O. Friedmann 1932ß214 Die Lage in der Tschechoslowakei

O. Friedmann: Die Lage in der Tschechoslowakei

[Nach Permanente Revolution, Zeitschrift der Linken Opposition der KPD (Bolschewiki-Leninisten) (Sektion der Internationalen Linken Opposition) 2. Jahrgang Nr. 6 (Mitte März 1932), S. 12 f.]

Die Tschechoslowakei galt in der internationalen bürgerlichen Meinung seit jeher für einen Schutzwall der Ruhe und Ordnung. Entstanden aus der eigenartigen Verquickung des sozialen und nationalen Kampfes der tschechischen Kleinbürger und Arbeiter gegen die habsburgische Monarchie, die römische Kirche und die deutsche Bourgeoisie, mit dem Bedürfnis der Ententestaaten, einen militärischen Stützpunkt zwischen die gefahrvollen Länder des geschlagenen Kriegsfeindes, zwischen Deutschland, Österreich und Ungarn, aus denen Revanchekämpfe und Revolutionen das neue imperialistische Gleichgewicht bedrohten, einzukeilen, trug sie diese bürgerlich-sinnvolle Bezeichnung mit gewissem Recht. Und selbst als die gewaltigen Wogen der Industriekrise sich im Jahre 1929 von Amerika nach Europa ergossen, schienen sie an der «Insel der Ruhe und Ordnung»* abzuprallen. Die tschechische Bourgeoisie, die als Ersatz für das verlorene österreichisch-ungarische Zollgebiet ihrem modernen Industrie- und Agrargebiet die rückständige Feld- und Forstwirtschaft der Slowakei und Karpathorusslands einverleibt, die die nationalen Hoffnungen der tschechischen Massen zu einer Senkung des Lebensniveaus unter den west- und mitteleuropäischen Durchschnitt ausgenützt und gestützt auf den französischen Imperialismus ihren Waren- und Kapitalexport gesteigert hatte, schien zuerst nur wenig von der allgemeinen Wirtschaftsnot erfasst. Jedoch zeigte es sich bald, dass die Einengung der Auslandsmärkte, die Steigerung des Konkurrenz- und Zollkampfes zwischen den internationalen Kapitalistengruppen, und die Senkung der Kaufkraft der veramten Bauernmassen im Inlande, ihre Rückwirkungen auf die Hauptindustrie- und Handelszweige der Tschechoslowakei nicht verfehlen konnte.

Die Wirtschaftslage

Gegenwärtig hat die Betriebsstilllegung gewaltige Ausmaße erreicht, die Zahl der Arbeitslosen ist, selbst nach amtlichen Angaben, auf etwa 600.000 gestiegen, die Zahl der Kurzarbeiter ist noch bedeutend größer. In wichtigen Industriezweigen beträgt die Zahl der Arbeitslosen etwa die Hälfte der Beschäftigten. Dabei bekommen nach dem tschechoslowakischen Unterstützungssystem bloß die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter Unterstützung, so dass jetzt beiläufig bloß ein Sechstel der Arbeitslosen staatlich unterstützt wird, während die übrigen auf kärgliche Almosen der Gemeinden und der Bevölkerung angewiesen sind. Die Arbeitslosigkeit hat auch auf die Beamtenschaft und die Intellektuellen übergegriffen. Bankrotte der kleinen Händler und Gewerbetreibenden sind auf der Tagesordnung, die zahlreiche Mittelbauernschaft geht nieder.

Das Gleichgewicht des Staatsbudges ist erschüttert und zwingt zur Aufnahme einer ausländischen Anleihe, die die Abhängigkeit vom französischen Imperialismus noch weiter festigt. Gekettet an die westlichen Räuber, keine natürliche Insel, sondern ein durch die Hacke des Weltkrieges von anderen ähnlichen Stücken abgehacktes Stück, kann die bürgerliche Tschechoslowakei weder den Frieden mit den Nachbarn, noch Arbeit und Brot im Innern sichern. Vergeblich schwärmen tschechische Kleinbürger von einer mitteleuropäischen Union, die das Herz des vereinigten paneuropäischen bürgerlichen Europas bilden und im Zeichen Christi erstrahlen soll. Vergeblich! Denn so klein auch die betreffenden Staaten sind, so groß sind die Interessengegensätze die die bürgerlichen Machthaber trennen, und eine friedliche Einigung Mitteleuropas setzt eben voraus, dass man die Konkurrenzinteressen der Textilfabrikanten und Schweineerzeuger, der Getreidelieferanten und der Schwerindustriellen mit der Wurzel ausrottet. Die Wurzel aber ist das Privateigentum an den Produktionsmitteln, die Axt kann bloß das Proletariat sein.

Aus der politischen Entwicklung

Wenn unter diesen Umständen in der Tschechoslowakei eine verhältnismäßige Stabilität des politischen Regimes besteht, oder besser gesagt bestanden hat, so erklärt sich dies keineswegs durch die ökonomische Grundlage, sondern vor allem aus den besonderen politischen Bedingungen, in denen es der tschechischen Bourgeoisie vergönnt war, ihre staatliche Herrschaft zu begründen. Sie konnte ihre imperialistischen Ziele verwirklichen, indem sie sich die nationalrevolutionären und kleinbürgerlich-demokratischen Illusionen der Volksmassen zunutze machte. Sie hatte das Glück nicht nur über patriotische Nationalsozialisten und Sozialdemokraten zu verfügen, sondern an der Spitze der Kommunistischen Partei Führer zu haben, die wie der Opportunist von europäischem Format, Šmeral, noch im Jahre 1923 die bürgerliche Demokratie und die Einheit des tschechoslowakischen Staates gegen die unterdrückten Nationen verteidigten. Und als die fortgeschrittenen tschechoslowakischen Arbeiter soviel Erfahrungen mit ihrer «demokratischen» und nationalen Bourgeoisie angesammelt hatten, um eine Überwindung dieses Opportunismus in der Partei durchzusetzen, da hat die Führung der Komintern, die inzwischen in den Sumpf des stalinschen Zentrismus zu sinken begann, die schüchtern sich politisch reinigende Partei in ihrer Entwicklung gehemmt und in den Šmeralschen Opportunismus zurückgeworfen.

Bei dieser inneren politischen Ungeklärtheit der Partei konnte die tschechoslowakische Bourgeoisie aus den schwierigsten Situationen entkommen, ohne auch nur ernsthaft zu kämpfen, da die Partei des Proletariats sich vornehmlich mit kleinen gewerkschaftlichen Kämpfen abgab, ohne sich über die Fragen der revolutionären Strategie Gedanken zu machen. Infolge dieser Kurzsichtigkeit versagte die Partei gerade dann, als die Teilkämpfe zu Massendemonstationen anwuchsen (wie z. B. März 1928). Als später der abenteuerliche Kurs, der in der ganzen Internationale im Februar 1928 begonnen hatte, auch in die Tschechoslowakei importiert worden war, führte er hier zum großen Krach des sogenannten Roten Tages. Das Versagen der Parteipolitik war ganz evident und der Parteimitgliedschaft bemächtigte sich eine spontane Erregung. Um das Ansehen der Kominternführung zu retten, wurde die Jilek-Führung,die äußerst folgsam bloß Moskauer Meinungen durchgeführt hatte, geopfert. Die erneute Führung setzte die Politik der Roten Tage fort und steigerte das Abenteuertum insbesondere in der Streikführung und durch ihre Gewerkschaftspolitik, durch die sie die Spaltung der Roten Gewerkschaften den rechten Oppositionellen und Renegaten erleichterte. Indem die Parteiführung von unmittelbaren Machtkämpfen just in der Zeit schwärmte, wo es galt, die Parteipositionen in den Betrieben und Gewerkschaften zu befestigen und auszubauen, untergrub sie selbst ihre ehemaligen Stellungen und war nicht imstande die beginnende Linksschwenkung der Arbeiterklasse in revolutionäre Bahnen zu leiten.

Mit zwei halben Wendungen nach «rechts», von denen die erste im Oktober 1930 in der Wiederanerkennung des Kampfes für Forderungen bestand, und die zweite im Herbste 1931, die eine fünfzigprozentige Änderung der Einheitsfront- und Gewerkschaftstaktik anstrebte, versuchte die Parteiführung die Isoliertheit mit gewissem Erfolge zu überwinden, vermochte aber nichts an der grundlegend falschen strategischen Linie zu ändern. Um dies zu verstehen, müssen wir einen kurzen Blick auf die politische Lage in der Tschechoslowakei werfen.

Die politische Gegenwart

Einige Jahre schon herrscht in der Tschechoslowakei eine große Koalition von tschechischen Nationaldemokraten (Partei der Industrie- und Finanzbourgeoisie), tschechischen und deutschen Agrarkapitalisten, tschechischen Klerikalen, tschechischen Nationalsozialisten (die zum Unterschied von den Hitlerschen Nationalsozialisten – parlamentarische Demokraten sind), tschechischen und deutschen Sozialdemokraten. Die Tätigkeit dieser Regierung, in der sechs sozialistische Minister sitzen, wird vor allem durch die Erhöhung von Agrar- und Industriezöllen, durch Steigerung der Militärausgaben, den Abbau der kargen sozialpolitischen Einrichtungen, Knebelung der kommunistischen Presse, Anspannung der Steuerschraube gegen die Werktätigen, speziell die kleinen Landwirte in der Slowakei und Karpathorussland, und durch Schießereien gegen wehrlose Arbeiter, selbst wenn sie für beschränkte ökonomische Teilforderungen demonstrieren, charakterisiert. Das scharfe Vorgehen der Polizei und Gendarmerie erscheint den Werktätigen umso mehr als Provokation, da die Streikbewegung in den letzten Jahren, parteioffiziellen Meldungen zum Trotz, ziemlich gering und nirgends über den lokalen Rahmen hinausgewachsen ist.

Im Zusammenhang mit der skizzierten ökonom. Lage und der Regierungstätigkeit wachsen die Stimmen der Unzufriedenheit unter der reformistischen Mehrheit der Arbeiterklasse immerzu an und finden ihren Ausdruck in Gewerkschafts-, ja sogar in Parteiversammlungen der «sozialistischen» Parteien. Die ökonomischen Erfolge des Sowjetaufbaus, insbesondere die Tatsache, dass die Erwerbslosigkeit dort überwunden erscheint, drängen die Arbeiter an die Komm. Partei heran und eröffnen ihr gewaltige Agitations- und Aktionsmöglichkeiten. Die zentristische Parteiführung stößt jedoch die jetzt schwankenden reformistischen Arbeiter ab, indem sie nicht nur die Gewerkschaftsbonzen angreift, sondern die reformistischen Gewerkschaftsorganisationen selbst «vertilgen» will, ohne an ihre Stelle etwas anderes setzen zu können, als kleine «Rote Gewerkschaften», die von Zeit zu Zeit mit großer Aufmachung lokale und isolierte Streiks führen, deren Ergebnisse für die Arbeitermasse keineswegs anziehend sind. Andererseits versucht sie die Arbeiter durch Schwärmereien über Sowjetrussland zu blenden und sie durch Kraftworte wie «Sozialfaschismus» von ihren reformistischen und bürgerlich-demokratischen Illusionen zu heilen. Sie erreicht hierdurch bloß, dass die kommunistischen Arbeiter von der großen Masse losgelöst, die unzufriedenen Arbeiter zu den Gewerkschaftsbonzen zurückgestoßen oder dem Einflüsse der Faschisten ausgeliefert werden.

Im Gegensatz zu dieser Taktik stellt die Linksopposition die aus den unmittelbaren Bedürfnissen der Arbeiterschaft sich ergebenden Forderungen auf und verlangt den gemeinsamen Kampf aller Arbeiterorganisationen (vor allem der Gewerkschaften) hierfür. Der Koalitionspolitik mit der Bourgeoisie stellt sie den einheitlichen Kampf des Proletariats, der von demokratisch gewählten Organen der Arbeiterschaft geführt wird, entgegen. An die Stelle der Phrasen über «Sozialfaschismus» setzt sie die konkrete Erläuterung des Zusammenhanges zwischen reformistischer Partei, Parlamentarismus und der ökonomischen Herrschaft des Kapitals überhaupt. Gerade dadurch, dass sie sich nicht darauf beschränkt die Schweinereien der einzelnen reformistischen Führer und Parteien aufzudecken, wie dies die Faschisten und die ihnen nachäffenden Stalinbürokraten tun, sondern die Grundlage des kapitalistischen Systems aufzeigt, das der Faschismus anzugreifen scheut, tatsächlich aber erhalten will, und gerade dadurch, dass sie den Weg des einheitlichen Kampfes des Proletariats weist, bekämpft die Linksopposition den Faschismus in Wirklichkeit, derweil Phrasen des Zentrismus ihn bloß unterstützen.

Es ist in erster Reihe diese zentristische Politik der Kommunistischen Partei, was das rasche Wachstum des Faschismus verursacht. Denn sonst stößt er hier an gewaltige Hemmungen, wie die Jugend der tschechoslowakischen Parlamentsdemokratie, die Befreiungsgloriole, die ihr und den linken bürgerlichen Demokraten anhaftet, und die komplizierte Nationalitätenfrage, die einen harten Bissen für ein scharf ausgeprägtes national-faschistisches Regime darstellen würde. Aber trotz dieser Hemmungen hat der tschechische Faschismus vor allem in Gestalt der Nationalen Liga Stribnis in den letzten Jahren einen beträchtlichen Anhang in den zahlreichen Mittelschichten der tschechischen Städte, in der Studentenschaft, ja selbst innerhalb der Arbeiterjugend gewonnen. Ohne vorläufig eine Umsturzgefahr darzustellen, hat der Faschismus bereits die Kraft, um Massendemonstrationen veranstalten zu können, wobei sich immer wieder Sympathien für ihn in gewissen Teilen des Staatsapparates offenbaren.

In engem Zusammenhänge mit der Entwicklung des tschechischen und deutschen Faschismus in der Tschechoslowakei, steht die Stellung der Zentristen zur Nationalitätenfrage. Bekanntlich vereinigt die kleine Tschechoslowakei eine beträchtliche Zahl von namhaften nationalen Minderheiten. Sowohl von der Seite der herrschenden Nation, als auch von der Seite der unterdrückten Nationen wird die Regierungspolitik mit «nationalen» Argumenten kritisiert, namentlich von den faschistischen Parteien. Die offizielle Parteileitung macht abstrakt in «nationaler» Befreiung, was die Faschisten direkt ausnützen können, da in der praktischen Politik die Leninsche Differenzierung zwischen der Agitation innerhalb der Unterdrücker- und der geknechteten Nation vollkommen unterlassen wird. Auch hier hat die Linksopposition die ersten Schritte getan, um den Bedürfnissen der revolutionären Bewegung in Mitteleuropa, wo die Nationalitätenfrage eine gewaltige Rolle spielt, Rechnung zu tragen.

So schwer auch das relative Gewicht des Proletariats in der Tschechoslowakei ist, so ist die Arbeiterschaft dieses kleinen Staates dennoch gewöhnt, mit Erwartung auf Kämpfe in größeren Ländern zu blicken, ehe sie selbst auf den Kampfplan tritt. Trotzdem selbst die Mehrheit der Kommun. Partei die Bedeutung, die sie im Kampfe des europäischen Proletariats spielen kannte, gering schätzt, könnte ihre Kraft, infolge der besonderen Lage des Landes weit über das tschechoslowakische Gebiet hinausreichen. Das setzt allerdings voraus, dass das Proletariat sich die Erkenntnis seiner internationalen Bedeutung aneignet. Der Zentrismus arbeitet dieser Erkenntnis entgegen, ja er informiert nicht einmal über die gewaltige Bedeutung der Kämpfe in China und über die Gefahren, die dem europäischen Proletariat von Seiten des deutschen Faschismus drohen. Auch hier versucht die Opposition die Lücke auszufüllen, damit sie nicht vom Nationalismus der Reformisten und Faschisten verstopft werden kann. Propagandistisch, in der Zeitung, «Delnicki politika» und in Diskussionsabenden, nimmt die Opposition zu allen Grund- und Tagesfragen der proletarischen Bewegung Stellung. Ihre Kräfte sind aber noch ziemlich schwach, wenn sie auch ständig wachsen. Anfang Januar d. J. fand die erste Landesberatung der Opposition statt, welche die Vorbedingungen der Vereinigung aller tschechoslowakischen Oppositionsgruppen geschaffen hat. Die günstige objektive Lage, die weit fortgeschrittene Klärung der politischen Verhältnisse und der Streitfragen innerhalb der Opposition lassen erwarten, dass in kurzer Zeit eine einheitliche Landesorganisation gebildet werden wird. Dann wird es auch möglich werden, die Perspektiven des Kampfes zwischen der Linksopposition und dem Zentrismus, zwischen Proletariat und Bourgeoisie genauer zu bestimmen.

Prag, am 14. Februar 1932.

* So wird die Tschechoslowakei bezeichnet von führenden bürgerlichen Politikern.

Kommentare