Vorwort Die im vorliegenden Band veröffentlichten Erinnerungen umfassen die Periode von 1894 bis 19171, die Zeit von meiner ersten Begegnung mit Wladimir Iljitsch im Jahre 1894 bis zur Oktoberrevolution 1917. Man sagt mir sehr oft, dass meine Erinnerungen sehr knapp geschrieben seien. Natürlich will jeder über Lenin soviel wie möglich wissen, und außerdem ist die beschriebene Epoche eine Epoche von gewaltiger historischer Bedeutung. Sie umfasst die Periode, in der sich die Massenbewegung der Arbeiterklasse entfaltete, in der eine feste, ideologisch erprobte, unter den schwersten Bedingungen illegaler Arbeit gestählte Partei der Arbeiterklasse geschaffen wurde. Das waren Jahre, in denen das Klassenbewusstsein und die Organisiertheit der Arbeiterklasse ununterbrochen wuchsen, Jahre verzweifelten Kampfes, eines Kampfes, der mit dem Sieg der proletarischen, sozialistischen Revolution endete. Über diese Epoche und über Lenin kann man Berge interessantester Artikel und Bücher schreiben. Das Ziel meiner Erinnerungen war, ein Bild jener Verhältnisse zu geben, in denen Wladimir Iljitsch leben und arbeiten musste. Ich habe nur das niedergeschrieben, was mir besonders lebendig im Gedächtnis haftengeblieben ist. Die Erinnerungen sind in zwei Abschnitten geschrieben worden. Der erste Teil, der die Periode von 1894 bis 1907 umfasst, ist in den ersten Jahren nach Lenins Tode verfasst worden. Er enthält die Erinnerungen an die Arbeit in Petersburg, die Zeit der Verbannung, die Münchner und Londoner Periode der ersten Emigration, die Zeit vor dem II. Parteitag, den II. Parteitag selbst und die Periode unmittelbar nach ihm bis 1905. Dann folgen die Erinnerungen an das Jahr 1905 im Ausland und in Russland und schließlich an die Jahre 1905 bis 1907. Ich schrieb sie zum größten Teil in Gorki nieder, während ich durch die verödeten Zimmer des großen Hauses und über die mit Gras bewachsenen Pfade des Parkes wanderte, wo Iljitsch das letzte Jahr seines Lebens verbracht hatte. Die Jahre 1894 bis 1907 waren die von Schwung erfüllten Jahre der jungen Arbeiterbewegung, und unwillkürlich schweiften die Gedanken zurück zu diesen Jahren, in denen das Fundament unserer Partei gelegt wurde. Den ersten Teil habe ich fast ausnahmslos nach dem Gedächtnis verfasst. Der zweite Teil ist einige Jahre später geschrieben worden. Während dieser Zeit musste ich viel lernen, musste eifrig Lenin lesen; ich musste lernen, die Vergangenheit mit der Gegenwart zu einem engen Knoten zusammen zu schürzen, ich musste lernen, mit Lenin ohne Lenin zu leben. Der zweite Teil ist etwas anders ausgefallen als der erste. Im ersten Teil spielen Einzelheiten aus Lenins Leben eine größere Rolle, im zweiten Teil ist mehr über das gesagt, was Lenin beschäftigte, worüber er nachdachte. Ich glaube, man tut am besten, beide Teile unmittelbar hintereinander zu lesen. Der erste Teil ist organisch mit dem zweiten verbunden, ohne ihn könnte der zweite weniger als „Erinnerungen" erscheinen, als er in Wirklichkeit ist. Zur Zeit der Niederschrift des zweiten Teils waren schon zahlreiche andere Erinnerungen, Sammelbände und die zweite Ausgabe der Werke Lenins erschienen. Das hat den Erinnerungen über die zweite Emigration einen bestimmten Stempel aufgedrückt. Ich konnte mich besser kontrollieren. Außerdem ist die Periode, die diese Erinnerungen umfassen, die Periode von 1908 bis 1917, wesentlich komplizierter als die vorhergehende. Die erste Periode (1893-1907) umfasst die ersten Schritte der Arbeiterbewegung, den Kampf um die Schaffung der Partei, das Heranreifen der ersten Revolution, die hauptsächlich gegen den Zarismus gerichtet war, und die Niederwerfung dieser Revolution. Die zweite Periode – die Jahre der zweiten Emigration – ist viel komplizierter. Das waren die Jahre, in denen die Ergebnisse des revolutionären Kampfes der ersten Periode zusammengefasst wurden, die Jahre des Kampfes gegen die Reaktion. Das waren Jahre heftigen Kampfes gegen den Opportunismus in allen seinen Spielarten, Jahre des Kampfes um die Notwendigkeit, die Arbeit jeglichen Bedingungen anzupassen, ohne dass sie ihren revolutionären Inhalt einbüßte. Die Jahre der zweiten Emigration waren die Jahre, in denen der Weltkrieg herannahte und der Opportunismus der Arbeiterparteien den Zusammenbruch der II. Internationale herbeiführte. Es waren Jahre, in denen das Weltproletariat sich völlig neuen Aufgaben gegenübersah, neue Wege gefunden werden mussten und Stein für Stein das Fundament zur III. Internationale gemauert werden musste; Jahre, in denen unter den schwierigsten Verhältnissen der Kampf um den Sozialismus aufgenommen werden musste. In der Emigration traten diese Aufgaben höchst konkret und scharf hervor. Wenn man diese Aufgaben nicht versteht, kann man auch nicht verstehen, wie Lenin zum Führer der Oktoberrevolution, zum Führer der Weltrevolution heranwuchs. Führer werden im Kampf geboren, im Kampf reifen sie heran, aus ihm schöpfen sie ihre Kraft. Erinnerungen an Lenin in den Emigrationsjahren kann man nicht schreiben, ohne jede Kleinigkeit seines Lebens mit dem Kampf, den er in diesen Jahren ausfocht, zu verknüpfen. In den neun Jahren der zweiten Emigration ist Lenin genau der gleiche geblieben, der er war. Er arbeitete ebenso viel und ebenso systematisch wie früher, beobachtete genauso scharf jede Kleinigkeit, verknüpfte alle Zusammenhänge miteinander, blickte der Wahrheit genauso furchtlos in die Augen, wie bitter sie auch war. Unverändert hasste er jede Unterjochung und jede Ausbeutung, er war der Sache des Proletariats, der Sache der Werktätigen ergeben, ihre Interessen standen seinem Herzen genauso nahe wie je, und sein ganzes Leben war den Interessen dieser Sache untergeordnet. Das alles ergab sich ganz von selbst, anders konnte er nicht leben. Genauso leidenschaftlich und scharf wie früher kämpfte er gegen jeden Opportunismus und gegen jeden Rückzug, gegen jedes Aufgeben einer errungenen Position. Wie früher brach er mit den nächsten Freunden, wenn er erkannte, dass sie die Bewegung hemmten, und konnte andererseits einfach und freundschaftlich an den Gegner von gestern herantreten, wenn es für die Sache notwendig war; wie früher sprach er offen und gerade. Unverändert liebte er die Natur, den jungen Frühlingswald, Bergpfade und Seen, den Lärm der Großstadt, die Arbeitermasse; er liebte die Genossen, liebte Bewegung, Kampf, das Leben in seiner ganzen Vielfalt. Der gleiche Lenin, und doch: wer ihn Tag für Tag beobachtete, musste bemerken, dass er noch zurückhaltender, noch aufmerksamer den Menschen gegenüber geworden war. Lange konnte er tief in Gedanken versunken auf und ab gehen, und wenn man ihn in seinem Gedankengang unterbrach, erschien im ersten Augenblick in seinen Augen ein Ausdruck von Trauer. Schwer waren die Jahre der Emigration, nicht wenig Kräfte haben sie von Lenin gefordert; aber sie haben aus ihm den Kämpfer geschmiedet, den die Massen brauchten und der sie zum Sieg führte. N. Krupskaja 1 N. K. Krupskaja meint hier nur den I. und II. Teil der „Erinnerungen an Lenin", die 1933 als Einzelbände erschienen sind. Anm. d. russ. Red. |