Von der Oktoberrevolution bis zum Brester Frieden

Von der Oktoberrevolution bis zum Brester Frieden

In seinem Artikel vom 5. November 1921 „Über die Bedeutung des Goldes jetzt und nach dem vollen Sieg des Sozialismus" schreibt Lenin: „Wir hatten mit so schwindelerregender Schnelligkeit, in den wenigen Wochen vom 25. Oktober 1917 bis zum Brester Frieden, den Sowjetstaat errichtet, waren auf revolutionärem Wege aus dem imperialistischen Krieg ausgeschieden, hatten die bürgerlich-demokratische Revolution zu Ende geführt, so dass uns sogar die gewaltige Rückzugbewegung (der Brester Friede) immer noch durchaus genügend Positionen beließ, um die ,Atempause' auszunutzen und gegen Koltschak, Denikin, Judenitsch, Pilsudski, Wrangel siegreich vorzustoßen."1 Die wenigen Wochen, von denen Lenin hier spricht, fallen in der Hauptsache in die Zeit seines Aufenthalts in Petrograd, im Smolny, bis zur Übersiedlung nach Moskau Mitte März. Lenin stand im Mittelpunkt der gesamten Arbeit; er organisierte sie. Es handelte sich dabei nicht um eine angespannte Arbeit im üblichen Sinne, sondern diese Arbeit verlangte den Einsatz aller Kräfte, sie hielt die Nerven in dauernder Spannung; ungewöhnliche Schwierigkeiten galt es zu überwinden, harte Kämpfe mussten ausgetragen werden, oft sogar mit den nächsten Genossen. Ist es da verwunderlich, dass Iljitsch keinen Schlaf fand, wenn er sich in den späten Nachtstunden zur Ruhe begab? Er stand auf, lief irgendwohin telefonieren, gab unaufschiebbare Anweisungen. Und wenn er dann endlich eingeschlafen war, sprach er im Schlaf über die Dinge, die ihn beschäftigten … Tag und Nacht wurde im Smolny gearbeitet. In der ersten Zeit spielte sich alles im Smolny ab – hier wurden alle Parteiversammlungen abgehalten, hier tagte der Rat der Volkskommissare, hier arbeiteten die einzelnen Kommissariate, von hier aus gingen Telegramme und Befehle ins Land, nach dem Smolny strömten die Menschen von überall her. Und wie sah der Apparat des Rates der Volkskommissare aus? Erst waren es vier Mitarbeiter, Menschen, die über keinerlei Erfahrungen verfügten, die alles machten, was die Stunde erforderte, ohne sich Ruhe zu gönnen. Niemandem fiel es damals ein, die einzelnen Funktionen festzulegen und abzugrenzen, zu umfassend waren die Aufgaben und zu schwer bestimmbar. Trotz angespanntester Arbeit reichten die Kräfte nicht aus, und so musste Lenin eine Fülle von technischen Arbeiten selbst erledigen, wie telefonieren usw. Man nahm natürlich auch den Parteiapparat, den Apparat des Gesamtrussischen Exekutivkomitees und anderer Organisationen in Anspruch, aber um diese Kräfte richtig einzusetzen, bedurfte es auch einer recht umfangreichen organisatorischen Vorarbeit. Alles war äußerst primitiv. Man musste den alten Staatsapparat zerbrechen, ein Glied nach dem anderen. Der bürokratische Apparat leistete Widerstand, die Angestellten der alten Ministerien und der verschiedenen staatlichen Institutionen waren bemüht, die Arbeit auf jede Weise zu sabotieren, um so der Sowjetmacht den Aufbau des neuen Staatsapparates zu erschweren. Ich erinnere mich, wie wir im Ministerium für Volksbildung „die Macht ergriffen". Anatoli Wassiljewitsch Lunatscharski und wir, ein kleines Häuflein Parteimitglieder, begaben uns zum Gebäude des Ministeriums an der Tschernyschow-Brücke. Vor dem Ministerium hatten sich Saboteure postiert. Im Ministerium werde nicht gearbeitet, sagten sie den Angestellten und Besuchern, um sie vom Betreten des Ministeriums abzuhalten. Auch an uns trat jemand in gleicher Weise heran. Außer den Reinemachefrauen und Boten war kein einziger Angestellter im Hause. Wir gingen durch die leeren Zimmer – überall lagen auf den Tischen Akten herum; dann gingen wir in irgendein Arbeitszimmer, und hier fand die erste Beratung des Kollegiums des Volkskommissariats für Bildungswesen statt. Wir teilten die Funktionen unter uns auf. Es wurde beschlossen, dass Anatoli Wassiljewitsch sich mit einer Ansprache an das technische Personal wenden sollte, was auch geschah. Lunatscharski sprach leidenschaftlich. Das ziemlich große Auditorium hörte ihm aufmerksam, wenn auch ein wenig erstaunt zu, denn bisher hatte noch nie ein Mensch aus den herrschenden Kreisen über ein solches Thema zu ihnen gesprochen.

Ganz so tragisch war die Situation im Volkskommissariat für Bildungswesen doch nicht. Die Bourgeoisie maß diesem Kommissariat keine besondere Bedeutung bei, und außerdem fanden wir uns in dieser Arbeit leicht zurecht. Die meisten von uns kannten sich auf dem Gebiet der Volksbildung gut aus. Die Menschinskis waren viele Jahre als Lehrerinnen an einer Grundschule in Petersburg tätig gewesen, auch ich hatte lange Zeit unterrichtet und mich viel mit Pädagogik befasst, wir alle waren Propagandisten und Agitatoren. Die Arbeit in den Bezirksdumas in den Monaten vor dem Oktober hatte uns beträchtliche organisatorische Erfahrungen vermittelt, wir hatten auch viele Verbindungen angeknüpft. Mir oblag die Erwachsenenbildung (politische Aufklärungsarbeit), darin hatte ich bereits Erfahrungen. Hier kam es besonders auf die Unterstützung durch die Partei und die Arbeitermassen an. So wurde es möglich, gestützt auf die Massen, diese Arbeit auf neue Weise in Angriff zu nehmen. Schlechter stand es mit der Finanzierung, der administrativen Arbeit, der Planung und Rechnungslegung. Aber wir kamen doch schnell voran, denn die Massen selbst drängten, groß war ihr Wissensdurst. Und die Sache kam in Gang.

Eine ganz andere Lage hatte sich an solchen Knotenpunkten ergeben wie die Versorgung, die Finanzen und die Banken, wo einerseits die Bourgeoisie ihre Hauptkräfte konzentrierte und ihre Sabotage besonders wirksam werden ließ, wir andererseits aber über die wenigsten Erfahrungen und Sachkenntnisse verfügten. Hier glaubten unsere Feinde, uns schlagen zu können, sie hofften, dass wir damit „nicht fertig werden" würden. Besonderen Druck auszuüben, verstanden wir auch nicht so recht. Unsere Jugend, und nicht nur die Jugend, sondern auch diejenigen, die in den späteren Jahren zu uns gestoßen waren, meinen, es wäre alles so einfach gewesen: der Winterpalast wurde besetzt, die Junker geschlagen und der Angriff Kerenskis zurückgeschlagen – und damit wäre alles erledigt gewesen. Aber wie der neue Apparat aufgebaut und wie die Arbeit der Volkskommissariate in Gang gebracht wurde – dafür interessiert man sich weniger, während gerade unsere ersten Schritte auf dem Gebiet der Verwaltungsarbeit, die Frage, wie wir es lernten, in der täglichen Verwaltungsarbeit für die Sache des Proletariats zu kämpfen, natürlich von ganz besonderem Interesse ist. In seinen Erinnerungen kommt N. P. Gorbunow darauf zu sprechen, wie in den Oktobertagen der Apparat des Rates der Volkskommissare geschaffen wurde, und schildert besonders ausführlich, wie wir beispielsweise die Macht an der Finanzfront in die Hand nahmen. „Die entsprechenden Dekrete der Regierung", schreibt Genosse Gorbunow, „wurden von der Staatsbank auf gemeinste Weise sabotiert; sie verweigerte die Herausgabe der notwendigen Mittel an die Regierung. Dem Volkskommissar für Finanzen, Genossen Menschinski (gegenwärtig Vorsitzender der Staatlichen Politischen Verwaltung [OGPU] N. K.) gelang es durch keinerlei Maßnahmen, eine Änderung herbeizuführen. Auch nach der Verhaftung des Direktors der Staatsbank, Schipow, verweigerte die Bank nach wie vor der Regierung die für die Revolution notwendigen Mittel. Schipow wurde nach dem Smolny gebracht und befand sich dort einige Zeit im Arrest. Er schlief in einem Zimmer mit dem Genossen Menschinski und mir. Tagsüber diente dieses Zimmer als Büroraum irgendeiner Institution (möglicherweise des Volkskommissariats der Finanzen?). Aus Höflichkeit musste ich ihm, zu meinem großen Ärger, mein Bett zur Verfügung stellen … und selbst mit Stühlen vorliebnehmen."2 Zum Direktor der Staatsbank wurde Pjatakow ernannt; er konnte anfangs auch nichts erreichen. Genosse Gorbunow erzählte, dass Wladimir Iljitsch ihm ein mit seiner Unterschrift versehenes Dekret aushändigte, wonach die Staatsbank angewiesen wurde, ohne jegliche Formalitäten dem Sekretär des Rates der Volkskommissare zehn Millionen Rubel auszuzahlen. Als Regierungskommissar bei der Staatsbank fungierte Genosse Ossinski. Bei der Aushändigung des Dekrets sagte Iljitsch zu Gorbunow und Ossinski: „Ohne Geld braucht ihr gar nicht wiederzukommen." Und sie bekamen das Geld. Unterstützt von den unteren Angestellten und Boten und mit der Roten Garde drohend, zwangen sie den Kassierer, die verlangte Summe auszuzahlen. Dieser Akt vollzog sich im Beisein der Bankwache, die mit schussbereiten Waffen dastand. „Aber nun tauchte eine neue Schwierigkeit auf, uns fehlten Säcke für das Geld", schreibt Gorbunow. „Wir hatten keine mitgenommen. Einer von den Boten gab uns dann leihweise große alte Säcke. Wir stopften sie bis oben voll, luden sie uns auf den Rücken und schleppten sie zum Wagen. Freudestrahlend fuhren wir zum Smolny. Wir trugen die Säcke in Iljitschs Arbeitszimmer. Er selbst war nicht da. ,Zum Schutz' des Geldes, mit einem geladenen Revolver in der Hand, setzte ich mich auf die Säcke und erwartete Iljitsch. Ganz feierlich übergab ich ihm das Geld. Lenin tat so, als wäre nichts Besonderes geschehen, als hätte es gar nicht anders sein können, aber in Wirklichkeit war er sehr zufrieden. In einem der Nebenzimmer wurde das erste Staatsgeld der Sowjetregierung in einem Kleiderschrank aufbewahrt, der im Halbkreis mit Stühlen umstellt wurde, vor denen ein Soldat postiert war. Durch ein besonderes Dekret des Rates der Volkskommissare wurde die Aufbewahrung und Verwendung dieses Geldes festgelegt. So entstand das erste Budget der Sowjetregierung."3 W. D. Bontsch-Brujewitsch beschreibt, wie die Nationalisierung der Banken vor sich gegangen ist. Diese Operation wurde von Genossen Stalin geleitet. Bontsch-Brujewitsch, dem die Vorbereitung dieser Aktion und die Abfassung der Verfügungen oblag, der den Transport, die 28 Schützenabteilungen und anderes organisierte, beriet sich in allem mit Genossen Stalin. Es galt, 28 Banken zu besetzen, 28 Bankdirektoren mussten verhaftet werden. „Den Kommandanten des Smolny, Genossen Malkow", schreibt W. D. Bontsch-Brujewitsch, „ersuchte ich, einen anständigen Raum, der weit vom Publikumsverkehr lag, vorzubereiten: hier sollten 28 Betten, Tische und Stühle untergebracht werden. Außerdem sollte Verpflegung für 28 Mann beschafft werden und vor allem für 8 Uhr morgens das Frühstück bereitstehen." Die Besetzung der Banken verlief reibungslos. Das war am 27. Dezember 1917. „Es dauerte nicht lange, und der Finanzkommissar konnte die Posten mit neuen Leuten besetzen. Viele von den verhafteten Direktoren äußerten den Wunsch, ihre Arbeit unter der Sowjetmacht fortzusetzen, sie wurden sofort auf freien Fuß gesetzt. In allen Banken wurden Kommissare eingesetzt, und gearbeitet wurde nur insofern, als es die Konzentrierung aller Mittel und Geldoperationen in der Staatsbank erforderlich machte." So eroberten wir die Macht.

Es herrschte eine furchtbare Nervosität. Die meisten verfügten nicht über die nötigen Sachkenntnisse, trauten sich nicht viel zu, und nicht selten konnte man von den Genossen hören: „So kann ich nicht weiterarbeiten" – aber sie arbeiteten weiter, und im Prozess der Arbeit lernten sie schnell.

Neue Gebiete, neue Formen der staatlichen Arbeit entstanden.

Am 12. November wurde das Dekret über den Achtstundentag veröffentlicht.

Im Aufruf des II. Sowjetkongresses war die Rede von der Arbeiterkontrolle, und die Arbeiter gingen sofort daran, diese Kontrolle auszuüben. Die Periode vor dem Oktober hatte sie schon im Wesentlichen für diese Funktion vorbereitet. Die Fabrikanten hatten sich schon daran gewöhnt, mit der Meinung der Arbeiter zu rechnen, und die Arbeiter hatten es gelernt, beharrlich auf ihren Forderungen zu bestehen. Doch verlief die ganze Sache ziemlich spontan. Im Smolny tagte unter dem Vorsitz von Lenin eine Kommission, der M. Tomski, A. Schljapnikow, W. Schmidt, Glebow-Awilow, Losowski, Zyperowitsch und andere angehörten. Ein Teil der Genossen plädierte für die Einführung einer staatlichen Kontrolle an Stelle der spontan verlaufenen Arbeiterkontrolle; es war Gang und Gäbe, dass Fabriken, Werke und Gruben in Besitz genommen wurden; andere wieder meinten, man dürfe die Arbeiterkontrolle nicht überall einführen, sie müsse sich nur auf die Großbetriebe der Metallindustrie, die Eisenbahnen usw. beschränken. Iljitsch aber wandte sich gegen jegliche Einschränkung, man dürfe die Initiative der Arbeiter auf diesem Gebiet nicht einengen. Wenn auch manches nicht so verlief, wie es sein sollte, aber die Arbeiter würden nur im Kampf lernen, eine wirkliche Kontrolle auszuüben. Dieser Standpunkt basierte auf der Grundauffassung Lenins vom Sozialismus. „Der Sozialismus wird nicht auf Befehl von oben geschaffen … Der lebendige, schöpferische Sozialismus ist das Werk der Volksmassen selbst."4 Die Kommission machte sich schließlich die Leninsche Auffassung zu eigen, ein entsprechender Entwurf wurde ausgearbeitet und dem Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitee vorgelegt. Am 29. November wurden die Bestimmungen über die Arbeiterkontrolle veröffentlicht. Die Arbeitermassen waren äußerst aktiv, sie entwickelten große Initiative. Bereits in den ersten Tagen nach der Machtergreifung hatte der Zentralrat der Fabrikkomitees auf die Notwendigkeit der Bildung des Obersten Volkswirtschaftsrates hingewiesen, eines Kampforgans der proletarischen Diktatur, dem die Leitung der gesamten Industrie übertragen werden sollte. Dem Obersten Volkswirtschaftsrat sollten Vertreter der Arbeiter und Bauern angehören. Es wurde ein Organ neuen Typus geschaffen. Das Dekret über die Bildung des Obersten Volkswirtschaftsrates wurde am 18. Dezember 1917 veröffentlicht.

Was den Grund und Boden anbelangt, so zog sich die Regelung dieser Angelegenheit etwas hinaus. Genosse Teodorowitsch, der erste Volkskommissar für Landwirtschaft, hatte in Verbindung mit der Angelegenheit des Gesamtrussischen Exekutivkomitees des Eisenbahnerverbandes sein Amt niedergelegt und war nach Sibirien abgereist. Für diesen Posten war Genosse Schlichter, der in Moskau lebte, in Aussicht genommen; man hatte es aber unterlassen, ihn sofort zu benachrichtigen, dass er sich nach Petrograd begeben sollte. Unterdessen wurde Lenin im Smolny von den Bauern belagert, die wissen wollten, wie sie mit dem Boden verfahren sollten. Am 18. November schrieb Wladimir Iljitsch die „Antwort auf Anfragen von Bauern" und den Aufruf „An die Bevölkerung". In der „Antwort" bestätigt er das Dekret über die Aufhebung des Eigentums der Gutsbesitzer an Grund und Boden und fordert die Amtsbezirks-Bodenkomitees auf, sofort die Verfügungsgewalt über alle Ländereien der Gutsbesitzer zu übernehmen. In dem Aufruf „An die Bevölkerung" wendet er sich an die Bevölkerung mit folgenden Worten: „Schützt und hütet wie euren Augapfel den Boden, das Getreide, die Fabriken, die Maschinen, die Produkte, das Verkehrswesen – das alles wird von nun an gänzlich euer Eigentum, wird Gemeingut des ganzen Volkes sein."5 Dieses Dokument diente dem gleichen Ziel wie das Dekret über die Arbeiterkontrolle: die Massen selbst sollten aktiv werden, ihr Bewusstsein sollte im Kampfe wachsen. Als Genosse Schlichter nach Petrograd kam, beauftragte ihn Iljitsch sofort, die Bauerndelegationen zu empfangen, ihnen konkrete Hinweise zu geben, die sich aus dem Gesetz über die Konfiskation des Bodens ergaben. Danach galt es den Apparat des Ministeriums in die Hand zu nehmen, die Sabotage zu brechen und auf schnellstem Wege „Bestimmungen" über den Grund und Boden auszuarbeiten.

Am 23. November wurde der Außerordentliche Kongress der Bauerndeputierten eröffnet. Wladimir Iljitsch, der diesem Kongress große Bedeutung beimaß, nahm zweimal das Wort. Von 330 Delegierten gehörten 195 den linken Sozialrevolutionären an, das war die ausschlaggebende Gruppe; auf dem Kongress wurde der Kampf gegen die rechten Sozialrevolutionäre (sie waren nur mit 65 Delegierten vertreten) geführt. Nach dem zweiten Referat von Lenin wurde eine Resolution angenommen, die sowohl die Arbeit des Rates der Volkskommissare als auch die Bedingungen eines Abkommens mit den linken Sozialrevolutionären billigte. Die linken Sozialrevolutionäre hatten sich bereit erklärt, in die Regierung einzutreten; sie schickten – wenn auch nicht sofort – ihre Vertreter in die Volkskommissariate; Kolegajew – ein linker Sozialrevolutionär – wurde Volkskommissar für Landwirtschaft, doch trat er nicht gleich sein Amt an.

Iljitsch sah ich während unseres Aufenthalts in Petrograd sehr wenig, er war sehr beschäftigt: Er empfing Delegationen von Soldaten, Arbeitern und Bauern, führte Beratungen durch und arbeitete angespannt an den Dekreten, die die Grundlage des neuen Sowjetstaates bilden sollten. Es kam vor, dass wir gegen Abend, wenn es schon dämmerte, oder spät nachts ein wenig im Bereich des Smolny auf und ab gingen; Iljitsch hatte jetzt mehr als je das Bedürfnis, sich über all das auszusprechen, was ihn besonders stark beschäftigte. Aber die Zeit war knapp. Über den Gang der Dinge wusste ich mehr von anderen als von ihm selbst. In den Gängen des Smolny konnte man stets viele Parteigenossen treffen. Es waren Genossen, die mich vom Ausland her kannten, vom Jahre 1905 oder aus der Zeit der Arbeit im Wiborger Bezirk, und sie sprachen mit mir aus alter Gewohnheit über all das, was sie bewegte, und so wusste ich gut Bescheid über alle Vorgänge. Auch der Sektor für Erwachsenenbildung beim Volkskommissariat für Bildungswesen wurde von vielen aufgesucht. Damals gab es weder die Zentralstelle für Aufklärungs- und Bildungsarbeit noch Kultursektionen bei den Gewerkschaften, und man wandte sich in allen Fragen an das Volkskommissariat für Bildungswesen. Hier konnte man so nebenbei sehr viel Interessantes über die Stimmung der Massen erfahren. Ich denke immer noch an die Ausführungen eines Genossen, der gekommen war, um sich Ratschläge für die Entfaltung der Kulturarbeit an der Front zu holen. Er erzählte von dem tiefen Hass, der in den Soldatenmassen gegenüber der bürgerlichen Schule und der alten Kultur überhaupt lebendig war. Soldaten hatten in einer Realschule Nachtquartier bezogen. Sie zerfetzten und zertraten alle Bücher, Karten und Hefte, die sie in den Tischen und Schränken vorfanden, und vernichteten alle Lehrmittel: „Die verfluchten Herren, hier haben sie ihre Kinder lernen lassen." Da erinnerte ich mich daran, wie mir in den neunziger Jahren einmal ein Arbeiter – ein Schüler der Sonntagsschule –, nachdem er recht ausführlich bewiesen hatte, dass die Erde die Form einer Kugel hat, höhnisch lächelnd sagte: „Aber glauben kann man es doch nicht, denn das haben die Herren ausgedacht." Oft sprach ich mit Iljitsch über das Misstrauen der Massen zu der überkommenen Wissenschaft und zur alten Schule. Später, auf dem III. Sowjetkongress, führte Lenin folgendes aus: „Früher war das gesamte menschliche Denken, das menschliche Genie nur darauf gerichtet, den einen alle Güter der Technik und Kultur zu geben und den anderen das Notwendigste vorzuenthalten – Bildung und Entwicklung. Jetzt dagegen werden alle Wunder der Technik, alle Errungenschaften der Kultur zum Gemeingut des Volkes, und von nun an wird das menschliche Denken, das menschliche Genie nie wieder ein Mittel der Gewalt, ein Mittel der Ausbeutung sein. Das wissen wir. Und lohnt es etwa nicht, für diese gewaltige geschichtliche Aufgabe zu arbeiten, lohnt es nicht, alle Kräfte dafür einzusetzen? Die Werktätigen werden dieses gewaltige geschichtliche Werk vollbringen, denn in ihnen schlummern die großen Kräfte der Revolution, der Wiedergeburt und Erneuerung."6 Mit diesen Worten wollte Iljitsch den rückständigen Massen klarmachen, dass die alte, ihnen so verhasste Wissenschaft der Vergangenheit angehöre, dass die Wissenschaft nunmehr den Interessen der Massen dienen werde und dass es notwendig sei, sich dieser Wissenschaft zu bemächtigen.

Der Sektor für Erwachsenenbildung (für politische Aufklärungsarbeit) stützte sich in seiner Arbeit auf die Verbindung mit den Arbeitern, vor allem auf die Arbeiter des Wiborger Bezirks. Ich erinnere mich, wie wir gemeinsam an einer sogenannten Bürgerfibel arbeiteten, deren origineller Lehrstoff jeden Arbeiter befähigen sollte, an der gesellschaftlichen Arbeit teilzunehmen, an der Arbeit der Sowjets und aller jener Organisationen, die sich im Laufe der Zeit in immer größerer Anzahl noch bilden würden. Die Arbeiter erzählten dabei aber auch über alles, was sich in ihren Bezirken abspielte. Die Produktion wurde eingeschränkt, Jugendliche aus den Betrieben entlassen, es gab Lebensmittelschwierigkeiten. Am 10. Dezember hatte der Rat der Volkskommissare, auf Lenins Vorschlag, eine besondere Kommission beauftragt, sich mit den Grundproblemen der ökonomischen Politik der Regierung zu befassen und eine Beratung der an der Ernährungsfront tätigen Genossen einzuberufen, die praktische Maßnahmen zum Kampf gegen die Spekulanten und für die Verbesserung der Lage der Werktätigen erörtern sollte. Zwei Tage später wurden auf der Sitzung des Rates der Volkskommissare die von Lenin ausgearbeiteten Bestimmungen angenommen, wonach allen Betrieben, die bisher Aufträge der Marineverwaltung ausführten, produktive, der Gesellschaft nützliche Arbeit zugewiesen werden sollte. Es ging nicht an, die Rüstungsbetriebe einfach zu schließen, man musste der Arbeitslosigkeit Einhalt gebieten.

Lenin drängte mit der Organisierung der Arbeit des Volkskommissariats für Ernährungswesen, das an die Stelle des früheren Ministeriums für Ernährungswesen treten sollte; hier war der Widerstand des alten Apparats besonders stark – das war die eine Seite, aber andererseits mussten auch neue Wege beschritten werden, man musste die Arbeiter zur Mitarbeit heranziehen, es mussten Formen gefunden werden, wie es sich am besten bewerkstelligen ließe.

So vollzog sich in den ersten Wochen nach dem Oktober der Aufbau des Sowjetapparats; die alten Ministerien und ihre Verwaltungsapparate wurden zerschlagen und ein neuer Sowjetapparat mit Kräften geschaffen, denen Erfahrungen und vielfach die notwendigen Sachkenntnisse fehlten. Vieles galt es noch zu verbessern; aber wenn man berücksichtigt, was alles bis Anfang 1918 in dieser Hinsicht geschaffen worden war, so kann man erst die ganze Größe der bewältigten Arbeit ermessen.

Der Wiborger Bezirk hatte eine Silvesterfeier organisiert. Man begrüßte das neue Jahr, gleichzeitig verabschiedete man Genossen – die Rotgardisten des Wiborger Bezirks –, die an die Front gingen. Viele von ihnen hatten an den Kämpfen mit den Kerenski-Truppen, die gegen Petrograd marschierten, teilgenommen. Diese Rotgardisten fuhren an die Front, um für die Sowjetmacht zu agitieren, die Aktivität der Soldaten zu wecken, ihren revolutionären Kampfgeist zu stärken. Die Silvesterfeier fand im größten Saal der Michailowschen Offiziersschule statt. Alle – die abreisenden sowie die zurückbleibenden Wiborger Genossen – hatten den Wunsch, mit Iljitsch zusammen zu sein. Ich überredete Iljitsch, und er war auch sofort dafür, die erste sowjetische Neujahrsfeier im Kreise von Arbeitern zu verleben. Wir machten uns auf den Weg. Mit Mühe und Not überquerten wir den Platz. Da es keine Hauswarte mehr gab, lagen überall Berge von Schnee, und der Chauffeur musste alle Kunst anwenden, um sie zu umfahren. So kamen wir erst um 11 Uhr 30 an. Der große „weiße" Saal der Offiziersschule erinnerte an eine Manege. Von den Anwesenden freudig begrüßt, bestieg Iljitsch die Rednertribüne. Das besondere Fluidum, das von der Versammlung ausging, feuerte ihn an: Er sprach sehr einfach, ohne besondere Rhetorik, aber er sprach über all das, woran er in der letzten Zeit ständig gedacht hatte. Er sprach davon, wie die Arbeiter durch die Sowjets ihr Leben auf neue Weise organisieren müssten. Auch gab er denjenigen, die an die Front gingen, mit auf den Weg, wie sie am besten die Arbeit unter den Soldaten führen könnten. Als Iljitsch seine Rede schloss, wurden ihm jubelnde Ovationen bereitet. Vier Arbeiter ergriffen den Stuhl, auf dem er saß, und warfen ihn hoch. Auch mir wurde das gleiche zuteil. Dann begann das Konzert. Iljitsch trank noch im Stab Tee, unterhielt sich mit den Genossen, und dann verschwanden wir unbemerkt. An diesen Abend erinnerte sich Iljitsch immer sehr gern. 1920 forderte er mich auf, zu den Arbeitern in die einzelnen Bezirke zu gehen – das war schon in Moskau –, um mit ihnen gemeinsam das neue Jahr zu feiern; wir nahmen an drei Neujahrsfeiern teil.

Weihnachten (24. bis 29. Dezember alten Stils, 6. bis 11. Januar neuen Stils) verbrachten wir mit Maria Iljinitschna irgendwo in Finnland. Genossin Kosjura, die damals im Smolny tätig war, hatte uns in einem finnischen Erholungsheim untergebracht, wo gerade auch Genosse Bersin zur Erholung weilte. Die spezifische finnische Sauberkeit, die weißen Vorhänge an den Fenstern – alles erinnerte Iljitsch an die Zeit seines illegalen Aufenthalts in Helsingfors 1907 und 1917, vor dem Oktober, als er an seinem Werk „Staat und Revolution" arbeitete. Aus der Erholung wurde nichts Rechtes, Iljitsch sprach zuweilen sogar nur halblaut, wie in der Zeit, als er sich verborgen halten musste; wir machten zwar täglich Spaziergänge, aber ohne richtigen Genuss. Iljitsch war zu stark mit seinen Gedanken beschäftigt und schrieb fast immer. Die von ihm in diesen vier Tagen verfassten Artikel veröffentlichte er nicht, da sie seiner Meinung nach einer Überarbeitung bedurften. Erst fünf Jahre nach seinem Tode wurden sie der Öffentlichkeit bekannt. Es handelt sich dabei um folgende Artikel: „Durch den Zusammenbruch des Alten Verängstigte und für das Neue Kämpfende", „Wie soll man den Wettbewerb organisieren?", „Entwurf des Dekrets über die Verbraucherkommunen". Diese Artikel geben am besten Aufschluss darüber, was Iljitsch damals besonders beschäftigte. Er dachte viel darüber nach, wie man am besten das Wirtschaftsleben organisieren könnte, um den Alltag der Arbeiter und ihre Lebensbedingungen zu verbessern, wie man Verbraucherkommunen organisieren, die Kinder mit Milch versorgen, die Arbeiter in besseren Wohnungen unterbringen könnte und wie die hierzu notwendige Rechnungsführung und ständige Kontrolle zu organisieren wäre, wie man die Massen zu dieser Arbeit heranziehen, ihre Initiative wecken und entwickeln könnte. Iljitsch machte sich auch Gedanken darüber, wie man die fähigsten Organisatoren aus der Arbeiterschaft zu dieser Arbeit heranziehen könnte, und er schrieb über den Wettbewerb und seine organisierende Rolle.

Sich eine längere „Erholung" zu gönnen war nicht möglich. Nach vier Tagen fuhren wir wieder nach Petrograd zurück. Ich erinnere mich heute noch an die Fahrt: Es war ein herrlicher Wintermorgen, der Weg führte durch finnische Fichtenwälder, Wladimir Iljitsch aber saß tief in Gedanken versunken. Er dachte wohl an die bevorstehenden Kämpfe. In den nächsten Tagen musste die Entscheidung über die Konstituierende Versammlung fallen. Sie sollte am 18. (5.) Januar zusammentreten. Zu Beginn des Jahres 1918 bestand über die Frage der Konstituierenden Versammlung bereits volle Klarheit. Als wir auf dem II. Parteitag im Jahre 1903 das Parteiprogramm annahmen, erschien die sozialistische Revolution noch als etwas, was noch in ferner Zukunft lag, das nächste Kampfziel der Arbeiterklasse war – der Sturz der Selbstherrschaft. Die Forderung nach einer Konstituierenden Versammlung galt damals als Kampflosung, für die die Bolschewiki nach dem Parteitag bedeutend entschiedener und kühner eintraten als die Menschewiki. Niemand konnte sich damals eine andere demokratische Staatsform als die bürgerlich-demokratische Republik konkret vorstellen. Im Verlauf der revolutionären Kämpfe des Jahres 1905 entstanden spontan die Sowjets der Arbeiterdeputierten, als Keimzellen einer neuen, den Massen nahen Staatsform. In den Jahren der Reaktion hatte sich Lenin gründlich mit dieser neuen Form der Organisation beschäftigt und sie mit den Formen der staatlichen Organisation verglichen, wie sie sich während der Pariser Kommune entwickelt hatten. Die Februarrevolution 1917 hat neben der Provisorischen Regierung auch die gesamte russische Organisation der Arbeiter- und Soldatendeputierten ins Leben gerufen. Anfangs befanden sich die Sowjets im Schlepptau der Bourgeoisie, die durch ihre Handlanger – die Menschewiki und rechten Sozialrevolutionäre – bemüht waren, mit Hilfe der Sowjets die Massen irrezuführen und ihr Klassenbewusstsein zu trüben. Seit der Rückkehr Lenins nach Russland, im April, setzte eine breite Propagandaarbeit der Bolschewiki unter den Massen mit dem Ziel ein, das Klassenbewusstsein der Arbeiter und der armen Bauern zu heben und den Klassenkampf mit allen Mitteln zu entfachen.

Die Losung „Alle Macht den Sowjets", die die Arbeiter und Bauern auf ihr Banner geschrieben hatten, bestimmte schon im Wesentlichen die Richtung, in der sich der Kampf in der Konstituierenden Versammlung abspielen würde: Die eine Seite würde für die Macht der Sowjets eintreten, die andere für die Macht der Bourgeoisie, die die eine oder andere Form der bürgerlichen Republik annehmen würde. Der II. Sowjetkongress hatte den künftigen Staatstypus bereits vorausbestimmt. Der Konstituierenden Versammlung blieb nur übrig, diesen Typus zu bestätigen und einige Details auszuarbeiten – so dachten die Bolschewiki. Die Bourgeoisie dagegen meinte, dass die Konstituierende Versammlung das Rad der Geschichte zurückdrehen und durch die Errichtung einer bürgerlichen Republik die Macht der Sowjets liquidieren oder zumindest deren Rolle unbedeutend machen könnte. Die vor dem Oktober vorgenommenen Neuwahlen brachten den Bolschewiki, die die Beschlüsse der Partei durchsetzten, die Mehrheit in den Sowjets.

Schon lange vor dem Oktober war sich die Partei darüber im Klaren, dass die Konstituierende Versammlung nicht in irgendeiner klassenlosen Gesellschaft abgehalten würde. Lenin schrieb bereits 1905 in seiner Broschüre „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution", wobei er auf die von den Menschewiki auf ihrer „Konferenz" im Sommer desselben Jahres – sie tagte zugleich mit dem III. Parteitag im Sommer 1905 – angenommene Resolution einging, dass die Menschewiki die Losung einer „Konstituierenden Versammlung" als einen „entscheidenden Sieg" bezeichnen, während diese „Losung einer vom ganzen Volk gewählten konstituierenden Versammlung von der monarchistischen Bourgeoisie übernommen worden ist (siehe das Programm des ,Bundes der Befreiung'), und sie ist übernommen worden eben im Interesse der Eskamotierung der Revolution, im Interesse der Verhinderung ihres vollen Sieges und im Interesse des Kuhhandels der Großbourgeoisie mit dem Zarismus"7

Und zwölf Jahre später – im Jahre 1917 – haben die Bolschewiki im Oktober die Macht ergriffen, ohne die Konstituierende Versammlung abzuwarten.

Die Provisorische Regierung hatte aber in Verbindung mit der Konstituierenden Versammlung eine Reihe von Illusionen entstehen lassen. Um diese Illusionen zu zerschlagen, musste die Konstituierende Versammlung einberufen und der Versuch gemacht werden, sie in den Dienst der Revolution zu stellen, sollte sich das aber als unmöglich erweisen, dann galt es, die Massen von der Schädlichkeit der Konstituierenden Versammlung zu überzeugen, alle vorhandenen Illusionen zu zerstreuen und dem Gegner dieses Agitationsmittel gegen die neue Macht zu entreißen. Die Einberufung der Konstituierenden Versammlung zu verschieben war sinnlos, und bereits am 10. November wurde der Beschluss des Rates der Volkskommissare über die Einberufung der Konstituierenden Versammlung zur festgesetzten Frist veröffentlicht.

Am 21. November hatte das Zentralexekutivkomitee einen entsprechenden Beschluss gefasst. Hatten die Bolschewiki die Mehrheit in der Konstituierenden Versammlung? Hinter ihnen stand das Proletariat in seiner übergroßen Mehrheit. Die Menschewiki hatten inzwischen fast ihren ganzen Einfluss auf das Proletariat eingebüßt. In den entscheidenden Zentren, in Petrograd und Moskau, war das Proletariat nicht nur bolschewistisch gestimmt, es war durch den fünfzehnjährigen Kampf gestählt, klassenbewusst und revolutionär. Es erwies sich als fähig, die Bauernschaft in den Kampf zu führen. Die vom II. Sowjetkongress verkündeten Losungen „Für Frieden" und „Für Grund und Boden" bewirkten, dass die Bolschewiki die Hälfte der von den Angehörigen der Armee und Flotte abgegebenen Stimmen erhielten. Die Bauern gaben in ihrer Mehrheit ihre Stimmen den Sozialrevolutionären. Die Sozialrevolutionäre spalteten sich in linke und rechte. Die Mehrheit war für die linken Sozialrevolutionäre, ihnen folgten vor allem die armen und ein Großteil der Mittelbauern. Nach dem II. Sowjetkongress hat das ZK der Sozialrevolutionäre bekanntlich alle linken Sozialrevolutionäre – Teilnehmer dieses Kongresses – aus der Partei ausgeschlossen. Der Außerordentliche Kongress der Sowjets der Bauerndeputierten, der am 8. Dezember (23. November) eröffnet wurde, erkannte die Sowjetmacht an. Auf diesem Kongress sprach dann Lenin. Am Tage darauf begaben sich alle Teilnehmer des Kongresses vollzählig nach dem Smolny, wo das Gesamtrussische Zentralexekutivkomitee der Arbeiter- und Soldatendeputierten tagte; beide setzten ihre Beratungen gemeinsam fort. Der Außerordentliche Kongress der Sowjets der Bauerndeputierten beschloss den Eintritt der Vertreter der linken Sozialrevolutionäre in die Regierung. Am gleichen Tage veröffentlichte Lenin in der „Prawda" den Artikel „Das Bündnis der Arbeiter mit den werktätigen und ausgebeuteten Bauern"8. Der Außerordentliche Kongress der Bauerndeputierten zeigte, dass das Dorf, insbesondere die Schichten der armen und Mittelbauern, unter dem Einfluss des Oktoberumsturzes und der Soldatenbriefe von der Front, in denen sich die Schreiber immer mehr auf die Seite der Bolschewiki stellten, auch für die Sowjetmacht war. Die Bauernschaft unterschied noch nicht so recht zwischen den linken und rechten Sozialrevolutionären. Sie stimmte für die Sozialrevolutionäre insgesamt, in Wirklichkeit war die Mehrheit offenkundig für die linken Sozialrevolutionäre. Im Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitee trat Lenin für das Abberufungsrecht der früher gewählten Deputierten ein. Das Abberufungsrecht, sagte er, bedeute nichts anderes als die Kontrolle über die Worte und Taten der Deputierten. Ein solches Recht bestehe heute noch dort, wo die alten revolutionären Traditionen sich erhalten haben, in einzelnen Staaten der USA und in einigen Kantonen der Schweiz. Das Abberufungsrecht wurde vom Gesamtrussischen Exekutivkomitee gebilligt und ein entsprechendes Dekret am 6. Dezember 1917 veröffentlicht. Die Provisorische Regierung hatte bereits im August eine Wahlkommission für die Konstituierende Versammlung eingesetzt, die sich aus Kadetten und rechten Sozialrevolutionären zusammensetzte. Die Kommission hemmte auf jede Weise die Vorbereitungsarbeiten für die Wahlen und verweigerte dem Rat der Volkskommissare die Berichte über den Verlauf der Wahlen. Am Tage der Veröffentlichung des Dekrets über das Abberufungsrecht, am 6. Dezember, wurde Kommissar Uritzki zum Leiter dieser Kommission ernannt. Die Kommission lehnte es ab, unter seiner Leitung zu arbeiten, und wurde verhaftet; am 10. Dezember wurden die Mitglieder der Kommission auf Anordnung Lenins wieder auf freien Fuß gesetzt. Am 6. Dezember beschloss das Gesamtrussische Zentralexekutivkomitee, die Konstituierende Versammlung nach Eintreffen von 400 Delegierten in Petrograd zu eröffnen. Am 11. Dezember versuchten die rechten Sozialrevolutionäre und Kadetten, eine Demonstration zu organisieren, an der außer einer verhältnismäßig geringen Anzahl von Intellektuellen weder Arbeiter noch Soldaten teilnahmen.

Am 13. Dezember wurde die Wahlkommission aufgelöst. Die Bolschewiki entfalteten eine breite Agitation und klärten die Massen über alle mit der Konstituierenden Versammlung zusammenhängenden Fragen auf. Am 14. Dezember sprach Lenin in der Sitzung des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees über die Konstituierende Versammlung. Er führte folgendes aus:

Man schlägt uns vor, die Konstituierende Versammlung so einzuberufen, wie es ursprünglich gedacht war. Nein, darauf lassen wir uns nicht ein! Sie war gegen das Volk gedacht. Wir haben den Umsturz durchgeführt, damit wir die Garantie haben, dass die Konstituierende Versammlung nicht gegen das Volk ausgenutzt werden wird … Das Volk soll wissen, dass die Konstituierende Versammlung nicht so zusammentreten wird, wie Kerenski es wollte. Wir haben das Abberufungsrecht eingeführt, und die Konstituierende Versammlung wird nicht so aussehen, wie die Bourgeoisie sich das gedacht hat. Jetzt, einige Tage vor der Einberufung der Konstituierenden Versammlung, organisiert die Bourgeoisie den Bürgerkrieg, sie verstärkt die Sabotage, um den Waffenstillstand zu torpedieren. Wir werden uns nicht durch formale Losungen betrügen lassen. Sie wollen in der Konstituierenden Versammlung sitzen und zugleich den Bürgerkrieg organisieren (es fanden gerade blutige Kämpfe im Süden, bei Rostow am Don, statt, die von General Kaledin organisiert waren. N. K.) … Wir werden dem Volk die Wahrheit sagen. Wir werden dem Volk sagen, dass seine Interessen über den Interessen einer demokratischen Einrichtung stehen. Wir dürfen nicht zu den alten Vorurteilen zurückkehren, die die Interessen des Volkes der formalen Demokratie unterordnen. Die Kadetten schreien: ,Alle Macht der Konstituierenden Versammlung!', in Wirklichkeit aber bedeutet das bei ihnen: ,Alle Macht Kaledin!' Das muss man dem Volke sagen, und das Volk wird uns zustimmen."9

Am nächsten Tag, am 15. Dezember, sprach Lenin auf dem II. Gesamtrussischen Kongress der Bauerndeputierten, der unter dem Vorsitz Spiridonowas tagte. Hier ging es recht heiß her, die rechten Sozialrevolutionäre verließen den Kongress.

Es wurde immer deutlicher, dass um die Frage der Konstituierenden Versammlung ein ernster Kampf entbrennen würde; in der bolschewistischen Fraktion der Konstituierenden Versammlung traten Schwankungen auf, es machten sich rechte Tendenzen bemerkbar. Am 24. Dezember beschäftigte sich das ZK mit dieser Frage. Lenin wurde beauftragt, in einer Fraktionssitzung der Bolschewiki den Standpunkt des ZK darzulegen und Thesen über die Konstituierende Versammlung auszuarbeiten. Am Tage darauf referierte Lenin bei den Mitgliedern der bolschewistischen Fraktion im Smolny und verlas die von ihm ausgearbeiteten Thesen, die einstimmig angenommen wurden. Am nächsten Tag wurden diese Thesen in der „Prawda" veröffentlicht. Hier waren die Forderungen an die Konstituierende Versammlung ganz klar formuliert: Anerkennung der Sowjetmacht und der von ihr bezogenen revolutionären Linie in der Frage des Friedens, des Grund und Bodens, der Arbeiterkontrolle sowie des Kampfes gegen die Konterrevolution.

Am 18. (5.) Januar 1918 sollte die Konstituierende Versammlung eröffnet werden.

Die Vorbereitungen zur Konstituierenden Versammlung, die von der Partei unter der Leitung und unmittelbaren Mitwirkung Lenins mit viel Überlegung und Sorgfalt durchgeführt worden waren, bildeten eine wichtige Etappe in der Festigung der Sowjetmacht; das war ein Kampf gegen den formalen bürgerlichen Demokratismus, ein Kampf für den wahren Demokratismus, der den werktätigen Massen die Möglichkeit bot, eine große revolutionäre Arbeit auf allen Gebieten des Aufbaus der sozialistischen Ordnung zu entfalten.

Die der Einberufung der Konstituierenden Versammlung vorangegangene Arbeit zeigt, wie diese Arbeit sich von Tag zu Tag vertiefte, wie sich ihre Massenbasis erweiterte, wie sie die Massen zum Kampf organisierte und wie im Verlauf dieser Arbeit die Partei- und Sowjetkader mit den Massen zu einer Einheit verschmolzen.

Es stand aber noch eine große Arbeit bevor, und zwar die organisatorische Vorbereitung und eigentliche Durchführung der Konstituierenden Versammlung.

Die rechten Sozialrevolutionäre sprachen nur vom Kampf gegen die Bolschewiki. Die äußersten Rechten der Sozialrevolutionäre hatten eine militärische Organisation geschaffen, die am 1. Januar ein Attentat auf Lenin verübt hatte, das missglückt war. Diese Organisation bereitete für den Tag der Eröffnung der Konstituierenden Versammlung – am 18. (5.) Januar – einen bewaffneten Aufstand vor. Das ZK der Sozialrevolutionäre unterstützte zwar nicht offiziell diese militärische Organisation, aber sie war sehr wohl über ihre Tätigkeit informiert und ließ sie gewähren. Diese militärische Organisation stand in Verbindung mit der „Vereinigung zum Schutz der Konstituierenden Versammlung", deren Aufgabe darin bestand, die Tätigkeit aller antibolschewistischen Organisationen zu koordinieren. Der „Vereinigung zum Schutze der Konstituierenden Versammlung" hatten sich die am weitesten rechts stehenden Sozialrevolutionäre, die menschewistischen „Vaterlandsverteidiger", die Volkssozialisten und einzelne Kadetten angeschlossen. Trotz ihrer großen Aktivität gelang es dieser Vereinigung nicht, Arbeiter oder Mitglieder der Petrograder Garnison zu gewinnen; einzig und allein unter den Kleinbürgern hatten sie Erfolg.

Die Demonstration am 18. (5.) Januar trug einen spezifisch kleinbürgerlichen Charakter, doch durch die Stadt schwirrten Gerüchte über einen bevorstehenden bewaffneten Aufstand. Die Bolschewiki bereiteten sich zum Gegenschlag vor. Die Konstituierende Versammlung sollte im Taurischen Palast tagen. Es wurde ein Militärstab organisiert, dem Swerdlow, Podwoiski, Proschian, Uritzki, Bontsch-Brujewitsch u. a. angehörten. Die ganze Stadt, besonders der Stadtteil um den Smolny, wurde in einzelne Reviere aufgeteilt, deren Schutz die Arbeiter übernommen hatten. Zur Aufrechterhaltung der Ordnung im Taurischen Palast selbst wurde die Mannschaft des Kreuzers „Aurora" und zwei Kompanien des Panzerkreuzers „Respublika" herangezogen, die vor dem Palast und in den anliegenden Straßen Posten bezogen. Aus dem bewaffneten Aufstand, den die „Vereinigung zum Schutz der Konstituierenden Versammlung" vorbereitet hatte, wurde nichts; sie brachte nur eine kleinbürgerliche Demonstration unter der Losung „Alle Macht der Konstituierenden Versammlung" zustande. Ecke Newski und Litejny kam es zu einem bewaffneten Zusammenstoß mit unserer Arbeiterdemonstration, die unter der Losung „Es lebe die Sowjetmacht" durchgeführt wurde. Dieser Zusammenstoß wurde schnell liquidiert. Bontsch-Brujewitsch hatte alle erdenklichen Vorbereitungen getroffen, um die Fahrt Lenins aus dem Smolny nach dem Taurischen Palast so konspirativ wie möglich zu organisieren. Er selbst begleitete Wladimir Iljitsch. In das gleiche Auto wurden noch Maria Iljinitschna, Wera Michailowna Bontsch-Brujewitsch und ich verfrachtet. Zum Taurischen Palast gelangten wir durch irgendeine Querstraße. Das Tor war geschlossen und wurde auf ein verabredetes Hupen hin geöffnet, um dann wieder, nachdem wir das Tor passiert hatten, geschlossen zu werden. Die Wache geleitete uns zu den Räumen, die für Iljitsch vorgesehen waren. Sie lagen rechts vom Haupteingang; von hier führte ein verglaster Gang zum Sitzungssaal. Vor dem Haupteingang drängten sich die Delegierten, umgeben von einer großen Menge von Zuschauern. Iljitsch war natürlich auf bequemere Weise ins Gebäude gelangt, aber ihm behagte nicht das ganze geheimnisvolle Getue, das er für überflüssig hielt. Wir saßen und tranken Tee. Genossen kamen und gingen, besonders erinnere ich mich noch an Kollontai und Dybenko. Ziemlich lange saßen wir hier, es fand gerade die Fraktionssitzung der Bolschewiki statt, die recht stürmisch verlief. Den Vorsitz hatte Warwara Nikolajewna Jakowlewa – eine Moskauerin. Die Moskauer waren in der Frage der Konstituierenden Versammlung besonders konsequent, es gab welche, die zu weit gingen und die sofortige Auflösung der Konstituierenden Versammlung verlangten; sie ließen außer acht, dass man so etwas vorbereiten musste, damit die Massen die Notwendigkeit einer solchen Aktion auch begreifen.

Die Konstituierende Versammlung sollte von Jakow Michailowitsch Swerdlow eröffnet werden.

Die Sitzung war für vier Uhr nachmittags anberaumt. Als Iljitsch schon auf dem Wege zum Sitzungssaal war, erinnerte er sich, dass er seinen Revolver in der Manteltasche gelassen hatte. Er ging zurück, um ihn zu holen; der Revolver aber war weg, obwohl kein Unbefugter den Raum betreten hatte. Demnach konnte ihn nur jemand von der Wache genommen haben. Iljitsch rügte Dybenko wegen der schlechten Disziplin, die unter den Wachhabenden herrschte. Dybenko war ganz außer sich. Als Iljitsch von der Sitzung zurückkehrte, übergab ihm Dybenko den Revolver, den die Wache inzwischen abgeliefert hatte.

Swerdlow verspätete sich ein wenig, und die Konstituierende Versammlung beschloss, dass die Sitzung vom ältesten Mitglied, dem Deputierten Schwezow (Sozialrevolutionär), eröffnet werden sollte. Der hatte sich bereits zur Tribüne begeben und machte umständlich Anstalten zu sprechen, da erschien Swerdlow, nahm Schwezow die Klingel aus der Hand und verkündete mit lauter tiefer Stimme, dass er im Auftrage des Zentralexekutivkomitees der Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten die Tagung der Konstituierenden Versammlung eröffne, und brachte im Namen des Zentralexekutivkomitees die am Vortage in der „Prawda" veröffentlichte „Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes"10, die von Lenin verfasst und gemeinsam mit Stalin und Bucharin redigiert worden war, zur Verlesung. Diese Deklaration war vom Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitee angenommen worden, ebenso der Beschluss, dass „jeder Versuch, sich diese oder jene Funktionen der Staatsmacht anzueignen, von wem immer, von welcher Institution immer er ausgehen mag, als konterrevolutionäre Handlung betrachtet werden wird. Jeder derartige Versuch wird mit allen der Sowjetmacht zu Gebote stehenden Mitteln, die Anwendung von Waffengewalt mit einbegriffen, unterdrückt werden"11.

In der „Deklaration" heißt es: „Russland wird zu einer Republik der Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten erklärt. Die gesamte zentrale und lokale Staatsmacht gehört diesen Sowjets … Die Sowjetrepublik Russland wird auf Grund eines freien Bundes freier Nationen als Föderation nationaler Sowjetrepubliken errichtet"12 und anerkennt die Beschlüsse des II. Sowjetkongresses. Die Beschlüsse des Rates der Volkskommissare sollten von der Konstituierenden Versammlung bestätigt werden. „Die Konstituierende Versammlung, die die Sowjetmacht und die Dekrete des Rates der Volkskommissare unterstützt, erachtet, dass ihre Aufgaben mit der Festlegung der grundlegenden Richtlinien für die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft erschöpft sind."13 Die Rechte des Hauses hatte sich die Tätigkeit der Konstituierenden Versammlung ganz anders vorgestellt, sie rechnete fest damit, dass die ganze Macht in ihre Hände übergehen würde. Die Mehrheit in der Konstituierenden Versammlung hatten die rechten Sozialrevolutionäre. Sie schlugen als Vorsitzenden Tschernow vor, die Bolschewiki und linken Sozialrevolutionäre – Spiridonowa. Tschernow erhielt 244, Spiridonowa – 151 Stimmen.

Die Bolschewiki stimmten für Spiridonowa, kam es doch jetzt in der Hauptsache darauf an, festzustellen, ob die Konstituierende Versammlung sich für oder gegen die Sowjetmacht entscheiden würde. Die linken Sozialrevolutionäre gingen zu jener Zeit mit den Bolschewiki. Die Unterstützung der Kandidatur Spiridonowas sollte auch den Bauernmassen zeigen, dass die Arbeiterklasse ein enges Bündnis mit der Bauernschaft anstrebt, dass die Bolschewiki für ein solches Bündnis eintreten. Die Kandidatur Spiridonowas war dabei von großer agitatorischer Bedeutung.

Nach der Wahl Tschernows zum Vorsitzenden begann die Debatte. Tschernow sprach für die rechten Sozialrevolutionäre über die Bodenfrage; aus den Reihen der Linken kamen die Rufe: „Hoch die Sowjets, die den Bauern das Land gegeben haben!" Nach Tschernow nahm Bucharin das Wort; er beantragte, dass vor allem über die Deklaration des Zentralexekutivkomitees beraten werde, damit Klarheit bestehe, für wen sich die Konstituierende Versammlung entscheide, ob sie „mit Kaledin, den Junkern, Fabrikanten, Kaufleuten und Bankdirektoren oder aber mit denen im grauen Rock, den Arbeitern, Soldaten und Matrosen", gehen wolle. Zeretelli, der für die Menschewiki sprach, wandte sich scharf gegen die Bolschewiki, schreckte mit dem Bürgerkrieg und forderte, die ganze Macht der Konstituierenden Versammlung zu übergeben.

Inzwischen sind viele Jahre vergangen. Wir haben es erlebt, wie die Sozialdemokraten in Deutschland und anderen kapitalistischen Ländern mit der gleichen Taktik – mit salbungsvollen Reden, Schrecken mit dem Bürgerkrieg und allerlei Versprechungen – die Sache der Arbeiterklasse verraten und so den Faschisten die Macht in die Hände gespielt haben. So gelangten diese Pogromhelden, diese entmenschten Anhänger der untergehenden Gutsbesitzer und Kapitalisten an die Macht, die vor den Kommunisten zitterten, die in Worten den Burgfrieden predigten, in Wirklichkeit aber den Gutsbesitzern und Kapitalisten halfen, die Werktätigen auszubeuten und sie in den Abgrund eines neuen Krieges zu stürzen, der an Grausamkeit den letzten Krieg bei weitem übertreffen wird.

Die Bolschewiki aber sahen von vornherein sehr deutlich, wohin eine versöhnlerische Haltung gegenüber den rechten Sozialrevolutionären und den Menschewiki führen würde. Genosse Skworzow wandte sich mit folgenden Worten an die rechten Sozialrevolutionäre und Menschewiki: „Zwischen uns ist alles aus. Wir führen die Oktoberrevolution gegen die Bourgeoisie bis zu Ende durch. Wir stehen auf verschiedenen Seiten der Barrikade."

Wladimir Iljitsch nahm nicht das Wort. Er saß auf den Stufen der Tribüne, lächelte spöttisch, scherzte, machte sich Notizen, fühlte sich in dieser Versammlung irgendwie überflüssig. In einem unvollendeten Artikel schildert er folgendermaßen seine Eindrücke von dieser Sitzung der Konstituierenden Versammlung:

Ein schwerer, langweiliger, verdrießlicher Tag in den eleganten Räumen des Taurischen Palastes, der sich auch äußerlich von dem Smolny etwa so unterscheidet wie der elegante, aber tote bürgerliche Parlamentarismus von dem proletarischen, einfachen, in vieler Hinsicht noch ungeordneten und unfertigen, aber lebendigen und lebensfähigen Sowjetapparat… Nach der lebendigen, ernsthaften Arbeit in den Sowjets unter den Arbeitern und Bauern, die handeln, die die gutsherrliche und kapitalistische Ausbeutung mit Stumpf und Stiel ausrotten, musste man sich plötzlich in eine ,fremde Welt' versetzen, zu den Gespenstern aus dem Jenseits, aus dem Lager der Bourgeoisie und ihrer freiwilligen und unfreiwilligen, bewussten und unbewussten Verteidiger, Kostgänger, Lakaien und Beschützer. Aus der Welt der gegen die Ausbeuter kämpfenden werktätigen Massen und ihrer Sowjetorganisation in eine Welt rührseliger Phrasen, gedrechselter, hohler Deklamationen, endloser Versprechungen, denen nach wie vor das Paktieren mit den Kapitalisten zugrunde liegt."14 Für die Beratung der Deklaration des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees stimmten 146 Deputierte, dagegen 247. Die Bolschewiki und die linken Sozialrevolutionäre beantragten eine Unterbrechung der Sitzung. Die bolschewistische Fraktion beriet über die entstandene Situation. Es wurde beschlossen, nicht mehr in den Sitzungssaal zurückzukehren. Die Genossen Raskolnikow und Lobow sollten die Erklärung verlesen, in der die Gründe für das Verlassen der Konstituierenden Versammlung dargelegt waren. Die Fraktion war der Meinung, dass man die Versammlung nicht auflösen, sondern ihr die Möglichkeit geben sollte, bis zu Ende zu tagen. Erst in den frühen Morgenstunden des 6. Januar - um 4 Uhr 40 – wurde die Sitzung geschlossen, und die Deputierten verließen das Haus. Am nächsten Tag beschloss das Zentralexekutivkomitee: „Die Konstituierende Versammlung wird aufgelöst." Weitere Sitzungen fanden dann auch nicht mehr statt.

Die Auflösung wurde von den Massen ganz gelassen aufgenommen, niemand regte sich besonders darüber auf, denn die Konstituierende Versammlung besaß keinerlei Autorität bei den Massen. Ein Hindernis war aus dem Wege geräumt, das die weitere Arbeit nur störte. Allen versöhnlerischen Stimmungen war nun Einhalt geboten.

Ein Hindernis, das die Vorwärtsentwicklung hemmte, war beseitigt, die Konstituierende Versammlung existierte nicht mehr, aber daneben war eine noch bedeutend schwierigere Aufgabe zu lösen – es galt aus dem Krieg herauszukommen, aus dem Abgrund des imperialistischen Krieges herauszufinden, der das Land zugrunde richtete.

Am 8. November wurde vom II. Sowjetkongress das „Dekret über den Frieden" angenommen. Die ersten Tage der Sowjetmacht waren ausgefüllt von militärischen Aktionen gegen die angreifenden Kerenski-Truppen und die aufständischen Offiziersschüler, aber auch mit dem Kampf gegen die versöhnlerischen Schwankungen innerhalb des Zentralkomitees. Am 20. November erteilte der Rat der Volkskommissare dem Oberbefehlshaber, General Duchonin, den Befehl, die Kriegshandlungen einzustellen und in Waffenstillstandsverhandlungen mit den zum Vierbund gehörenden Ländern (Deutschland, Österreich, Türkei, Bulgarien) einzutreten. Als es sich am 22. November während einer telefonischen Unterredung herausstellte, dass General Duchonin den Befehl des Rates der Volkskommissare sabotierte, wurde er seines Postens enthoben und Genosse Krylenko zum Oberbefehlshaber ernannt. Am gleichen Tage richtete Lenin einen Funkspruch an alle Regiments-, Divisions-, Armeekorps-, Armee- und sonstigen Komitees, an alle Soldaten der revolutionären Armee und Matrosen der revolutionären Flotte, in dem er die Soldaten und die Matrosen dazu aufrief, sich aktiv in den Kampf einzuschalten. Seine Hoffnungen setzte Iljitsch nicht auf die Generale, sondern in der Hauptsache auf die Soldatenmassen.

Soldaten!" hieß es im Funkspruch. „Die Sache des Friedens liegt in euren Händen. Duldet es nicht, dass die konterrevolutionären Generale die große Sache des Friedens vereiteln, stellt sie unter Bewachung, um Lynchgerichten, die einer revolutionären Armee unwürdig sind, vorzubeugen, und um diese Generale daran zu hindern, dem Gericht zu entgehen, das ihrer wartet. Wahrt strengste revolutionäre und militärische Ordnung.

Mögen die Regimenter, die in den Stellungen liegen, sofort Bevollmächtigte zur offiziellen Aufnahme von Waffenstillstandsverhandlungen mit dem Gegner wählen.

Der Rat der Volkskommissare erteilt euch das Recht dazu.

Informiert uns auf jede Weise über jeden Schritt eurer Verhandlungen. Zur Unterzeichnung des endgültigen Waffenstillstandsvertrags ist nur der Rat der Volkskommissare berechtigt.

Soldaten! Die Sache des Friedens liegt in euren Händen! Wachsamkeit, Ausdauer, Energie, und die Sache des Friedens wird siegen!

Im Namen der Regierung der Republik Russland

Vorsitzender des Rates der Volkskommissare

W. Uljanow (Lenin)

Volkskommissar für Kriegswesen und Oberbefehlshaber

N. Krylenko"15

Am 21. November hatte sich die Sowjetregierung an die Botschafter der Ententestaaten mit dem Ersuchen gewandt, zum Dekret über den Frieden Stellung zu nehmen.

Am 23. November nahm Lenin in einer Sitzung des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees das Wort. Er sprach davon, dass unsere Chancen sehr günstig seien, und von der revolutionären Verbrüderung an der Front: „Wir haben die Möglichkeit, über den Funk mit Paris in Verbindung zu treten, und wenn der Friedensvertrag abgefasst sein wird, werden wir dem französischen Volk mitteilen können, dass er unterzeichnet werden könne und dass es vom französischen Volk abhänge, innerhalb von zwei Stunden einen Waffenstillstand abzuschließen. Wir werden ja sehen, was Clemenceau dann sagen wird."16 Am 23. November begannen wir mit der Veröffentlichung der Geheimverträge mit anderen Ländern. Sie zeigten mit aller Deutlichkeit, wie die Massen von ihren Regierungen belogen und irregeführt wurden.

Am 23. November wandte sich die Sowjetregierung auch an die neutralen Staaten, die am Krieg nicht interessiert waren, mit dem Ersuchen, den feindlichen Regierungen von der Bereitschaft der Sowjetregierung, in Friedensverhandlungen einzutreten, offiziell Mitteilung zu machen.

Am 27. November traf die Antwort des deutschen Oberbefehlshabers ein. Er erklärte seine Bereitschaft, Friedensverhandlungen aufzunehmen.

In seiner Rede in der Sitzung des Zentralexekutivkomitees am 23. November führte Lenin folgendes aus:

Der Friede kann nicht allein von oben geschlossen werden. Der Friede muss von unten erkämpft werden. Wir glauben der deutschen Generalität nicht das Geringste, aber wir glauben dem deutschen Volk. Ohne aktive Mitwirkung der Soldaten ist ein von den Oberkommandierenden geschlossener Friede nicht von Dauer."17

Die Lage in Deutschland war durchaus nicht einfach. Es gab Lebensmittelschwierigkeiten, zudem war das Volk kriegsmüde. Deutschland glaubte, durch einen Friedensschluss mit Russland freie Hand gegen Frankreich zu erhalten und nach einem Sieg über Paris leichter mit Russland fertig zu werden.

Als die deutsche Antwort eintraf, fragte der Rat der Volkskommissare bei den Alliierten (Frankreich, England, Italien, USA) an, ob sie bereit seien, am 1. Dezember Friedensverhandlungen mit den Mächten des Vierbundes aufzunehmen.

Von den Alliierten kam keine Antwort, sie wandten sich aber über den Kopf der Sowjetregierung an den abgesetzten General Duchonin mit einem Protest gegen einen Separatfrieden.

Am 1. Dezember begab sich unsere Delegation, geführt von Genossen Joffe, an die Front. Dieser Delegation gehörten außer den Genossen Karachan, Kamenew, Sokolnikow, Bizenko, Mstislawski je ein Vertreter der Arbeiter, Bauern, Matrosen und Soldaten an.

Am nächsten Tag erließ der Rat der Volkskommissare einen Aufruf an die deutschen Arbeiter.

Am 3. Dezember begannen die Waffenstillstandsverhandlungen. Die Sowjetdelegation gab die Deklaration bekannt, in der das Ziel der Verhandlungen folgendermaßen formuliert war: „Allgemeiner Frieden ohne Annexionen und Kontributionen, Gewährung des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen", außerdem enthielt es die Aufforderung an alle kriegführenden Staaten, „an den Verhandlungen teilzunehmen". Am 5. Dezember wurde ein Waffenstillstandsabkommen für eine Woche abgeschlossen. Am 7. Dezember ersuchte das Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten erneut die Botschafter der Alliierten um ihre „Stellungnahme zu den Friedensverhandlungen". Aber auch dieses Mal blieb eine Antwort aus.

Am 11. Dezember begab sich unsere Delegation, die durch die Genossen Pokrowski und Weltman (Pawlowitsch) verstärkt worden war, wieder nach Brest.

Am 13. Dezember wurden die Friedensverhandlungen wieder aufgenommen .und ein Waffenstillstandsabkommen bis zum 14. Januar geschlossen. Die Friedensverhandlungen verliefen ergebnislos.

Am 25. Dezember erklärten die Deutschen im Namen des Vierbundes ihre Bereitschaft zu einem Frieden ohne Annexionen und Kontributionen, vorausgesetzt, dass alle kriegführenden Länder sich diesem Friedensvertrag anschließen würden. Sie wussten genau, dass es dazu nicht kommen würde, und sie verfolgten mit ihrer Erklärung nur das Ziel, die ganze Verantwortung für die Fortführung des Krieges durch die Länder des Vierbundes auf die Entente abzuwälzen.

Bis Ende Dezember trugen die Verhandlungen einen mehr agitatorischen Charakter; das einzig Positive daran war der Abschluss eines begrenzten Waffenstillstands und die Möglichkeit, eine Friedensagitation sowohl unter den eigenen wie unter den deutschen Truppen durchzuführen.

Zu Beginn des Jahres 1918 nahmen die Verhandlungen einen anderen Charakter an. Anfang Januar richteten die extremen Militaristen und Verfechter einer annexionistischen Politik, Ludendorff und Hindenburg, ein Ultimatum an Wilhelm II. Sie verlangten eine entschiedene annexionistische Politik in Brest-Litowsk und drohten mit ihrem Rücktritt, falls die Oberste Heeresleitung nicht mit der Führung der Verhandlungen betraut werden würde. Daraufhin wurde General Hoffmann zum Führer der deutschen Delegation ernannt.

Am 7. Januar begab sich unsere Delegation, diesmal unter Führung von Trotzki, nach Brest. Am 9. Januar begannen die Friedensverhandlungen. Diesmal stellte die deutsche Delegation ultimative Forderungen. Am 20. Januar war der Inhalt des deutschen Ultimatums bereits bekannt: Entweder Fortsetzung des Krieges oder annexionistischer Frieden, das heißt ein Frieden unter der Bedingung, dass wir das ganze von uns besetzte Territorium abtreten, dass die Deutschen das ganze von ihnen besetzte Territorium behalten und uns eine Kontribution auferlegen (unter dem Deckmantel einer Bezahlung für den Unterhalt der Kriegsgefangenen), eine Kontribution von ungefähr drei Milliarden Rubel, die im Laufe einiger Jahre gezahlt werden müssen.

Mitte Januar 1918 brach in Wien ein Generalstreik aus: Hunger, Friedenssehnsucht und die Empörung der Arbeiter gegen die annexionistische Taktik der Mittelmächte in Brest-Litowsk hatten ihn ausgelöst. Dieser Streik dehnte sich fast über das ganze Land aus, es kam zur Bildung eines Arbeiterrates. Wenige Tage später traten in Berlin, nach offiziellen Angaben, 500.000 Arbeiter in den Streik. Auch in anderen Städten legten die Arbeiter die Arbeit nieder. Arbeiterräte wurden gebildet. Die Streikenden verlangten die Ausrufung der Republik und Frieden. Aber bis zur Revolution war es noch weit. Die ganze Macht befand sich in den Händen Wilhelms II., Hindenburgs, Ludendorffs, in den Händen der Bourgeoisie.

Iljitsch hoffte fest auf die kommende Weltrevolution. Bei der Verabschiedung der ersten Truppenteile der sozialistischen Armee am 14. Januar 1918 sagte Lenin: „Schon erwachen die Völker, schon hören sie den flammenden Ruf unserer Revolution. Bald sind wir nicht mehr allein, unserer Armee werden die proletarischen Kräfte anderer Länder zuströmen."18

Aber das lag noch in der Ferne. Das Besondere an Iljitsch war, dass er sich keiner Selbsttäuschung hingab, wie traurig auch die Wirklichkeit sein mochte; Erfolge machten ihn nicht trunken, denn er verstand es, die Wirklichkeit stets mit nüchternen Augen zu sehen. Aber das war nicht immer leicht für ihn. Er war durchaus kein kalter Verstandesmensch, hatte nichts von einem berechnenden Schachspieler. Äußerst leidenschaftlich reagierte er auf alles, aber er war willensstark; vieles hatte er durchmachen und durchdenken müssen, aber er scheute sich nicht, der Wahrheit ins Auge zu sehen. Auch in diesem Falle stellte er die Frage ganz konkret: Ein annexionistischer Frieden ist eine sehr schlimme Sache, aber sind wir denn in der Lage, Krieg zu führen? Iljitsch unterhielt sich viel mit Soldatendelegationen, die von der Front kamen, beschäftigte sich eingehend mit der Lage an der Front, mit dem Zustand unserer Armee. Er nahm teil am I. Kongress zur Demobilisierung der Armee. In seinen Erinnerungen schreibt Genosse Podwoiski über diesen Kongress: „Der Kongress war für den 25. Dezember 1917 anberaumt, wurde aber erst am 30. Dezember eröffnet … In diesen fünf Tagen fanden Vorbesprechungen mit den wichtigsten Delegationen statt, die von entscheidender Bedeutung waren. In einer dieser Beratungen war auch der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare, Genosse Lenin, anwesend. Nachdem einzelne Delegierte ausführlich berichtet hatten, stellte Lenin drei Fragen an die anwesenden Vertreter der Truppenteile: 1. Besteht Grund zur Annahme, dass die Deutschen eine Offensive eröffnen werden? 2. Wäre unsere Armee im Falle einer Offensive der Deutschen in der Lage, aus dem Frontgebiet die Armeebestände an Lebensmitteln, Ausrüstungen, Artillerie ins weite Hinterland zu evakuieren? 3. Ist unsere Armee gegenwärtig imstande, eine deutsche Offensive aufzuhalten?

Auf die erste Frage antwortete die Mehrheit mit einem Ja, auf die zweite und dritte Frage erfolgte angesichts der Demobilisierungsstimmung, von der die Soldaten erfasst waren, eine negative Antwort; immer mehr Leute verließen ihre Truppenteile, die Pferde waren aus Futtermangel völlig entkräftet." An dieser Beratung nahmen etwa 300 Delegierte teil. Diese Beratung überzeugte Iljitsch von der Unmöglichkeit, in diesem Augenblick den Kampf gegen die Deutschen fortzusetzen. Iljitsch verfiel aber keineswegs in Pessimismus, er verstärkte die Kampagne für die Organisierung der Roten Armee zum Schutz des Landes, doch war er sich völlig darüber im Klaren: Im gegenwärtigen Augenblick können wir nicht kämpfen. „Gehen Sie an die Front!", sagte Iljitsch den Genossen, die der Meinung waren, man könne den Krieg fortführen. „Sprechen Sie mit den Soldaten!" riet er ihnen.

Vor kurzem schilderte mir Genossin Krawtschenko ein Gespräch, das sie in jenen Tagen mit Iljitsch hatte. Sie arbeitete damals im Ural, in Motowilicha. Petrograd oder Perm beziehungsweise der Ural – das war durchaus nicht ein und dasselbe. Dort drohte keine sofortige Offensive der Deutschen, bis dorthin waren noch wenige Soldaten von der Front gekommen. Daher war die Stimmung im Ural sehr kämpferisch. Die Arbeiter waren bereit, sich in den Kampf zu stürzen, schlossen sich zu Abteilungen zusammen, stellten Kanonen bereit. Genossin Krawtschenko wurde zu Iljitsch geschickt, um ihm von der Bereitschaft des Urals Mitteilung zu machen. In Petrograd angekommen, suchte sie ihren Landsmann, den Uraler Genossen Spunde, auf, der damals in der Staatsbank arbeitete und auch dort wohnte. Die einfache eiserne Bettstelle verlor sich gleichsam in dem großen Sitzungssaal, passte so gar nicht hinein. Ein kleines Detail aus der damaligen Zeit, das auch das Bild vervollständigt von dem Leben des inhaftierten Direktors jener Bank, Schipow. Auf Anraten Spundes begab sich Genossin Krawtschenko zum Smolny, zu Iljitsch. In einem der Gänge traf sie den Genossen Goloschtschokin, der mit dem gleichen Auftrag wie sie aus dem Ural hierher geschickt worden war. Er wollte auch zu Iljitsch. Und während sie so dastanden und sich unterhielten, kam Lenin aus seinem Arbeitszimmer auf sie zu. Als er Goloschtschokin erblickte, begann er ihn über die Lage im Ural auszufragen; beide berichteten ihm von der Stimmung und teilten ihm den Grund ihres Hierseins mit. „Wir wollen abends darüber weitersprechen", sagte Iljitsch, und sein Gesicht bekam dabei einen so leidenden Ausdruck. „Vorerst geht in die Stadt und hört euch an, was die Soldaten reden." „Von alldem, was wir zu hören bekamen", erzählte Krawtschenko, „wussten wir am Abend nicht mehr, wo uns der Kopf stand, die Eindrücke waren so stark, dass sie alles andere verdrängten." Genossin Krawtschenko wusste nicht einmal mehr, ob die Unterredung mit Lenin an diesem Abend überhaupt stattgefunden hatte.

Genosse Goloschtschokin erinnert sich auch noch an diese Begegnung. Lenin hatte ihn beauftragt, Soldatendelegationen zu empfangen. Er hörte sich ihre Berichte an, machte sich mit ihrer Stimmung bekannt und mit all dem, was sie beschäftigte, und informierte Lenin darüber. Lenin begab sich dann zu den Delegierten, beantwortete ihre Fragen, klärte sie über die Lage auf, erfüllte sie mit glühendem Enthusiasmus. Während dieser Arbeit konnte sich Goloschtschokin immer mehr davon überzeugen, wie recht Lenin hatte. Auf dem VII. Parteitag brauchte er nicht mehr davon überzeugt zu werden, denn er hatte bereits alle Schwankungen überwunden.

Auf dem VII. Parteitag – Anfang März – sprach Lenin davon, dass wir in den ersten Wochen und Monaten nach der Oktoberrevolution – im Oktober, November, Dezember – an der inneren Front, im Kampf gegen die Konterrevolution, gegen die Feinde der Sowjetmacht, von Triumph zu Triumph schritten. Das war nur deshalb möglich, weil der Weltimperialismus andere Sorgen hatte, als sich mit uns zu beschäftigen. Unsere Revolution ging gerade in einem Augenblick vor sich, als durch die Vernichtung von Millionen Menschenleben unerhörte Leiden über die Mehrzahl der imperialistischen Länder hereingebrochen waren, als die kriegführenden Länder im vierten Kriegsjahr in eine Sackgasse geraten, am Scheidewege angelangt waren und sich durch die objektiven Umstände die Frage aufdrängte: Können die bis zu einem solchen Zustand gebrachten Völker weiter Krieg führen? Es war ein Augenblick, wo keine der beiden gigantischen Räubergruppen imstande war, sich sofort auf die andere zu stürzen oder sich gegen uns zusammenzuschließen. Die erste Periode der Brester Friedensverhandlungen charakterisierte Lenin auf dem VII. Parteitag mit folgenden Worten: „Ein friedliches Haustier lag neben einem Tiger und wollte ihn überzeugen, dass ein Frieden ohne Annexionen und Kontributionen geschlossen werden müsse …"19 In der zweiten Januarhälfte nahmen die Verhandlungen einen anderen Charakter an. Das Raubtier, der deutsche Imperialismus, war uns an die Gurgel gesprungen, wir mussten unverzüglich eine Antwort geben – entweder annexionistischer Frieden oder Fortsetzung des Krieges mit der Perspektive, geschlagen zu werden. Lenin gelang es zu guter Letzt, seinen Standpunkt durchzusetzen, doch hatte ihm der innerparteiliche Kampf, der sich über zwei Monate hinzog, viel zu schaffen gemacht. Iljitsch bestand auf den Abschluss eines Friedens. Er wurde in dieser Frage vor allem von Swerdlow und Stalin unterstützt, Smilga und Sokolnikow hatten sich auch ohne zu schwanken seinem Standpunkt angeschlossen. Doch die ZK-Mitglieder und die Genossen, die sich um das ZK zusammengeschlossen hatten und mit denen die Oktoberrevolution durchgeführt werden musste, waren gegen Lenin und bekämpften seine Linie; in diesen Kampf wurden auch die einzelnen Parteikomitees hineingezogen. So nahmen auch das Petrograder und das Moskauer Gebietskomitee gegen Lenin Stellung. Die Fraktion der „linken" Kommunisten gab in Petrograd eine eigene Tageszeitung, „Kommunist", heraus, wo sie sich zu der Behauptung verstiegen, es wäre besser, die Sowjetmacht preiszugeben, als einen Schandfrieden zu schließen; sie redeten viel vom revolutionären Kampf, ohne die realen Kräfte in Betracht zu ziehen. Sie meinten, der Abschluss eines Friedens mit der deutschen imperialistischen Regierung bedeute die Aufgabe aller revolutionären Positionen und sei Verrat an der Sache des internationalen Proletariats. Den „linken" Kommunisten hatten sich viele Genossen angeschlossen, mit denen Lenin durch jahrelange gemeinsame Arbeit verbunden war, die ihn in den schwersten Augenblicken des Kampfes unterstützt hatten. Um Lenin herum entstand eine Leere. Und was wurde ihm nicht alles an den Kopf geworfen! Eine besondere Position nahm Trotzki ein. Er liebte es, schöne Worte zu machen. Es kam ihm wohl mehr auf die schöne Pose an als darauf, wie man das Sowjetland aus dem Krieg herausführen und eine Atempause erlangen könnte, um neue Kräfte zu sammeln und die Massen zu mobilisieren. Weder Schandfrieden noch Krieg war seine Losung. Iljitsch nannte diesen Standpunkt einen Herrenstandpunkt, der einem Schlachtschitzen gezieme; er betonte, diese Losung sei nichts anderes als ein Abenteuer, geeignet, das Land, in dem das Proletariat die Macht ergriffen und sich einem gigantischen Aufbauwerk zugewandt hatte, der Verheerung und der Ausplünderung preiszugeben.

In der ersten Zeit stimmte die Mehrheit im ZK gegen Lenin. Am 24. (11.) Januar wurde Trotzkis Antrag: kein Friedensschluss, Demobilisierung der Armee, mit 9 gegen 7 Stimmen angenommen. Am 3. Februar (21. Januar) stimmten für den sofortigen Abschluss eines Friedens 5 Mitglieder des ZK, dagegen 9; am 17. Februar stimmten für ein sofortiges Friedensangebot an Deutschland 5, dagegen 6; am 18. Februar wurde darüber abgestimmt, ob man sich an die Deutschen erneut um die Aufnahme von Friedensverhandlungen wenden sollte: Dafür wurden 6, dagegen 7 Stimmen abgegeben.

Erst am 23. Februar, als die deutschen Friedensbedingungen eintrafen, die innerhalb von 48 Stunden beantwortet werden mussten, und die Deutschen mittlerweile zum Angriff übergegangen waren und eine Stadt nach der anderen besetzten – da veränderte sich das Kräfteverhältnis im ZK. Lenin erklärte, dass er aus dem ZK und aus der Regierung austreten werde, wenn die Politik der revolutionären Phrase fortgesetzt werden würde. Für die Annahme der deutschen Bedingungen stimmten 7, dagegen 4, der Stimme enthielten sich 4, darunter Trotzki, der in diesem entscheidenden Augenblick in einer so entscheidenden Frage keinerlei Verantwortung übernehmen wollte. Der Fünfergruppe (Lenin, Swerdlow, Stalin, Sokolnikow, Smilga), die immer für den Abschluss eines Friedensvertrages, selbst auf der Grundlage der deutschen Bedingungen, gestimmt hatte, schlossen sich noch Sinowjew und Stassowa an. Den Gegnern des Friedensabschlusses wurde Agitationsfreiheit gewährt.

Der Vormarsch der Deutschen bewirkte jedoch eine schnelle Ernüchterung. Bis zur Eröffnung des VII. Parteitages hatte sich der Standpunkt Lenins durchgesetzt. Der VII. Parteitag nahm am 8. März eine Resolution über die Ratifikation des in Brest-Litowsk unterzeichneten Friedensvertrages mit 30 gegen 12 Stimmen, bei 4 Stimmenthaltungen, an. Am 16. März wurde durch den IV. Sowjetkongress in Moskau der Brester Friedensvertrag ratifiziert. Es wurden 784 Stimmen dafür abgegeben, 261 dagegen, und 115 enthielten sich der Stimme.

Aus der Periode des Kampfes um den Brester Frieden kann ich mich an zwei Begebenheiten erinnern. Am 21. Januar 1918 fand eine erweiterte Sitzung des ZK statt. Iljitsch hielt sein Schlusswort; die Genossen warfen ihm feindliche Blicke zu. Iljitsch legte seinen Standpunkt dar, doch hatte er wohl wenig Hoffnung, die Anwesenden zu überzeugen. Als er mit seiner Rede fertig war, sagte er zu mir – noch heute höre ich seine Stimme, die grenzenlose Müdigkeit und Bitternis verriet –: „Nun, wir wollen gehen!" Über nichts hätte sich Iljitsch wohl mehr gefreut, als wenn unsere Armee in der Lage gewesen wäre, zum Angriff überzugehen, oder wenn in Deutschland die Revolution ausgebrochen wäre, die dem Krieg ein Ende bereitet hätte; er wäre über alle Maßen froh gewesen, hätte sich seine Einschätzung als unrichtig erwiesen. Je optimistischer die Genossen waren, desto zurückhaltender war Iljitsch. Ich erinnere mich noch an folgenden Fall: In den schweren Tagen – zwischen der zweiten Hälfte Januar und Ende Februar – gingen wir des öfteren um den Smolny herum, die Newa entlang spazieren. Schwer lasteten die Ereignisse auf ihm, und er hatte das Bedürfnis, sich einem nahen Menschen mitzuteilen, das laut auszusprechen, was ihn bedrückte. Ich weiß heute nicht mehr genau, was Iljitsch mir damals gesagt hat, aber sinngemäß entsprach es seinen Ausführungen auf dem VII. Parteitag. Diese Rede kann ich noch heute nicht ohne innere Erregung lesen. Mir ist so, als wenn ich seine Stimme vernehme und den besonderen Tonfall. Da heißt es: „Gut, wenn das deutsche Proletariat imstande sein wird, in Aktion zu treten. Habt ihr das aber ausgemessen, habt ihr ein Gerät gefunden, um zu bestimmen, dass die deutsche Revolution an dem und dem Tage ausbrechen wird? Nein, ihr wisst das nicht, und wir wissen es ebenfalls nicht. Ihr setzt alles aufs Spiel. Wenn die Revolution ausbricht, dann ist alles gerettet. Natürlich! Aber wenn sie nicht so kommt, wie wir es wünschen, wenn sie vielleicht nicht schon morgen siegt, was dann? Dann wird die Masse euch sagen: Ihr habt wie Abenteurer gehandelt, ihr habt auf diesen glücklichen Verlauf der Ereignisse gesetzt, der ausgeblieben ist, ihr habt versagt in der Situation, die an Stelle der internationalen Revolution eingetreten ist, die zwar unvermeidlich kommen wird, aber jetzt noch nicht ausgereift ist."20

Wenn ich diese Rede wieder lese, so erstehen vor meinen Augen die vergangenen Tage. Wir gehen die Newa entlang. Es wird Abend. Die Sonne senkt sich. Über der Newa glüht der Westen im Sonnenuntergang des winterlichen Petersburgs. Dieser Abendhimmel erinnert mich an meine erste Begegnung mit Iljitsch bei Klassons, in der Fastnachtswoche im Jahre 1894; auf dem Rückweg von der Ochta entlang der Newa erzählten mir damals die Genossen von Iljitschs Bruder. Und während unseres Spazierganges wiederholte Iljitsch immer wieder seine Argumente, warum die Losung „weder Krieg noch Frieden" von Grund auf falsch war. Als wir uns schon dem Smolny näherten, blieb er plötzlich stehen, sein müdes Gesicht belebte sich, er erhob seinen Kopf und meinte: „Und wenn doch?" – Das heißt, wenn doch die Revolution in Deutschland bereits ausgebrochen ist. Wir sind nach dem Smolny zurückgekehrt. Telegramme waren eingegangen: Die Deutschen greifen an. Ganz düster wird Lenins Gesicht, er fällt gleichsam in sich zusammen, und nun beginnt er zu telefonieren. Erst am 9. November 1918 brach in Deutschland die Revolution aus, und am 13. November 1918 annullierte das Gesamtrussische Zentralexekutivkomitee den Brester Vertrag.

1 Lenin/Stalin: Zo Fragen der sozialistischen Industrie, S. 264.

2 N. P. Gorbunow: Erinnerungen an Lenin, Moskau 1933, S. 15/16, russ.

3 Ebenda, S. 16/17.

4 W. I. Lenin: Werke, 4. Ausgabe, Bd. 26, S. 25s, russ.

5 W. I. Lenin: Das Jahr 1917, S. 511.

6 W. I. Lenin: Werke, 4. Ausgabe, Bd. 26, S. 436/437, russ.

7 W. I. Lenin: Werke, Bd. 9, S. 32.

8 Siehe W. I. Lenin: Das Jahr 1917, S. 522-524.

9 W. I. Lenin: Werke, 4. Ausgabe, Bd. 26, S. 316 u. 317/318, russ.

10 Siehe W. I. Lenin: Das Jahr 1917, S. 564-567.

11 Ebenda. S. 568.

12 Ebenda, S. 564.

13 Ebenda, S. 566.

14 W. I. Lenin: Werke, 4. Ausgabe, Bd. 26, S. 393, 392, russ.

15 W. I. Lenin: Das Jahr 1917, S. 520.

16 W. I. Lenin: Werke, 4. Ausgabe, Bd. 26, S. 282, russ.

17 Ebenda, S. 284.

18 Ebenda, S. 381.

19 W. I. Lenin: Werke, Bd. 27, S. 80.

20 Ebenda, S. 88/89.

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