparteitag, in dem er alle Unstimmigkeiten in den wichtigsten Fragen grell beleuchtete.

Freiheit der Diskussion und Einheit der Aktion – das ist es, was wir erreichen müssen", schrieb Lenin in diesem Bericht. „… dass die revolutionären Aktionen der Bauernschaft zu unterstützen und die kleinbürgerlichen Utopien zu kritisieren sind, darüber sind sich alle Sozialdemokraten einig …

Hinsichtlich der Duma liegen die Dinge etwas anders. Bei Wahlen ist die volle Aktionseinheit unerlässlich. Der Parteitag hat beschlossen – wir alle werden wählen, wo Wahlen bevorstehen. Während der Wahlen keinerlei Kritik der Beteiligung an den Wahlen. Die Aktion des Proletariats muss einheitlich sein."8

Der Bericht erschien im Mai im Verlag „Wperjod".

Am 9. Mai trat Wladimir Iljitsch zum ersten Mal in Russland öffentlich auf einer gewaltigen Massenversammlung im Panina-Volkshaus unter dem Namen Karpow auf. Arbeiter aller Bezirke füllten den Saal. Überraschenderweise war keine Polizei da. Die zwei Polizeikommissare, die sich zu Beginn der Versammlung im Saale hin und her gedreht hatten, waren verschwunden. „Verweht wie Sand", scherzte einer. Nach dem Kadetten Ogorodnikow erteilte der Vorsitzende das Wort Karpow. Ich stand in der Menge eingekeilt. Iljitsch war schrecklich aufgeregt. Ungefähr eine Minute stand er schweigend und furchtbar blass da, als sei ihm alles Blut zu Herzen geströmt. Man fühlte sofort, wie sich die Erregung des Redners dem Auditorium mitteilte. Und plötzlich tobte der Saal von donnerndem Händeklatschen – die Parteimitglieder hatten Iljitsch erkannt. Das erregte, verdutzte Gesicht eines neben mir stehenden Arbeiters ist mir in Erinnerung geblieben. Er fragte:„Wer ist denn das?" Niemand antwortete ihm. Im Saal wurde es totenstill. Eine ungewöhnliche begeisterte Stimmung ergriff alle Anwesenden nach der Rede Lenins, in dieser Minute dachten alle an den bevorstehenden Endkampf.

Rote Hemden wurden zu Fahnen zerrissen, und unter dem Absingen revolutionärer Lieder ging man in die Bezirke auseinander.

Es war eine der erregenden Petersburger weißen Mainächte. Von der erwarteten Polizei war nichts zu sehen. Iljitsch übernachtete nach dieser Versammlung bei Dmitri Iljitsch Leschtschenko

Während der Revolution gelang es Iljitsch nicht mehr, öffentlich auf großen Versammlungen aufzutreten.

Am 24. Mai wurde die „Wolna" verboten. Zwei Tage später erschien sie wieder unter dem Namen „Wperjod" und existierte als „Wperjod" bis zum 14. Juni.

Erst am 22. Juni gelang es, eine neue bolschewistische Zeitung, das „Echo", herauszugeben, die bis zum 7. Juli existierte. Am 8. Juli wurde die Reichsduma aufgelöst.

Ende Juni kam Rosa Luxemburg, die gerade aus dem Warschauer Gefängnis entlassen worden war, nach Petersburg. An der Zusammenkunft mit ihr nahmen nur Wladimir Iljitsch und führende Genossen der Bolschewiki teil. Der Hausbesitzer, „Papa Rode", hatte zu diesem Zweck eine leerstehende Wohnung zur Verfügung gestellt. Das war ein alter Mann, dessen Tochter mit mir zusammen im Stadtviertel hinter dem Newski-Tor unterrichtete und später einmal zur gleichen Zeit mit mir im Gefängnis saß. Der Alte war bemüht, uns nach Kräften zu unterstützen. Aus Gründen der Konspiration ließ er die Fensterscheiben mit weißer Farbe übertünchen, wodurch er natürlich die Aufmerksamkeit aller Hauswarte heraufbeschwor. Auf dieser Zusammenkunft wurde über die gegenwärtige Lage und über die einzuschlagende Taktik beraten. Von Petersburg begab sich Rosa nach Finnland und von dort ins Ausland.

Im Mai, als die Bewegung anwuchs, als die Duma begann, die Stimmung der Bauernschaft widerzuspiegeln, widmete Iljitsch ihr große Aufmerksamkeit. In dieser Zeit schrieb er die Artikel: „Die Arbeitergruppe in der Reichsduma", „Die Bauern- oder ,Trudowikigruppe und die SDAPR", „Die Bodenfrage in der Duma", „Weder Land noch Freiheit", „Regierung, Duma und Volk", „Die Kadetten hindern die Duma, sich an das Volk zu wenden", „Goremykinianer, Oktobristen und Kadetten", „Schlechte Ratschläge", „Kadetten, Trudowiki und Arbeiterpartei". Alle diese Artikel haben nur eines im Auge – das Bündnis der Arbeiterklasse mit der Bauernschaft, die Notwendigkeit, die Bauernschaft zum Kampf um Boden und Freiheit aufzurufen, die Notwendigkeit, den Kadetten keine Möglichkeiten zu geben, mit der Regierung zu paktieren.

Iljitsch trat während dieser Zeit mehr als einmal mit Vorträgen über diese Frage auf.

Einmal sprach er vor den Delegierten des Wiborger Bezirks im Ingenieurverband auf dem Sagarodny-Prospekt. Wir mussten lange warten. Der eine Saal war von Arbeitslosen besetzt, in dem anderen hatten sich die Karrenschieber von den Hochöfen versammelt (ihr Organisator war Sergej Malyschew), die zum letzten Mal versuchten, mit den Unternehmern zu verhandeln, aber auch dieses Mal wurden sie nicht einig. Erst als sie fortgingen, konnte Iljitsch mit seinem Vortrag beginnen.

Dann erinnere ich mich an einen Vortrag Iljitschs vor einer Gruppe von Lehrern. Unter den Lehrern herrschten damals sozialrevolutionäre Stimmungen, Bolschewiki würden zum Lehrerkongress nicht zugelassen, es wurde aber ein Aussprache mit einigen Dutzend Lehrern organisiert. Er fand in irgendeiner Schule statt. Von den Anwesenden ist mir das Gesicht einer Lehrerin, einer kleinen buckligen Frau, in der Erinnerung haftengeblieben: das war die Sozialrevolutionärin Kondratjewa. Bei dieser Aussprache trat Rjasanow mit einem Vortrag über die Gewerkschaften auf. Wladimir Iljitsch sprach über die Agrarfrage. Der Sozialrevolutionär Bunakow trat gegen ihn auf, versuchte ihn der Widersprüche zu überführen und ihn mit Zitaten aus Iljin (damaliges Pseudonym Iljitschs) zu schlagen. Wladimir Iljitsch hörte aufmerksam zu, notierte sich einiges und antwortete dann ziemlich ärgerlich auf diese sozialrevolutionäre Demagogie.

Als die Bodenfragen sich in ihrer ganzen Schärfe darboten, als sich, nach den Worten Iljitschs, die „Vereinigung der Beamten und Liberalen gegen die Bauern" unverhüllt offenbarte, ging die schwankende Gruppe der Trudowiki mit den Arbeitern. Die Regierung fühlte, dass die Duma keine zuverlässige Stütze der Regierung sein würde, und ging zum Angriff über: friedliche Demonstrationen wurden auseinander geprügelt, Häuser, in denen Volksversammlungen stattfanden, angezündet, Judenpogrome begannen. Am 20. Juni erschien eine Regierungsverlautbarung über die Agrarfrage mit scharfen Ausfällen an die Adresse der Reichsduma.

Schließlich, am 8. Juli, wurde die Duma aufgelöst, die sozialdemokratischen Zeitungen verboten; Repressalien und Verhaftungen setzten ein. In Kronstadt und in Sweaborg brach ein Aufstand aus. Die Unsrigen nahmen an ihm aktivsten Anteil. Innokenti (Dubrowinski) kam mit Mühe aus Kronstadt heraus und entschlüpfte den Händen der Polizei, indem er sich völlig betrunken stellte. Binnen kurzem wurden auch die Genossen unserer Militärorganisation verhaftet, in deren Mitte ein Provokateur war. Das war gerade während des Sweaborger Aufstands. Wir saßen an diesem Tage in der Wohnung der Menschinskis und warteten vergeblich auf telegrafische Nachricht über den Verlauf des Aufstands.

Wera Rudolfowna und Ludmilla Rudolfowna Menschinskaja lebten damals in einer sehr bequemen eigenen Wohnung. Zu ihnen kamen oft Genossen. Die Genossen Roschkow, Józef und Goldenberg pflegten sich ständig dort einzufinden. Auch diesmal hatten sich dort einige Genossen versammelt, darunter auch Wladimir Iljitsch. Er schickte Wera Rudolfowna zu Schlichter, um ihm sagen zu lassen, dass man unverzüglich nach Sweaborg müsse. Irgend jemand erinnerte sich daran, dass in der Kadettenzeitung „Retsch"9 ein Genosse Harrik als Korrektor angestellt war. Ich ging zu ihm, um zu erfahren, ob kein Telegramm gekommen sei. Ich traf ihn nicht an, erhielt aber die Telegramme von einem anderen Korrektor. Er riet mir, mich mit Harrik in Verbindung zu setzen, der nicht weit von hier in der Gussew-Gasse wohne, und schrieb mir sogar die Adresse Harriks auf die Spalten mit den Telegrammen. Ich ging in die Gussew-Gasse; vor dem Hause gingen zwei Frauen untergehakt auf und ab. Sie hielten mich an: „Falls Sie etwa die und die Hausnummer suchen, so gehen Sie lieber nicht hin, dort liegen sie auf der Lauer, und alle werden abgefasst." Ich verständigte schleunigst unsere Leute. Wie sich später herausstellte, war dort unsere Militärorganisation, darunter auch Wjatscheslaw Rudolfowitsch Menschinski, verhaftet worden. Der Aufstand war unterdrückt. Die Reaktion erhob ihr Haupt. Die Bolschewiki gaben von neuem die illegale Zeitung „Proletari" heraus und gingen in die Illegalität; die Menschewiki bliesen zum Rückzug, begannen in der bürgerlichen Presse zu schreiben und gaben die demagogische Losung eines überparteilichen Arbeiterkongresses aus, der unter den gegenwärtigen Bedingungen die Liquidierung der Partei bedeutete. Die Bolschewiki forderten einen Sonderparteitag.

Iljitsch musste in die „nahe Emigration" nach Finnland gehen. Er wohnte dort bei Leiteisen in Kuokkala, nicht weit vom Bahnhof. Das ungemütliche, große Landhaus „Wasa" diente schon seit langem als Unterschlupf für Revolutionäre. Vorher hatten dort Sozialrevolutionäre gehaust, die Bomben herstellten, dann siedelte sich dort der Bolschewik Leiteisen (Lindow) mit seiner Familie an. Iljitsch bekam ein abseits liegendes Zimmer, wo er seine Artikel und Broschüren schrieb, dort suchten ihn die Mitglieder des ZK und des Petersburger Komitees auf und Genossen aus der Provinz. Von Kuokkala aus leitete Lenin faktisch die ganze Arbeit der Bolschewiki. Nach einiger Zeit zog ich auch dorthin; ich fuhr am frühen Morgen nach Petersburg und kehrte spät abends zurück. Dann fuhren die Leiteisens fort, und wir hatten das ganze Erdgeschoss für uns, meine Mutter kam zu uns, und später wohnte auch Maria Iljinitschna eine Zeitlang bei uns. Oben wohnten Bogdanows und 1907 auch Dubrowinski (Innokenti). In jener Zeit wagte die russische Polizei nicht, sich in finnische Angelegenheiten einzumischen, und wir lebten sehr frei. Die Tür des Landhauses wurde niemals abgeschlossen, im Esszimmer wurde zur Nacht immer Brot und ein Krug mit Milch zurückgelassen und auf dem Diwan ein Bett zurechtgemacht. Falls noch jemand mit dem Nachtzug ankam, konnte er, ohne jemand zu wecken, sich stärken und schlafen legen. Am Morgen fanden wir oft im Esszimmer die in der Nacht angekommenen Genossen.

Zu Iljitsch kam täglich ein besonderer Kurier mit Zeitungen, Briefen usw. Wenn er die Materialien durchgesehen hatte, setzte er sich sofort hin und schrieb einen Artikel, den er mit dem gleichen Boten wegschickte. Ferner kam fast jeden Tag Dmitri Iljitsch Leschtschenko. Abends brachte ich alle möglichen Tagesneuigkeiten und Aufträge aus Petersburg.

Natürlich sehnte sich Iljitsch nach Petersburg, und trotzdem wir versuchten, ständig engste Verbindung aufrechtzuerhalten, überfiel ihn manchmal eine derartige Verstimmung, dass wir seine Gedanken durch irgend etwas abzulenken versuchten. Und so kam es vor, dass alle Bewohner des Landhauses „Wasa" sich zusammensetzten und „Schafskopf" spielten. Bogdanow war mit allem Ernst bei der Sache, auch Wladimir Iljitsch war ganz dabei, und Leiteisen ließ sich vom Spiel geradezu hinreißen. Manchmal kam gerade in diesem Augenblick jemand mit einem Auftrag, irgendein Bezirksfunktionär, der verlegen und staunend dastand: ZK-Mitglieder spielen leidenschaftlich Karten. Übrigens war das nur ein vorübergehendes Stadium.

Während dieser ganzen Zeit sah ich Iljitsch sehr wenig, da ich den ganzen Tag in Petersburg zubrachte. Wenn ich spät abends zurückkehrte, fand ich Iljitsch stets besorgt; ich fragte ihn nicht weiter, sondern berichtete ihm selbst, was ich gesehen und gehört hatte.

In diesem Winter hatte ich mit Wera Rudolfowna einen ständigen Treffpunkt in der Mensa des Technologischen Instituts eingerichtet. Das war sehr bequem, da tagsüber in der Mensa ein ständiges Kommen und Gehen war. An manchen Tagen waren dort mehr als zehn Leute bei uns. Niemand achtete auf uns. Einmal kam Kamo zum Treffpunkt, in kaukasischer Volkstracht, und trug, in einer Serviette eingewickelt, einen kugelförmigen Gegenstand. An den Tischen hörten alle auf zu essen und begannen den ungewöhnlichen Besucher zu betrachten. „Eine Bombe", dachten wahrscheinlich die meisten. Aber es war keine Bombe, sondern eine Wassermelone. Kamo brachte diese Melone und außerdem kandierte Nüsse Iljitsch und mir zum Geschenk. „Die Tante hat sie geschickt", erklärte er schüchtern. Dieser tollkühne, willensstarke Mensch, dieser unbeugsame Kämpfer war zugleich ein Mensch von ungewöhnlichem innerem Reichtum, etwas naiv und ein äußerst zärtlicher Freund. Er hing leidenschaftlich an Iljitsch, Krassin und Bogdanow. Er war einige Male bei uns in Kuokkala und freundete sich mit meiner Mutter an, der er viel von seiner Tante und seinen Schwestern erzählte. Kamo fuhr oft aus Finnland nach Petersburg, er nahm stets Waffen mit, und meine Mutter band ihm jedes Mal besonders sorgfältig die Revolver auf dem Rücken fest.

Vom Herbst an erschien in Wiborg der illegale „Proletari"10, dem Lenin sehr viel Zeit und Aufmerksamkeit widmete. Die Verbindung stellte Genosse Schlichter her. Die Nummern des „Proletari" wurden nach Petersburg gebracht und dort in den Bezirken vertrieben. Den Transport besorgte die Genossin Irina (Lidia Gobi). Obgleich der Transport und der Vertrieb gut klappten – die Literatur ging durch die legale bolschewistische Druckerei „Delo" –, mussten wir uns doch Adressen verschaffen, an die wir die Literatur senden konnten.

Wera Rudolfowna und ich brauchten eine Gehilfin. Einer der Bezirksfunktionäre, Kommissarow, schlug uns als Gehilfin seine Frau Katja vor. Eine bescheidene Frau mit kurzgeschnittenem Haar erschien. Ein merkwürdiges Gefühl ergriff mich in der ersten Minute – das Gefühl irgendeines starken Misstrauens; woher dieses Gefühl stammte, darüber konnte ich mir keine Rechenschaft geben, und es verlor sich auch bald. Katja erwies sich als eine sehr tüchtige Gehilfin, sie machte alles sehr genau, konspirativ, schnell, zeigte keinerlei Neugier und fragte uns nicht aus. Einmal, als ich sie fragte, wo sie den Sommer verbringen wolle, zuckte sie zusammen und warf mir einen bösen Blick zu. Später stellte es sich heraus, dass Katja und ihr Mann Provokateure waren. Katja brachte die Waffen, die sie in Petersburg beschafft hatte, nach dem Ural, und gleich nach ihrem Erscheinen kam die Polizei, beschlagnahmte die von Katja gebrachten Waffen und verhaftete alle. Das erfuhren wir erst viel später. Ihr Mann, Kommissarow, wurde Verwalter bei Simonow, dem Besitzer des Hauses Nr. 9 auf dem Sagorodny-Prospekt. Simonow unterstützte die Sozialdemokraten. Eine Zeitlang wohnte Wladimir Iljitsch bei ihm, darauf wurde in diesem Hause ein bolschewistischer Klub eingerichtet, und dann zog Alexinski dorthin. Später, in den Jahren der Reaktion, beherbergte Kommissarow in diesem Hause verschiedene illegale Funktionäre und versorgte sie mit Pässen. Kurz darauf gingen alle diese illegalen Mitarbeiter „zufällig" an der Grenze hoch. In diese Falle geriet zum Beispiel einmal Innokenti, der aus dem Ausland kam, um in Russland zu arbeiten. Es ist natürlich schwer, den genauen Zeitpunkt festzustellen, an dem Kommissarow und seine Frau Provokateure wurden. Jedenfalls wusste die Polizei immer noch sehr vieles nicht, zum Beispiel den Aufenthaltsort Wladimir Iljitschs. Der Polizeiapparat war 1905 und während des ganzen Jahres 1906 noch reichlich desorganisiert.

Die Einberufung der II. Reichsduma wurde auf den 20. Februar 1907 festgesetzt. Noch auf der Novemberkonferenz hatten sich 14 Delegierte, darunter auch die Delegierten Polens und Litauens, mit Wladimir Iljitsch an der Spitze für die Wahlen in die Reichsduma, aber gegen jeden Block mit den Kadetten (wofür die Menschewiki waren) ausgesprochen. Unter dieser Losung wurde auch die Arbeit der Bolschewiki für die Dumawahlen durchgeführt. Die Kadetten erlitten bei den Wahlen eine Niederlage. In die II. Duma zogen nur halb soviel ihrer Deputierten ein, wie in der I. Duma gewesen waren. Die Wahlen gingen sehr lebhaft vor sich. Es schien, als ob sich eine neue revolutionäre Welle erhöbe. Anfang 1907 schrieb Lenin:

Wie kläglich sind plötzlich unsere ,theoretischen' Streitigkeiten, die wir noch kürzlich hatten, jetzt im strahlenden Licht der aufgehenden Revolutionssonne."

Die Deputierten der II. Duma kamen ziemlich oft nach Kuokkala, um mit Lenin zu sprechen. Die unmittelbare Leitung der Arbeit der bolschewistischen Deputierten lag in den Händen Alexander Alexandrowitsch Bogdanows, der in Kuokkala in demselben Landhaus „Wasa" lebte, in dem auch wir wohnten, und er besprach alles mit Iljitsch.

Ich erinnere mich, wie ich einmal, spät abends, aus Petersburg nach Kuokkala zurückkehrend, im Zug auf Pawel Borissowitsch Axelrod stieß. Er begann davon zu sprechen, dass die bolschewistischen Deputierten, besonders Alexinski, in der Duma gar nicht schlecht aufträten. Wir sprachen auch über den Arbeiterkongress; die Menschewiki führten eine ziemlich eifrige Agitation für diesen Kongress durch, da sie hofften, dass ein großer Arbeiterkongress ihnen helfen würde, mit dem immer mehr wachsenden Einfluss der Bolschewiki fertig zu werden. Die Bolschewiki bestanden auf schleunigster Einberufung eines Parteitags. Dieser wurde schließlich auf April festgesetzt. Der Parteitag war sehr gut besucht. Die Delegierten trafen in Scharen ein und begaben sich zum Treffpunkt, wo als Vertreter der Bolschewiki ich und Michail Sergejewitsch und als Vertreter der Menschewiki Krochmal und die Frau Chintschuks – M. M. Schik – sie abfertigten. Die Polizei machte sich an die Bespitzelung: auf dem Finnländischen Bahnhof wurden Marat (Schanzer) und noch einige Delegierte verhaftet. Es mussten besondere Vorsichtsmaßregeln getroffen werden. Iljitsch und Bogdanow waren bereits zum Parteitag abgefahren, und ich beeilte mich darum nicht, nach Kuokkala zu kommen. Ich kehrte Sonntag erst gegen Abend heim, und was sah ich? Siebzehn Delegierte saßen durchgefroren und hungrig da und hatten weder etwas gegessen noch getrunken. Unsere Hausgehilfin, eine finnische Sozialdemokratin, ging sonntags für den ganzen Tag fort, zu Aufführungen ins Volkshaus usw. Bis ich den Delegierten zu trinken und zu essen gegeben hatte, verging nicht wenig Zeit. Ich selbst fuhr nicht zum Parteitag, weil niemand da war, dem man in dieser schwierigen Zeit die Arbeit des Sekretariats überlassen konnte. Die Polizei wurde immer frecher, die Leute begannen sich zu fürchten, Bolschewiki in ihre Häuser zu lassen und ihre Räume für Treffpunkte herzugeben. Ich traf mich manchmal mit den Genossen in der Redaktion des „Westnik Schisni". Pjotr Petrowitsch Rumjanzew, der Redakteur der Zeitschrift, genierte sich, mir selbst zu sagen, dass ich in der Redaktion des „Westnik Schisni" keinen Treffpunkt einrichten solle, und schickte mir den Wächter auf den Hals, mit dem ich mich des öfteren über unsere Angelegenheiten unterhielt. Das Verhalten Rumjanzews verdross mich recht.

Vom Parteitag kam Iljitsch später als alle anderen zurück.11 Er sah ganz anders aus als sonst: kurz gestutzter Schnurrbart, abrasierter Kinnbart, auf dem Kopf einen großen Strohhut. Am 3. Juni wurde die II. Duma auseinandergejagt. Die ganze bolschewistische Fraktion kam spät abends nach Kuokkala, blieb die ganze Nacht auf und beriet sich über die entstandene Lage. Der Parteitag hatte Lenin aufs äußerste ermüdet, er war nervös und aß nichts. Ich versorgte ihn mit allem Nötigen und schickte ihn nach Styrs Udde, weiter nach Finnland hinein, wo die Familie Djadenkas lebte, und machte mich daran, selbst alle Angelegenheiten schleunigst zum Abschluss zu bringen. Als ich nach Styrs Udde kam, hatte sich Iljitsch schon etwas erholt. Die Genossen erzählten mir, dass er in den ersten Tagen alle Augenblicke eingeschlafen sei: er brauchte sich nur unter eine Tanne zu setzen, und nach einer Minute war er schon weg … Die Kinder nannten ihn „Schlafmütze". In Styrs Udde verbrachten wir herrliche Tage – Wald, Meer, wildeste Landschaft; in der Nähe war nur das große Landhaus des Ingenieurs Sjabizki, wo Leschtschenko mit seiner Frau und Alexinski wohnten. Iljitsch wich Gesprächen mit Alexinski aus, weil er nichts anderes wollte als sich ausruhen; Alexinski fühlte sich dadurch beleidigt. Manchmal gingen wir zu Leschtschenkos, um Musik zu hören. Xenia Iwanowna, eine Verwandte von Knipowitschs, war Sängerin und hatte eine wundervolle Stimme, und Iljitsch hörte mit Genuss ihrem Gesang zu.

Den größten Teil des Tages verbrachte ich mit Iljitsch am Strande, oder wir radelten. Die Fahrräder waren alt, sie mussten immerfort repariert werden; wir taten das bald mit Hilfe Leschtschenkos, bald ohne seine Hilfe; wir reparierten sie mit alten Gummischuhen und reparierten in der Tat mehr, als wir darauf fuhren. Das Fahren aber war herrlich. Onkelchen fütterte Iljitsch reichlich mit Eierkuchen und Rentierschinken. Allmählich ruhte sich Iljitsch aus, erholte sich etwas und kam wieder zu sich.

Aus Styrs Udde fuhren wir zur Konferenz nach Terijoki. Iljitsch hatte in den Ruhetagen die Lage gründlich durchdacht und trat auf der Konferenz gegen einen Boykott der III. Duma auf. Ein Krieg an einer neuen Front begann, der Krieg gegen die Boykottisten, die nicht mit der bitteren Wirklichkeit rechnen wollten und sich an klingenden Phrasen berauschten. In einem kleinen Landhaus verteidigte Iljitsch leidenschaftlich seine Stellung. Krassin kam gerade auf einem Fahrrad hinzu und hörte von draußen, vor dem Fenster stehend, Iljitsch aufmerksam zu. Dann ging er, ohne hineinzukommen, nachdenklich fort … Ja, es gab auch etwas zum Nachdenken.

Der Stuttgarter Kongress rückte heran.12 Iljitsch war mit seinem Verlauf sehr zufrieden, zufrieden mit den Resolutionen über die Gewerkschaften und über seine Einstellung zum Krieg.

1 W. I. Lenin: Werke, Bd. 10, S. 81 u. 82.

2 Ebenda, S. 82.

3 Ebenda, S. 83/84.

4 Das Bücherlager und der Verlag des „Wperjod" gehörten dem ZK der Partei. Anm. d. russ. Red.

5 Antimekow bedeutet etwa „Gegner der Menschewiki" (von der Abkürzung „Meki" für Menschewiki).

6 „Wolna" (Die Woge) – legale bolschewistische Zeitung, die 1906 in Petersburg erschien.

7 „Westnik Schisni" (Der Bote des Lebens) – legale bolschewistische Zeitschrift, die 1906/1907 in Petersburg erschien.

8 W. I. Lenin: Werke, Bd. 10, S. 384.

9 „Retsch" (Die Rede) – Zentralorgan der Kadettenpartei, das von 1906 bis 11917 in Petersburg erschien.

10 Die erste Nummer des „Proletari" erschien am 21. August 1906. Anm. d. russ. Red.

11 Sofort nach dem Parteitag hatte Iljitsch in Terijoki im Gasthaus des Finnen Kakko (dieses Gasthaus ist später abgebrannt) vor den aus Petersburg zahlreich erschienenen Arbeitern einen Vortrag gehalten. Anm. d. russ. Red.

12 Der Stuttgarter Internationale Kongress der II. Internationale fand vom 18. bis 24. August 1907 statt. Anm. d. russ. Red.

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