Parvus 18980424 Warum wir die Zurückweisung der Kandidatur Heine fordern?

Parvus: Warum wir die Zurückweisung der Kandidatur Heine fordern?

[Sächsische Arbeiter-Zeitung, Nr. 93 (24. April 1898)]

Wir haben nichts gegen den Herrn Rechtsanwalt Heine als Persönlichkeit, aber schwerwiegende politische Gründe bewegen uns, die Zurückziehung seiner Kandidatur zu fordern.

Eine sozialdemokratische Kandidatur kann doch nur jemand übertragen werden, der Sozialdemokrat ist. Herr Rechtsanwalt Heine aber ist kein Sozialdemokrat. Gewiss, er ist unserer Organisation beigetreten, aber nur, weil er sich in einem großen Irrtum befindet über die Ziele und über die Taktik der Sozialdemokratie. Man frage ihn, ob das Ziel der Sozialdemokratie die soziale Revolution sei? Und man wird sehen, dass, wenn er mit Ja antwortet, er es gleich so verklausulieren wird, dass dieses Ja sich in Nein verwandelt. Man frage ihn, ob er auf dem Boden der grundsätzlichen Bekämpfung des kapitalistischen Staats stehe? Und seine Antwort darauf ist Kompensationspolitik! Man frage ihn, wie er sich die sozialrevolutionäre Wirkung der internationalen Solidarität des Proletariats denkt? Und seine Antwort darauf ist: Verbreitung des Deutschtums!

Wir haben noch am 25. Februar, also vor zwei Monaten bereits, als der Beschluss der Fraktion bekannt wurde, folgende Fragen öffentlich zur Beantwortung vorgelegt:

1. Ob Herr Rechtsanwalt Heine bereit sei, unter allen Umständen, den Fall eines bereits eingetretenen Krieges ausgenommen, gegen sämtliche Aufwendungen für Waffen, Geschütze, Munition, Festungs- und Kriegsschiffbauten, Vermehrung des stehenden Heeres und Vermehrung der Kriegsflotte zu stimmen, so lange nicht die Staatsmacht im Besitze einer sozialdemokratischen Regierung oder die Volksmiliz eingeführt worden ist?

2. Ob der Herr Rechtsanwalt Heine bereit ist, gegen sämtliche Zölle und Verbrauchssteuern zu stimmen und dem Staat jeden Mann und jeden Groschen zu verweigern, bis die Staatsmacht in die Hände einer proletarischen Regierung überführt ist?

3. Ob Herr Rechtsanwalt Heine bereit ist, bei allen anderen parlamentarischen Abstimmungen sich einzig dadurch leiten zu lassen, ob das zur Abstimmung gelangende Gesetz für die Arbeiterklasse vorteilhaft oder nachteilig ist und in keinem Fall dadurch, ob die Regierung für die Zustimmung bestimmte Kompensationen verspricht bzw. in Aussicht stellt?

4. Ob Herr Rechtsanwalt Heine mit den bisherigen Abstimmungen der Partei bei den Arbeiterversicherungsgesetzen einverstanden sei?

Eine Antwort ist bis auf diesen Augenblick nicht erfolgt!

Kann jemand, der nicht imstande ist, auf diese Fragen mit einem kurzen bedingungslosen Ja zu antworten, als Sozialdemokrat gelten? Wer auf dem Boden der Sozialdemokratie steht, wie sie bis jetzt im Jahrzehnte langen Kampf im Parlament und in der Öffentlichkeit auftrat, muss unbedingt antworten: Nein! Wer aber glaubt, was die Sozialdemokratie bisher getan hat, das war verfehlt, und wir müssen uns jetzt neue Ziele stecken und eine neue Taktik befolgen, der sorge zunächst dafür, dass unser Programm geändert werde. So lange noch kein Parteitag ein anderes Verhalten dem Militarismus, der Steuergesetzgebung, der Arbeiterversicherung und der kapitalistischen Gesetzgebung gegenüber überhaupt, ein anderes Verhalten der Regierung gegenüber beschlossen hat, so lange noch kein Parteitag sich auf den nationalistischen Boden gestellt hat, keine Parteitag für Kompensationspolitik eingetreten ist und kein Parteitag den Arbeitern ein anderes Kampfziel gesteckt hat als die soziale Revolution — so lange befindet sich die deutsche Sozialdemokratie auf einem ganz anderen politischen Kampfboden als Herr Rechtsanwalt Heine, und so lange ist Herr Rechtsanwalt Heine kein Sozialdemokrat.

Die Fraktion selbst zweifelte darüber, ob Herr Rechtsanwalt Heine Sozialdemokrat sei. Das war der Grund, warum sie zusammentrat, um über diese Kandidatur zu beratschlagen — ein ganz ungewöhnlicher Vorgang in unserer Partei. Wir glauben aber, es genügt, wenn überhaupt derartige starke Zweifel über jemand entstehen, ob er Sozialdemokrat sei, um dessen Kandidatur für den Reichstag zu beseitigen. Wir brauchen keine unsicheren Kantonisten im Reichstage. Wir müssen in der wichtigsten parlamentarischen Körperschaft des Landes Leute haben, über deren grundsätzlichen politischen Standpunkt auch nicht der geringste Zweifel besteht. Werden solche Zweifel geäußert, und zwar so sehr, dass der Fraktion selbst die Sache nicht geheuer erscheint, dann steht’s schon schlecht und dann hilft kein moralisches Pflästerchen mehr. Wir wollen keine geflickten Kandidaturen, wie es im Bochumer Verein geflickte Schienen gab. Weshalb soll sich denn die Partei so sehr beeilen, den Herrn Rechtsanwalt Heine in den Reichstag zu bringen? Er mag nur in der Partei bleiben, wir wollen sehen, wie er sich bewährt, und wenn er dann vielleicht bei den zweitnächsten Wahlen als unser Kandidat aufgestellt wird, so kommt er im Galopp in den Reichstag.

Und wie steht es nun mit dem Beschluss der Fraktion? Nicht zu vergessen, dass es ein Majoritätsbeschluss war, es gab also eine Minorität, die anderer Ansicht war, es gab in der Fraktion selbst Leute, welche die Meinung vertraten, Herr Rechtsanwalt Heine können nicht als Sozialdemokrat gelten. Nun denke man sich erst die Situation, wenn Herr Rechtsanwalt Heine in die Fraktion eintritt. Da bildet sich sofort eine gewisse Scheidung: Ein Teil der Fraktion, der ihn gerne duldet, ein anderer Teil, der ihn von vornherein als Eindringling betrachtet, der gar kein Sozialdemokrat ist. Die Einigkeit der Fraktion wird aufs Spiel gesetzt! Cui bono! Um Herrn Rechtsanwalt Heine ein Mandat zu verschaffen! Und wie groß ist die Minorität der Fraktion? Wir erfahren nicht, mit wie viel Stimmen sie überstimmt wurde, wir wissen auch nicht, wie stark sie in jenen Sitzungen vertreten war! Das aber ist sehr wichtig. Wir wissen bestimmt, dass eine Anzahl Abgeordnete in jener Sitzung fehlte. Es ist uns nicht bekannt, dass an jenem Tag etwas Außerordentliches im Reichstage verhandelt werden sollte, weshalb die Anwesenheit aller unserer Abgeordneten in Berlin notwendig wäre. Wie nun, wenn die ganze Verhandlung des Falles Heine nur zwischen einer verhältnismäßig geringen Zahl von Abgeordneten, die gerade in Berlin anwesend waren, sich abspielte und die Majorität dieser die Entscheidung fällte? Dann wäre es ja möglich, dass, wenn die Fraktion vollständig wäre, sich eine Majorität gegen die Kandidatur Heine gefunden hätte? Wir müssen die Zahlen haben. Wie viele stimmten für die Resolution, welche als “Beschluss der Fraktion” veröffentlicht wurde? Wie stark war die Zusammensetzung der Fraktion bei jenem Beschluss?

Noch nie lagen so viel politische Bedenken gegen eine Kandidatur in unserer Partei vor, wie jetzt in dem Fall Heine, und es ist nur der systematischen Totschweige- und Vertuschungspolitik des “Vorwärts” zuzuschreiben, dass man noch nicht in Berlin selbst endlich den richtigen Weg gefunden hat. Es war schwer, die Berliner Wahlkreise für die Partei zu gewinnen, weil man dort einen Kampf zu führen hatte gegen politisch wirklich sehr liberale und zum Teil demokratische bürgerliche Kandidaten — aber nunmehr Berlin, bis auf einen Kreis, für die Sozialdemokratie erobert ist, sollten doch, glauben wir, gerade die Berliner darauf stolz sein, dass ihr sozialrevolutionäres Banner rein bleibe und keine verschwommenen Farbenflecke trage.

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