Clara Zetkin 19250100 Helphand Parvus

Clara Zetkin: Helphand Parvus

[Die Kommunistische Internationale, Heft 1, Januar 1925, S. 76-91]

In Berlin ist Mitte Dezember an den Folgen eines Schlaganfalles Israel Helphand Parvus, 57-jährig, gestorben. Ein Vierteljahrhundert zurück würde diese Todesnachricht in der internationalen Arbeiterbewegung ein Echo aufrichtiger Trauer erweckt haben. Namentlich in der Arbeiterbewegung Deutschlands, und zwar hier im Besonderen bei dem linken Flügel der Sozialdemokratie und den von ihm geführten proletarischen Massen. Heute hat die Nachricht kaum mehr als das flüchtige Interesse einer anderen Zeitungsnotiz ähnlicher Art gefunden. Sie hat sicherlich die Öffentlichkeit nicht in dem gleichen Maße bewegt wie das Kabeltelegramm, das den Tod Samuel Gompers meldete, dieses klügsten, konsequentesten, willensstärksten jener zeitgenössischen Arbeiterführer, die das Proletariat an die Bourgeoisie verraten.

Die Bourgeoisblätter brachten über Parvus Nekrologe, überwiegend auf die Melodie gestimmt: eine interessante, viel umstrittene Persönlichkeit. Im Unterton klang stets die echt bürgerliche Bewunderung mit für den Reichtum des „großen Kaufmanns“, und je nachdem eine antisemitisch-nationalistische Note des Bedauerns, dass ausgerechnet „einem russischen Juden“ so beneidenswertes irdisches Heil widerfuhr. Der „Vorwärts“ widmete dem Toten eine schäbig kurze Notiz, die dessen unzweifelhafte Verdienste um die Arbeiterbewegung in der Vergangenheit ebenso im Schatten lässt wie für die Gegenwart seine schmutzige Laufbahn als skrupelloser kapitalistischer Geschäftsmann, als politischer Zutreiber des deutschen Imperialismus, als freigebiger Goldonkel sozialdemokratischer Verlage und Veröffentlichungen, als üppiger Gastgeber und einflussreicher Berater der Ebert und Kompagnie. „Sein Urteil, als das eines ungewöhnlich kenntnisreichen, im Parteileben aufgewachsenen Mannes, blieb im engen Parteikreise geschätzt.“ Die Beschränkung, Zurückhaltung und Wortkargheit des sonst so phrasenreichen „Vorwärts“ ist begreiflich. Die „engen Parteikreise“, lies: der Führerklüngel um Ebert und Wels, ließen sich die materielle Parteihilfe des reichen Parvus schmunzelnd wohl gefallen, ebenso auch die Ratschläge des ihnen an Wissen und Talent so weit überlegenen Parvus. Allein es hatte doch seine Bedenken für diese Herren, entblößten Hauptes, den Trauerflor um den Arm, am Sarge des Schiebers Helphand zu schluchzen.

Die Arbeiterbewegung Deutschlands und noch weniger jene eines anderen Landes wurde nicht einmal an ihrer Oberfläche durch diesen Tod berührt. Proletarier, die sich mit Parvus zusammen gegen die reformistische Verbürgerlichung der Sozialdemokratie tapfer gestemmt hatten, sagten achselzuckend, durch den Verrat ihrer meisten Führer resigniert geworden: „Es war einmall“ Für sie war Parvus, der streitbare, gut gerüstete Kämpe für die Durchtränkung der Arbeiterbewegung mit marxistischem Geist, gestorben, als er in Sofia die Werbetrommel für die Heere Wilhelms gerührt hatte. Jüngere Genossen, die erst während der Kriegs- und Nachkriegszeit zur revolutionären Vorhut des deutschen Proletariats gestoßen sind und dessen Geschichte nicht kennen, spuckten einfach aus: „Parvus! Pfui Teufel, ein Schuft, ein Renegat!“

Parvus’ „labyrinthisch irrer Lebenslauf“ kommt in diesen Wertungen zum Ausdruck. Der Mann, der zuerst an die Öffentlichkeit trat als glühender Hasser der bürgerlichen Gesellschaft, entschlossen, das Höchstmaß seiner außergewöhnlichen Kraft an die Vernichtung dieser Gesellschaft zu setzen, endet als ihr Schützer und Werkzeug im Schiebersumpf des deutsche Imperialismus. Der gründlich geschulte Marxist, der Freund Rosa Luxemburgs und aller von der kleinen Phalanx, die mit größter Leidenschaft in Theorie und Praxis den Kampf gegen den Opportunismus in der deutschen Arbeiterbewegung aufnahmen, stirbt als Intimus des überopportunistischen Reichspräsidenten Ebert, der von Seeckts Gnaden die revolutionären Arbeiter Deutschlands niederschießen und hinter Zuchthausmauern verkommen lässt; stirbt als Gönner und Begönnter der reformistischen sozialdemokratischen Führer, deren Hände seit dem August 1914 besudelt sind mit dem Verrat aller geschworenen Grundsätze, mit dem Blute Rosa Luxemburgs, Karl Liebknechts und anderer aufrechter Kämpfer. Welch klaffenden, unversöhnlicher Widerspruch zwischen Anfang und Ende.

Ist es einzig und allein das Schicksal erdgebundener, individueller Veranlagung, das sich in diesem Widerspruch auswirkt? Oder aber ist er durch das Zeitgeschehen, durch geschichtliche Milieukräfte bestimmt, so stark persönlich geprägt er auch erscheint? Sicherlich hat sich in Parvus’ Lebensgang beides miteinander zur „Moira“ verschlungen. Das Überdurchschnittliche seiner Persönlichkeit — sie war physisch und psychisch elefantenhaft — lässt seinen Lebensgang und die schrille Dissonanz des Ausgangs zu dem Anfang zunächst als „individuellen Fall erscheinen, entschieden durch naturgegebene Gestalten. Jedoch bei näherem Zusehen entpuppt sich das stark individuell Gefärbte seinem Wesen nach als durchaus typisch. In der Tat! Parvus ist vor allem Typus. Sein Lebensschicksal ist die zu Fleisch und Blut verkörperte Entwicklung der Zweiten Internationale seit der Zeit, wo bei hoher äußerlicher Blüte ihr innerer Verfall beginnt, bis zu ihrer vollständigen Fäulnis und Zersetzung. Dieser geschichtliche Vorgang tritt am sinnfälligsten in Deutschland in Erscheinung. Denn die deutsche Sozialdemokratie ist die führende Partei der Zweiten Internationale, und die fieberhaft rasche und starke Entfaltung des Imperialismus im Reich schafft den günstigsten Nährboden für ihr Glück und Ende.

Die beginnende Umwandlung der Zweiten Internationale aus einem revolutionären Klassenkampforgan in ein reformistisches Kränzchen ruft eine kraftvolle Reaktion der marxistisch denkenden Führer und der revolutionären Proletarier hervor. Parvus führt jahrelang in dem dichtesten Kugelregen dieses Kampfes, und das internationale „Fähnlein der sieben Aufrechten“ marxistischer Theorie setzt große Hoffnungen auf ihn. Es kommen die Jahre, wo der Revisionismus, theoretisch in papiernen Resolutionen geschlagen, still, betriebsam, in Wirklichkeit immer mehr Boden gewinnt, aus einzelnen Sündenfällen immer mehr zur Praxis der „positiven Leistung“ der Sozialdemokratie und namentlich der Gewerkschaften wird. Parvus hört mehr und mehr auf, der alte Rufer zum Streit und Kämpfer zu sein, der Erfolg suchende Geschäftsmann drängt sich in ihm vor. Die deutsche Sozialdemokratie meldet mit ihrer Kriegskreditbewilligung und ihrem bürgerlich-nationalistischen Dogma der Vaterlandsverteidigung den Bankrott der Zweiten Internationale an. Karl Kautsky unterschreibt die Bankrotterklärung durch seine feig-kindische Theorie, dass die proletarische Internationale lediglich ein Werkzeug im Frieden, nicht aber im Kriege sei. Nicht lange, und hervorragende Führer der Zweiten Internationale sitzen als Puppen monarchistischer oder plutokratischer Mächte in Kriegskabinetten. Seither gibt es keinen politischen, wirtschaftlichen, finanziellen Blut- und Schmutzhandel der Bourgeoisie eines Landes, den die Führer der Zweiten Internationale nicht dulden, decken und mitmachen. Diese ist zur Schiebergesellschaft des Weltkapitalismus geworden. Parvus, der Schieber großen Stils, dem gelegentlich sentimentale Erinnerungen an die Maienblüte seiner radikalen Jugendsünden aufsteigen — der marxistischen Phraseologie auf den Kongressen der Macdonald, Vandervelde, Wels und Fritz Adler vergleichbar — ist der legitime Sprössling und das Symbol der Zweiten Internationale. Seine „Ausreifung“ vom kämpfenden Marxisten zum geriebenen, grob genießenden, korrupten und korrumpierenden Geschäftemacher ist Widerspiegelung der Entwicklung der Zweiten Internationale und besonders der deutschen Sozialdemokratie in Lehre und Tat, vom Marxismus zum Klassenverrat.

Helphand kam ins Ausland als russischer Student, der seine revolutionären Lehrlingsjahre bereits hinter sich hatte. Er war in revolutionären Zirkeln tätig gewesen und einige Zeit auch unter Arbeitern in der Fabrik. Seine Situation war als die eines „unzuverlässigen Subjekts“ in der Heimat unhaltbar oder wenigstens sehr schwierig geworden. Helphand brachte nach der Schweiz als sicheren Besitz mit eine sehr hohe und bewusste Selbsteinschätzung seiner hervorragenden Fähigkeiten und den Willen, in Theorie und Praxis ein Führer der jungen russischen Sozialdemokratie und Arbeiterbewegung zu werden. Sein Studium war auf dieses Ziel gerichtet. Seine Einstellung zu den theoretischen und praktischen Problemen der Arbeiterbewegung wurde von den Ideen der Troika Plechanow, Axelrod, Sassulitsch beeinflusst, jedoch nicht gebunden; er durchdachte die Probleme selbständig, kritisch auch die Gedankengänge derer prüfend, die ihm Anregen und Lehrer waren. Sein Studium schloss er in der Universität Basel unter Professor Bücher als Dr. phil. mit der Dissertation über „Die technische Organisation der Arbeitsteilung“ ab.

Außer dem spezifisch russischen Einfluss wurde noch ein anderes Moment für Parvus’ politisches Wirken entscheidend: das Aufblühen des Imperialismus in Deutschland, wohin Helphand nach Beendigung seines Studiums übersiedelte, und die Auswirkung dieses Faktors in der Sozialdemokratie. Nach dem siegreichen Überstehen des Sozialistengesetzes wuchs diese rasch und stark in die Breite. Ihre Organisation, die Zahl ihrer Mitglieder, Wähler und Mandate in den verschiedenen Parlamenten, ihre wohlgefüllte Kasse, ihr Presse- und Bildungsapparat machten sie zur führenden Truppe der Zweiten Internationale. Nicht minder ihre marxistische Ideologie. Der äußere Glanz ihres Aufstiegs verdeckte, dass sie wohl in trefflicher Weise die Agitationsmittel einer Massenpartei entwickelte, jedoch nicht auch die Aktionsmittel einer proletarischen Klassenkampfpartei, deren Ziel die Beschleunigung und Durchführung der sozialen Revolution ist. Ebenso dass ihre anscheinend auf der Höhe stehende marxistische Ideologie mehr und mehr den kraftvollen revolutionären Atem verlor. Sie wurde abstrakt und populär verflacht zugleich. Ihre Theoretiker flüchteten von der tief schürfenden Durchforschung der lebendigen Gegenwart zur professoralen Darstellung vergangener Epochen. Ohne Zusammenhang mit einer revolutionären Politik des organisierten Proletariats, fing der historische Materialismus an, als gelehrte Wissenschaft zu verkalken. Nur Mehrings historische Werke verlieren nie die Verbindung mit den Aufgaben des revolutionären Kampfes und atmen lebendigen marxistischen Geist. Die sozialdemokratische Praxis geriet in wachsende Entfernung von der marxistischen Ideologie, die schließlich zur bloßen Phraseologie herabsank. Die russischen Genossen übersahen längere Zeit die sich mehrenden Anzeichen der Umwandlung. Sie vergötterten geradezu die deutsche Sozialdemokratie als das Ideal einer revolutionären Klassenkampfpartei des Proletariats, sie waren fest davon überzeugt, dass sie auf dem gegebenen historischen Boden dieses in den Kampf führen und die erste große Entscheidungsschlacht der sozialen Revolution schlagen würde.

Helphand kam nach Berlin, getrieben vom Tatendrang des russischen Revolutionärs und seiner eigenen ungestümen, aktionsverlangenden Natur. Er kam, ausgestattet mit all den Illusionen der russischen Sozialdemokraten über den Stand der deutschen Arbeiterbewegung. Die Enttäuschung blieb nicht aus und war groß. Sein klarer Blick für konkrete Erscheinungen ließ diesen Marxisten die Schwächen der Sozialdemokratie schnell genug erkennen, und es dauerte nicht allzu lange, so sah er in ihnen nicht einzelne, vorübergehende Erscheinungen, sondern wertete sie in ihrem inneren Zusammenhang als Anzeichen eines Mauserungsprozesses zur Verbürgerlichung der Partei. Ehe sich Helphand mit der ganzen Leidenschaftlichkeit und Wucht seines Wesens in den Kampf dawider stürzte, während er noch gleichsam das Kampfgelände sondierte, die Kräfte des Gegners maß, die Bedingungen des Ringens mit ihm zu erforschen suchte, fuhr er zunächst fort, die landwirtschaftliche, industrielle, finanzielle und politische Situation in Russland einer marxistischen Analyse zu unterziehen. Namentlich in der „Neuen Zeit“, wo er nach einiger Zeit seine Beiträge nicht mehr als „I. H.“ oder ein „russischer Revolutionär“ zeichnete, sondern als Parvus. Sein weiter oben angezogener Artikel ist typisch für seine Beurteilung der Dinge in Russland. Kern und Stern seiner Darlegung ist stets, dass die wirtschaftliche Entwicklung unvermeidlich zum Sturze des Absolutismus führen muss, und dass die Agrarkrisen eine entscheidende Rolle dabei spielen. So scharf und bestimmt Parvus die Bedeutung der Agrarkrisen als objektiv revolutionäre Triebkräfte herausstellte, hat er doch nirgends — auch in seinen späteren Arbeiten nicht — den Muschik als zuverlässigen Bundesgenossen des revolutionären Proletariats im Kampfe um die Eroberung und Behauptung der Staatsmacht aufgefasst.

Den großen Waffengängen mit dem Opportunismus ging in den Jahren 1892, 1893 und 1894 kennzeichnendes Geplänkel voraus. Artikel in der „Neuen Zeit“ über finanzpolitische und ökonomische Fragen, Rezensionen von Erscheinungen der Belletristik, Beiträge über das kulturelle Leben der bürgerlichen Gesellschaft u. a. m. Ihr Kennzeichen war die Rebellion gegen die bürgerliche Versimpelung der Betrachtungsweise, gegen die Neigung, Probleme zu verhüllen, statt sie scharf herauszumeißeln. Arbeiten dieser Art veröffentlichte Parvus auch später in der „Neuen Zeit“ wie in Tagesblättern. Er warf sie gleichsam aus dem Handgelenk auf den Redaktionstisch als „Nebenprodukte“ seiner überschüssigen Kraft. Sie belichten die Vielfältigkeit seines Interesses und Könnens, seinen Reichtum an Gedanken und glänzenden Einfällen, die Gründlichkeit, mit der er sich in die verschiedensten Gebiete einarbeitete, und namentlich die Konsequenz, mit der er als Marxist alles Geschehen in der bürgerlichen Welt in seiner Bedeutung für die revolutionäre Entwicklung der Dinge und des proletarischen Klassenkampfes betrachtete. Besondere Beachtung verdient heute noch die Abhandlung: „Ökonomische Taschenspielerei“ („Neue Zeit“, 1892). Erbarmungslos entlarvt hier Parvus den Versuch des Professor Böhm-Bawerk, durch die vulgär-ökonomischen Spekulationen der „Grenznutzenlehre“ Marxens Werttheorie zu eskamotieren, und damit die aus ihr folgende Notwendigkeit des proletarischen Klassenkampfes. Die Psychologie tritt an Stelle der Ökonomie. Die Grenznutzentheorie lässt keinen objektiven gesellschaftlichen Maßstab für den Wert der erzeugten Güter gelten. Die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit schiebt sie als solchen beiseite und ersetzt ihn durch die subjektive Schätzung. Damit verschwindet die Beraubung des Proletariats um den Mehrwert seiner Arbeit durch die Kapitalistenklasse: die kapitalistische Ausbeutung wird zu einer freundschaftlichen Wohltat, die der Unternehmer „seinen“ Lohnsklaven erweist. Die „deutsche Wissenschaft“, vertreten durch ein Bäckerdutzend Professoren, wurde damals von dem Ehrgeiz geplagt, „den Marxismus geistig zu überwinden“. Wobei es den Herren — bewusst oder unbewusst — weniger auf die „Reinigung und Fortentwicklung der Wissenschaft“ ankam als auf die Verdrängung des „hässlichen, unkulturellen Klassenkampfes“ durch das der „fortschreitenden Zivilisation entsprechende harmonische Zusammenwirken der Einsichtsvollen unter den Arbeitgebern und Arbeitnehmern“. Manche Intellektuelle in der Sozialdemokratie, wie auch strebsame Proletarier, denen das Klappern des bürgerlichen Wissenschaftsapparates imponierte, fühlten sich getrieben, ihre Bildung dadurch zu bekunden, dass sie den reinen Feuerwein des Marxismus durch professorale Zitate zu einem lähmenden Gifttrank verpanschten. Es bestand die Gefahr, dass durch ihre Vermittlung das Klassenbewusstsein proletarischen Massen getrübt, die Kampfeskraft gemindert würde. Parvus’ Schläge gegen Böhm-Bawerk zielten daher über den besonderen Fall hinaus. Sie richteten sich gegen einen Einbruchsversuch aus dem feindlichen Lager, dem Unklarheit und Torheit in den eigenen Reihen das Tor zu öffnen bereit waren. Der Revisionismus spukte vor.

Seinen ersten großen, durchdachten Vorstoß unternahm der Opportunismus bei der Aufrollung der Agrarfrage. Er war auf dem Parteitag zu Frankfurt a. Main 1894 eröffnet worden und fand seinen Abschluss im folgenden Jahre auf dem Parteitage zu Breslau. Kampfobjekt zwischen Marxismus und Opportunismus war der Entwurf zu Agrarforderungen, die dem so genannten Minimumprogramm der Sozialdemokratie eingefügt werden sollten. Der Entwurf mit seinen Reformforderungen zugunsten der Bauernschaft war die Arbeit einer fünfzehngliederigen Agrarkommission, die vom Frankfurter Parteitag eingesetzt worden war. Heute erfolgt häufig eine durchaus schiefe Darstellung des Kampfes um das sozialdemokratische „Agrarprogramm“. Es wird im Lichte der gegenwärtigen revolutionären Periode gesehen und der darin wurzelnden Agrarpolitik der Kommunistischen Internationale, insbesondere der Agrarpolitik in den Sowjetrepubliken. Indem man übersieht, dass es sich um zwei wesensverschiedene geschichtliche Entwicklungsabschnitte handelt, indem man die Passivität der Zweiten Internationale ohne weiteres auch ihren linken Elementen unterstellt, kommt man zu einer ganz irrigen Schlussfolgerung. Der Kampf um agrarische Reformforderungen war nicht ein Zusammenstoß zwischen einem unfruchtbaren marxistischen Dogmatismus und dem realpolitischen Willen, nichtkapitalistische Bevölkerungsschichten in die revolutionäre Kampfesfront des Proletariats einzureihen. Focht aber nicht Bebel, der radikale Bebel, temperamentvoll für die Agrarforderungen, während der opportunistische Auer sehr entschieden bekämpfte?! So geschaut erscheint dann in der Zweit Internationale wie für den Bezechten im Liede „Rechter Hand, linken Hand, alles vertauscht“.

Doch diesem Bilde widerspricht allein schon die Tatsache, dass — abgesehen von dem erwähnten Frontwechsel Bebels, Auers und einiger anderer in Deutschland wie in der Zweiten Internationale alle führenden und aktiven Opportunisten geschlossen wie ein Mann hinter dem Hirtenknaben David und seinen Freunden standen, dass auf der Gegenseite alle kämpften, die eine wissenschaftlich begründete, feste marxistische Auffassung der Geschichte und revolutionäres Temperament besaßen. Wir „Radikalen“ erfassten Agrarreform keineswegs abstrakt, losgelöst von Raum und Zeit, vielmehr in ihrem Zusammenhang mit dem sehr handgreiflichen gesellschaftlichen Milieu des kapitalistischen Deutschen Reiches. Von unserer Seite wurde das in den entscheidenden Debatten auf dem Parteitage mehrmals besonders stark betont. So hieß es u. a. in einer Rede: „Könnte das Proletariat erst sagen: Die Staatsgewalt bin ich!, so lägen die Dinge wesentlich anders. Wir würden dann die Maßregeln, welche die Kommission fordert, unbedenklich durchführen können; mehr noch, wir würden sie durchführen müssen; wir würden in den einschlägigen Reformen viel weiter gehen müssen. Aber wir müssen mit der Wirklichkeit rechnen, mit dem heutigen Staat.“ Für den historischen Sinn des langen, leidenschaftlichen Ringens um die Agrarreformen ist es nicht entscheidend, ob wir „Radikalen“ vielleicht damals die Fähigkeit des Kapitalismus überschätzten, in der europäischen Landwirtschaft höhere Betriebsformen zu schaffen, weil wir unter dem Eindruck seines stürmischen Vordringens in agrarischen Überseegebieten standen. Das wichtige Problem, das hier zugrunde liegt, ist heute noch nicht endgültig geklärt. Es ist die heiß umstrittene Frage, ob allgemein, oder wenigstens in einzelnen Zweigen der Landwirtschaft, Großbetrieb oder Kleinbetrieb die größtmögliche Produktivität verbürge. Die Agrardebatte in der Sozialdemokratie 1894/95 war ihrem Wesen nach die erste große Schlacht zwischen Marxismus und Opportunismus auf der ganzen Linie. Die Opportunisten um David, Quarck usw. dachten nicht im Traume daran, die soziale Front im revolutionären Kampfe des Proletariats zu erweitern und offensiven zu gestalten. Ihr Ziel war vulgärster politischer Bauernfang. Die Reformen sollten Wählerstimmen bringen und die Sozialdemokratie von der rauen Bahn des Klassenkampfes abdrängen.

Dass der revisionistische Angriff in Breslau zurückgeschlagen wurde, daran kommt Parvus größtes Verdienst zu. Seines Bleibens in Berlin war nicht lange gewesen. Von dort ausgewiesen, hatte er als freier Schriftsteller seinen Wohnsitz in Stuttgart genommen, wo sich Verlag und Redaktion der „Neuen Zeit“ befanden. Der Wechsel hatte zweifache Bedeutung. Parvus kam in engsten persönlichen und freundschaftlichen Verkehr mit Karl Kautsky. Kein Zweifel, dass er dabei weit mehr gab als empfing, frische, vielseitige Anregung, vorwärts treibende Sicherheit in Kautskys Wirken hineintrug. Denn Parvus war eine überquellende, eruptive Kraftnatur von starker, unmittelbarer Wirkung im Umgang, stets mit vollen Händen geistige Werte austeilend, so dass er auch Kautskys nüchterne Seele mit fortriss und ihr Schwung verlieh. Das zeigte sich nicht nur während der Auseinandersetzung um die Agrarreformen, sondern auch und besonders im Verlaufe des Kampfes um die Revision der sozialdemokratischen Grundsätze, zumal als dieser zur schärfsten Polemik mit Bernstein führte. Für die Behandlung der Agrarfrage hatte die Übersiedlung von Parvus nach Stuttgart eine besondere Bedeutung. Er fand hier reiches Beobachtungs- und Studienmaterial für die Proletarisierung, ja Pauperisierung des württembergischen Kleinbauerntums, über die Bedingungen und die Leistungsfähigkeit des kleinbäuerlichen Betriebs, über die Auswirkungen kommunaler und staatlicher Maßnahmen zu dessen Hebung usw. Doch von dem Besonderen abgesehen, vergrub sich Parvus in das Studium der Agrarfrage im Allgemeinen und durchforschte sie nach allen Seiten, dabei von dem sicheren Kompass des historischen Materialismus geleitet. Durch Beiträge in der „Neuen Zeit“ und namentlich durch Artikelserien in der „Leipziger Volkszeitung“, unter Schoenlanks glänzender Redaktion, griff er auf das erfolgreichste in die Agrardebatte ein. Er beherrschte das einschlägige Material mit so großer Sachkunde, dass sie von Fachgelehrten wie von Praktikern anerkannt werden musste, auch wenn sie seine marxistischen Schlussfolgerungen zurückwiesen. Gerade die Artikel in der „Leipziger Volkszeitung“ trugen die umkämpften Fragen unter die Parteigenossen in Reih und Glied, und zwar als Fragen des proletarischen Klassenkampfes. Hier jubelte man über jeden schneidigen Hieb, den Parvus dem Opportunismus versetzter Der „hergelaufene russische Student“ fing an, bei diesem zu den bestgehassten „Radikalen“ zu gehören.

Kampf und Hass steigerten sich, als der Reformismus, bisher in einzelnen Fragen und Fällen auftretend, im Revisionismus zur allgemeinen Theorie werden sollte, die die Praxis grundsätzlich beherrschte. Nun ging es ums Ganze: um den historischen Materialismus als revolutionäre Kampfesideologie des Proletariats und Forschungsmethode im Allgemeinen; um die ökonomischen Lehren von Karl Marx im Besonderen. Eduard Bernstein forderte die Sozialdemokratie auf, „zu scheinen, was sie ist“, was sie nach seiner und vieler Meinung sein musste: eine sozialistisch-demokratische Reformpartei. Er gab die theoretische Begründung für die Revision der sozialdemokratischen Grundsätze. Der Tod Friedrich Engels wirkte sich unter den Epigonen der „großen Alten“ aus. Bernstein ging ebenso mutig zum Angriff gegen den Marxismus über, wie Kautsky sich zunächst unsicher und schwankend, zum mindesten aber zurückhaltend bei der Abwehr verhielt. Länger als es gut war, duldete er schweigend Bernsteins Untergrabung der marxistischen Auffassung der Gesellschaftsverhältnisse und Gesellschaftsentwicklung. Der auffallende Umstand wurde zumeist als Folge seiner vieljährigen und innigen Freundschaft mit Bernstein gedeutet. Kautskys Wiedervereinigung mit diesem unter dem Bannen des Reformismus zum Kampfe gegen die proletarische Revolution macht es wahrscheinlich, dass seiner anfänglich unentschlossenen Haltung beim Auftauchen des Revisionismus unbewusst eine gewisse kleinbürgerliche Wahlverwandtschaft zugrunde lag. Jedenfalls ist es eine Tatsache, dass man ihm — wie ein englischer Freund sich ausdrückte — „über den Zaun helfen musste“, damit er offiziell und entschieden Bernstein von sich abschüttelte.

Niemand hat Kautsky dabei so anspornend vorwärts gepeitscht als Parvus. Nicht bloß als Freund durch seinen persönlichen Einfluss, viel mehr als Schriftsteller und Redakteur durch das selbständige, beispielgebende, anregende Auftreten. Parvus rang vom ersten Augenblicke an rücksichtslos, ja brutal mit dem Revisionismus, dessen ganze Gefährlichkeit für den Charakter der deutschen Arbeiterbewegung er klar erkannte. In Artikeln der „Leipziger Volkszeitung“ mobilisierte er gegen Bernsteins abgelegte und verstaubte Vulgärwissenschaftlichkeit kleinbürgerlicher Revolutionsfurcht und Bewunderung für die Leistung der Großbourgeoisie die lebendige Kraft marxistischen Forschens und Denkens. Mit beißendem Witz, Spott und Hohn prügelte er auf „den armen Tom“ los. Parvus verschärfte den Kampf, als ihm die Dresdner Parteigenossen die Leitung der „Sächsischen Arbeiterzeitung“ anvertrauten entgegen vielen Warnungen und Intrigen, weil sie die Umwandlung des Blattes in ein Organ des entschiedensten Radikalismus für wichtig hielten.

Nun hatte Parvus einen Wirkungskreis gefunden, wie ihn sein elementares, vielseitiges Wesen verlangte, und dem er sich ganz hingab. Seiner außerordentlichen Energie war es vor allem zu verdanken, dass mit einer eigenen Druckerei die materielle Voraussetzung geschaffen wurde für den Ausbau der Dresdner Parteizeitung und ihre Unabhängigkeit von der Gunst oder dem Missvergnügen des Parteivorstandes. Parvus betätigte bei diesem Werk nicht geahnte organisatorische Fähigkeiten. Er verband sich auf das festeste mit dem gesamten politischen und gewerkschaftlichen Leben und Weben des Dresdner Proletariats und gab damit dem Krieg gegen den Revisionismus und Opportunismus, denen er erbarmungslos in alle Ecken und Winkel der Arbeiterbewegung nachging, eine breite, tragende Basis. Er zog beste Marxisten als Mitarbeiter heran, vor allem Rosa Luxemburg, und entdeckte mit feinem Instinkt junge, frische Kräfte, die er festzuhalten und zu schulen verstand. Er erfüllte den Redaktionsstab, das technische Hufspersonal mit dem Geist revolutionärer Kampfesfreudigkeit. Seine eigenen theoretischen und schriftstellerischen Talente konnte er unbehindert durch Vor-, Nach- und Rücksichten ausleben. Die „Sächsische Arbeiterzeitung“ war dank Parvus eine Macht in der Partei, ein führendes und gefürchtetes und namentlich das konsequenteste. und zuverlässigste Organ des linken Flügels.

So heftig und anhaltend die Auseinandersetzungen um Theorie und Praxis die Sozialdemokratie bewegten, drückte sich doch die Parteileitung zwischen rechts und links seiltänzelnd lange um die vorliegende Notwendigkeit einer offiziellen Stellungnahme der Gesamtpartei herum. Sie hielt es mit der Meinung, die der kluge Auer in einem Brief an Bernstein äußerte: „Ede, so etwas tut man, so etwas sagt man nicht.“ Und noch ehe die Partei gedrängt wurde, als proletarische Klassenkampforganisation wenigstens eine erste einleitende Erklärung zu der umstrittenen Grund- und Lebensfrage abzugeben, setzten die sächsischen Behörden Parvus’ fruchtbarem Wirken in Dresden ein Ziel. Sie wiesen ihn aus Sachsen aus. Der Versuch misslang, die Redaktion von Geras Nachbarschaft aus weiterzuleiten. Das Thüringische Zaunkönigreich Greiz jagte den „lästigen Ausländer“ ebenfalls aus seinen Grenzen. Als Nirgenddaheim kam Parvus 1898 zum Parteitag in Stuttgart, von Verhaftung und Ausweisung auch dort bedroht, nicht um sich wegen Störung des Parteifriedens und der Parteiruhe zu verteidigen, vielmehr um anzuklagen und vorwärts zu treiben. Auf Verwenden von Georg Vollmar, dem alten überzeugten Opportunisten und Revisionisten, und Johannes Timm, dem Neubekehrten, konnte Parvus in München seinen Wohnsitz nehmen. Von hier aus bekriegte er Opportunismus und Revisionismus tapfer weiter. Noch war nicht auf dem Parteitag zu Hannover 1899 die „Bernsteindebatte“ der Form nach zum Abschluss gelangt, als er zunächst vorübergehend aus der Kampffront ausschied. In Hannover kreuzte statt seiner Rosa Luxemburg die Waffe mit David und seinesgleichen.

Parvus war 1899 zusammen mit dem Genossen Dr. Karl Lehmann, einem befreundeten Arzt, illegal nach Russland gegangen, um dort in den bäuerlichen Gouvernements eine neue und besonders furchtbare Hungerkatastrophe zu studieren. Ein Wagnis voll Abenteuer, die das Freundespaar lockten, denn beide hatten eine ausgesprochene Neigung für das Ungewöhnliche, Romantische, das alle Nerven in Schwingungen versetzt. Parvus’ Absicht war, seine Auffassung von dem Wesen der Hungerkrisen in Russland durch erdrückendes Tatsachenmaterial zu erhärten, durch die Wissenschaftlichkeit der Forschung und die Macht den Darstellung die weitesten Kreise in Westeuropa gegen den Zarismus zu mobilisieren und damit dessen Sturz zu beschleunigen, schließlich den Klassenkampfcharakter und die Kampfentschlossenheit der Arbeiterbewegung in Deutschland und den übrigen Gebieten der Zweiten Internationale auch durch die festere ideologische Verbindung mit der revolutionären Entwicklung in Russland zu stärken. Parvus und Karl Lehmann veröffentlichten 1900 die Ergebnisse ihrer Reise in dem Buch: „Das hungernde Russland.“ Es ist eine vernichtende Anklage wider den Zarismus und eine tief überzeugte Voraussage seines bevorstehenden Zusammenbruchs.

Nach München zurückgekehrt, findet Parvus dort nicht sein Capua. Im Gegenteil: er sucht sofort wieder das dichteste Kampfgetümmel der Partei. Der in der Theorie als Revisionismus unterlegene Reformismus nimmt in der Praxis seine Rache. Immer häufiger, bewusster, herausfordernder erhebt er hier das Haupt. Immer offensichtlicher wird die Gefahr, dass er in Deutschland die Praxis der Partei und der Gewerkschaften im Allgemeinen beherrscht. Er marschiert mit großen Schritten in der Zweiten Internationale. Millerands Ministerschaft mit „Parteiurlaub“, von Jaurès begönnert, hat den Ministerialismus, das Regierungsfähigwerden der sozialistischen Parteien in den Vordergrund des Ringens mit dem Reformismus gerückt. Die Frage wird auch in Deutschland mit größter Heftigkeit umstritten. Es gibt Führer, die nach dem „Zusammenwirken aller Klassen“ fiebern, Führer, nach deren Meinung Wortgefechte im Kabinettsrat den revolutionären proletarischen Klassenkampf ersetzen, ein Ministersessel gleichbedeutend ist mit einem Stück gelöster sozialer Frage. Kautsky kapituliert auf dem Internationalen Kongress zu Paris 1900 vor der Kompromisssucht der „Praktiker“, statt sie mannhaft zu bekämpfen. Der formale und halbe Triumph des Reformismus ist in Wirklichkeit ein ganzer Sieg. Der Reformismus verlangt in Deutschland freie Hand für die Parlamentarier, das Bekenntnis grundsätzlicher Feindschaft zum bürgerlichen Staat, zur bürgerlichen Gesellschaft durch ihre Zustimmung zum Budget zu zerreißen, mit der durchsichtigen Begründung, Budgetbewilligung oder Budgetablehnung sei eine taktische, keine grundsätzliche Frage. Hoch und stürmisch gehen die Wogen der Parteidebatten.~

Parvus erfasst die Budgetabstimmung in ihrem Zusammenhang mit der gesamten Parlamentstätigkeit der Partei, die reinster Opportunismus ist, mehr und mehr zum parlamentarischen Kretinismus wird. Er sieht sie und den reformistischen Parlamentarismus als auffallende Steinchen im Mosaik der deutschen Arbeiterbewegung, als typische Einzelerscheinungen des fortschreitenden Verbürgerlichungsprozesses, der klar bewusst und energisch unterbunden werden muss. Die Konsuln der Sozialdemokratie aber wachen nicht. Sie schlafen, begönnern den Opportunismus, öffnen ihm die Pforten. Parvus greift 1901 den Opportunismus der Führer und Parlamentarier an in einer Artikelserie der „Neuen Zeit“: „Der Opportunismus in der Praxis.“ Die Kritik, die er an der Tätigkeit des Parteivorstandes und der Parlamentarier übte, war sachlich scharf und wurde durch die Schärfe des Tones noch unterstrichen. Auf dem Parteitag zu Lübeck 1901 kam es über diese Artikel zu einer „Parvusdebatte“. Je weniger die Opportunisten und Opportunistelnden sich gegen die sachliche Richtigkeit der Kritik zu verteidigen vermochten, um so höher kreischend gingen sie nach Kastratenart zum Angriff auf den Ton über. Leider wurden sie dabei durch Bebels altjüngferliche Entrüstung über Parvus’ groben Sang unterstützt. Auer quittierte über die empfangenen Streiche in seiner witzigen Art, die indessen einen antisemitischen Beigeschmack hatte. Er entgegnete, dass er sich als „hübsch gewachsener Kerl“ von Parvus ruhig in der „Badehose“ abkonterfeien lassen könne, was man von seinen politischen Nachfahren, Ebert und Noske, auch bei den bescheidensten Ansprüchen nicht behaupten kann. Übrigens schrieb einige Jahre später der „Jude aus Rawitsch“ dem toten Auer in der „Neuen Zeit“ einen Nachruf, der dem Manne und seinem Werk gerechter geworden ist als die lobüberfließenden Durchschnittsnekrologe der Parteipresse.

Kautsky, der Redakteur der „Neuen Zeit“, der als Mitschuldigen neben Parvus auf das Armesünderbänkchen gesetzt werden sollte, schwur verleugnend, kaum dass die reformistischen Hähne krähten, er habe die Artikel vor ihrem Erscheinen nicht gekannt. Trotz allem wurde Parvus als aufrechter Kämpe gegen den Reformismus gewürdigt. Als Wolfgang Heine sich zu einem gemeinen, schmutzigen Angriff auf Parvus vorwagte, wies ihn der Parteitag durch ein kräftiges „Pfui!“ als schäbigen Denunzianten zurück. Später wandelten Parvus und Heine als Schildknappen der deutschen Regierung und imperialistischen Bourgeoisie versöhnt und vergnüglich Arm in Arm.

In den folgenden Jahren erscheint Parvus bei den sich verschärfenden Kämpfen zwischen dem linken und rechten Flügel der Sozialdemokratie mehr als Beobachter denn als der dreinschlagende, voranstürmende Heißsporn. Die Budgetabstimmung bleibt Kampfesobjekt; die so genannte „positive Politik“ der Parlamentsfraktion, die Bildungsfrage, Jugendbewegung, Maifeier und fast jede größere, wichtigere Lebensäußerung der Partei zeigt den grundsätzlichen Gegensatz zwischen Reformisten und Radikalen. Die einschlägigen Debatten zeigen nicht die Spuren von Parvus’ Bärentatze. Als der große Wahlsieg der Sozialdemokratie 1903 die Vizepräsidentenfrage aufrollt und den Riss zwischen rechts und links erweitert, tritt Parvus als Outsider hervor. Ein sozialdemokratischer Vizepräsident? Eine Lappalie, ein Eierkuchen, nicht des Lärmens wert. Aber der „Jude“ Singer, als Vizepräsident des Reichstags im kaiserlichen Schloss erscheinend, ist eine revolutionäre Drohung, eine Herausforderung der bürgerlichen Ordnung und ihres Reichs. Diese Auffassung von Parvus überraschte Freund und Feind, wurde jedoch mehr als eigenwillige Laune gewertet denn als langsam keimender Wechsel der Einstellung. Wenn auch seine Klinge nicht im Schlachtgewühl zur Verteidigung der Theorie und Praxis hell aufblitzte, so bewiesen doch vorzügliche Veröffentlichungen, dass er nach wie vor als tief überzeugter Marxist das wirtschaftliche und politische Zeitgeschehen wie auch die revolutionären Aufgaben des Proletariats erfasste und den Reformismus als schlimme Kleinbürgerei ablehnte.

Als sich 1905 in Russland die Revolution emporreckte, eilte Parvus illegal nach Petersburg. Auf Grund seines Wirkens in Deutschland nahmen ihn die dortigen Genossen mit offenen Armen auf. Nach der Verhaftung des Genossen Chrustalew-Nosar wurde er Vorsitzender des Arbeiterdelegiertenrates. Kurz darauf ebenfalls verhaftet und aus der Peter-Pauls-Festung nach Sibirien verschickt, ließen Wagemut und kühles Beobachten und Berechnen seine Flucht gelingen. Ende 1906 war er wieder in Deutschland. Es liegt außerhalb des Rahmens dieser Seiten, Parvus’ Betätigung in der russischen Revolution zu erörtern sowie seine Stellungnahme zu den Problemen der Umwälzung und insbesondere zu der Spaltung der russischen Sozialdemokratie in die bolschewistische und die menschewistische Partei. Es sei nur hervorgehoben, was seine Haltung zu beiden Parteien schwankend, unbestimmt machte. Von den Bolschewiki trennte ihn seine Auffassung der Organisationsfrage. Er betrachtete sie auf Grund seiner persönlichen Beobachtungen einseitig im Lichte der westeuropäischen Verhältnisse, ohne Berücksichtigung der dafür in Russland gegebenen historischen Bedingungen. Lange dem russischen Milieu entfremdet, blieb dem sonst so konkret schauenden und wägenden Parvus auch die Bedeutung der Bauernschaft für die proletarische Revolution verborgen. Er erblickte nur einen Bundesgenossen des russischen Proletariats: die Arbeiter Westeuropas, deren revolutionäre Reife er überschätzte, indem er sie auf gleich hoher Entwicklungsstufe wähnte wie die Reife der objektiven revolutionären Faktoren. Für Russland hingegen unterschätzte er die vorhandenen subjektiven Triebkräfte der Revolution. Der Rote Oktober 1917 war der geschichtliche Riesenbeweis, dass Lenin in seiner Auffassung des geschichtlichen Prozesses Recht gegen Parvus behalten hat. Auf der anderen Seite war dieser zu sehr Marxist, d. h. echter Revolutionär, als dass ihn die Menschewiki dauernd angezogen hätten. Ihre Politik des Bündnisses mit der liberalen Bourgeoisie stieß ihn ab. Das war ja die Politik des unverfälschten Reformismus, die er in Deutschland mit soviel Wucht bekämpfte.

In dem letzten Abschnitt seiner Tätigkeit in der deutschen Sozialdemokratie konzentrierte sich Parvus in der Hauptsache auf die marxistische Durchleuchtung zweier Erscheinungen, denen er übrigens von Anfang an große Aufmerksamkeit geschenkt hat. Es sind die Gewerkschaftsbewegung des deutschen Proletariats und der aufsteigende Imperialismus.

Der Marxist Parvus würdigte nach ihrer vollen Bedeutung die bewunderungswürdige historische Leistung, die das deutsche Proletariat seit dem Fall des Sozialistengesetzes mit dem Aufbau und der Ausgestaltung seiner Gewerkschaften vollbracht hatte. Er erklärte durch diese Inanspruchnahme der Kräfte zu einem gewissen Teil den schwachen proletarischen Atem der Sozialdemokratie. Er wurde dem Wert der Gewerkschaften als urwüchsigen Massen- und Klassenorganisationen des Proletariats gerecht. Allein Parvus betonte dabei stark, dass dieser Wert sich nur dann durchsetzt, wenn die Gewerkschaften bewusst revolutionäre Klassenkampforganisationen sind und als solche höchste Aktivität entfalten. Indem er scharf die Rolle der Gewerkschaften im Befreiungsringen des Proletariats umreißt, stellt er zugleich die Schranken ihres Wirkens fest. Überzeugend arbeitet er bei dem allen den inneren Zusammenhang heraus, der zwischen der kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung und den revolutionären Aufgaben der Gewerkschaften als proletarischen Klassenorganisationen besteht. Aug in Auge mit dem sich mächtig reckenden und dehnenden Imperialismus müssen die Gewerkschaften revolutionär sein, oder sie verlieren ihre geschichtliche Existenzberechtigung und verkrüppeln. Was Parvus über sie geschrieben, hat mehr als historisches Interesse, es ist noch heut und gerade heut aufhellend und aneifernd für den Weg, den das Proletariat gehen muss.

Das gleiche Lob verdienen Parvus’ Arbeiten über den Imperialismus. Die Verknüpfung der revolutionären Entwicklung in Russland mit der Weltwirtschaft und Weltpolitik hatte von vornherein seinen Blick auf die großen internationalen Probleme gelenkt. In Deutschland erlebte er mit der nationalen Wirtschaftsentfaltung ein Stück Weltwirtschaftsentwicklung und ihre Auswirkung in der Arbeiterbewegung. Er erlebte das bewusst, als Marxist. Als solcher erkannte er frühzeitig, dass bestimmte hervorstechende ökonomische und politische Erscheinungen in den kapitalistisch hoch stehenden Staaten und ihre Verflechtung auf dem Weltmarkt und in der Weltpolitik eine neue Entwicklungsstufe des Kapitalismus anzeigten. Es galt, den Arbeitern zum Bewusstsein zu bringen, dass diese gegen den Kapitalismus nicht nur die Praxis engster internationaler Solidarität verlangten, sondern eine Verschärfung und Steigerung des proletarischen Klassenkampfes selbst. Wie die Gewerkschaften, so mussten sich auch die sozialistischen Parteien der Zweiten Internationale entsprechend einstellen, ihre Machtmittel ausgestalten und zur Geltung bringen.

Zu Parvus’ Verdiensten gehört es auch, dass er in Deutschland als erster auf die Bedeutung des politischen Massenstreiks als Kampfesmittel hinwies und die Revision der Auffassung forderte: „Generalstreik ist Generalunsinn.“ Er tat das bereits 1896, als die Regierung Sachsens, durch die Wahlerfolge der Sozialdemokratie erschreckt, den Arbeitern das Wahlrecht zum Landtag raubte. Sein Artikel in der „Neuen Zeit“: „Staatsstreich und politischer Massenstreik“ führte damals nicht einmal zu einer gründlichen Diskussion über die aufgerollte Frage. Diese erfolgte erst Jahre später unter dem Eindruck des Wahlrechtskampfes in Belgien, der Rolle des Massenstreiks während der russischen Revolution von 1905, des Wahlrechtskampfes in Österreich und des Standes der Wahlrechtsfrage in Preußen. Das Ergebnis war bekanntlich, dass die reformistische Gewerkschaftsbürokratie die Resolution zugunsten des Massenstreiks eskamotierte, die die „Linke“ in heißem Kampfe der Rechten der Sozialdemokratie aufgezwungen hatte. Parvus beteiligte sich an der Diskussion, doch gingen seine Gedankengänge in der Frage nicht über die Kautskys und der Genossin Roland-Holst hinaus. Er beschränkte sich auf die Klassifikation der verschiedenen Arten des Generalstreiks, auf Prüfung der materiellen Unterhaltsmittel des Proletariats während Massenstreiks und ähnliches. Obgleich Parvus wie Rosa Luxemburg sich aktiv in der russischen Revolution von 1905 betätigte, hat er aus ihr doch nicht jene tiefe, klare Verständnis für das lebendige historische Wesen des Massenstreiks geschöpft, das dem internationalen Proletariat vermittelt zu haben zu Rosa Luxemburgs unsterblichen Verdiensten gehört.

Parvus hat unstreitig Wertvolles geleistet, um in Deutschland die reformistische Führerpolitik in der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften durch revolutionäre Massenerkenntnis und revolutionären Massenwillen zu überwinden. Seine ungewöhnliche, glänzende Begabung konnte sich dabei auswirken. Er vereinigte eine starke Abstraktionskraft mit klarem Blick für das Konkrete und der Begabung, das Konkrete nicht isoliert zu sehen, vielmehr in seinem großen Zusammenhange. Seine ursprüngliche elementare Denkkraft verband sich mit starken organisatorischen Fähigkeiten. Ihr eignete der Mut, aus der gewonnenen Erkenntnis die logischen und praktischen Konsequenzen zu ziehen. Ihm fehlte aber die Geduld und Zähigkeit deren der revolutionäre Politiker und Kämpfer nicht entbehren darf. Parvus konnte nur mit Kilometern messen, Zentimeter gab es für ihn nicht. Ungeheurer Tätigkeitsdrang verzehrte ihn. Trotzdem ist seine große Begabung nie zu anhaltender, schöpferischer Wirkung auf das Proletariat gelangt, wie sie Rosa Luxemburg ausgeübt hat. Ja, tragischer noch: seine Fähigkeiten haben sich schließlich nur noch gegen das Proletariat ausgewirkt. Bestimmte Charaktereigenschaften wurden ihm zum Verhängnis, Charaktereigenschaften die mit den Jahren und dem Milieu steigende, unwiderstehliche Gewalt über ihn gewannen. Ihnen war ein pathologischer Zug beigemischt, seine Mutter starb in tiefem Wahnsinn. Parvus’ reicher Geist verlor sich leicht in Phantastereien. Sein Mut schlug oft in sinnlose Provokation um, in blinde Abenteuerjägerei. Er vergeudete seine überschüssige Kraft in Protzenhaftigkeit und grober Genusssucht.

Als russischer Revolutionär war Parvus zuerst in die Welt der sozialdemokratischen Kleinbürgerei Deutschlands getreten, dem Ilia Muromez im alter russischen Epos vergleichbar. In München wurde er als Verleger Gogols Tschitschikow immer ähnlicher. Als er später nach Konstantinopel übersiedelte, entwickelte er sich rasch zum vulgären wirtschaftlichen und politischen Schieber. Sein Fortgang aus Deutschland war eine Flucht vor der reformistischen Jämmerlichkeit der Sozialdemokratie, zugleich ein Versuch, sich vor dem Versinken in den Sumpf der bürgerlichen Gesellschaft zu retten. Flucht und Versuch waren vergeblich.

Der feurige revolutionäre Politiker ging unter in dem kalt rechnenden kapitalistischen Geschäftemacher. Bei Kriegsausbruch soll Parvus durch Getreidelieferungen nach Konstantinopel die ersten Millionen verdient haben. Der kaufmännische Spekulant paarte sich mit dem sozialpatriotischen Schieber, der die Geschäfte der deutschen Bourgeoisie unter Wilhelm Hohenzollern ebenso skrupellos wie später unter Fritz Ebert besorgte. 1915 kehrte Parvus nach Deutschland zurück, und der unsaubere Schieber und Lebemann fand die Gastfreundschaft und das Heimatrecht, das ihm als ideal gesinntem, selbstlosem, revolutionärem Kämpfer verweigert worden war. Kurz nach seiner Rückkehr machte er in Berlin einen Versuch, seinen Verkehr mit seinen ehemaligen Freunden wieder aufzunehmen. Ob getrieben von dem Wunsch, sich vor ihnen und vor sich selbst zu rechtfertigen oder aber sie zu beeinflussen, bleibe dahingestellt. Es war einige Tage, nachdem man unter dem Burgfrieden Rosa Luxemburg verhaftet und ins „Weibergefängnis“ gesperrt hatte, damit sie ihr Strafjahr dort verbüße. In ihrer Wohnung befanden sich Leo Jogiches, Karl Liebknecht, eine junge russische Genossin und ich. Niemand forderte Parvus zum Sitzen auf. Wir fragten ihn, ob er sich nicht schäme, als Zuhälter des deutschen Imperialismus Rosas Wohnung zu betreten, der revolutionären Kämpferin, die von seinen jetzigen Freunden ins Gefängnis gebracht worden sei. Parvus versuchte zuerst, den Unbefangenen und die verkannte Unschuld zu spielen. Als er sich überzeugte, dass er mit seinen Witzeleien und Geistreicheleien keinen Eindruck auf uns machte, drehte er den Spieß um und ging zum Angriff auf unsere „kurzsichtige, engbrüstige, wirklichkeitsfremde, papieren-dogmatische Auffassung“ vor. Wir blieben seiner Frechheit die Antwort nicht schuldig und behandelten ihn derart, dass ihm die Lust zu dem angekündigten weiteren Besuch verging.

Von Berlin und Kopenhagen aus setzte Parvus seine finanziellen und politischen Schiebereien fort. Wie Genosse Radek in einem Artikel der „Prawda“ mitgeteilt hat, suchte er nach der russischen Oktoberrevolution Verbindung mit den führenden Bolschewiki. Im Auftrage des Parteivorstandes der Sozialdemokratie sollte er ein Kompromiss mit der Sowjetregierung gegen das Versprechen vermitteln, die Partei werde durch einen Massenstreik die deutsche Regierung zum Friedensschluss zwingen. Der Prozess in Magdeburg hat bewiesen, wie die Ebert und Konsorten in Wirklichkeit zu einem Massenstreik standen. Parvus trachtete danach, als Agent dieser schamlosen Herrschaften und des deutschen Imperialismus für sich einen persönlichen Profit zu erhaschen. Er wollte sich einem Gericht der russischen Arbeiter stellen, um die Bewilligung der Rückkehr nach Russland zu erhalten und die Möglichkeit, dort mitzuarbeiten. Lenin wies das zurück mit der Erklärung, man dürfe die Sache der Revolution nicht mit unreinen Händen anfassen.

Wer vom Papste isst, stirbt daran“, ging in der Renaissancezeit eine italienische Redensart. Heute heißt es: „Wer vom Kapitalismus isst, stirbt daran.“ An Parvus hat sich dieses Geschick erfüllt. Als Revolutionär ist er längst vor seinem leiblichen Tode gestorben. Sein Name und sein Werk ist zuerst verbunden mit der revolutionären Vergangenheit der deutschen Arbeiterklasse und später mit dem Prozess des Verfaulens der Sozialdemokratie. So endete er im Widerspruch zu sich selbst, losgelöst, verachtet von jenen, deren Waffengefährte und Freund er einst im Kampfe gegen Opportunismus, Reformismus und Kapitalismus gewesen. Es ist eine Nemesis, dass ihn die Leute betrübt zu Grabe trugen, die er in seiner verdienstvollen Kampfesperiode mit der vollen Schale seines Hohns und seiner Verachtung überschüttete, und zu deren Kumpanei mit dem Schieber Helphand der ehemalige Parvus mit Heinrich Heine ausrufen würde:

Selten habt ihr mich verstanden,

Selten auch verstand ich euch,

Nur, als wir im Kot uns fanden,

Da verstanden wir uns gleich.

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