Rudolf Hartwig: Liberalismus und Faschismus Die Notverordnungen, ihre Grundlagen und ihre Auswirkungen [Nach Permanente Revolution, Zeitschrift der Linken Opposition der KPD (Bolschewiki-Leninisten) (Sektion der Internationalen Linken Opposition) 2. Jahrgang Nr. 2 (Mitte Januar 1932), S. 7 f.] Das letzte Jahrzehnt war die Epoche der Auflösung des Liberalismus. Der Kurs geht auf den Faschismus. Liberalismus und Faschismus sind zwei in ihrer Methode verschiedene, in ihrem Ziel gleiche Formen der bürgerlichen Klassenpolitik im Dienst des Kapitals. Der Liberalismus ist die Politik der Konzessionen; gegen staatliche Almosen und Scheinzugeständnisse an die Werktätigen handelt er den sozialen Frieden ein, er ist weitherzig und präsentiert sich den Massen gern mit dem Heiligenschein der sozialen Geste, kurzum: er treibt «Sozialpolitik». Nach einem Wort Lenins sind die Ausgaben für Sozialpolitik die Spesen für die Aufrechterhaltung der bürgerlichen Klassenherrschaft. Die Voraussetzung zur Ausübung dieser Politik ist, dass man die Spesen tatsächlich aufbringen kann. In Zeiten der Konjunktur oder wenigstens verhältnismäßig leichter und kurzer Wirtschaftskrisen kann der bürgerliche Klassenstaat das, hingegen in einer Epoche katastrophalen Konjunkturrückgangs kann er es nicht mehr. Somit ist er gezwungen, die zu kostspielig gewordene Methode der Sozialpolitik zu ersetzen durch eine andre, wesentlich wohlfeilere Methode: durch die Politik der Gewalt. Das ist der Zeitpunkt, wo der Liberalismus abgelöst wird durch den Faschismus. Dieser Ablösungsprozess geht nicht plötzlich vor sich, sondern allmählich. Eine Zeitlang bestehen liberalistische Herrschaftsformen neben faschistischen; im Lauf der Entwicklung wird der eine Sektor immer kleiner, der andere immer größer. In Deutschland, wo es eine linksbürgerliche Partei von nennenswerter Bedeutung schon seit geraumer Zeit nicht mehr gibt, ist der Hauptträger des Liberalismus gegenwärtig der Reformismus. Das linke Bürgertum, soweit es überhaupt noch aktiv in Erscheinung tritt, und mit ihm die Sozialdemokratie haben, an sich kein Interesse an einer Verschärfung der Unterdrückungsmaßnahmen gegen die Werktätigen, denn es würden dadurch soziale Kämpfe heraufbeschworen, denen sie möglicherweise zum Opfer fallen können. Aber vor die Wahl gestellt, entweder infolge unerschwinglicher Soziallasten an der gegenwärtigen Wirtschaftskrise zugrunde zu gehen oder diese Krise durch Abwälzung der Lasten auf die Schultern der Massen, durch faschistischen Druck zu überwinden, wählt man selbstverständlich den zweiten Weg. So wird der Reformismus auf Grund seiner Verbundenheit mit dem kapitalistischen System zur Unterstützung faschistischer Methoden gezwungen, ohne selbst eigentlich zum Faschismus zu tendieren oder gar – wie die deutschen Komintern-Theoretiker behaupten – seinem Wesen nach faschistisch zu sein. Der Kapitalismus braucht einen zuverlässigen Sachwalter seiner Interessen. Wenn es sich herausstellt, dass der Reformismus diese Funktion nicht mehr zu erfüllen vermag, muss er abtreten und dem Faschismus das Feld überlassen. Wie ein alter Diener, der entlassen wird, weil sich ein jüngerer Bewerber angeboten hat, der bessere Leistungen verspricht … Es ist klar, dass der Reformismus dem Faschismus gegenüber auf die Dauer der unterlegene sein muss. Diese Unterlegenheit ist begründet in der Qualität der sozialen Schichten, die in den beiden Lagern stehen. Hitler hat es leichter als Wels. Hitlers Anhängerschaft besteht aus politisch ungeschultem Kleinbürgertum, deklassierten Intellektuellen, ahnungslosen Mitläufern, verzweifelten Hausfrauen und den feudalen Abfallprodukten der alten Monarchie. Die «Gesellschaftskritik», die hier verlangt wird, braucht also das Niveau eines unverbindlichen sozialen Gefasels, gewürzt durch einen stammtischerprobten Antisemitismus, nicht zu übersteigen. Anders steht es bei Wels: er hat mit Schichten zu rechnen, die zum großen Teil politisch keineswegs ungeschult sind, die mit dem Faschismus in welcher Form auch immer nichts zu tun haben wollen und die schon längst im kommunistischen Lager stünden, wenn es nicht die von jeder politischen Vernunft verlassene Strategie der stalinistischen Bürokratie in Deutschland verstanden hätte, sie durch einen unmarxistischen Parteikurs von diesem Schritt zurückzuhalten. Wels also ist gehandicapt gegenüber Hitler. Jedoch vor die Wahl gestellt, entweder von seinen kapitalistischen Auftraggebern als unbrauchbar beiseite geschoben zu werden oder aber durch faschistische und halb faschistische Methoden seine Tauglichkeit als Verteidiger des Systems zu erweisen, wählt er lieber den zweiten Weg und sucht durch krampfhaft verstärkte soziale Demagogie auszugleichen, was ihm an sozialer Praxis abgeht. Das soziale Pathos, das der «Vorwärts» zeitweise und zumal dort, wo es nichts kostet, produziert, ist fast erschütternd. In Deutschland haben wir also gegenwärtig den Zustand, dass der Faschismus zwar die letzte Hoffnung und die ultima ratio des bedrohten Kapitals ist, dass aber zugleich der Reformismus seine Position als dienstfertiger Lakai der Bourgeoisie um jeden Preis zu halten bemüht ist – ein Bemühen, bei dem er aufs Lebhafteste unterstützt wird von denjenigen Teilen der Bourgeoisie, die an einer Zuspitzung der sozialen Gegensätze bis zum offenen Bürgerkrieg mangels Gewinnchancen nicht interessiert sind. Dieses Nebeneinander der beiden Kräfte verschleimte den zentristischen Schriftgelehrten derart das Gehirn, dass sie die grundsätzliche Verschiedenheit zwischen Reformismus und Faschismus und deren völlig verschiedenen sozialen Ursprünge verkannten und somit in Wort und Schrift die Theorie vom «Sozialfaschismus» absonderten. Unfähig, die große Linie der geschichtlichen Entwicklung zu erkennen, waren sie auch unfähig, die Tagesereignisse richtig einzuschätzen. Bei jeder Notverordnung, die von der Brüning-Regierung erlassen wurde, riefen sie: das ist der Faschismus! Wir sind die letzten, welche die katastrophale Auswirkung der Notverordnungen auf das Proletariat unterschätzen. Die vorläufig letzte Notverordnung, die «vierte», stellt so ungefähr das Ungeheuerlichste dar, was in der neueren Geschichte des Kapitalismus von den Herrschenden gegen die Ausgebeuteten unternommen worden ist. Unverhüllt zeigt sich hier der bürgerliche Staat als die Unterdrückungsmaschinerie der herrschenden Klasse. Die Löhne werden gekürzt um 10 bis 15%, die Renten werden bis zu 20% gestrichen, das Tarifrecht ist mit einem Federstrich aufgehoben, Betriebsrätewahlen können vom Unternehmer in den nächsten zwei Jahren untersagt werden, die Sozialpolitik, dieses Paradepferd des Liberalismus und Reformismus, wird auf der ganzen Linie abgebaut, mit einem Wort: brutalster Druck auf die Werktätigen, aus denen unter allen Umständen die Kosten zur Überwindung der gegenwärtigen Krise herausgepresst werden sollen; der bekannte Preissenkungsschwindel ist die abgestandene Sauce, die dem Proletarier diesen Fraß schmackhaft machen soll. Die Notverordnungen sind also typische Produkte einer Epoche, die sich vom Liberalismus zum Faschismus entwickelt, wenn es nicht vorher gelingt, eine Weiterentwicklung und erneute Stabilisierung des Kapitalismus unmöglich zu machen durch die proletarische Revolution. Jedoch bei all ihrer Härte darf uns die Notverordnungspolitik Brünings nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Faschismus in Deutschland erst noch vor der Tür, wenn auch ganz dicht vor der Tür, steht. In der von der SAP, der Brandler-Gruppe und dem Leninbund einberufenen Einheitsfront-Versammlung, die kürzlich in Berlin stattfand und über die wir an andrer Stelle unsrer Zeitung berichten, sprach der Vertreter der KPD, Glückauf, in seiner Verteidigungsrede für die zentristische Einheitsfrontpolitilc die bezeichnenden Worte: «Wir reden schon mit einem Maulkorb vor dem Munde! Hier auf der Bühne sitzen ja in Gestalt der beiden Schupo-Offiziere die Vertreter der herrschenden Klasse – mehr kann uns Hitler auch nicht bieten!» Mehr kann uns Hitler auch nicht bieten? Glückauf sei daran erinnert, dass sich dieser Tage ein bemerkenswertes Datum zum sechsten Mal gejährt hat: am 7. Januar 1926 wurden von Mussolini die italienischen Gewerkschaften aufgelöst! Warum sollte Hitler in Deutschland, einmal zur Macht gelangt, nicht das Gleiche können? Warum nicht die Parteien zerschlagen und die revolutionären Arbeiter wie in Italien zu tausenden in die Gefängnisse und Zuchthäuser werfen oder standrechtlich erschießen lassen können? Wer sagt Glückauf, dass uns Hitler nicht ganz erheblich mehr bieten kann als die Versammlungskontrolle durch zwei Schupo-Offiziere? Woher hat Glückauf diese Information? Er hat sie wahrscheinlich von den Instanzen, die seit Monaten und Jahren den deutschen Arbeitern erzählen, der Faschismus sei schon längst da und nur ein Konterrevolutionär könne behaupten, dass der Faschismus erst noch vor der Tür stünde. Man kann sich vorstellen, dass sich die Abonnenten der «Roten Fahne», denen schon so unzählige Male die Ankunft des Faschismus signalisiert worden ist, ratlos fragen, wie viel Mal den eigentlich der Faschismus kommen kann. Sie werden an ihrem eignen Verstand zu zweifeln beginnen, da ihnen das Recht auf Zweifel an dem Verstand der Redakteure ihres Zentralorgans verwehrt ist. Ist der Faschismus nun eigentlich da oder nicht? Eilige Leser, die keine Zeit zu längeren theoretischen Erwägungen haben, mögen sich als untrüglichstes Orientierungsmittel merken: der Faschismus ist dann in Deutschland da, wenn die deutschen Komintern-Revolutionäre, die sich die Reisepässe bereits besorgt haben, die Grenze passieren…. Jedoch wird der siegreiche Faschismus in Deutschland nicht nur die Abreise jener zentristischen Strategen zur Folge haben, sondern auch die Vernichtung der deutschen Arbeiterbewegung und den Interventionskrieg gegen die Sowjetunion. Der todkranke Kapitalismus kann auf den letzten Versuch, sich für eine Reihe von Jahren zu restaurieren, keinesfalls verzichten. Die Politik der hinterhältigen Konzessionen, wie sie der Liberalismus gemeinsam mit dem Reformismus treibt, wird abgelöst durch die Politik der faschistischen Gewalt. Die Notverordnungen der Brüning-Regierung zeigen, wohin der Kurs geht. Sache des Proletariats ist es, das Steuer in letzter Stunde herumzuwerfen und den Kurs aul den Sozialismus, auf die proletarische Revolution zu richten. Rudolf Hartwig |
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