Parvus 18960506 Staatsstreich und politischer Massenstreik

Parvus (Aleksandr Helphand): Staatsstreich und politischer Massenstreik (1896)

[Neue Zeit, 14. Jahrgang 1895/96, II. Band, Nr. 33, 35, 36, 38, 39, S. 199-206, 261-266, 304-311, 356-364, 389-395]

Einleitung

In dem Kampfe der deutschen staatser­haltenden Parteien gegen den “Inneren Feind” ist eine Pause eingetreten. Ein zeitweiliger Rückzug der Reaktion nach dem kläglichen Ausgang der Umsturz­vorlage war ja sehr natürlich. Aber dazu kam noch die Komplikation der äußeren politischen Lage. Die Aufmerksamkeit der Mächtigeren — große Staatsmänner und Weltstürrner in Wort und Bild — ist nach anderen Rich­tungen abgelenkt worden. Man trägt sich mit großen Plänen herum, über deren Wesenheit man freilich sich selbst noch nicht klar gewor­den ist. Aber eins ist sicher: diese Pläne erfordern viel Geld. Und so möchte man die Unzufrie­denheit der Volksmassen nicht noch mehr steigern. Die Regierung gibt dieser Stim­mung der sie umgebenden Kreise nach und zeigt ein freundlicheres Antlitz. So konnten wir denn erleben, dass man ei­nen Streik vom Ministertisch aus rechtfer­tigte. An­dererseits freilich fehlt es auch nicht an spontanen Ausbrüchen der kapi­talistischen Klassenwut.

Dieser Zustand wird wohl kaum lange an­halten. Wenn die neuen großen Marine­vorlagen erscheinen, werden die “Staatserhaltenden” die sozialdemokrati­sche Opposition wieder recht unange­nehm empfin­den, und so werden der alte Hass und Arger wieder mit ursprünglicher Gewalt zum Durchbruch kommen. Und der Kampf gegen den “Um­sturz” wird wieder aufgenommen werden.

Worauf die Bekämpfer des Umsturzes in letzter Linie hinauszielen, hat sich seiner­zeit klar gezeigt: es ist der Umsturz der Verfassung. Der Staatsstreich wurde of­fen proklamiert. Wir erinnern nur an die Bro­schüre des Generalmajors v. Bogus­lawski. Dieser Herr z. D. geht sehr resolut zu Werke. Er meint: “Den Straßenräuber, der mich auf einsamem Wege anfällt, oder in mein Haus nachts einbricht, werde ich nicht entwaffnen, indem ich ihm einen Vortrag über die Unrechtmäßigkeit seines Tuns halte, oder ihn aufgrund des Paragraphen X des Straf­gesetzes aus dem Hause weisen will, sondern ich werde gut tun, ihm einen Revolver vor die Nase zu halten und ihn bei der geringsten Be­wegung niederzuschießen. — Das Eindringen beweist, dass die Türen und Schlösser des Hauses nicht fest genug waren, um dem Räuber den Zugang zu verwehten. Sind aber einmal solche Stel­len an dem sozialen Gebäude der Ge­genwart zu finden und der Räuber schon in unserem Wohnhause, so vermag nur die äußerste Entschlossenheit, ihn wie­der zu vertreiben. — Alsdann können wir daran denken, Türen und Schlösser aus­zubessern.” — “Und im Gefühl dessen, was man zu erwar­ten hat, da soll man nicht zur Waffe greifen?”

Aus dem Programm des resoluten Gene­rals teilen wir folgendes mit: “Verbot der sozialdemokratischen Schriften, Zeitun­gen und Vereine. — Einführung der Strafe der Verbannung und Expatriierung der Rä­delsführer bei sozialdemokrati­schen Umtrieben, deren Begriff zu er­läu­tern wäre. — Einführung der Deportation, nach Ermessen des Rich­ters anstelle von Gefängnis auf Zuchthaus zu erkennen, für die Ver­brechen des Aufruhrs, der Ver­schwörung oder des Versuchs dazu. — Abschaffung des geheimen Wahlrechts und der Stichwahlen. Errich­tung eines Oberhauses mit weitgehenden Rechten.”

Wie aber diese Maßnahmen durchfüh­ren? Auf die “Parteien”, anders: den Reichstag, setzt der resolute General z. D. keine großen Hoffnun­gen mehr. “Nimmt man den Fall an, dass der Reichstag alle ihm ge­machten Vorschlä­ge endgültig ablehnte, so wäre das ein Moment, wo eine Ansprache, ein direkter Aufruf von Kaiser und Reich gerechtfer­tigt erschiene … Nimmt man ferner an, dass auch dieses Mittel nicht zum Ziele führte, so stände man an einem Wendepunkt, wo die ge­wöhnlichen Mittel eben versag­ten.” Und nun konstruiert unser Kämp­fer für Sitte und Ordnung sehr resolut ein förmliches Recht auf den Staatsstreich. Der Staatsstreich sei unter Umständen eine geschichtliche Notwendigkeit. “Nach dem Buchstaben des Gesetzes ist ein Staats­streich ebensowenig gerechtfertigt wie eine Revolution. Er kann aber eben­sogut das Kennzeichen innerer Berechti­gung an sich tragen wie diese, denn wenn man vom ethischen Standpunkt aus eine Revolution nicht missbilligt, die sich ge­gen eine in Wahrheit unerträgliche Tyran­nei wendet, so wird man gerechterweise auch einen Staatsstreich nicht verurteilen können, der sich gegen eine demagogi­sche Herrschaft wen­det, oder mit der Überzeugung unternommen wird, einer solchen vorbeugen zu müssen.” Und er schließt seine Schrift mit den Worten: “Es handelt sich nicht, wie die Gegner sagen, um kleinliche Polizeimaßregeln — wir hassen nichts mehr wie polizeiliche Will­kür —‚ sondern um einen großen, mit gewaltigen Mitteln zu führenden Kampf.”

Die Schrift des Generals v. Boguslawski war, wie man weis, keine Ausnahme. Sie spiegelt nur die allgemeine Stimmung in den staatser­haltenden, besonders militä­rischen Kreisen wieder. Von diesen letzte­ren ist sie mit einem grenzenlosen Enthu­siasmus aufgenommen wor­den. Die Re­daktion der sehr respektablen “Jahrbü­cher für die deutsche Armee und Marine” sagte z.B. in ihrer Besprechung dieser Broschüre: “Sie triff den Nagel auf den Kopf und ist ein Wort zur rechten Zeit, ein ernstes Mahnwort im Kampfe gegen die Sozialdemokratie. … Ich meine, wem jetzt noch nicht klar ist, wohin wir steuern mit dem kläg­lichen “Mute der Kaltblütig­keit” einem solchen Gegner gegenüber, dem ist eben nicht zu helfen! Eine Partei, de­ren Führer selbst sagen, es handle sich um Machtfragen, die auf anderem Gebiet gelöst werden als auf dem parlamentari­schen, drückt den staatserhaltenden Parteien selbst ein Schwert in die Hand. Gebe Gott, dass die Stimme Boguslaw­s­kis nicht gleich der Stimme des Predigers in der Wüste verhalle.”

So haben wir uns denn an die Aufgabe gemacht, einmal ruhig zu unter­suchen, wie die Dinge in Wirklichkeit liegen. Wie weit die Reaktion gehen könnte und wel­che Folgen sie zeitigen müsste. Und wel­che Mit­tel die Arbeiterklasse besitzt, um die Reaktion abzuwehren. Da hat sich aber auch bald gezeigt, dass es sich in diesem Kampfe nicht bloß um die Arbei­terklasse handelt, sondern um den Schutz der politischen Freiheit überhaupt, dass die politische Reaktion, begonnen als Kampf gegen die Sozialdemokratie, zu ih­rer letzten Konsequenz die Schaf­fung ei­ner gewaltigen allgemeinen Protestbewe­gung haben muss, der sie unfehlbar erlie­gen wird.

Eine Regierung, welche die freie politi­sche Betätigung der kapitalisti­schen Klassengegensätze mit Gewalt verhindert, macht sich dadurch selbst zum allgemei­nen Sündenbock des kapitalistischen Klassen­kampfs.

Es gibt für die Reaktion im politischen Kampfe gegen die Arbeiter­klasse keinen Ausweg mehr. Das Spiel ist verloren. Je nach der einge­schlagenen Taktik mag es etwas länger oder kürzer dauern. Aber das Ende, und ein rasches Ende, ist au­ßer Zweifel: die Reaktion verliert das Spiel, das Proletariat behauptet als Sieger das Feld. Dann dürfte sie doch wohl am besten tun, das Spiel beizeiten aufzuge­ben, solange sie noch irgendwie im Stande ist, die stark anwachsende Zeche zu be­zahlen!

Die Sozialdemokratie hält ihre Karten of­fen. Mögen die anderen sehen, wie sie dabei zurechtkommen!

Wir berufen uns in dieser Abhandlung öfters auf Friedrich Engels. Das bedarf an und für sich keiner besonderen Erklärung. Aber es geschah noch aus einem spezi­ellen Grunde: weil Friedrich Engels‘ letzte Aus­führungen über die Taktik der Arbei­terbewegung, die er voriges Jahr in seiner Einleitung zu einem Neudruck von K. Marx‘ “Klassenkämpfe in Frankreich” ge­macht hatte, vielfach missverstanden worden sind.

1. Der neue Kurs

Seit einigen Jahren will den kapitalisti­schen Regierungen nichts mehr gelingen. Das nicht nur in Deutschland. In Frank­reich, in Österreich, in England, in Italien, überall der gleiche Fall. Die Regierungen befin­den sich in permanentem Konflikt entweder mit der Volksvertretung oder mit der öffentlichen Meinung oder mit beiden zugleich.

In Deutschland, in Österreich und in Frankreich steht zweifellos den politi­schen Machthabern in erster Linie die So­zialdemokratie im Wege. Wie sonderbar: in Österreich die Zwickmühle, weil die Ar­beiterklasse das allgemeine Wahlrecht nicht hat, und in den beiden anderen Län­dern, weil die Arbeiterklasse im Besitze des allgemeinen Wahlrechts ist! Das sollte doch über manches belehren, wenn der Egoismus einer herr­schenden Klasse überhaupt der Vernunft zugänglich wäre.

Nehmen wir Deutschland, das uns am nächsten liegt. Da weis man ja, wie die Dinge stehen. Der “neue Kurs” zählt noch wenig Jahre, aber viele Niederlagen. Er reitet schnell — von Schlappe zu Schlappe. Er ist unbeständig, wechselnd wie die Launen der Verliebten. Kein Mensch weis, was der nächste Tag in die politische Welt bringen wird. Heute “so­ziales Königtum” und morgen der Staat eine Domäne der Agrarier. Heute soll der Staat ein Kulturträger sein, fördernd Kunst und Wis­senschaft, und morgen herrschen Pfaffenkutte und Polizeibüttel über Literatur und Kunst. Die geringfügig­ste Veranlassung kann plötzlich zu einer gewaltigen Staatsaktion aufgebauscht werden. Jeden Augenblick Knalleffekte — der gesamte Staatserhaltungsapparat ge­rät in Aktion, als ob es gälte, das Vater­land zu retten, die “Patrioten” werden auf die Beine gebracht, aber nur zu bald zeigt es sich, dass alles blinder Lärm war. Die öffentliche Meinung wird irritiert. Die Bür­gerschaft schüttelt den Kopf zu diesem politischen Schaukelspiel und fragt sich mit banger Besorgnis: Was soll denn das? Was will man denn eigentlich? Wo steuern wir hin?

Die leitenden Personen wechseln wie die Puppen im Spiel. Kaum haben sie sich eingearbeitet, so müssen sie fort. Keine weitausschauenden Pläne sind unter sol­chen Umständen möglich. Die Staatslen­ker leben vom Augenblick. Wird da nicht ihre Politik zum Spielball des Zufalls und der Laune?

Der politischen Scharlatanerie sind in der Öffentlichkeit Tür und Tor geöffnet. Die Intrige, die Koterie, die Clique, das Stre­bertum errei­chen die größte Geltung.

Ein tiefer Zwiespalt bildet sich zwischen der Staatsleitung und dem Volke. Der “neue Kurs” hat es mit allen verdorben und niemand be­friedigt. Wo ist denn die Partei, auf die er sich stützen kann? Jede hat an ihn große Forderungen, aber keine will sich für ihn engagieren.

Die gesetzgeberische Maschinerie, d. i. der Reichstag, versagt ihre Dienste. Eine Regierungsvorlage nach der anderen wird abgelehnt. Dann kann es auch zutreffen, dass infolgedessen einmal einer Regie­rung, der nicht der Wille des Volkes als höchstes Gesetz gilt, die ganze Parla­mentsordnung als unbequemes, lästiges Ding erscheinen würde. Man erinnere sich nur, welche erbitterte, verletzende Stim­mung von den Regierungsvertretern wäh­rend der vorigen Session dem Reichstag gegenüber offenkundig zur Schau getra­gen wurde, und man wird die­sen Gedan­ken nicht kurzweg von sich weisen.

Was soll man erst zu Äußerungen sagen, wie die des gewesenen Mini­sters v. Köl­ler: “Die Regierung bedarf Ihrer nur inso­weit, als Sie den Gesetzen, die sie Ihnen vorlegt, zuzustimmen haben und die Gel­der zu bewilligen haben.” Kann man denn diesen Satz nicht so umkehren: “Und wenn Sie den Vorlagen nicht zustimmen und die Gelder nicht bewilligen, dann be­darf Ihrer die Regierung nicht, dann sind Sie ihr lästig und zuwider? Das hieße also, dass der Reichstag nur dann will­kommen sei, wenn er sich zum Jasager­apparat degradiert. Dass der Reichstag die Vorlagen zu prüfen hat, dass er selbst Vorlagen einbrin­gen kann, dass er mehr noch als der Bundesrat der eigentliche. gesetzgebende Körper ist, dass die Re­gierung ihm Rechenschaft abzulegen hat, dass er überhaupt nicht der Regierung wegen da, dass er die Vertretung des Volkes ist — das alles wird also durch die erwähnte Äußerung eines Staatsministers des Innern ignoriert.

Wer aber den Regierungsgenies in Deutschland die parlamentarische Tätig­keit am meisten verleidet, ist die Sozial­demokratie. An der So­zialdemokratie al­lein hält sich seit 1890 die gesamte politi­sche Oppo­sition im Deutschen Reich. Die Militärvorlage hätte bei weitem nicht die bekannten großen Schwierigkeiten zu überwinden gehabt, die Ta­baksteuer wäre schon längst angenommen worden, wenn nicht die Sozialdemokratie da wäre.

Der politische Einfluss, den die Sozial­demokratie ausübt, ist zum Teil ein di­rekter durch ihre bei der Zersplitterung der bürgerlichen Par­teien ansehnliche Vertretungszahl im Reichstag, in der Hauptsache aber ist er indirekt, indem die bürgerlichen Parteien von ihr in steter Angst und Sorge um ihre Reichstags­mandate gehalten werden. Ihre scho­nungslose Kritik ist es, die der Sozialde­mokratie die meiste Kraft verschafft. Durch diese übt sie in politischen Fragen den größten Druck auf die Öffentlichkeit aus. Die bürgerlichen Parteien fürchten, von der Sozialdemokratie vor den Wäh­lern bloßgestellt zu werden, und darum beherrscht sie die politische Situation.

Der Hass gegen die Sozialdemokratie be­ruht hier also darin, dass sie die uner­schrockene und rücksichtslose Vertreterin der Interessen des arbeitenden Volkes ist, das ja unter dem allgemeinen Wahlrecht bei den Wahlen den Ausschlag gibt. Aus dem allgemeinen Wahlrecht schöpft die Sozialdemokratie ihre parlamentarische Macht, und darum eben ist das allgemei­ne Wahlrecht den bürgerlichen Parteien lästig, denn es gemahnt sie daran, dass sie von ihren Taten dem Volke Re­chen­schaft abzulegen haben.

Die bürgerlichen Parteien werden deshalb durch die Anwesenheit der Sozialdemo­kratie förmlich gezwungen, eine opposi­tionelle Stellung ein­zunehmen. Die Sozi­aldemokratie gibt den Ton an. Obwohl formell als Führerin nicht anerkannt, leitet sie in Wirklichkeit die gesamte par­la­mentarische Opposition.

Darum betrachten die Wortführer des neuen Kurses die Sozialdemo­kratie als ih­ren Hauptfeind. Für diese Leute handelt es sich nicht um die Zukunftspläne der Sozialdemokratie, sondern um ihre Ge­genwarts­bedeutung. Wer sich mit Pro­jekten neuer Verbrauchssteuern, neuer Zölle, neuer Militärbewaffnung, neuer Panzerbauten u. a. herumträgt, dem steht die Sozialdemokratie auf Schritt und Tritt im Wege. Das ist der Kern der Sache.

Der “neue Kurs”, und darunter verstehen wir nicht einzelne Persön­lichkeiten, son­dern eine politische Geistesrichtung, der neue Kurs, der durch sein unberechnetes, provozierendes, bramarbasierendes Auf­tre­ten die öffentliche Meinung gegen sich gekehrt und die Opposition ge­stärkt hat, gelangt folgerichtig dazu, dass er sich mit aller Macht auf die Sozialdemokratie als die Grundfeste der Opposition stürzt. Man will die Sozialdemokratie beseitigen, um darnach mit der bürgerlichen Opposition desto leichter fertig zu werden.

Doch wie die Sozialdemokratie wenig­stens aus dem Reichstage loswer­den? Da ist es jedermann klar, dass zu diesem Zweck vor allem das all­gemeine Wahl­recht abgeschafft werden müsste.

Das ist auch die Aufgabe, an der sich viele berufene und unberufene Staatsret­ter seit geraumer Zeit im Schweiße ihres Angesichts abplagen.

2. Die Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts

Die erste Frage, die einer Aufklärung be­darf, ist also die: ob es möglich sei, das allgemeine Wahlrecht im Deutschen Rei­che zu beseitigen?

Die Schwierigkeit liegt nicht in der Zerstö­rung, sondern in dem Auf­bau. Die Schwierigkeit liegt darin, durch welches Wahlsystem das all­gemeine Wahlrecht ersetzt werden soll? Und das ist es eben: es gibt kein Wahlsystem, außer dem all­gemeinen Wahlrecht, das sämtliche wirt­schaftlichen und politischen Gruppierun­gen innerhalb der kapitali­stischen Gesell­schaft befriedigen könnte. Österreich bietet uns ja ge­rade dafür die trefflichste Bestätigung. Nicht minder als ein volles Schock verschiedener Wahlprojekte sind dort bereits ausgetüftelt wor­den — den­noch will keines behagen, und nur die Furcht vor der Sozial­demokratie hält die Parteien vor dem allgemeinen Wahlrecht zurück. Und doch ist es leichter, ein schlechtes Wahlsystem, wie in Öster­reich, durch ein verbessertes zu ersetzen, als ein gutes Wahlsystem, resp. das all­gemeine Wahlrecht, wie in Deutschland mit einem schlechteren Sy­stem zu ver­tauschen.1

In Österreich kommt allerdings auch noch die nationale Zersplitterung in Betracht. Aber in einem geringeren Grade ist dies ja in Deutschland ebenfalls der Fall. Vor allem aber muss der Charakter Deutsch­lands als Bundesstaat berücksichtigt wer­den und der konfessionelle Unterschied. Es gibt im Deutschen Reiche eine Tren­nungslinie der Konfessionen, die als wirt­schaftliche, politische und beinahe natio­nale Trennungslinie gel­ten kann. Die wirt­schaftlichen und politischen Zustände in Ostpreußen oder Pommern sind anders, als im Rheinland oder in Baden oder auch in Bayern. Das alles will aber im Reichs­tag, bei der Gesetzgebung und Verwal­tung, zum Ausdruck kommen. Nur die Wahl nach der Volkszahl kann die ge­meinsame Grundlage abgeben für eine so verschiedengestaltige Interessenvertre­tung.

Es gibt aber in Deutschland noch eine besondere Schwierigkeit zu über­winden. Das wirksamste Mittel, um das Proletariat vom Wahlrecht fernzuhalten, ist ein hoher Einkommenszensus. Da stellt sich aber so­fort als unüberwindliches Hindernis heraus, dass es keine Reichsein­kommen­steuer, überhaupt im Reiche keine direk­ten Steuern gibt. Was soll denn als Maß­stab des Einkommens oder des Vermö­gens gewählt werden? Die direkten Steu­ern der einzelnen Bundesstaaten sind sehr verschieden nach Veranlagung und Durchführung — würde man an diese das Wahlrecht knüpfen, so würde es tatsäch­lich, ebenso viele Unterschiede des Wahl­rechts geben, als es Bundesstaaten gibt, und die einen wären im Vorteil resp. im Nachteil gegenüber den anderen.

Was anders aber könnte als Wahlzensus gewählt werden, wenn nicht das Ein­kommen? Vielleicht der Grundbesitz? Das würde aber offen­bar die gesamte städtische Bevölkerung, ausgenommen die Hauseigen­tümer, vom Wahlrecht ausschließen. Das würde nicht bloß das Prole­tariat treffen, sondern auch das in­dustrielle Kapital, und würde die größten Unterschiede bilden zwischen den einzel­nen Staaten, je nach ihrer industriellen Entwicklung. Das allgemeine Ergebnis wäre eine klerikal-konservative Mehrheit.

Die Stellung der Regierung dem Parla­ment gegenüber wäre nicht minder schwierig als jetzt. Die Regierung wäre im Reichstag die So­zialdemokratie losge­worden, hätte aber dafür ein bäuerlich-klerikales Regime eingetauscht. Sie würde dabei die öffentliche Meinung gänz­lich von sich abgestoßen und das Volk in ungeheure Aufregung ver­setzt ha­ben. Zum Klassenkampf würde sich der religiöse Kampf gesel­len, und zu dem klassenbewussten Proletariat ein unzu­friedenes Bürgertum! Gerade diejenigen Elemente, die jetzt am lautesten die Un­terdrückung der Sozialdemokratie for­dern, würden dann, über­rascht und auf­gebracht durch die klerikale Herrschaft und durch die Gärung unter den Volks­massen noch mehr erschreckt als jetzt durch die Wahlsiege der Sozialdemokra­tie geängstigt, der Regierung an allem die Schuld beimessen und auf ihren Sturz emsig hinarbeiten.

Deshalb, solange man im Deutschen Rei­che nicht einmal so weit ist, eine Reichs­einkommensteuer einzuführen, kann man auch das allge­meine Wahlrecht nicht ab­schaffen. Und würde man die Einkom­men­steuer einführen, dann müsste man erst recht das allgemeine Wahlrecht be­halten, denn das Volk zu dem Zwecke zu besteuern, um ihm sein Wahlrecht zu rauben, das wäre ein zu schroffer und verletzender Wi­derspruch. Würde man es tun, so erhielte man, mag das Wahlsy­stem noch so kunstvoll konstruiert wer­den, schon bei den nächsten Wahlen die erbittertste Opposition in den Reichstag.

Diese praktische Unmöglichkeit, im Deut­schen Reiche das allgemeine Wahlrecht zu beseitigen, macht es begreiflich, warum bis jetzt, trotz den vielen Wehkla­gen über die Sozialdemokratie, doch ei­gentlich kein einziger Vorschlag einer einschneidenden Wahlreform gemacht wor­den ist. Der Wunsch ist groß, doch klein das Können. Desto mehr verfällt man auf allerlei Halbmaßregeln.

So ist der Vorschlag gemacht worden, die Altersgrenze der Wahlbe­rechtigung aus­zudehnen. Selbst abgesehen davon, dass dadurch nicht allein die Sozialdemokratie getroffen wäre, so ist doch die Wirkung dieser Maßregel rein temporär. Es mag zutreffen, dass jetzt gerade unter den Fünfundzwanzig- bis Dreißigjährigen der Prozentsatz der Sozialdemokraten be­sonders groß ist. Würde man aber die Wahl­rechtsgrenze bis zum dreißigsten Jahre hinaufschieben, was würde dann eintreten? Schon in fünf Jahren, also bei der nächsten normalen Wahlperiode, würden die jetzigen Fünfundzwanzig- bis Dreißigjährigen sich in Dreißig- bis Fünf­unddreißigjährige verwandeln und da­durch den alten Prozentsatz wiederher­stellen. Noch mehr: durch die Entziehung des Wahlrechts der Fünfundzwanzig- bis Dreißigjährigen würde man diese offenbar in die Opposition treiben und den parla­mentarischen Nachwuchs gegen sich kehren.

Mehr Bedeutung hat der Vorschlag, das Wahlrecht an den festen Wohnsitz zu knüpfen. Viel würde aber auch dadurch nicht erreicht, es sei denn, dass das platte Land gegenüber den Städten, die industriell weniger entwickelten Gebiete gegenüber den industriell mehr entwi­ckelten in Vorteil gesetzt werden. In die gleiche Kategorie fällt der Vorschlag, das Wahlrecht der Ledigen zu beschränken.

Zu erwähnen sind noch die Maßregeln, die nicht an das allgemeine, sondern an das direkte, gleiche und geheime Wahl­recht anknüpfen. Aber das indirekte Wahl­recht hat nur einen Sinn und das unglei­che ist nur möglich auf Grundlage eines Zensus. Was über diesen gesagt wurde, bezieht sich also auch darauf. Würde nun der geheime Charak­ter des Wahlaktes abgestreift werden, so würde das aller­dings zu vielen Drangsalierungen der Ar­beiter führen. Doch ist es lächerlich, wenn die Reaktion auf diese Weise mit der So­zialdemokratie fertig werden zu können glaubt. Die Sozialdemokratie vereinigt be­reits solche Massen, dass es in den mei­sten Fällen längst kein Geheimnis mehr ist, wie die Arbeiter wählen. Die Unter­nehmer müssen sich es schon gefallen lassen. Und so würden sie auch bei offe­ner Wahl schließlich gezwungen werden, den Arbeitern die Betätigung ihres politi­schen Willens freizulassen.

All diese unzulänglichen Maßnahmen ha­ben das gemeinsam, dass sie das Ge­genteil von dem erreichen würden, was sie bezwecken. Sie wür­den die Stellung der Regierung nicht verbessern, die Sozi­aldemokratie nicht beseitigen, wohl aber die Erbitterung im Volke steigern und die Opposition stärken. Das ist kein ernster Kampf, das sind Schikanen, entsprungen der Gehirntätigkeit erboster Narren und nicht dem Scharfsinn des Politikers.

Nichts kennzeichnet das besser als das kurzweilige Projekt, das in der allerletzten Zeit aufgetaucht ist und eine rasche Be­rühmtheit erlangt hat. Man solle einfach dekretieren: “Kein Sozialdemokrat darf wählen und kein Sozialdemokrat darf ge­wählt werden!” Also, man glaubt, die So­zialdemokratie dadurch vernichten zu können, dass man den Namen vernichtet! Denn was anderes wird durch diese Zau­berformel erreicht? Dann gibt es keine “Sozialdemokratie” mehr, allerdings — aber dafür gibt es eine “sozialistische Ar­beiterpartei”, eine “proletari­sche Partei”, eine “Partei der Entrechteten oder der Ausgebeuteten”, schließlich eine “na­menlose Partei”! Was dann?

Oder will man das Bekenntnis zu einem bestimmten Programm ver­bieten? Wohlan, dann weg mit dem geschriebe­nen Programm — die Taktik, die prinzipi­elle Auffassung werden dadurch nicht ge­ändert, denn diese ergeben sich aus den Verhältnissen.

Glaubt man auf diese Weise den Kampf gegen die kapitalistische Aus­beutung, gegen den Militarismus gegen die Ver­brauchssteuern besei­tigen zu können? Wie kindisch! Solange dies alles fortbe­stehen bleibt, gibt es de facto eine Sozial­demokratie, mag sie so heißen oder an­ders.

An die Folgen der Beseitigung des allge­meinen Wahlrechts denkt man gar nicht. Aber die erste Folge davon wäre die Des­organisation des Deutschen Reiches. Wenn gegenwärtig die partikularistischen Tenden­zen auch sehr zurückgetreten sind, so ist doch dieses Ergebnis im we­sentlichen gerade dem allgemeinen Wahl­recht zuzuschreiben. Das allgemeine Wahlrecht zerstörte die politischen Schranken der Klein­staaten, schuf eine Gemeinsamkeit und Gleichartigkeit der politischen Betätigung und dadurch erst machte es Deutschland zur politischen Einheit.

Löst man dieses politische Bindemittel auf, so ersetzt man die Einheit durch Zerwürfnis und Zerstückelung. Die Inter­essengegensätze der Einzelstaaten, die jetzt im allgemeinen Wahlrecht ausge­löscht werden, sie werden dann entfacht, erweitert. Das Ansehen des also auf Grund­lage eines Zensus gewählten Reichstags schwindet. Die Reichsorgani­sation selbst erscheint nicht mehr als Willensäußerung des deutschen Volkes, sondern als eine polizeilich, resp. militä­risch aufgenötigte Ver­fassung. Und die entstehenden Sonderbestrebungen finden einen mächtigen Resonanzboden in der über die Beraubung ihres politischen Rechtes erbitterten Volksmasse. Allge­meine Gärung, Unzufrieden­heit, fortge­setzter, verzweifelter Kampf gegen die Regierung. Der Regierung aber bleibt dann auf dem von ihr einmal beschritte­nen Wege auf all das nur eine Antwort: verstärkte Repressalien, polizei­liche Drangsalierung.

Die Beseitigung des allgemeinen Wahl­rechts führt also — wenn prak­tisch er­möglicht — mit Notwendigkeit zur weite­ren Verschärfung der Reaktion. Die Be­seitigung des allgemeinen Wahlrechts kann nicht eine Maßregel für sich bleiben, sondern ihr folgen auf den Fersen Be­schränkung der Presse, der Versamm­lungen, der politischen Betätigung über­haupt. Ohne allgemeines Wahlrecht we­der politische Freiheit noch bürgerliche Verfassung! So wendet sich auch hier der Kampf nicht gegen die Sozialdemokratie allein, sondern gegen die freiheitlichen Grundlagen des Staates überhaupt und gegen die Einheit des Deut­schen Reiches.

3. Der Polizeikrieg gegen die Sozialdemokratie

Je schwieriger es erscheint, der Sozial­demokratie ein für allemal die Pforten des Reichstags zu verschließen, desto mehr ist zu erwarten, dass das Bestreben ent­stehen wird, die politische Tätigkeit der Sozial­demokratie im einzelnen zu hem­men. Es soll nicht sozialdemokratisch agitiert werden! Es soll nicht sozialdemo­kratisch gewählt werden, obwohl das Recht dazu da ist! Es soll nicht sozialde­mokratisch gespro­chen werden. Es soll nicht sozialdemokratisch gedacht werden! Es soll sich niemand das Aussehen ge­ben, als wäre er Sozialdemokrat! Kurz, die Sozialdemokratie soll aufhören, Sozi­aldemokratie zu sein. Und zu diesem Zweck soll sie auf Schritt und Tritt beob­achtet und verfolgt werden.

Das bedeutet einen Guerillakrieg, einen unorganisierten Kampf der Polizisten und Staatsanwälte gegen die Sozialdemokra­tie, der von Staat zu Staat, von Gerichts­bezirk zu Gerichtsbezirk, von Polizeidi­strikt zu Polizeidistrikt anders geführt werden muss. Eine Jagd nach jedem ein­zelnen und nach jeder einzelnen Äuße­rung! Und das bei einer Partei von zirka zwei Millionen Wählern, die über mehr als drei Dutzend Tageblätter und eine große Menge anderer Zeitungen ver­fügt, über das ganze Reich bis in die kleinsten Ne­ster verbreitet ist und jährlich Tausende von Versammlungen abhält! Und bei al­ledem geht das taktische Bestreben die­ser Partei nicht etwa dahin, die Ge­setze zu verletzen, sondern im Gegenteil, sie auf das Peinlichste einzu­halten! Ist es denn so schwer, vorherzusagen, dass ein derartiger Kampf mit der stets anschwel­lenden sozialdemokratischen Masse für die Staatsorgane völlig aussichtslos sein müsste?

Wohlan, wir wollen einmal untersuchen, was auf diesem Wege der kapitalistische Staat gegenüber der Sozialdemokratie zu erreichen ver­mag!

Ein solcher Polizeikrieg gegen die Sozial­demokratie geht nach zwei Richtungen: einmal gegen die Vereine und Versamm­lungen, dann gegen die Presse.

Es ist bereits im Deutschen Reich von der Polizei in bezug auf die Beschränkung der politischen Vereinsbildung schier das Menschen­mögliche erreicht worden. Au­ßer den Wahlvereinen gibt es unter der Arbeiterschaft so gut wie gar keine politi­schen Vereine mehr. Und was ist das Re­sultat davon? Das Schwergewicht der po­litischen Aktion ist aus dem Verein in die Versammlung verlegt. Statt sich in kleinen Gruppen zu verzetteln, gewinnt sie von vornherein einen allgemeinen, einen Massencharakter. Die Sektenbildung, das gefährlichste für die einheitliche Entwick­lung jeder politischen Bewegung, wird er­schwert. Weil der Wahlverein fast die einzige mögliche Form der politischen Organisation, so ist die politische Tätig­keit von der parlamentarischen Vertre­tung unzertrennbar. Und weil der Reichstag eben eine Vertre­tung des ge­samten Rei­ches ist, so wird dadurch eine das ge­samte Reich umfassende Partei ge­schaffen. Statt die Sozialdemokratie zu desorga­nisieren, wird sie also dadurch vielmehr zu einem einheitlichen Gebilde zusammengefasst.

Wir wollen damit keineswegs behaupten, dass etwa die sächsische oder preußi­sche Vereinsgesetzgebung lauter Segen seien für die Sozial­demokratie. Die politi­sche Schulung der einzelnen Arbeiter würde zweifellos durch die freie Entfal­tung der politischen Klubs sehr ge­fördert werden. Aber erstens findet sich Ersatz dafür, vor allem in der Presse, sodann wird gerade das, was man mittels dieser Maßregeln zu verhindern sucht, die Bil­dung einer großen parlamentari­schen Ar­beiterpartei, in Wahrheit dadurch geför­dert.

Viel schwieriger schon als mit den Verei­nen, wird die Polizei mit den Versamm­lungen fertig. Wird ein Verein aus irgend­welchen Gründen aufgelöst, so ist es eine umständliche Sache, an seiner Stelle ei­nen ande­ren zu gründen, aber nach jeder verbotenen Versammlung ist es verhält­nismäßig ein leichtes, eine andere einzu­berufen. Immer lassen sich auch bei der zweckdienlichen Auslegung selbst des preußischen oder sächsischen Ver­sammlungsgesetzes Versammlungen nicht verhindern. So finden denn zahllose Versammlungen statt, und mit je größe­ren Schwierigkeiten ihr Zustandekommen verbunden ist, desto besser wer­den sie besucht. Da bleibt nun nichts mehr übrig, als den Angriff auf einzelne Personen zu konzentrieren, also vor allem auf den Agitator, der in der Versammlung spricht.

Dem Redner wird aufgelauert. Die Prä­ventivmaßregeln der Polizei sind tatsäch­lich erschöpft. Die Agitation ist im vollen Zuge. Die Polizei selbst hat. dazu beige­tragen, das Interesse der Versammelten zu stei­gern. Nun wird aufgepasst, ob sich nicht im Redefluss etwas zeigt, woran man irgendeinen Strafgesetzbuchpara­graphen festhalten könnte. Schließlich re­duziert sich die ganze staatsretterische Aktion darauf, dass es zwei preußischen Unteroffizieren vielleicht gelingt, ein Wort aufzu­schnappen, das als jemandes Eh­renkränkung aufgefasst werden könnte. Und damit soll eine große politische Be­wegung, die in tiefen wirt­schaftlichen In­teressen wurzelt, vernichtet werden?

In unzähligen Fällen gelingt auch das nicht, aber wenn auch, was dann? Die Versammlung wird aufgelöst. Die Erbitte­rung der Masse steigt aufs höchste: der Erfolg der Agitation ist gesichert. Der Agitator wird eingesperrt. Aber anstelle des einen treten sofort zehn andere auf!

So hascht die Polizei bald nach dieser, bald nach jener Richtung, hat tausender­lei zu tun, wird gar nicht fertig, regt über­all das Volk auf, erweckt Erbitterung, reizt die Massen gegen sich und gegen die Re­gierung auf, und das nennt man: Be­kämpfung der Sozialdemokratie!

Eins ist doch auf den ersten Blick klar: so lange es ein allgemeines Wahlrecht gibt, lassen sich die Vereine und Versammlun­gen nicht gänz­lich ausrotten. Das war ja auch für die Regierung das Fatale des Sozia­listengesetzes, woran es zugrunde ging. Einerseits zersprengte sie die Orga­nisationen, verbot Versammlungen, hin­derte die Agitation, aber auf der anderen Seite musste sie allmählich die gesetzli­chen Mittel der Wahlorganisationen, der Wahlversammlungen, der Wahlagitation frei­lassen. Und da sie keine anderen Wege der politischen Betätigung zuließ als diese, schuf sie mit Gewalt eine große politische Partei. Dies um so mehr, als ja im allgemeinen Wahlrecht auch das Mittel gegeben ward, das Sozialistengesetz zu beseitigen.

Und wiederum, wo die Vereine und Ver­sammlungen aus diesen oder jenen Gründen in der Agitation versagen, da springt sofort das dritte Glied der politi­schen Dreieinigkeit helfend ein: die Presse. Von den Dreien ist die Presse das mächtigste Agitationsmittel, das im­stande ist, die übrigen zwei zu ersetzen.

Hat die Zeitung einmal ihren Leser er­fasst, so lässt sie ihn nicht mehr los. Sie dringt zu ihm ins Haus von Tag zu Tag. Sie ist seine Leiterin und Ratgeberin in allen öffentlichen Angelegenheiten. Sie unterrichtet ihn. Sie lässt ihn die Dinge so betrachten, wie sie es will. Sie beherrscht sein Denken. Sie bildet zugleich, wenn sie im Dienste einer Partei steht, die geistige Verbindung zwischen den Anhängern die­ser Partei. Sie agitiert und organisiert in gleichem Masse und weicht nicht von der Stelle, bleibt als die Verbindung selbst stets bestehen, immer neu in ihrem Inhalt und doch gleich in ihrer Grundlage.

Dabei lässt sich der Journalist noch viel schwieriger in den Netzen des Strafge­setzbuchs, mag dieses noch so verrückt ausgelegt werden, einfangen als der Red­ner, dem eher in der Hitze der Diskussion ein unvor­sichtiges, gereiztes Wort ent­schlüpfen kann. Den Willen, Ungesetzlich­keiten zu begehen, hat weder der sozial­demokratische Redner, noch der sozial­demokratische Zeitungsmensch. Das weis jetzt jedes Kind. Weshalb denn auch, da die Partei auf dem gesetzlichen Boden so vor­züglich gedeiht?

Keine Schlingen und kunstgerechten Wi­derhaken der Strafgesetze ver­möchten die sozialdemokratische Bewegung zu hindern. Wie kläglich müsste es doch um die deutsche Literatur, um den Begriff- und Wort­schatz der deutschen Sprache bestellt sein, wenn es tatsächlich gelingen könnte, dem Leben entsprossene und täglich aufs neue entsprießende Ideen­kreise durch juristische Formeln aus der Öffentlichkeit zu bannen! Nur die Worte sind durch Gesetzesparagraphen fassbar, die Begriffe nicht. Denn die Zahl der Aus­drucksformen der Begriffe ist unendlich. Sie lassen sich in stets neue Zusammen­hänge und Gegensätze bringen. Sie sind wandlungsreich wie das Leben. Und je entwickelter die Litera­tur, desto verände­rungsfähiger die Begriffe in ihrer Aus­drucksform.

Vor mehr als einem Jahrhundert schrieb Klopstock die stolzen Worte:

Dass keine, welche lebt, mit Deutsch­lands Sprache sich In den zu kühnen Wettstreit wage!

Sie ist — damit ich‘s kurz, mit ihrer Kraft es sage — An mannigfalt‘ger Uranlage

Zu immer neuer und doch deutscher Wendung reich.”

Und nun, nachdem Klopstock, Lessing, Goethe, Schiller, Fichte, Heine, Lassalle usw. gewirkt haben, nunmehr sollte es möglich sein, eine großartige, durch Jahrzehnte sich entwickelnde kulturelle Bewegung da­durch zu vernichten, dass man das Aussprechen einiger Worte und Wortverbindungen unter Strafe stellt? Mehr als das ist aber ein solcher Polizei­krieg in seiner Grundlage nicht.

Der Erfolg jeder Verschärfung der straf­rechtlichen Verfolgung der So­zialdemo­kratie ist höchstens ein temporärer. So­lange die Anpassung an die neuen ge­setzgeberischen oder administrativen Normen noch nicht fertig ist, fallen der Staatsanwaltschaft zahlreichere Opfer zu. Aber schließlich wird die gesetzlich zuläs­sige Ausdrucksform unbedingt her­aus­gefunden, das Publikum lernt die Agitato­ren auch in der veränder­ten Weise ver­stehen — und die polizeilichen Streiche sausen widerstandslos durch die Luft.

Aber anderes wird dadurch erreicht! Je weniger es gelingen würde, die sozialde­mokratische Agitation mittels strafgesetz­licher Vorschriften zu fassen, desto mehr müsste das Bestreben entstehen, diese Gesetze so auszulegen, dass sie den­noch auf den erwünschten Fall passen. Dann aber wird das Gesetz in ein Prokru­stesbett gelegt: bald gekürzt, bald in die Länge gezogen, immer aber von den Rechtsprechenden selbst ver­letzt! Man ginge aus, Ungesetzlichkeit zu ahnden, und endete damit, dass man Ungesetz­lichkeit übt. Man setzte schließlich an­stelle des Ge­setzes Willkür, anstelle des Richters den Polizeibüttel.

Was wäre die Folge davon? Die Achtung vor den Richtern und vor der Rechtspre­chung würde schwinden. Statt in ihnen die vermittelnde und regelnde Kraft in den aufeinanderprallenden gesellschaftlichen Wider­sprüchen zu erblicken, gewöhnte man sich unter solchen Umständen daran, die Richter als Diener einer be­stimmten Klasse, der Klasse der Reichen, der Kapitalisten, der Ausbeuter zu be­trachten. Der Klassencharakter des Staates wäre entlarvt. Das Volk sähe im Staate nur die Organisation, durch die es beherrscht wird. Es würde misstrauisch, unzufrieden. Und wenn die neue Reichs­tagswahl kommt, wächst die Stimmen­zahl der Sozialdemokratie! Wäre das etwa ein Wunder?

Die Beseitigung des allgemeinen Wahl­rechts würde zur Desorganisation des Deutschen Reiches führen, der Polizei­krieg gegen die Sozialdemo­kratie aber hat, wenn konsequent durchgeführt, zur Folge die Desorganisation des Staates überhaupt, die Unterwühlung der gesetzli­chen Grundlagen seines Bestandes.

4. Konstitutionalismus oder Absolutismus?

Es gibt ein ehernes Muss der Konsequen­zen. Die Folgen stellen sich ein, ob man es will oder nicht. Und dann muss das verhängnisvolle Dilemma entschieden werden: vorwärts oder rückwärts, fortge­setzter Kampf oder Rückzug!

Richtet der Polizeikrieg gegen die Sozial­demokratie wenig aus, so wird er dann desto erbitterter geführt. Und je erbitterter er geführt wird, desto mehr zersetzt er die politischen Rechtsverhältnisse. Und je weiter diese Zersetzung der politischen Rechtsverhältnisse fortschrei­tet, je weni­ger von der gesetzlich garantierten Frei­heit der politischen Betätigung übrigbleibt, desto notwendiger wird es, weitere ge­setz­liche Einschränkungen der politischen Freiheit herbeizuführen, oder aber der Polizeiwillkür ein Ende zu setzen. Ins Un­endliche kann der Zwiespalt und der Wi­derspruch nicht geführt werden: Entweder man passt die polizeiliche Handhabung den Gesetzen an, oder die Gesetze der polizeilichen Praxis.

Welches sind aber die äußersten Konse­quenzen der Beschränkungen der Presse, der Vereine und der Versammlungen?

Für die Presse ist diese äußerste Konse­quenz: die Präventivzensur. Wenn es ein wirksames Mittel der Beschränkung der Presse gibt, so ist es zweifellos nur die Präventivzensur.

Solange die Veröffentlichung von vorn­herein erlaubt ist und erst nach­her die strafrechtliche Verfolgung eintritt, ist die Presse, wie schon dargelegt worden ist, im allgemeinen unfassbar. Denn dann liegt es auf seiten der vollziehenden Ge­walt, den Beweis zu führen, dass etwas gegen die Gesetze Verstoßendes ge­druckt worden ist. Es lässt sich aber für jedes Ding eine Ausdrucksform finden, die gegen die Straf­gesetze nicht verstößt.

Dagegen herrscht unter der Präventivzen­sur der Grundsatz: Jede Pu­blikation ist verboten, oder anders: nur mit Erlaubnis des Zensor, darf gedruckt werden. Wenn nun aber der Zensor die Veröffentlichung nicht erlaubt, so ist es auf seiten des Verfassers, den Beweis zu führen, dass die Deutung des Zensor, falsch sei. Er hat der vollziehen­den Gewalt den Prozess zu machen, während früher das Umge­kehrte eintraf. Die Situation ist total ver­ändert.

Unter der Präventivzensur erscheint also überhaupt nur das, was der vollziehenden Gewalt genehm ist, bzw. den Instruktio­nen des Zensors entspricht. Das ist nicht mehr bloß Einschränkung, sondern Auf­hebung der Pressefreiheit.

Am Ende gelingt es freilich auch der Prä­ventivzensur nicht, die der Regierung un­liebsame Literatur zu vernichten. Das be­weist die Er­fahrung. Man muss sich wahrlich schämen, dass man zum Schlusse des Jahrhunderts dergleichen banale Sachen noch zu erörtern hat. So herr­lich weit hat es die Bourgeoisie ge­bracht.

Einmal sind auch Zensoren Menschen, folglich können sie düpiert wer­den. So­dann bildet in solchen Fällen die Literatur die absonderlichsten Arten des indirekten Meinungsaustausches mit dem Publikum heraus, so in der Gestalt der Satire, des Theaterstücks usw. Schließlich bleibt die Möglichkeit der geheimen Publikation und des Einschmuggelns vom Ausland. Das eklatanteste Beispiel dieser letzteren Art ist be­kanntlich der Zürcher “Sozialdemo­krat”, der trotz aller Hindernisse regelmä­ßig allwöchentlich in Zehntausenden von Exemplaren in Deutschland eintraf und verbreitet wurde.

Vollends versagt die Präventivzensur selbstverständlich ihre Wirkung, wenn neben ihr die Redefreiheit fortbestehen bleibt. Also erfordert die Präventivzensur als unvermeidliches Gegenstück die Auf­hebung der Vereins- und Versammlungs­freiheit.

Aufhebung, nicht bloß Einschränkung. Wie bei der Presse, so müsste auch bei den Vereinen und Versammlungen das Verbot als Grundsatz gelten. Die Dispen­sation von diesem Verbot, die Erlaubnis, Vereine zu gründen, Versammlungen ab­zuhalten, müsste vollständig in die Hände der vollziehenden Gewalt, der Regierung, gelegt werden. Und auf diese Weise lässt sich allerdings die Vereins- und Ver­sammlungs­tätigkeit, sieht man von den wenig bedeutenden geheimen Organisa­tionen ab, nach dem Wunsche der Regie­rung regeln. Beispiele: Russ­land, die Tür­kei und China.

Aber es ist klar, dass, wenn diese äuße­ren Konsequenzen der politi­schen Reak­tion gezogen sind, dann die Aufhebung des allgemeinen Wahlrechts erst recht als staatserhaltende Notwendigkeit sich er­weist. Denn der gesamte Groll, der durch die politischen Beschränkungen erzeugt worden wäre, würde bei den Wahlen zu einem explosiven Ausdruck kommen, um so mehr als er sonst kein Ausdrucksmittel hätte. So zieht eins das andere in einer unverbrüchlichen Kettenfolge nach sich.

Aber es ist sehr zweifelhaft, ob selbst die Aufhebung des allgemeinen Wahlrechts bei einem solchen Zustand extremer Re­aktion, die alles getroffen hätte, was nur irgendwie freiheitlich oder demokratisch denkt, ausreichen würde, um auf die Dauer eine der Regierung ge­nehme Reichstagsmajorität aufrechtzuhalten. Denn eine solche politi­sche Ordnung würde ja die öffentliche Betätigung jeder Opposition außerhalb des Reichstags unmöglich machen, folglich bei der gro­ßen Mannigfaltigkeit der bürgerlichen In­teressen eine parlamentarische Oppositi­on förmlich erzwingen.

Andererseits haben wir bereits gezeigt, mit welchen fast unüberwind­lichen Schwierigkeiten die Einführung einer Zen­suswahl im Deutschen Reiche verbunden ist.

Das ist der Widerspruch: weil man die Opposition aus dem Reichstag nicht hin­ausdrängen kann, so sucht man ihre öf­fentliche Tätigkeit durch Einschränkung der politischen Freiheit zu hemmen — aber je mehr man die politische Tätigkeit außerhalb des Parlamentshauses er­schwert, desto mehr stärkt man die par­lamentarische Opposition; und hebt man die politische Freiheit gänzlich auf, dann hat man erst recht die Opposition im Hause!

Gibt es nun keinen Ausweg aus diesem fatalen Dilemma? Doch, man muss nur die weitere Konsequenz der Reaktion zie­hen. Wenn man nun einmal die Oppositi­on im Reichstag nicht los werden kann, so muss man offenbar suchen, ihre politi­sche Wirksamkeit innerhalb des Reichs­tags zu beschränken. Diese Aufgabe ist juristisch sehr leicht zu lösen. Die gesetz­geberische Initiative des Reichstags ist bekanntlich auch jetzt in enge Bahnen geleitet: kein Reichtagsbeschluss kann Gesetz werden, wenn es der Bundesrat nicht will. Man braucht dies bloß in der Weise zu vervollständigen, dass man das Ablehnungsrecht des Reichstags be­schränkt. So z. B.: Wenn eine Regie­rungsvorlage vom Reichstag dreimal ab­gelehnt, aber vom Bundesrat angenom­men wird, so soll sie dennoch Gesetzes­kraft haben. Mit anderen Worten, das Ablehnungsrecht des Reichstags soll nur bis zum dritten Male gelten. Wird das durchgeführt, so hat die Regierung aller­dings keine parla­mentarische Opposition mehr zu fürchten, aber zugleich ist sie es nun­mehr allein, die die Gesetze macht, und der Reichstag hört auf, der gesetzge­bende Körper des Landes zu sein,

Also: Aufhebung der Pressefreiheit, Auf­hebung der Koalitions- und Versamm­lungsfreiheit, Aufhebung des allgemeinen Wahlrechts, Auf­hebung der gesetzgeberi­schen Kompetenz des Reichstags — das alles hängt eng miteinander zusammen, hat eins das andere zur unabwend­baren Folge.

Bei diesem reaktionären Paternoster ist es ganz gleich, an welcher Stelle man das Abzählen beginnt. Unmerklich ge­langt man weiter, zählt die ganze Reihe ab, und schließlich weis man gar nicht mehr, wo der Anfang ist und wo das Ende. Man beginne mit der Einschrän­kung der Kompetenz des Reichstags. Es ist klar, dass man dann auch sofort das allgemeine Wahlrecht würde abschaffen müssen, sonst würde es einen unausge­setzten erbitterten Kampf geben zwischen Reichstag und Regierung. Oder man ma­che den Anfang mit der Einführung der Zensuswahl. Dann wird die Opposition mit desto größerer Wucht sich in die Presse und Versammlungen werfen. Folglich Aufhebung der Pressefreiheit usw. Es bestätigt sich, was wir schon frü­her erörtert haben: dass die Aufhebung des allgemeinen Wahlrechts nicht eine Maßregel für sich bleiben kann, sondern die brutalste allgemeine politische Reak­tion nach sich ziehen muss.

Die Reaktionäre denken diese Folgen nicht aus. Sie steuern darauf los ins Blaue hinein. Aber die Wirklichkeit küm­mert sich nicht um die Logik der Staats­männer. Sie hat ihre eigene Logik. Und sie zwingt den Höchsten wie den Niedrig­sten, ihr zu folgen oder auf halbem Wege umzukehren.

Der Kampf gegen die Sozialdemokratie, wenn in angegebener Weise fortgeführt, verwandelt sich mit unerbittlicher Konse­quenz in einen Kampf zweier politischer Systeme, zweier politischer Gesell­schafts­ordnungen. Das ist doch wahrlich kein Wunder. Die Sozialdemokratie tut nichts anderes, als dass sie innerhalb der gegebenen politischen Verfassung sich betätigt. Folglich, wenn man diese Tätig­keit hindern will, so muss man die Ver­fassung einschränken. Indem man gegen die politische Organisation der Arbeiter­klasse kämpft, kämpft man schließlich gegen den Konstitutionalismus überhaupt, der erst diese Organi­sation in breitem Maßstab ermöglichte. Die gesamte deut­sche Reaktion erscheint von diesem Standpunkt aus als Rückkehr zu den al­ten Zei­ten. Man will Stufe für Stufe die Leiter heruntersteigen, die man früher aufgestiegen ist — was Wunder, dass man dann schließlich dort anlangt, woher man ausgegangen ist — beim Absolutis­mus?

Darum, wenn die politische Verfolgung der Sozialdemokratie auf eine solche Weise weiter fortschreitet, so muss unbe­dingt einmal nicht nur die Sozialdemokra­tie, sondern auch das Bürgertum wieder vor der Frage stehen: Konstitutionalismus oder Absolutismus?

5. Der Staatsstreich, der Militarismus, die Agrarier

Die Ironie der Weltgeschichte stellt alles auf den Kopf. Wir, die “Revolutionäre”, die “Umstürzler”, wir gedeihen weit besser bei den ge­setzlichen Mitteln als bei den ungesetzlichen. Die Ordnungsparteien, wie sie sich nennen, gehen zugrunde an dem von ihnen selbst geschaffenen ge­setzlichen Zustand. Und wenn wir nicht so wahnsinnig sind, ihnen zu Gefallen uns in den Straßenkampf treiben zu lassen, dann bleibt ihnen zuletzt nichts anderes übrig, als selbst diese ihnen so fatale Ge­setzlichkeit zu durchbrechen.”

Friedrich Engels

Je schroffer und schärfer die Reaktion auftritt, desto mehr muss die parlamenta­rische Opposition wachsen. Ist nicht schon in diesem Um­stand allein die Ge­währ dafür gegeben, dass das reaktionäre Treiben beizeiten zusammenbrechen muss? Das wäre wohl so in einem demo­kratischen Staate, in dem die Regierung vom Parlament abhängig ist. Anders aber, wo die Regierung unabhängig ge­nug ist, um auf Aben­teuer ausgehen zu können. Gerät nun eine solche Regierung wirklich einmal auf die Bahn der Abenteu­er, so schrickt sie schließlich auch da­vor nicht zurück, wenn sie die Gesetze auf verfassungsmäßigem Wege nicht ändern kann, auf ungesetzlichem Wege die Ver­fassung zu ändern. Met dem Säbel in der Hand zwingt sie der Volksvertretung eine neue Verfassung auf. Das ist der Staats­streich.

Man hat der deutschen Regierung schon oft geraten, durch einen Gau­nerstreich à la Napoleon III. ihren Willen durchzuset­zen. Noch öfter hat man der Sozialdemo­kratie mit einem “Aderlass” gedroht. Der Boden, dem diese hirnverbrannten Pro­jekte entspringen, ist der Mi­litarismus.

Die allgemeine Wehrpflicht und die unge­heure Entwicklung der Waf­fentechnik le­gen eine erschreckende militärische Macht in die Hände der Regierungen. So hat denn auch erst vor kurzem der jüngst ver­storbene Friedrich Engels klar und überzeugend nachgewiesen, dass die Entwicklung der militärischen Technik und Organisation, verbunden mit den Fortschritten im Kommunikationswesen eine “Barrikadenrevo­lution” zur Unmög­lichkeit gemacht haben. Gestützt auf diese Sachlage entsteht unter den Reak­tionären der Glaube, dass man mittels des Militärs alles vermag, dass das mo­derne stehende Heer die Stellung der Re­gierung unerschütterlich macht.

Im Bewusstsein dieser scheinbar unein­nehmbaren Position kann schließlich nur zu leicht in einer abenteuerlustigen Regie­rung der Glaube entstehen, alles wagen zu können, und dann wird sie ungeduldig und unduldsam werden gegen jede Op­position. Wenn nun die Entwick­lung der Dinge sie vor die Alternative stellt, entwe­der nachzugeben oder Gewalt anzuwen­den, so wird sie vor der Gewalt wohl nicht zu­rückschrecken.

Andererseits gibt es Interessentengrup­pen, denen der Gewaltstreich einer rück­sichtslosen Regierung sehr erwünscht wäre, die zum Teil darauf planmäßig hin­arbeiten.

Da sind zunächst die Agrarier. Diese ka­pitalistischen Großgrundbesitzer hatten bis in die siebziger Jahre und, unter dem Zollschutz, noch weit darüber hinaus enorm steigende Grundrenten, mit denen auch die Bodenpreise kolossal gestiegen sind. Daraufhin nahmen sie Hypo­theken auf, gründeten Schnapsbrennereien und Zuckerfabriken, oder ließen sich in andere Spekulationen ein, nicht zum mindesten auf der Börse, oder sie verlebten das ge­liehene Geld in Saus und Braus. Da nun die Zeiten der sinkenden Getreidepreise gekommen sind und gleichzeitig in Schnaps und Zucker eine Überproduktion sich heraus­gebildet hat, so können sie selbstverständlich ihre Schulden nicht mehr bezahlen, die Zinsenlast drückt sie und sie klagen, sie seien ruiniert. Es hat sie aber nur das endliche Schicksal jedes Spekulanten ereilt. Sie sind Bankrotteure, die sich mitnichten von jeder fallieren­den Bank unterscheiden; sie machen sich aber daraus eine Tugend, währenddem es anderen als Laster angerechnet wird.

Und nun heißt es: “Staat, hilf!” Aber der Staat kann ihnen nicht helfen, sintemalen selbst die Getreidezölle auf die Dauer nicht wirken. Es sei denn, dass der Staat sie aus den Schulden (die viele Milliarden betragen) herauskauft und die Schuld­scheine in die Papierstampfe wirft!

Sie wissen auch selbst keine Hilfe. Sie erdenken die abenteuerlichsten Pläne, ei­ner unmöglicher als der andere, und für all das wollen sie den Staat engagieren. Ihren sämtlichen Plänen liegt am Ende der Ge­danke des Staatsalmosens auf Kosten der Steuerzahler zugrunde. Sie besitzen aber nicht die Majorität im Reichstag und werden sie auch nie aus eigener Kraft bilden können, weil mit der Entwicklung der Industrie die Vertretung des Bürgertums, sowie die der Arbeiter­klasse sich erweitern. Desto mehr wen­den sie sich an die Regierung. Dazu kommt das traditionelle Band, das das preußische Junkertum mit der preußi­schen Monarchie verknüpft.

Sie tragen ihre Dienste zu jedem Zwecke der Regierung an — gegen Bezahlung. Kampf gegen wen man will: gegen die Sozialdemokratie, gegen die Katholiken, gegen die Polen, gegen die Franzosen. Aber es muss bezahlt werden! Ihre Va­terlandsliebe, ihre Kaisertreue tragen sie zu Markte und feilschen darum mit der Regierung weit mehr, als ein jüdischer Pferdehändler um einen alten Schimmel. Sie sind bereit, die deutsche Freiheit ge­bunden irgendeiner Regierung zu über­liefert, sie zu meuchelmorden, zu schän­den — für angemessenen Lohn. Aber wenn sie sich von der Regierung nicht genügend bezahlt glauben, schreien sie “Betrug!”, reißen der Monarchie die Rock­schöße ab und bedrohen sie mit den Fäusten!

Sie geben sich als Stützen der Regierung aus, fordern aber dafür, dass die Regie­rung sie stütze. Sie schützen die Regie­rung gegen die bürger­liche Opposition, bedrohen aber von der anderen Seite selbst die Re­gierung, wenn sie ihren Wünschen nicht entspricht. So setzen sie die Regierung zwischen zwei Feuer, die sie entfachen: einmal indem sie die Re­gierung gegen die bürgerliche und prole­tarische Opposition het­zen, das andere Mal, indem sie die ihnen untergebenen Wählermassen gegen die Regierung het­zen.

Je mehr nun die Kluft zwischen der Re­gierung und der politischen Volksvertre­tung sich ausdehnt, desto willkommener ist das den Agra­riern. Denn je mehr die Opposition wächst, desto mehr braucht die Regierung ihre Stütze. Man täusche sich dort nicht: wenn die Agra­rier für die Beschränkung des allgemeinen Wahl­rechts eintreten, so handelt es sich für sie, in deren ostpreußischen Provinzen die Arbei­terklasse sich kaum erst zu re­gen beginnt, viel weniger um die Sozial­demokratie, als darum, ein rücksichtslo­ses agrarisches Regime zu eta­blieren.

Die Agrarier sind für die Beschränkung der politischen Freiheit, weil sie darin das Unterpfand ihrer politischen Herrschaft erblicken. Sie wollen die politische Knechtung des Volkes, um den Staat als Werk­zeug der fiskalischen Ausbeutung zu handhaben. Sie sind für den Staats­streich, weil sie dadurch die Regierung in ihre Gewalt bekom­men zu können glau­ben.

6. Die Furcht vor der sozialen Revolution

An dem Tage, wo das Thermometer des allge­meinen Wahlrechts den Siedepunkt bei den Ar­beitern anzeigt, wissen sie so­wohl wie die Ka­pitalisten, woran sie sind".

Friedrich Engels

Es ist sehr gut gesagt, man solle die so­zialen Übel beseitigen und dadurch der Sozialdemo­kratie den Boden abgraben. Gewiss muss man dies möglichst. Man wird das aber nie ganz kön­nen. Wenig­stens weis keine Partei die nötigen Mittel hierfür anzugeben. Niemals wird man diese Partei befriedigen können. Niemals..

General v. Boguslawski

Viel gefährlicher noch als die machiavelli­sche Politik der Agrarier, kann sich unter Umständen ein anderer Faktor erweisen — die Furcht der Kapitalistenklasse vor der sozialen Revolution.

Die Kapitalistenklasse erwartet scheinbar von Tag zu Tag den Aus­bruch einer ge­waltsamen Revolution seitens des Prole­tariats — sollte nicht vielmehr das Prole­tariat Grund haben, einen Staatsstreich seitens der Kapitalistenklasse zu be­fürchten, wenn diese die Regierung in ih­rer vollen Macht hat?

Gewiss — und das kann nicht oft genug wiederholt werden — wo, wie im Deut­schen Reiche, die Verfassung der Arbei­terklasse die Möglichkeit gibt, auf gesetz­geberischem Wege ihre Ziele zu errei­chen, da hat die Sozialdemokratie kein Interesse an einer gewaltsamen Änderung der Verfassung mittels einer Revolution. Sie hat vielmehr allen Grund, einen sol­chen Konflikt zu vermeiden, weil im revo­lutionären Kampfe die meisten Opfer je­denfalls auf seiten des Proletariats fallen würden und weil ein solcher ein sehr ris­kantes Unternehmen ist, dessen Miss­er­folg die Reaktion ungemein stärken und die Arbeiterbewegung auf Jahre hinaus .zurückschleudern würde. Weshalb soll sie diesen gefähr­lichen Weg betreten, wenn ihr der durch die Gesetzlichkeit voll­kom­men gesicherte offen steht?

Aber je weniger die Sozialdemokratie, de­sto mehr Grund hat die Ka­pitalistenklas­se, wenn es nicht anders geht, mit Gewalt die Staatsver­fassung zu ändern. Je er­folgreicher die Sozialdemokratie sich des allgemeinen Stimmrechts bedient, desto verhängnisvoller wird es für die Kapitali­stenklasse.

Je weiter der Klassenkampf fortschreitet, desto klarer wird es für jedermann, dass es sich dabei um die Existenz selbst des Kapitals han­delt. Das wusste ja der wis­senschaftliche Sozialismus von Anfang an und machte nie ein Hehl daraus. Wenn er dem Kapital zur Nach­giebigkeit, zur Beschreitung des Weges der sozialen Reformen rät, was anders erstrebt er da­mit, als ihm einen milden Tod zu ver­schaffen? Aber sterben muss es.

Glaubt man denn, dass das Kapital sich ruhig diesem verhängnisvollen Schicksal ergeben wird? Das spräche gegen jede geschichtliche Erfah­rung und gegen jede politische Erkenntnis. Noch nie hat eine Gesell­schaftsklasse freiwillig auf ihre Exi­stenz verzichtet.

Und nun vollends im proletarischen Klas­senkampf! Nicht mehr um politische Pri­vilegien handelt es sich, die die Kapitali­stenklasse etwa einzubüßen hätte, son­dern um die wirtschaftliche Grundlage ih­res gesellschaftlichen Daseins. Die Sozi­aldemokratie erstrebt die Expro­priation der Expropriateure. Glaubt man, dass sich die Fabrikanten, Kaufleute und Großgrundbesitzer, kurz die Kapitalisten, deren Privateigentum an den Produkti­onsmitteln in gesellschaftliches verwan­delt werden soll, die dadurch ihre ganze ungeheure ökonomische Machtstellung einbüßen müssen, glaubt man, dass sie sich das wider­standslos gefallen lassen? O nein, sie werden kämpfen mit allen ih­nen nur irgendwie zugänglichen Mitteln und vor nichts zurückschrecken!

Wenn das Proletariat den entscheidenden Kampf kämpft, weil es nichts zu verlieren und eine Welt zu gewinnen hat, so die Kapita­listenklasse, weil sie eine Welt zu verlieren und weniges nur zu ge­winnen hat.

Darum, wenn auf gesetzlichem Wege der vollständige Sieg des Proletariats möglich ist, so wird die Kapitalistenklasse wenig­stens entscheidenden Moment ihm diesen Weg mit bewaffneter Macht abzuschnei­den suchen.

Aber man braucht nicht einmal so weit zu denken. Schon jetzt, je schneller, desto besser, möchten die Hohepriester des Kapitals unter dem Proletariat ein Blutbad anrichten. Dadurch soll der Arbeiter klasse ein Schrecken eingejagt werden, der sie vor energischem politi­schem Auf­treten zurückhält.

Wie ist es nun: Ist es tatsächlich bloß die Großmut der Regierung, die sie davor zu­rückhält, mit Mord und Schrecken unter die Arbeitermas­sen zu treten? Oder lie­gen vielleicht die Sachen doch nicht so einfach? Hat nicht auch die Regierung etwas bei dem Spiel zu verlieren? Liegt es bloß in der Hand der Regierung, ob der politische Charakter des Landes dieser oder jener sein wird? Wenn die Regierung sich auf die Waffen stützt, auf was soll sich das Volk stützen? Wenn es dazu käme, dass die Regierung mit bewaffne­ter Hand das Volk angreift, wie könnte sich das Volk verteidigen? Wenn die Re­gierung dem Volke die verbrieften Rechte rauben wollte, wie könnte es sich des Raubens erwehren? Gibt es nichts, das man dem Staatsstreich entgegensetzen könnte? Ist der Schutz der Verfassung gegen Hochverrat, wenn dieser sich auf Flinten und gezogene Kanonen stützt, so ganz aussichtslos? Oder gibt es noch immerhin Bedingungen, unter denen er gelingen kann? Welche sind es dann? Und wie sollte der Kampf geführt werden? Das sind Fragen von großer politischer Tragweite. Wir wollen versuchen, sie zu beantworten.

7. Die Barrikadenrevolution

Die Kampfweise von 1848 ist heute in jeder Beziehung veraltet”

Friedrich Engels

Was einer hochverräterischen Regierung die Zuversicht geben könnte, ihr verbre­cherisches Vorhaben auszuführen, ist, wie schon erwähnt, die Annahme, das Volk sei nicht imstande, sich dagegen zu wehren. Aber man denkt dabei an eine Abwehr nur im Sinne des Straßenkamp­fes mit dem Militär, des Barrikaden­kampfes. Dieser wäre unter den moder­nen strategischen Verhältnissen aller­dings ein Wahnwitz. Es ste­hen jedoch dem Volke noch andere Mittel des Wider­standes gegen eine Vergewaltigung der Verfassung zu Gebote, die zwar nicht den gewaltsamen Charakter des Barrikaden­kampfes tragen, dennoch aber nicht we­niger wirksam sind. Bevor wir nun die Verteidigungsmittel des Volkes einer Durchsicht unterziehen, wollen wir noch einen kurzen Blick werfen auf die Barrika­denrevolution, um dadurch eine Vorstel­lung zu gewinnen von den bei einem Konflikt zwischen Volk und Regierung im allgemeinen zur Geltung kommenden Kräften und Wir­kungen.

Wie bei einem Staatsstreich, so handelte es sich auch bei einer gewalt­samen poli­tischen Revolution stets um eine gewalt­same Änderung der Verfassung. Nur dass es im ersten Fall die Regierung war, die mit militärischer Macht dem Volke die Änderung aufzwang, im anderen Fall aber war es das Volk, das eine stattgehabte politische Vergewal­tigung oder Unterjo­chung mit Gewalt beseitigte.

In einem demokratischen Staat sind Staatsstreich wie gewaltsame poli­tische Revolution für alle Zeiten ausgeschlos­sen. Denn ersterer setzt bereits voraus, dass die Regierung als unabhängige Macht der Volks­vertretung gegenüber auftreten kann, dass sie eine genügend weite Verfügung über die bewaffnete Macht besitzt, und die zweite setzt vor­aus, dass eine große Gesellschaftsklasse keine ausreichenden verfassungsmäßi­gen Mittel hat, ihre Interessen zur politi­schen Geltung zu bringen.

Darum, wenn die verschiedenen politi­schen Strömungen der Gesell­schaft frei und gleichmäßig in der Öffentlichkeit und im Parlament zum Ausdruck kommen könnten, dann gäbe es nur parlamentari­sche Konflikte. Wenn unter solchen Ver­hältnissen eine Partei nicht stark genug wäre, um im Parlament den erwünschten politischen Druck auszuüben, so könnte sie es auch auf offener Straße nicht tun. Hätte aber, unter diesen Voraussetzun­gen, eine Partei die Volksmajorität hinter sich, so müsste sie auch die Majorität im Parlament, folglich die Klinke der Gesetz­gebung in ihrer Hand haben.

Wenn aber große Volksmassen, die ein ernstes politisches Interesse zu vertreten hatten, von der politischen Betätigung, vor allem vom Wahlrecht ausgeschlossen waren, dann sammelte sich naturmäßig jener politische Gärungsstoff an, der schließlich zum gewaltsamen Aus­bruch führte. Denn die gewaltsame politische Revolution war nie etwas Zufälliges und Plötzliches, wenn sie auch als Überra­schung erschien. Sie bereitete sich all­mählich und gesetzmäßig vor und musste deshalb, unter gegebenen Bedingungen, mit Notwendigkeit eintre­ten.

Es stieg und verbreitete sich die Erbitte­rung der politisch unterdrückten Volks­massen, die auf alle nur irgendwie mögli­chen Weisen zum Ausdruck zu kommen suchte, bis die höchste Steigerung des Volksun­willens sich den höchsten gewalt­samen Durchbruch schuf. Es traten politi­sche Kundgebungen ein, die in aufstei­gender Linie von der Ver­minderung der “Gesetzlichkeit" bis zu jenem, von der Bourgeoisie selbst verherrlichten “ew‘gen” Revolutionsrecht führten, das, nach Schiller, “unveräußerlich und unzerbrech­lich, wie die Sterne selbst” am Himmel hängt. Das Kleinfeuer der Zeitungen: Be­spötteln, Bewit­zeln, Beschimpfen, Nadel­stiche, Keulenschläge, Kritisieren, Argu­mentieren, Moralisieren, Drohungen, Ver­sammlungsbeschlüsse Petitionen, Pro­testerklärungen, Demonstrationen, Stra­ßenumzüge, Murren, Schreien, Ungedul­digwerden der Volksmengen, “Zusam­menrottungen” — Revolution! Die Skala brauchte nicht nacheinander und in allen Einzelheiten durchgegangen zu werden, vielmehr hing die Art des politischen Aus­drucks von der vorhandenen politischen Möglich­keit ab. Der Prozess konnte auch, wenn in der Erscheinungsform ver­hindert, latent vor sich gehen, bis endlich mit ei­nem Mal alles in einem sich überstürzen­den Durcheinander zum Ausdruck kam.

Alle soeben gekennzeichneten Vorgänge hatten nun zum gemeinsamen Zweck, die politischen Machthaber zu beeinflussen, einzuschüchtern, zu verwirren, bloßzu­stellen, verächtlich, verhasst zu machen, schließlich die Regierung als den höch­sten Ausdruck der hinderlichen Staatsge­walt zu stürzen bzw. zu ändern, ein Pro­zess, der selbst mannigfache Abstufun­gen zulässt, vom Kabinettswechsel bis zur Einsetzung einer revolutionären provi­sorischen Regierung.

Bei der Schilderung des Verlaufs der ei­gentlichen Barrikadenrevolution muss vorausgeschickt werden, dass ihr fast ausschließliches Gebiet die Hauptstadt war und deshalb nur hier ihr vollständiger Lebenslauf verfolgt werden kann.

Die Barrikadenrevolution wie sie die Ge­schichte aufweist, erscheint uns vor allem als der Abschluss der geschilderten Ent­wicklungsreihe politischer Äußerungen und zugleich ihre Vereinigung und höch­ste Kraft- und Wirkungssteigerung. Aber sie war mehr als das. Sie war die gesell­schaftliche Desorganisation. Die Fabri­ken, Werkstätten, Wohnhäuser leerten sich, die Straßen und Plätze wurden überfüllt. Die Läden wurden geschlossen. Die Produktionstätigkeit, der Handel den Verkehr stocken. Die vielen tausend Fä­den des gesellschaftlichen Puppenspiels wurden auf einen Augenblick gelöst. Und mit der All­tagsbeschäftigung verschwand auch der moralische Alltagsdusel. Die Bequemlichkeit hörte auf, die Lässigkeit wirkte nicht mehr, die Tra­dition war ver­gessen, der Schlendrian gebrochen, die kleinlichen Lebenssorgen wurden zurück­gestellt und nur eins beseelte die schie­bende, drängende, flutende, wogende Menge — das politische Interesse. Im aufgeregten Menschenchaos löste sich der Einzelwille auf und zur Geltung ka­men die Gesetze der Massenbewegun­gen. Politisierende Menschenhaufen bil­deten sich an den Straßenecken. Es wa­ren die Ner­venknoten der zu einem gro­ßen Ungetüm verschmolzenen Volks­menge auf offener Straße, die Sensitivi­tätsknäuel, die in zitternder Hast Ein­drücke, Nachrichten, Gerüchte, Gedan­ken, Worte, Stimmungen weitertrugen, erzeugten, aufbauschten, im Fluss er­hielten. Die Unsicher­heit, das Ungewöhn­liche, Perverse der Situation, die nervöse Span­nung, die Konzentration des Interes­ses auf einen Punkt, das nahe Bei­sam­mensein in großer Volkszahl steigerten das Fassungsvermögen, schafften gleich­sam anstelle der gewöhnlichen geistigen Empfänglich­keit einen verfeinerten, po­tenzierten, revolutionären Massenintellekt. Deshalb das schnelle Umsichgreifen ei­nes revolutionären Aufstandes — notabe­ne, wenn er zur richtigen Zeit kam.

Der Staat wurde in den allgemeinen Tru­bel hineingerissen. Die Regie­rungsma­schinerie klappte vorzüglich, solange der gesamte gesellschaft­liche Mechanismus ungestört funktionierte. Solange die Ar­beiter tags­über in den Fabriken, nachts in den Mietskasernen eingesperrt waren, die Straßen für den Tag Polizisten, Ge­schäftsleuten, Packträgern, Modedamen, Fuhrwerken, für den Abend Prostituierten, Gaunern, Dieben, dem Theater- und Kon­zertpublikum, den Ballbesuchern und den Einbrechern überlassen wurden, solange jeder seinem bürgerlichen Lebensberuf nachging: die Arbeiter frohndeten, die Fa­brikanten in den weichen Kontorsesseln schlummerten, die Kaufleute hinter den Ladentischen standen, die Diebe stahlen, die Richter richteten, die Für­sten jagten — herrschte “heilige Ordnung”, vorausge­setzt, dass der gesellschaftliche Reini­gungsprozess von den Straßenkehrern, Polizisten, Abdeckern, Leichenbestellern ordentlich besorgt wurde. Als aber die Be­rufstätigkeit aufhörte, der korrekte Ge­schäftsmann ebenso wie der Gauner und Schwindler außer Erwerb gesetzt wurde, wenn ernste Volksmengen sich in den Straßen bewegten und auf den Haus­mauern Inschriften erschienen: “Tod den Dieben” — dann ergriff die Regierungsor­gane vom Schutzmann bis zum König eine bange Besorgnis, eine herzbeklem­mende Unsicherheit, eine scheue Ratlo­sigkeit. Gaben sie sich früher für die Be­schützer des Volkes aus, so erschienen sie jetzt schutzbedürftig gegenüber dem Volk. Denn gegen sie richtete sich der lang verhaltene Zorn des aus seiner ge­waltigen Ruhe aufgerüttelten Volkes. Vor allem aber ging das Bestreben der Regie­rung dahin, die Ordnung wieder herzu­stellen, d.h. das Volk mit Gewalt zu ver­an­lassen, die einzelnen Stellungen in der gesellschaftlichen Tretmühle wieder ein­zunehmen, es mit Gewalt in den ge­wohnten Schlendrian hineinzuzwängen. Allein die Polizei verschwand im Men­schenstrom und wurde machtlos. So blieb die einzige Zuversicht — das Militär.

Die Aufgabe, die dem Militär zufiel, war die, das Volk aus den Straßen zu verja­gen, es zu Paaren zu treiben, um dadurch die Zauberkräfte der Zusammenrottungen zu zerstören, in der Erwartung, dass die auseinandergesprengte Menge, ohne Zu­sammenhang untereinan­der, entmutigt würde und ihre aufgelösten Einzelglieder, auf sich selbst gestellt, den moralischen Halt verlören, nachgäben und wieder ins Joch kröchen, um im ausgetretenen Ge­leise fortzutraben. Dem widersetzte sich das Volk. So entstanden die Barrikaden.

Die Bedeutung der Barrikade ist nach zwei Richtungen hin zu betrach­ten. Er­stens war sie ein Sammelpunkt und Or­ganisationsmittel. Gerade wo es sich um eine von vornherein unorganisierte Masse handelte, wie das bei den geschichtlich bekannten gewaltsamen Revolutionen stets der Fall war, war dieser Punkt sehr wichtig. Die Massenver­sammlungen be­kamen dadurch ein Ziel und ein Binde­mittel. Beson­ders wirksam zeigte sich das bei den durch ihre Berufstätigkeit vonein­ander getrennten, aber doch im beschränkten Raum der Straße, des Stadtviertels in sehr ansehnlicher Zahl vorhandenen Kleinhändlern, Handwer­kern, Hausindustriellen usw. Durch den Barrikadenbau wer­den diese Leute aus den Budiken, Werkstätten, Hinterhäusern heraus­gelockt und vereinigt. Für alle voll­ends war die Barrikade die Pro­klamation, die öffentliche Kund- und Geltendma­chung der Revolu­tion, das aufgehisste Banner, um die revolutionären Kräfte zu sam­meln. Man bedenke, wie zahlreich noch 1848 das Kleinbürgertum und das Handwerkertum waren, wie unorganisiert die Arbeiterklasse selbst, um die Wichtig­keit dieses Moments zu begreifen. Des­halb zeigt jede Revolution zunächst eine aufsteigende Bewegung. Sie brauchte Zeit, um sich zu entfalten. Und solange diese Ausdehnungsfähigkeit anhielt, war der Sieg auf seiten des Volkes. Mit Recht verweist Engels darauf, dass der Sieg des Volkes in Berlin 1848 unter anderem dem starken Zufluss neuer Streitkräfte wäh­rend der Nacht und des Mor­gens vom 19. März zuzuschreiben ist.

Zweitens war die Barrikade eine Schutzwehr: Deckung auf seiten des Vol­kes und Hindernis auf seiten des Militärs. Die Macht dieser Hem­mung auf das Mili­tär lag nun nicht nur in ihrer materiellen, sondern mehr noch in ihrer moralischen Wirkung. Der Marsch der Truppen wurde aufgehalten, dadurch entstand Unord­nung in den Reihen, die stramme Span­nung des sich militärisch bewegenden Zuges ließ nach, Zeit verstrich, die Sol­daten, durch Gewohnheit, militärischen Drill zusammengehalten, durch den Trommelschlag betäubt, durch den ge­meinsamen Kolonnenmarsch hingerissen, bekamen Gelegenheit, sich umzusehen, nachzudenken, sich Rechenschaft abzu­legen von ihren Handlungen. Und da es nicht einen Kampf im offenen Felde ge­gen einen fremden Feind galt, sondern einen Angriff im engen Raum der Straße unter den Augen der Bevölkerung auf das Volk, mit dem die Soldaten gestern erst friedlich verkehrten und dem sie selbst ent­stammten, so bemächtigte sich eine Energielosigkeit, eine Unlust, eine Verwir­rung der Truppen, sie wurden “demorali­siert”, und das desto mehr, je mehr Sym­pathien sie von vornherein dem Aufstan­de entge­genbrachten. Es ist bekannt, dass man deshalb bei revolutionären Kämpfen die mangelnde Begeisterung der Soldaten durch reichliche Branntweinra­tionen zu ersetzen pflegte. Im Schnaps­rausch lag also in letzter Linie das Heil des Staats.

Sammlung, Organisation, revolutionäre Begeisterung des Volkes auf der einen Seite, Desorganisation und Demoralisati­on des Militärs auf der anderen, darin lag das Wesen der Barrikaden, der eigentli­che Kampf war dann nur der Kraftmesser beider Faktoren in ihrer ge­meinsamen Wirkung. So sagt unser zu früh verstor­bener Revolutions­kämpfer und -theoreti­ker Engels: “Machen wir uns keine Illusion darüber: ein wirklicher Sieg des Aufstan­des über das Militär im Straßenkampf, ein Sieg wie zwischen zwei Armeen, gehört zu den größten Seltenheiten. Darauf hat­ten aber die Insurgenten es auch ebenso selten angelegt. Es handelte sich für sie nur darum, die Trup­pen mürbe zu ma­chen durch moralische Einflüsse, die beim Kampf zwischen den Armeen zweier kriegführender Länder gar nicht oder doch in weit geringerem Grade ins Spiel kom­men. Gelingt das, so versagt die Truppe, oder die Befehlshaber verlieren den Kopf und der Aufstand siegt. … Selbst in der klassischen Zeit der Straßen­kämpfe wirkte also die Barrikade mehr moralisch als materiell. Sie war ein Mittel, die Fe­stigkeit des Militärs zu erschüttern. Hielt sie vor, bis dies gelang, so war der Sieg erreicht; wo nicht, war man ge­schlagen.”

Aus diesen Betrachtungen ergibt sich:

1. Da selbst in den vierziger Jahren das taktische Übergewicht bei einem Straßen­kampf auf seiten des Militärs war, so wäre es blinde Tollheit, bei der äußerst verfeinerten Waffentechnik unserer Zeit, etwa einen gewaltsamen Widerstand ge­gen das Militär wagen zu wol­len.

2. Andererseits bestand das Wesen der politischen Revolution keines­wegs bloß aus dem Barrikadenkampf, sondern sie hatte noch andere Äußerungen, die zu­sammen als Desorganisation der Gesell­schaft be­zeichnet werden könnten. Die Frage drängt sich auf, ob nicht etwa der Staatsstreich auch eine allgemeine Des­organisation zur Folge haben würde und inwiefern sich diese wirksam erweisen könnte?

3. Ob das Militär sich zu den gesetz- und verfassungswidrigen Hand­lungen des Staatsstreichs verleiten lassen würde, hängt offenbar stets von dessen Stim­mung ab und den moralischen Einflüssen, denen es unterworfen werden kann.

8. Die allgemeine Wehrpflicht

Sämtliche Armeen des europäischen Festlandes beruhen nunmehr auf der all­gemeinen Wehrpflicht. Das berufsmäßige Militär ist auf den Unteroffiziers- und Offi­ziersstand beschränkt. Für den Soldaten ist das Militärwesen kein Beruf, kein Handwerk mehr. Er findet darin nicht seine wirtschaftliche Lebensstellung. Darum ist jetzt das Heer keine besondere Gesellschaftsklasse wenn man darunter eine Gesell­schaftsschicht mit gemeinsa­mem wirtschaftlichem Sonderinteresse ver­steht. Der Soldat hat kein anderes ökonomisches Interesse, als der Bauer oder Arbeiter, und darum auch kein ande­res politisches Inter­esse. Was diese trifft, trifft schließlich auch ihn.

Der Militärdienst ist zur Bürgerpflicht ge­worden. Es ist daher nur die künstliche Isolierung des Heeres, die es vorn Volke trennt. Aber es lässt sich durch keine künstlichen Mittel beseitigen, dass der Soldat mit seinen Erinnerungen und sei­nen Hoffnungen, seiner Vergangenheit und seiner Zukunft dem Volke anhängt.

Nur noch dort, wo das politische Leben im Volke selbst sehr schwach ist, kann der Soldat zur willenlosen Maschine ge­macht werden. Je reger das politische Leben, in je weitere Kreise es dringt, de­sto weniger kommt der junge Mann zum Militär als “unbeschriebenes Blatt”. Die Rekruten bringen die politischen Stim­mungen und politischen Meinungen, die im Volke herrschen, mit in das Heer. Nicht nur, dass sie dadurch von vornher­ein politisch gekennzeichnet sind, so hängt noch überdies die moralische Ein­wirkung des Militärdienstes sehr wesent­lich von ihrer politischen Gesinnung ab.

Es gibt Zeiten, wo das Militär in den Au­gen des Volkes mit einem Glorienschein umgeben wird und die Militärpflicht als Ehrenpflicht erscheint. Dann zieht die Ju­gend mit Begeisterung in den Dienst und erträgt freudig alle Strapazen und Mühse­ligkeiten. Aber in anderen Zeiten, wenn das Militärwesen vom Volke als schwer­bedrückende Last empfunden wird, wenn der Schleier einer Volksinstitution dem Militär rücksichtslos entzogen wird, wenn vielleicht noch Versuche gemacht wer­den, das Militär planmäßig und offenkun­dig gegen das Volk zu hetzen, dann bringt das Volk Groll, Erbitterung, wo­mög­lich Hass dem Militärdienst entge­gen, dann betritt der junge Mann auch mit ganz anderen Gefühlen die Kaserne, da steht er von vorn­herein kritisch und misstrauisch dem Dienste gegenüber, den er als un­nütze, ja schädliche Zeitver­geudung betrachtet, da tritt anstelle der Begeisterung Unmut und anstelle des Diensteifers durch die Furcht vor Strafe aufgenötigter Gehorsam, hinter dem Un­zufriedenheit, ver­bissener Groll, mit Mühe zurückgehaltener Trotz sich bergen. Unter solchen Verhältnissen können alle Maß­nahmen der Militärbehörden nur ein Er­gebnis erzielen: Steigerung des Unmuts. Wird die Behand­lung gemildert, dann greift die Kritik desto ungezwungener um sich, wird sie aber härter, so erscheint sie als Unbill und verwandelt Unzu­friedenheit in Hass. Wird die ganze Zeit des Solda­ten durch den Dienst in Anspruch ge­nommen, dann kommt er sich vor, wie der Ochse im Pfluge oder der Zucht­häusler, der an den Karren geschmie­det ist; bekommt er viel freie Zeit, dann hat er erst recht Gelegenheit, sich dem Staate, resp. dem Militärwesen feindseligen Ge­danken hin­zugeben.

Eine eigentümliche Beleuchtung erhält von letzterem Gesichtspunkt aus der Pa­radedrill. Sonst zwecklos, könnte seine Bedeutung vielleicht darin liegen, die Muße der Soldaten auszufüllen, ihn zu beschäftigen, seine Aufmerksamkeit stets gebannt zu halten. Aber auch dies schlüge unter den angegebenen Verhält­nissen fehl. Einem skeptischen und missgestimmten Geist müsste der Para­dedrill als Herabdrückung des Militärdien­stes zu einem Puppenspiel, aber einem Spiel voll Schin­derei und Plackerei, er­scheinen.

Der Gegensatz zwischen militärischer Er­ziehung und politischer Ein­wirkung kann sich so weit entwickeln, dass es den Mi­litärbehörden selbst, abgesehen von fi­nanziellen Gründen, schon deshalb allein rat­sam erscheint, die Dienstzeit zu ver­kürzen. Die Soldaten, die den Dienst be­reits kennen und doch aus der Kaserne nicht heraus können, sind die schlimm­sten Nörgler. Das Verlockende, das etwa das Militär für den Bauern oder Arbeiter hatte, haben sie längst durchgekostet. Der Reiz der Neuheit hat sich verflüchtigt, die neuen Verhältnisse, das sonderbare, eigenartige Soldatenleben, alles, was dem jungen Rekru­ten so sehr imponierte und seinen Geist in Spannung hielt, über­rascht sie nicht mehr. Dagegen ist geblie­ben die militärische Einförmigkeit, die die Tage einander gleich sein lässt, wie die Knöpfe auf der Uni­form, ein auf gezwun­genes, zweckloses Dasein von einem ewigen Einer­lei. Der Dienst, der nicht mehr erlernt zu werden braucht, wird lang­weilig, bleibt aber doch beschwerlich. Und neben dieser aufreibenden Zeitver­geudung die brennende Sorge um eine unsichere Zukunft. Dazu kommt, dass der alte Soldat auch dem militärischen Ver­waltungs­apparat persönlich viel näher ge­rückt ist. Er kennt die Eigenheiten und Schwächen seiner Vorgesetzten vom Feldwebel bis mindestens zum Major. Der Zauber ist verflogen und das Räderwerk des militä­rischen Mechanismus liegt klar, mit den Händen greifbar, vor seinen Au­gen. Man sieht, diese alten Soldaten bil­den eine sehr staatsgefähr­liche Men­schenklasse!

Aber je entwickelter das politische Leben, desto politisch reger und empfänglicher, auch intelligenter das Rekrutenmaterial, desto leichter erwirbt sich der Rekrut die militärische, bzw. soldatische Erkenntnis. Nichts kennzeichnet vielleicht besser den erreichten Grad der politi­schen Entwick­lung in Deutschland, als der Umstand, dass eine fünf­jährige aktive Dienstzeit, wie sie früher bestand, jetzt auch politisch gar nicht mehr denkbar ist. Noch einige Jahre, und auch die Rückkehr zur dreijäh­rigen Dienstzeit wird eine politische Un­möglichkeit wer­den. Aber je mehr die Dienstzeit verkürzt wird, desto größer in der Armee das Übergewicht der frisch dem Volke entzogenen Elemente, desto enger überhaupt der Zusammenhang zwischen Soldat und Arbei­ter, resp. Bauer. Mit der Verkürzung der Dienstzeit nähert man sich immer mehr der Volks­miliz, die die logische Konsequenz der allge­meinen Wehrpflicht ist.

So bedürfte es denn, eine allgemeine, tiefgehende politische Unzufrie­denheit am Volke vorausgesetzt, gar keiner Propa­ganda unter dem Militär, um es opposi­tionell zu stimmen. Ja, wenn es dazu keine an­deren Mittel gäbe, als etwa die Verbreitung von Flugblättern in der Ka­serne — dann würden die Militärbehörden damit stets mit der größten Leichtigkeit fertig. Aber wenn beim Militär sonst alles nach Wunsch geht, dann braucht man solche Flugblätter gar nicht zu fürch­ten, denn sie hätten keine Wirkung auf die Soldaten. Dass man jetzt vor jedem hin­übergewehten Blättchen ängstlich zurück­schaudert, das ist sehr auffallend. Das lässt vermuten, dass eine Missstimmung im Heere herrscht, die nach jeder opposi­tionellen Kundgebung gierig horcht. Und eine solche Missstimmung wäre dann bloß der Reflex der allgemeinen opposi­tionellen Stimmung im Lande — dann wären es aber die Militärbehörden selbst, dann wäre es das ganze Militärwesen, das die fürchterlichste und fruchtbarste revolutionäre Propaganda be­triebe. Dann müssten die Militärbehörden bei sich selbst anfangen, wenn sie die Revolutio­näre ausrotten wollten.

Unter diesen Umständen könnte keine Umsturzvorlage helfen (und unter ande­ren wäre sie unnötig). Selbst wenn man das Militär gänz­lich von der Außenwelt isolierte, so würde man dadurch bloß die Gärung im Inneren der Kaserne um so mehr steigern und die Unzu­friedenheit in offenen Aufruhr verwandeln. Und je sorgfältiger man das Militär vor dem re­volutionären Gift zu bewahren suchte, de­sto mehr würde man es selbst damit infi­zieren. Wenn man z.B. den Sol­daten peinlich darauf überwacht, dass er nicht auch nur in die geringste Berührung mit Sozialdemokraten kommt — wird denn nicht dadurch seine Aufmerksamkeit erst recht auf die Sozialdemokratie gelenkt? Aber das war ja gerade stets die größte Schwierigkeit für die soziali­stische Propa­ganda, die Aufmerksamkeit und das In­teresse auf sich zu lenken, die stumpfe Gleichgültigkeit der Massen zu durchbre­chen. Ist dies einmal gelungen, dann greift das sozialistische “Gift« wie Blau­säure mit reißender Schnelligkeit um sich. So wird auch der Soldat, wenn seine Aufmerksamkeit einmal geweckt ist, nachdenklich und be­obachtend, findet schnell Kameraden, die mehr oder ande­res wissen, und schließlich bildet die Ka­sernenstube ebensogut ihre Sozialdemo­kraten heraus wie die Fabrik.

Was hat nicht nach dieser Richtung hin allein die Umsturzvorlage geleistet, zumal bei der spaßhaften Stimmenbegleitung, die ihr der Kriegsminister v. Schellendorf gab! Oder glaubt man, die Umsturzko­mödie, die beinahe ein Jahr lang die Poli­tik beherrschte und die Öffentlichkeit er­fasste, sei den Soldaten so ganz unbe­kannt geblieben? Die Missstimmung erre­gende Wirkung der Umsturzverhandlun­gen war größer als sämtliche Flugblätter hätten zustande bringen kön­nen, deren Eindringen in die Kaserne durch die An­nahme der Um­sturzvorlage etwa bis zum Ausgang dieses Jahrhunderts und noch auf ein Dezennium darüber hinaus ver­hütet worden wäre.

Das ist also der fatale Widerspruch, der sich auf der Grundlage einer demokrati­schen Verfassung und der allgemeinen Wehrpflicht für eine staatsstreichlustige Regierung herausbildet: je schroffer und je länger sie sich auf das Militär dem Volke gegenüber stützt, desto mehr kehrt sie das Militär gegen sich. Während die Ansprüche an dasselbe wach­sen, wird seine Stützung immer weniger zuverläs­sig. Wollte man das Militär planmäßig für den Staatsstreich vorbereiten, so hätte man es schließlich zu allem anderen eher als zum Staatsstreich fertig.

9. Die Disziplin

Es ist gesagt worden: Wenn wir einmal die Köpfe der Soldaten für uns gewonnen haben, dann haben wir auch die Bajonet­te. Dieser spe­kulativ richtige Satz darf in der Praxis nur mit äußerster Vorsicht ge­braucht werden.

Schon die Gewinnung der “Köpfe” ist eine recht eigene Sache. Wir dürfen uns dar­über nicht täuschen, dass das Maß der Erkenntnis, die dem Volke innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft beigebracht wer­den kann, ein sehr beschränktes ist. Schwere Arbeit und bittere Not sind starke Gewalten, die den Geist unter­drücken.

Der Proletarier, der nach einem langen Arbeitstag abgespannt und todmüde nach Hause kommt und im engen Zimmer, ausgefüllt mit Tisch und Betten, in dem die ganze Familie, vielleicht, noch ein oder mehrere Schlafgänger zusammen­gepfercht sind, kaum Raum und Licht ge­nug findet zum Lesen, der überdies auch von Frau und Kindern und den häuslichen Angelegenheiten in Anspruch genommen wird, wo soll der die Musse und die Mög­lichkeit finden, sich eine gründliche, wenn auch nur politische Einsicht zu verschaf­fen? Die Proletarier, die von der Politik, auch Wissenschaft oder Kunst, so lei­denschaftlich er­fasst werden, dass sie, mit Hintansetzung aller übrigen Lebens­interes­sen und ihrer Gesundheit, alle Hindernisse überwinden, gehören und müssen zu den größten Seltenheiten ge­hören. Die Menschheit im großen wird stets suchen, dem Leben, wie es sich einmal darbietet, einen positiven Gehalt abzugewinnen und sich erst in zweiter Li­nie Re­flexionen und der Kritik ergeben.

Wenn nun erfahrungsgemäß die sozial­demokratische Propaganda un­gemein schnell in den Proletariermassen um sich greift, so beweist das allein schon, dass es sich dabei mehr um Stimmungen, als um Über­zeugungen handelt. Die sozialre­volutionäre Stimmung des Proleta­riats ist aber durchaus keine zufällige und schnell vorübergehende, denn sie ist das not­wendige Produkt der herrschenden öko­nomischen Verhältnisse, der kapitalisti­schen Ausbeutung. Darin liegt die Kraft der Sozialdemokratie, die nur mit der ka­pitalistischen Gesellschaft zu entwurzeln ist.

Auch beim Militär könnte deshalb jeden­falls nur von einer oppositio­nellen Stim­mung die Rede sein. Wo wir sie finden, ist sie stets, wie bereits auseinanderge­setzt, das Produkt der allgemeinen politi­schen Stimmung im Volke, wird aber, einmal vorhanden, durch den Mili­tär­dienst nicht unterdrückt, eher noch mehr entfacht. Dafür aber ste­hen der Militär­verwaltung gewaltige Mittel zu Gebote, das Heer, trotz seiner etwaigen opposi­tionellen Stimmung, so zu handhaben, wie es ihr beliebt. Drei Mächte sind es, auf die sie sich stützt: die militärische Or­ganisation, die militärische Disziplin und die militä­rische Führung.

Die durch eine jahrhundertelange Erfah­rung herausgebildete militä­rische Organi­sation beruht, wie jede Organisation zur Massenbeherr­schung, zunächst darauf, dass die Menge in einzelne Teile zerglie­dert wird, von denen jeder eine unter be­sonderen Befehl gestellte Gruppe bildet. Der dadurch aufgelöste lebendige Zu­sammenhang der Volks­menge wird er­setzt durch die Einheitlichkeit der Ver­waltung. Die Masse wird gleichsam in fe­ste, eng zusammengeschlossene Formen hineingezwängt, über die sich pyramiden­artig die eiserne Konstruk­tion des militäri­schen Regierungsmechanismus aufbaut, dessen Räderwerk die getrennte, aber doch fest zusammengehaltene Menge zur Be­wegung nötigt.

Die einzelne Truppenabteilung fühlt sich deshalb bloß als willenloses Glied der Gesamtorganisation, die von einer höhe­ren Macht geleitet wird. Dagegen tritt die Militärverwaltung jeder Truppenabteilung und jedem einzelnen Soldaten stets als Gesamtheit gegenüber, als ein­heitliche, feingegliederte, umfangreiche, überall anwesende, allwissende Regierungsge­walt, ausgerüstet mit allen Attributen der Herr­schaft: Polizei, Richtern und Gefäng­nissen.

Die ungeheure Macht der Disziplin ist viel erörtert worden. Der durch die militärische Organisation geschaffenen Form passt sie den Inhalt an. Ihr Schlusseffekt ist blinder Gehorsam, ihr Verfahren ist fol­gendes: Die Tätigkeit des Soldaten wird in eine Anzahl klar bestimmter Ver­richtun­gen zerlegt, die in unverrückbarer Rei­henfolge Tag für Tag mit der genauesten Korrektheit verrichtet werden müssen. Für den Soldaten gibt es im Dienste keine Wahl, keine Selbstbestimmung, keine re­flektierende Tätigkeit. Es geht alles darauf hinaus, ihn in einen Automaten zu ver­wandeln, der mit der Genauigkeit eines Uhr­werks funktioniert.

Durch die gemeinsame gleiche Abrich­tung werden die individuellen Besonder­heiten abgeschliffen, und es wird der Her­dentypus des Sol­daten herausgebildet.

Den Abschluss bildet dann die Erzeugung von Massenbewegungen. Hier wird der Wille des einzelnen gänzlich aufgelöst. Nach dem Takte, nach dem Kommando­wort rückt die geschlossene Reihe vor­wärts, rückwärts, schwenkt sie nach der Seite, wird das Gewehr mit einem ge­meinsamen Ruck der zahlreichen Arme gehandhabt usw. Kein Denken mehr — instinktives, bewusstloses, gewohnheits­mäßiges Sichanpassen, das Zusammen­greifen und Sichbetätigen der zu einem ge­meinsamen Körper verschmolzenen Volksmenge. Die Truppe wird zum blin­den Werkzeug in den Händen ihres Kommandeurs.

Die Aufgabe der militärischen Führung besteht darin, die durch die Organisation und Disziplin zu einem Organismus mit bestimmten Massenfunktionen herausge­bildete Soldatenmenge in der Bewegung zu leiten. In der Bewegung ist die militäri­sche Truppe noch mehr willenlos, als in der Ruhe. Durch den taktmäßigen Marsch in Reih‘ und Glied, die Spannung, die durch das gemeinsame, unaufhaltsame Vorwärtsdrängen erzeugt wird, “wird das Bewusstsein gelähmt, und obendrein wird noch jede Gedankenregung durch Trom­melschlag oder lärmende, betäubende Musik erstickt.

Der im Grunde des Herzens etwa vorhan­denen oppositionellen Stim­mung steht also beim Militär eine durch die Organi­sation, die Diszi­plin und die Führung planmäßig erzeugte Vernichtung der Wil­lensbetätigung des Soldaten entgegen, die Auflösung seiner Persönlich­keit in der Gesamtheit der Truppenabteilung, die sich instinktmäßig dem Kommandowort unterwirft.

Bei den bisherigen Revolutionen galt es stets, diesen Zauber zu bre­chen, damit der Soldat mit seiner Gesinnung, Stim­mung und folglich seinem Willen zur Geltung kommen konnte.

Das war die Rolle, die der Barrikade zu­fiel. Sie hielt die marschieren­den Truppen auf und brachte sie dadurch in Verwirrung und zur Be­sinnung. Aber was würde denn heute bei einem etwaigen Staatsstreich dem Militär im Wege stehen, da nunmehr jede Barrikade aus der weitesten Ferne hinweggefegt werden könnte?

10. Volk und Militär wahrend eines Staatsstreichs

Die politische Entwicklung hängt ebenso­wenig vom Militär ab, wie die kapitalisti­sche Produktion als Ganzes von der Ent­wicklung der Waffentechnik. Dagegen wird bei allgemeiner Wehrpflicht das Mi­litär selbst zum Träger der oppositionellen Stimmung, bis es schließlich nur noch durch Disziplin und Organisation zum in­stinktiven Gehor­sam angehalten wird.

Die Macht der Disziplin und Organisation ist groß, aber auf die Dauer lässt sie sich während eines Konflikts mit dem Volke kaum aufrechterhalten Das moralische Widerstreben des Soldaten kann auf ei­nen Moment unterdrückt werden, aber wenn dieser Druck länger andauert, so lässt die Spannung nach, die Wirkung wird geringer und gleichzeitig steigert sich der Widerstand. Es würde deshalb genü­gen, das Militär ruhig gewähren zu las­sen, damit Organisation und Diszi­plin sich von selbst aufreiben.

Es erscheint paradox, und doch ist der taktische Nutzen der Barrikade viel gerin­ger für das Volk, als für die Anführer des Militärs. Diesem bietet sie nur eine sehr schwache Deckung, jenen einen sehr will­kom­menen Angriffspunkt. Ganz anders, wo das Militär in Zeiten großer politischer Aufregung bloßen Ansammlungen von Menschen gegenübersteht. Da gibt es nichts mehr, was militärisch gefasst wer­den könnte. Statt gegen eine revolutionä­re Armee zu kämpfen, werden nun die Soldaten zum ganz gemeinen polizeili­chen Beaufsichtigungs­dienst verwendet.

Das ist ein Unterschied. Im ersten Falle hat das Militär einen kämp­fenden Gegner vor sich und läuft selbst die Gefahr, nie­dergeschossen zu werden, befindet sich also, obwohl angreifend, doch gleichzeitig in Verteidigung — im anderen hat es, wenn angreifend vorgegangen wer­den soll, auf unbewaffnetes Volk, Männer und Frauen zu feuern, die ihm aus den Fen­sternischen oder auf offener Straße missmutig zwar, doch mit banger Hoff­nung entgegenblicken.

Truppen, die sich vielleicht noch zu einem raschen Ansturm auf eine Barrikade ge­brauchen ließen, können unter diesen Umständen un­schlüssig und unsicher werden. Nachdem sie tagsüber durch die Straßen herumgetrieben wurden, kehren sie dann müde und in gedrückter Stim­mung nach der Kaserne zurück. Am an­deren Tage sind sie selbst­verständlich noch weniger zu gebrauchen, und es ist nur eine Frage der Zeit, wann sich ihre Energie gänzlich aufreibt.

Die Soldaten, die von einer staats­streichlerischen Regierung hinausge­schickt werden sollten, das seine politi­schen Rechte verteidigende Volk nieder­zuschießen oder niederzukartätschen, würden von diesem nicht mehr mit Flin­tenschüssen und Steinwürfen empfangen werden, denn das Volk hätte keinen Grund, die Soldaten gegen sich zu er­bit­tern, dagegen alle Veranlassung, zu su­chen, sie für sich zu ge­winnen.

Barrikaden können niedergeschmettert werden, aber durch nichts ließe es sich beseitigen, dass das Volk durch Zurufe, Plakate, Flugblätter auf das Militär ein­wirkte. Die Ohren könnten allenfalls den Sol­daten durch Trommelschlag betäubt werden, aber wie sollte man ihnen die Augen verbinden? Der Schulmeister, der bei Sadowa siegte, könnte sich noch einmal als großer Volksverteidiger erwei­sen.

Es ist nicht schwer, sich eine Vorstellung zu bilden, was ungefähr die Bürgerschaft den Soldaten sagen würde. Das Volk würde das Militär an dessen Bürger­pflichten erinnern, daran, dass es selbst ein Teil des Volkes ist, dass die Rechte des Volkes auch seine Rechte sind, das Wohl des Volkes auch sein Wohl, der Kampf des Volkes auch sein Kampf, und dass die Rollen sich schnell umtauschen könnten und die Soldaten, die jetzt etwa auf das Volk schießen wollten, vielleicht in einigen Monaten selbst unter der Volksmasse sich befinden würden, auf die geschossen wird.

Es wäre nicht ausgeschlossen, dass das Volk auch persönlich dem Mili­tär entge­gentreten würde, aber nicht mit Waffen in der Hand und nur geschützt durch das Bewusstsein seines Rechtes und der So­lidarität der Interessen zwischen Volk und Militär. Aber das auf offener Straße frei versammelte Volk bietet, wie schon er­wähnt, dem Militär einen noch weit größe­ren moralischen Widerstand, als es der Volkshaufen tat, der unter dem Schutze der Barrikade das Militär mit Bleikugeln bedrohte. Die Furcht vor der Barrikade war es meistens nicht, was die Soldaten von dem Angriff zurückhielt.

So könnte es vielleicht wieder einmal für das Volk Gelegenheiten geben, seinen Heldenmut zu entfalten. Dieser darf aber nicht etwa mit der Tapferkeit einer be­zahlten Soldateska verwechselt werden. Es ist nicht der Mut, zu töten, sondern der Mut zu sterben! Selbst seine revolutionä­ren Siege verdankt das Volk nicht der Kraft seiner Fäuste. Die grobmaterielle Kraft war stets auf seiten der Reaktion. Die Kräfte, durch die das Volk siegte, wa­ren aber: begeisterte Selbstauf­opferung für die gemeinsame Sache, verzweifeltes Lebensrisiko der­jenigen ausgebeuteten und unterdrückten Masse, die nichts mehr zu verlieren hat, und instinktives, her­denmäßiges Zusammenhalten der Menge. Diese Kräfte waren es, die am 14. Juli 1789 das Volk in stets wachsenden Massen der Bastille zuströmen ließen, trotz dem Kano­nendonner der Festung. Diese Kräfte waren es, die bei allen spä­teren Revolutionen anstelle der zerstörten Barrikaden über Nacht neue und größere, anstelle der getöteten Kämpfer neue und mehrere setzten. Und diese Kräfte würden auch künftighin dem Volke, wenn es not tut, die Verfassung, das höchste politi­sche Gut, zu verteidigen, den Mut geben, der bewaffneten Macht ohne Barrikaden­schutz zu trotzen.

11. Die Organisation des passiven Widerstandes

Die Losung für das Verhalten des Volkes der bewaffneten Macht ge­genüber wäh­rend eines Staatsstreichs würde also lauten: “Keinen Barrikadenkampf! Keinen gewaltsamen Widerstand! Sich nicht pro­vozieren lassen! Ruhig ausharren, bis die moralische Zersetzung, die unbedingt eintreten müsste, die Anstifter der ruchlo­sen Tat in Verwirrung bringt und sie zum Rückzug zwingt.” Aber würde auch das Volk die nötige Kaltblütigkeit bewahren und den Zusammenhalt haben, um dieser schwierigen Aufgabe zu genügen, ohne doch ängstlich und desperat zu werden?

Die Revolution hatte ihr mechanisches Bindemittel: die Barrikade, Nun ist die Barrikade zum Boden geschleift. Daraus ergibt sich, dass alle jene zusammen­hanglosen Volkselemente, die nur auf diese me­chanische Weise vereinigt wer­den konnten und deren ganze Wider­standskraft in der Barrikade lag, politisch widerstandslos gemacht worden sind. Dadurch ist die revolutionäre Macht des Kleinbürger­tums total gebrochen. Da­durch büßt es auch seine Rolle als Leiter der unorganisierten Proletariermassen während des revolutionären Kamp­fes ein. Dagegen könnte aber wohl noch eine Ge­sellschaftsklasse, die von vornherein or­ganisiert ist, im passiven Widerstand, wie er schon geschildert wurde, ausharren. Das heißt mit anderen Worten: die ge­zo­genen Kanonen und das kleinkalibrige Gewehr haben der bürgerli­chen Revoluti­on ein Ende bereitet, sie haben aber die politische Wider­standskraft des Proletari­ats durchaus nicht gebrochen.

Wie die Arbeiter ohne mechanisches Bin­demittel zusammenhalten können, zeigen die Streiks. Das hat unter anderem auch erst vor kur­zem der englische Bergarbei­terstreik bewiesen, der 400.000 Arbeiter vereinigte. Die Entwicklung der Streiks hat überhaupt eine, den Um­ständen ent­sprechend allerdings sehr schwache Analogie mit der Ent­wicklung der politi­schen Kämpfe. Die Geschichte der Ar­beiterbewe­gung zeigt, dass die ersten Streiks mit Gewalttätigkeiten gegen die Kapitalisten, mit Demolierungen der Ma­schinen und Brandstiftungen verbunden waren. Das war keineswegs bloß der Ausfluss der Brutali­tät und des Unver­standes. Aber damals, als das klassen­bewusste Zu­sammenhalten der Arbeiter noch so wenig entwickelt war, mussten ihre Aufmerksamkeit, ihr Zorn auf etwas Handgreifliches gelenkt werden, musste ihnen eine Tätigkeit gegeben werden, damit sie sich als Masse fühlen und als Masse handeln konnten. Nunmehr ist die­ses brutale Hilfsmittel der Organisation durch das Klassenbewusstsein ersetzt worden. Die Losung während des Streiks ist jetzt die gerade entgegengesetzte: “Nur keine Gewalttätigkeiten!” Deshalb haben die Streiks doch nicht aufgehört, zu exi­stieren, im Gegenteil, erst jetzt ermögli­chen sie eine Massenentfaltung.

Mag die Arbeiterschaft in Gewerkschaften oder als politische Partei organisiert sein — es genügt schon, dass sie es ist. Die Bestrebungen der Gewerkschaften seien noch so unpolitisch, so kann doch im Moment der Not eine politische Bewe­gung sich dieser vortrefflichen Organi­sa­tionen für ihre Zwecke bemächtigen.

Es ist klar, je fester und allgemeiner die Organisation der Arbeiter­klasse ist, desto wirksamer wird sich ihr Widerstand er­weisen. Wenn nun speziell in Deutsch­land die politische Organisation der ge­werk­schaftlichen gegenüber den Vorzug hat, dass sie viel allgemeiner ist, so die gewerkschaftliche der politischen gegen­über, dass sie durch viel innigere Bande verbindet. Die politische Organisation ist lose und flüchtig und hängt von der politi­schen Stimmung ab, aber die gewerk­schaftliche ist zähe und fasst den Arbeiter an der Grundlage seiner ökonomischen Stellung selbst, an der Ausbeutung. Sie behandelt den Arbeiter nicht bloß als Bür­ger, sondern als Proletarier, sie trifft ihn nicht bloß auf dem Forum und an der Wahlurne, sondern in der Fabrik und in der Wohnstube. Schon dieses festeren Bandes willen, das die Gewerkschaftsbe­wegung um die Arbeiter schlingt, hat sie, wie wir sehen, eine weitreichende Be­deutung.

Aber nicht nur die Gewerkschaften, selbst solche Einrichtungen, wie Krankenkassen und Arbeiterversicherung, verwandeln sich, wenn es nötig ist, in politische Or­ganisationen. Diese Wirkung hat freilich Bismarck von seiner “sozialen Reform” nicht erwartet. Aber das zeigt eben, dass die politische Bedeutung einer Einrichtung nicht in ihr selbst liegt, sondern in der po­litischen Situation. Es käme während des hier supponierten Konflikts darauf an, dass das Volk sich nicht lose, getrennt voneinander, sondern vereinigt, zusam­mengehalten und als Masse geordnet fühlt. Darum, wenn es die Ironie der Ge­schichte will, so verwandeln sich die Bü­ros der Arbeiterversicherungen in politi­sche Knotenpunkte, und ihre Beamten, mit roten Schärpen um­gürtet, oder dieje­nigen, welche das Volk an ihre Stelle setzt, werden zu Propagandisten und Or­ganisatoren der Volkswehr.

Wenn die Arbeiter an dem Widerstand gegen den Staatsstreich teil­nehmen soll­ten, so wäre schon dadurch, weil die Ar­beiterklasse orga­nisiert ist, auch dieser Widerstand organisiert. Man müsste sämtliche Formen von Verbindungen, ohne Ausnahme, bis auf die Gesangver­eine, vernichten und verbieten, wollte man die Arbeiterklasse desorga­nisieren. Könnte man dieses aufrechterhalten? Könnte man das unend­lich verzweigte öffentliche Leben stillstehen lassen? Würde der Staats­mechanismus, bzw. der Polizeiapparat dazu ausreichen? Und auf wie lange?

Die Antwort darauf kann nicht zweifelhaft sein. Die Organisationen der Arbeiter­klasse stehen, wie der Phönix, sofort wie­der auf, wenn man sie zerstört. Dafür ist die Gewähr das Klassenbewusstsein des Proletariats, das aus den ökonomischen Verhältnissen sich ergibt und nunmehr durch die geschichtliche Entwicklung be­festigt wird. Das Proletariat hat nunmehr durch eine viele Jahrzehnte lange Ent­wick­lung gelernt, sich in der mannigfaltig­sten Weise gesellschaftlich als Klasse zu betätigen. Das kraftvoll entwickelte Soli­daritätsgefühl kann nicht mehr ausge­merzt werden. Es wurzelt zu tief in der gemeinsamen Ausbeutung der Arbeiter durch das Kapital, und jede gemeinsame politische Unterdrückung schmiedet nur das Band der proletarischen Einigkeit en­ger zusammen. So halten denn die Ar­beiter zusammen, auch wenn keine for­melle Organisation sie verbindet. Das haben die Wahlen sofort nach dem Aus­nahmegesetz schlagend bewiesen. War damals nicht jede Organisation zerstört? Und doch gingen die Arbeitermassen zur Urne und wählten Sozialdemokraten. Das geistige Band, das sie vereinigte, konnte nicht von der Polizei konfisziert wer­den. Dann aber wird sich, wenn es not tut, das Proletariat sicher aus sich selbst eine Or­ganisation des Widerstands schaffen, auch ohne Barrikaden.

Um was handelt es sich? Darum, dass das Volk ausharrt, dass es sich nicht schrecken, aber auch nicht zur Unbeson­nenheit provozieren lässt. Zu diesem Zwecke muss es sich Beamte, eine Poli­zei, eine Verwaltung, die die Ordnung aufrechterhält, erwählen. Das hat das Proletariat während der vielen Jahre des Klassenkampfs gelernt. Es ist nicht mehr eine wild zusammengelaufene Rotte, sondern ein diszipliniertes Heer. Das klassenbewusste Proletariat vermag, was keine Klasse sonst in der kapitalistischen Gesellschaft: sich selbst zu regieren. Und dies, nicht anarchistisches Bramarbasie­ren und Wüten, die ruhige Ordnung der starken Organisation bildet seine unbe­siegbare politische Wider­standskraft.

12. Der politische Massenstreik

Das geschilderte Verhalten des Volkes während eines Staatsstreichs ist nichts anderes als ein politischer Massenstreik. Auch die Barrikadenrevolution hatte den Streik zur Voraussetzung, sie hatte zur Voraus­setzung, dass die Arbeit in den Fabriken und Werkstätten niederge­legt wurde. Aber die Barrikadenrevolution hatte einen zu ungestümen Verlauf, um als Streik zur Geltung zu kommen.

Der Generalstreik ist keine Panazee. Iso­liert von den politischen Zusammenhän­gen ist er wirkungslos und muss zum Unterliegen der Arbeiterklasse führen. Aber nicht darum handelt es sich, son­dern um den Massenstreik zu politischen Zwecken, wofür Belgien das Beispiel lie­ferte. Wir sagen absichtlich: “Massen­streik”, weil es in diesem Falle gar nicht darauf ankommt, dass die gesamte Ar­beiterklasse des Landes ohne Ausnahme streikt. Der politische Massenstreik unter­scheidet sich von den anderen dadurch, dass sein Zweck nicht die Erringung bes­se­rer Arbeitsbedingungen ist, sondern die Erzielung bestimmter politi­scher Ände­rungen, dass er sich deshalb nicht gegen die einzelnen Kapi­talisten, sondern gegen die Regierung wendet.

Wie kann aber ein solcher Streik die Re­gierung treffen? Er trifft sie dadurch, dass er die ökonomische Ordnung der Gesell­schaft zerrüttet. Wir haben gesehen, dass es auch eine wichtige Eigenschaft der gewalt­samen Revolution war, die Gesell­schaft zu desorganisieren. Die Grundlage dieser Desorganisation ist aber zweifellos die Arbeitseinstellung. Eine Geschäftskri­sis wird hervorgerufen. Die Mittelschich­ten der Bevölkerung werden in Mitleiden­schaft gezogen. Die Erbitterung wächst. Aber die Regierung steht ratlos da, weil sie die Arbeiter nicht mit Gewalt in die Fabriken treiben kann. Sie wird um so ratloser, je weniger offener Widerstand ihr geleistet wird, je massenhafter der Streik, je länger er dauert.

Welches sind nun die Bedingungen der Ausdehnung und des Anhaltens des poli­tischen Massenstreikes?

Einmal Organisation der Arbeiterklasse. Diese hängt zusammen, wie schon her­vorgehoben worden, mit der Entwicklung des proletarischen Klassenbewusstseins. In diesem Zusammenhange muss wieder auf die eminente Bedeutung der Gewerk­schaften verwiesen werden.

Weiter, Geldmittel. Also gefüllte Streik­kassen. Doch nicht nur das allein. Wenn der Streik die Sympathien der bürgerli­chen Mittelschich­ten besitzt, dann fließen ihm aus diesen Kreisen reichliche Unter­stüt­zungen zu. Wir haben aber mehrmals auseinandergesetzt, dass nur als Antwort auf die äußerste politische Beschränkung, auf einen durch die Regierung begange­nen gewaltsamen Bruch der Verfassung diese Volkserhebung denkbar sei. Wir haben auch gezeigt, dass die Reaktion nicht nur die Arbeiterklasse, sondern die gesamte Bevölkerung treffen müsste. Dann aber wären dem Proletariat die Sympathien und die Unterstützung der Mittelschichten der Bevölkerung so gut wie sicher.

Neben dem baren Gelde kommt in Be­tracht der Kredit beim Bäcker und Krä­mer. Man kann wohl sagen: solange die­ser Kredit anhält, ist der Streik gesichert. Nun ist aber die Sache die: je massen­hafter, je allgemeiner ein Streik auftritt, desto mehr sehen sich die Geschäftsleute genötigt, den Streikenden Kredit zu ge­währen, denn sonst büßen sie ihre sämt­liche Kundschaft ein und ruinieren ihr Ge­schäft. Aus demselben Grunde, aus wel­chem eine große Anzahl Berliner Restau­rateure den boykottierten Brauereien kün­digten und nur boykottfreies Bier führten, werden der Bäcker und Krämer, wenn der Streik einen großen Teil der Arbeiter­schaft ergreift, doch wohl bis zu einem gewissen Grade Kredit geben. Dazu kommen noch, wie bei der Geldbeschaf­fung, die Sympathien, die der Bewegung seitens der allgemei­nen Bevölkerung ent­gegengebracht werden, in Betracht.

Auch die Konsumvereine können unter diesen Bedingungen sich als sehr wert­volle Stützmittel erweisen.

Das sind im allgemeinen die Bedingun­gen,. unter denen ein politischer Massen­streik zur Geltung kommen könnte. In den Grundzügen stimmt diese Auffassung mit dem von K. Kautsky ausgearbeiteten An­trag der X. Kommission des Internationa­len Sozialistischen Arbei­terkongresses in Zürich 1893 überein, worin es heißt, “dass Massenstreikes unter Umständen eine höchst wirksame Waffe nicht bloß im ökonomischen, sondern auch im politi­schen Kampfe sein können, eine Waffe jedoch, deren wirksame Anwendung eine kräftige gewerkschaft­liche und politische Organisation der Arbeiterklasse voraus­setzt.”2 Die Frage des Generalstreiks ist leider wegen Zeitmangels im Plenum des Züricher Kongresses nicht erörtert wor­den, deshalb liegt auch kein Beschluss vor.

Man lasse vor allem den Zusammenhang zwischen dem Streik und dem Staats­streich nicht aus den Augen. Man verges­se die Hauptsache nicht: dass es gelten würde, den Zustand der allgemeinen Un­ruhe und Gärung so lange auszudehnen, bis die Staatsstreichler demoralisiert wür­den: das Militär würde unschlüssig, die Anstifter und Leiter des Verfassungs­bruchs gerieten in Verwirrung. Je mehr dies der Fall wäre, desto mehr würde sich die Situation ändern, und der politische Cha­rakter der Bewegung würde in Gestalt von Massenumzügen, Straßenansamm­lungen, Demonstrationen usw. mehr her­vorgekehrt werden.

Nicht darauf kommt es also bei dem poli­tischen Massenstreik an, ob der ökono­mische Druck des Streiks auf Seiten der Kapitalistenklasse oder auf Seiten der Ar­beiterklasse stärker sei. Die Frage ist die, wie lange es eine Regierung unter dem Drucke einer massenhaften Arbeits­ein­stellung bei allgemeiner Erbitterung und Gärung würde aushal­ten können? Und die Beantwortung dieser Frage hängt selbstver­ständlich nicht nur von den all­gemeinen Bedingungen eines Streik­erfol­ges ab, sondern von der Intensität der Erbitterung, die im Volke herrscht, von den politischen Interessen, die auf dem Spiele stehen, von dem Zustande des Mi­litärs u. a. m. Kurz, der Massenstreik ist ein wichtiger politischer Faktor, aber nicht das alleinseligmachende poli­tische Kampfesmittel.

Es ist klar, dass, je allgemeiner der Streik, desto größer seine Wir­kung. Aber wenn es schon beim gewöhnlichen Streik nicht bloß auf seine Ausdehnung, son­dern auch auf die Art der von ihm ergrif­fenen Produktionszweige ankommt, so ist das noch mehr der Fall beim poli­tischen Streik. Es ist etwas anderes, ob die Berg­arbeiter streiken oder z.B. die Schneider. Denn die Bergarbeiter ziehen die gesamte Eisen- und Maschinenindustrie in Mitlei­denschaft und damit so gut wie die ge­samte Großindustrie. Eine andere Be­deutung wieder hat ein Streik der Bäcker, und wiederum anders ist der Streik der Bauarbeiter usw. Das Hauptgewicht aber, und im politischen Streik ganz besonders, liegt in den Verkehrsmitteln. Wenn die großen Verkehrsmittel außer Betrieb ge­setzt werden, dann stockt der gesamte gesellschaftliche Pro­duktionsmechanis­mus, aber auch der politische Mechanis­mus.

Wenn die Arbeiter der Eisenbahnwerk­stätten, die Zugführer, die Sta­tionsunter­beamten, die sonstigen Betriebsarbeiter, wenn die Postbe­amten, die Angestellten der Telegrafen- und Telefonanstalten auf­hören, ihren Dienst zu tun, dann ist die Regierung desorganisiert, dann ist es, als ob ihr das Blut aus den Gefäßen ausge­flossen wäre, und sie klappt ohnmächtig zusammen.

So gewaltig die Wirkung eines Streikes der Arbeiter und Beamten an den Ver­kehrsmitteln wäre, so schwer ist er zu­stande zu bringen. Wenn es aber eine Situation gibt, die geeignet ist, diese ver­schieden­artigen und schwer organisierba­ren Arbeiterschichten zu einer gemein­samen Aktion. zu vereinigen, so ist es die Abwehr eines Verfassungs­bruchs.

13. Die Desorganisation der Regierung

Die Barrikadenrevolution hatte ihren fast ausschließlichen Kampf­platz in der Hauptstadt. Einmal, weil hier der Sitz der Regierung, sodann aber, weil nur in einer Großstadt jene spontanen Menschen­an­sammlungen möglich sind, welche die gewaltsame Revolution erfor­dert. Dies bot der Regierung zunächst den Vorteil, dass sie die militä­rische Macht vom Lande nach der Residenz zusammenziehen konnte.

Aber schon der politische Massenstreik kennt die Grenzen der Haupt­stadt nicht. Seine Voraussetzung ist vielmehr eine Verbreitung durch das ganze Land. Dem entspricht eine allgemeine Geschäfts­stockung, eine allgemeine Zerrüttung der wirtschaftlichen und politischen Ver­hält­nisse im ganzen Reiche.

Und abermals ist es allein das klassen­bewusste Proletariat, das dies zu­stande bringen kann. Alle anderen Gesell­schaftsschichten sind in sich selbst unei­nig. Die Konkurrenz zerfrisst sie. Sie zer­fallen in kleine Gruppen, die entweder lo­kal voneinander isoliert sind wie das Bau­erntum, oder beruflich und wirtschaftlich weit auseinandergehen, wie das Kleinbür­gertum und die liberalen Berufsarten. Ein­zig das Proletariat bildet eine gewaltige, ökonomisch gleichartige Masse, in der sich überall, in der Großstadt wie in der isoliert gelegenen Fabrik auf dem Lande, von der fernen Hafenstadt an der Ostsee bis zum industriereichen Rhein, überall das gleiche Solidaritätsgefühl bekun­det.

Während einer Barrikadenrevolution ge­nügte der Aufstand in der Hauptstadt, um die Regierung in Verwirrung zu bringen — wie aber, wenn eine allgemeine Gärung mit elementarer Macht das ganze Reich ergreift? Wie, wenn in jeder größeren Stadt Versammlungen, Demonstrationen, Protesterklärungen stattfinden, und ein Sturm von Entrüstung einer staats­streichlerischen Regierung aus dem gan­zen Lande entgegenbraust? Und wenn vor allem überall die Arbeit ruht und im­mer lauter die Klagen sich erheben über Zerrüttung der Han­delsverhältnisse — wozu schon die allgemeine Unsicherheit genügt — und über geschäftlichen Ruin? Wenn der Kurs der Staatspapiere fällt und zu gleicher Zeit die Einnahmen, beson­ders die Reichseinnahmen, die fast aus­schließlich auf Verbrauchsabgaben beru­hen, sinken, die Ausgaben aber infolge der kolossalen Tätigkeit, welche die Re­gierung zu entfalten hat, wachsen? Und jede weitere Stunde macht das Militär we­niger zuverlässig !

Es ist schwer, einen großen Massenstreik auf die Dauer aufrechtzu­erhalten — aber noch schwieriger ist es für die Regierung, einer allge­meinen politischen Protestbe­wegung standzuhalten.

Währenddem also nunmehr die Regie­rung in der Hauptstadt einen viel schwie­rigeren Standpunkt haben würde, als zur Zeit der Barri­kadenkämpfe, weil die Re­gierung nicht mehr so viel militärische Macht nach der Hauptstadt würde zu­sammenziehen können — würde die poli­tische Bewegung in der Provinz mit einer bis dahin nicht ge­kannten Wucht vor sich gehen. Dies führt uns zur Betrachtung ei­nes weiteren wichtigen Moments.

Kein Staat hat eine so komplizierte und verworrene Organisation, wie Deutsch­land, was durch seine geschichtliche Bil­dung aus Kleinstaaten bedingt worden ist. Es zerfällt also zunächst in Bundesstaa­ten, und jeder Bundesstaat hat seinen Regierungs- und Verwaltungsapparat, der einen verschiedenartigen Mischmasch von Beamtentum und Demo­kratie dar­stellt. Schon das steht einer raschen, ein­heitlichen, allgemei­nen Aktion der Regie­rung im Wege. Nicht überall ist Preußen.

Je stärker die Entwicklung der Demokra­tie in einem Bundesstaat, desto weniger würde dieser ein willfähriger Diener der Reaktion sein, desto weniger einer etwai­gen staatsstreichlerischen Reichsregie­rung Vorschub leisten. Dieses Verhältnis könnte zu einer Desorganisation der ver­fassungsbrüchigen Regierung führen, an­dererseits dem politischen Massenstreik von Nutzen sein.

Nicht nur die Landtage kommen dabei in Betracht. Von eminenter Bedeutung sind auch die Gemeindevertretungen, vor al­lem die städ­tischen. Wenn der Stadtrat auf Seiten des Volkes steht, bzw. unter dem Drucke der Öffentlichkeit sich ihm gegenüber sympathisch erwei­sen muss, so verfügt das Volk nicht nur über die Autorität, sondern auch über die finan­ziellen Mittel der Stadtverwaltung. Ein demokra­tischer Stadtrat kann den Strei­kenden Unterstützung bewilligen, ihnen Kredit gewähren, für ihren Kredit bürgen. Er kann zu diesem Zwecke Steuern aufle­gen und Anleihen aufnehmen. Je länger der Massenstreik unter solchen Verhält­nissen anhält — ohne Barrikadenkampf, ohne Blutvergießen, ohne jeden kriegeri­schen Taumel —‚ desto mehr greift die Zersetzung um sich, desto schwankender wird das Militär, desto verwirrter wird die Regierung, und schließlich kehrt sich der Verwaltungsapparat des Staates selbst gegen die Regierung. Um die Regierung völlig zu desorganisieren, fehlt nur noch eins: die Steuerverweigerung!

Dies wäre die Art, wie das Volk die Ver­fassung gegen Hochverrat schützen könnte! Weit entfernt, durch die Entwick­lung des Militaris­mus zur Unmöglichkeit gemacht worden zu sein, ist der Erfolg dieser Volkswehr vielmehr sicher, unter einer Bedingung: dass das Proleta­riat in Ruhe aushält und sich nicht zu Unbeson­nenheiten hinreißen lässt! Dann müsste unbedingt sehr schnell der Zeitpunkt kommen, wo die verfassungsbrüchige Regierung zu Kreuze kriecht und winselnd um Gnade bittet!

14. Warnung!

Versteht der Leser nun, weshalb die herrschen­den Klassen uns platterdings dahin bringen wol­len, wo die Flinte schießt und der Säbel haut? … Die Her­ren verschwenden ihre Bittgesuche wie ihre Herausforderungen für nichts und wie­der nichts. So dumm sind wir nicht. Sie könn­ten ebensogut von ihrem Feinde im nächsten Kriege verlangen, er solle sich ihnen stellen in der Linienformation des alten Fritz oder in den Kolonnen gan­zer Divisionen à la Wagram und Water­loo, und das mit dem Steinschlossgewehr in der Hand. Haben sich die Bedingungen geändert für den Völkerkrieg. so nicht minder für den Klassenkampf. Die Zeit der Überrumpelungen, der von kleinen, bewussten Minoritäten an der Spitze be­wusstloser Massen durchgeführten Revo­lutionen ist vorbei. Wo es sich um eine Umge­staltung der gesellschaftlichen Or­ganisation han­delt, da müssen die Mas­sen selbst mit dabei sein, selbst schon begriffen haben, worum es sich han­delt, für was sie eintreten sollen. Das hat uns die Geschichte der letzten fünfzig Jahre gelehrt.”

Friedrich Engels

Es wäre töricht, jetzt gegenüber der gro­ßen Entwicklung des Militärwesens eine Revolution etwa in der Art des Jahres 1848 beginnen zu wollen — aber noch tö­richter wäre es, eine unter modernen Verhält­nissen zustande kommende politi­sche Volksbewegung mit den Mitteln be­kämpfen zu wollen, die vielleicht 1848 ausgereicht hätten. Es hat sich während dieses halben Jahrhunderts nicht nur die Militärtechnik entwickelt, sondern das ge­samte wirtschaftliche und politische Le­ben der Völker, und schließlich ist die Entwicklung des Militärwesens nur ein blasser Widerschein der allgemeinen in­dustriellen Entwicklung.

Das vergessen die Herren Generäle a. D., die sich die langweilige Ruhe eines untä­tigen Daseins, in Abwechslung mit Kar­ten-, Schachspiel und genealogischen Studien, durch papierene Revolutions­kämpfe zerstreuen und sich als Staats­streichstrategen, als hausbackene Molt­kes gegen den “inneren Feind” gerieren. Ja, wenn das Volk gerade so handeln wollte, wie sie es sich vorstellen, wie herrlich würden sie es dann zu einem blutigen Brei zusammenschießen! Schade nur, dass das Volk sich nicht einfallen lässt, deshalb auf die Barrikaden zu steigen, um das Avancement gebrech­licher Generäle zu Rettern des Vaterlan­des zu fördern!

1848 wurde die preußische Regierung, die stärkste Regierung Deutschlands, mit den Berliner Aufständischen nicht fertig. Gewiss, solche Kanonen und solche Flinten wie jetzt standen ihr damals nicht zur Verfügung. Aber immerhin waren es Kanonen und Flinten, also doch mehr als “Feuerspritzen”. Und ein Heer von 250.000 Mann stand unter Waffen und war der Regierung zu Gebote. Es war ein williges Heer: durch keine politische Er­kenntnis, keine Bedenken noch wankel­mütig gemacht, gehorsam und brutal. “Wir sind keine Pari­ser”, riefen die pom­merschen Soldaten den gefangenen Ber­liner Bar­rikadenkämpfern zu und stießen ihnen den Gewehrkolben in den Nacken! Und doch hat der König von Preußen vor dem zusammengelaufenen “Pöbel” den Hut ziehen müssen!

Und wie gering war damals die politische Macht des Volkes im Ver­gleich zu heute! Damals war Preußen ein Agrikulturland. Über 70 Prozent der Bevölkerung lebten auf dem platten Lande. In den Städten waren nur 28 Prozent. Dagegen beträgt nach der Zählung von 1890 die Stadtbe­völkerung mehr als vier Zehntel der Ge­samt­heit.

Damals, 1848, waren in Preußen in Ge­werbe, Handel und Verkehr nur 29 Pro­zent der Bevölkerung tätig. Aber schon 1882 betrug diese industrielle Bevölke­rung 47 Prozent, und jetzt werden es wohl über 50 Prozent sein!

Und aus wem bestand denn die Stadt- resp. die gewerbetreibende Be­völkerung :848 in Preußen? Die Industrie war noch im Anfangssta­dium ihrer Entwicklung, Fabriken gab es sehr wenige. Die Zäh­lung von 1849 ergab in der Handwerker­tabelle für “mechanische Künstler und Handwerker” 942.373 Personen, während demgegenüber die Fabrikentabelle in der Rubrik “Fabriken in Metall usw.” nur ein Arbeiterpersonal von 95.211 aufzuweisen hat. Das war damals in Preußen die Ma­schinenindustrie, die Grundlage der ge­samten Indu­strie, in Vergleich mit den Schlossereien, Klempnereien und ähnli­chen handwerksmäßigen Betrieben!

Wenn man auf der einen Seite die gerin­ge Zahl der Fabrikarbeiter, Handwerker, Kaufleute, Literaten hält, die 1848 das re­volutionäre Heer bildeten, und auf der an­deren das mächtige preußische, absolute Königtum von Gottes Gnaden, das sich auf eine Viertelmillion Ba­jonette stützte — die Feuerspritzen nicht gerechnet —‚ so muss die Revolution von 1848 als ein tolles Wagnis erscheinen, und es fehlte auch damals nicht an alten Generälen, die mit ein paar Bajonettstichen die Re­volution unterdrücken zu können glaub­ten. Und doch hatte die Revolution von 1848 Erfolg, wie die Geschichte zeigt.

Jeder Zeit ihre Kampfesart! Wer im Jahre 1848 den Massenstreik als politisches Kampfesmittel hätte gebrauchen wollen, gehörte nach den oben mitgeteilten Tat­sachen ins Irrenhaus — ebenso jeder, der mittels aufgerissener Pflastersteine, alter Möbelstücke, umgeworfener Handkarren usw. dem modernen Militär den Weg durch die breiten, gera­den Straßen der Großstadt verrammeln wollte. Und des­halb ist es ebenso närrisch, zu erwarten, dass das Volk in dieser Weise gegen den Staatsstreich kämpfen würde. Würde es zu einem Staatsstreich kom­men, so wür­den die Generäle zweifellos ihre Kanonen auffahren las­sen. Ob aber die Kanonen auch die Gelegenheit bekämen, loszuge­hen, ist eine andere Frage. Mit dem Auf­fahren allein wäre es noch nicht getan, und das Volk würde kaum Lust haben, Kanonenfutter zu spie­len. Dazu wäre auch in Betracht zu ziehen, dass die Sol­daten mehr denken als die Kanonen. Dass jetzt die industrielle Bevölkerung die größere Hälfte bildet, bedeutet anderer­seits, dass die Hälfte der Ar­mee aus ihren Kreisen stammt. Die Pommern waren al­lerdings keine “Pariser”, aber der aus der Fabrik oder Großstadt herrührende Sol­dat ist auch nicht mehr der Pommer von 1848!

Und dabei die zweijährige Dienstzeit! Und dabei die große Verbrei­tung der Aufklä­rung, der politischen Bildung, überhaupt die kultu­relle Entwicklung eines halben Jahrhunderts! Man denke nur an die ko­lossale Entwicklung der Presse. Im Jahre 1847 gab es z. B. in Osterreich nur 79 Zeitungen, im Jahre 1892 waren es 1864. Die Zahl der Zeitschriften in Deutschland aber beträgt (1891) über 6300. Das ver­breitete sich in Millionen von Exemplaren und findet seine Leser und weckt in dieser oder jener Weise das politische Interesse.

Wie, vor einem halben Jahrhundert hat das kleine, über viele Dutzende Bundes­staaten zerstreute Häuflein der Ideologen, der Hetzer, der Dem­agogen die deutsche Freiheit erobert — und jetzt sollte das große, einige, deutsche Volk nicht im­stande sein, diese Freiheit zu verteidigen? Hat man nicht soeben das fünfundzwan­zigjährige Jubiläum der Grün­dung des Deutschen Reiches gefeiert? Und war nicht das ein Viertel­jahrhundert der reg­sten politischen Tätigkeit? Wurde nicht das Volk durch Wahlen, durch zahllose Versammlungen, durch die vielen Ver­eine, durch die Presse, durch das groß­städtische Beisammensein poli­tisch wachgerüttelt, an eine politische Willens­betätigung gewöhnt? Und war nicht diese Zeit zugleich ein Vierteljahrhundert des proletarischen Klassenkampfs, der Orga­nisation einer Volksmasse von zwei Mil­lio­nen zu einer sozialrevolutionären Ar­mee?

Und das alles soll man mit ein paar Feu­erspritzen aus der Welt schaf­fen können? Oder selbst mit gezogenen Kanonen und den kleinkali­brigen Gewehren?

Wir haben gezeigt, was der Staatsstreich bedeutet: die Auflösung des Reiches und die Desorganisation des Staates. Und was bedeutet der politische Massenstreik, die unvermeidlich früher oder später ein­tre­tende Antwort auf den Staatsstreich? Nun wohl, er bedeutet die Er­greifung der politischen Macht durch das Proletariat! Denn das ist allerdings wahr: nur das klassenbewusste Proletariat ist imstande, die politische Freiheit, die politische Ver­fassung gegen Gewalt zu ver­teidigen. Und wenn die Gewalt der verfassungs­brüchigen Regierung gebrochen würde, dann wäre es das Proletariat, das den Kampfplatz behauptete und die politische Führung übernähme.

Dieses sagen wir zum Schlusse den Re­aktionären in und ohne Uniform: Mir den bürgerlichen Revolutionen, bei denen das Proletariat nur Handlangerdienste leistete, ist es aus, Ihr braucht sie nicht mehr zu fürchten. Aber die bürgerlichen Revolutio­nen waren nur ein Kin­derspiel gegenüber der politischen und wirtschaftlichen Macht, welche das Proletariat aufzubieten ver­mag. Sie verfügten nicht über solche Massen, solche Organisation, solche Dis­ziplin, solche Ausdehnung, solche materi­ellen Interessen wie ein politischer Streik der Arbeiter­klasse.

Seid gewarnt vor dem Proletariat, wenn es alle seine Kampfesmittel zum Schutze der Verfassung aufbietet!

Wollt ihr va banque spielen? Ihr verliert sicher und schlimmer, als ihr meint.

1 Da die politische Bedeutung der Landta­ge, neben dem Reichstag eine sehr unter­geordnete ist, so kommen hier die Ge­gensätze unter den bürgerlichen Parteien we­niger scharf zur Geltung. Dennoch hü­tete man sich in Sachsen wohl, das all­gemeine Wahlrecht zu beseitigen, son­dern man führte die Dreiklassenwahlen in preußischer Art. also mit gemeinsamer Abgeordnetenwahl, ein, wodurch nur er­reicht wird, dass weder die Arbeiterklas­se, noch der Mittelstand, noch die Kapita­listenklasse ihre Abgeordneten selbstän­dig wählen können. Das ist ein Wahlsy­stem, das sich selbst aufhebt, das über­haupt nur funktionieren kann, wenn eine Wählerklasse freiwillig auf ihre Selbstän­digkeit oder ihr Wahlrecht verzichtet. Die sächsische Bourgeoisie spekulierte, er­muntert durch die preußischen Erfahrun­gen, darauf, dass die Sozialdemokratie diese Kasteiung an sich üben wird. Schon bei den nächsten Wahlen wird sich der reaktionäre Rausch verfliegen — desto bitterer wird der Katzenjam­mer sein.

2 Vgl. auch Ed. Bernstein: “Der Streik als politisches Kampfmittel”. “Neue Zeit”, 1893/94, Band I, S. 689.

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