Erwin Ackerknecht 19320500 Sozialistischer Staat oder sozialistische Gesellschaft?

Erwin Ackerknecht:

Sozialistischer Staat oder sozialistische Gesellschaft?

[Nach Permanente Revolution, Zeitschrift der Linken Opposition der KPD (Bolschewiki-Leninisten) (Sektion der Internationalen Linken Opposition) 2. Jahrgang Nr. 9 (Anfang Mai 1932), S. 5 f.]

Wenn die SAP auch keinen Massencharakter trägt und so nicht imstande ist, über die großen Fragen der Arbeiterbewegung das letzte Wort der Aktion zu sprechen, so hat doch ihr Erscheinen wie ein Sauerteig auf die erstarrten Probleme gewirkt, wie ein Ferment Prozesse in den großen gesellschaftlichen Körpern ausgelöst. So ist auch die stalinsche Theorie des vollendeten Aufbaus des Sozialismus in einem Lande erneut zum Gegenstand der breitesten Diskussion geworden. Als Verteidiger dieser Theorie innerhalb der SAP tritt besonders Fritz Rück hervor, wobei er allerdings seine Argumentation auf ein ganz anderes Gebiet verschiebt als Stalin. Er macht sich eine gewisse Verwirrung über den Begriff Sozialismus zunutze und setzt an Stelle der sozialistischen Gesellschaft den sozialistischen Staat (d. h., die Diktatur des Proletariats). So «gelingt» ihm dann der «Beweis» der Richtigkeit der stalinschen Theorie, die aber gerade den vollendeten Aufbau der sozialistischen («klassenlosen») Gesellschaft als möglich hinstellt.

So behauptet Fritz Rück in der «SAZ» vom 25. 5. «Auf Grund der genauen Analyse der marxistischen Theorie ist Sozialismus nichts anderes als die Vergesellschaftung der Produktionsmittel und die Aufhebung der kapitalistischen Profitwirtschaft … Die wesentlichen Züge, die die sozialistische Wirtschaftsform von der kapitalistischen unterscheiden, bestehen nicht in einer mehr oder weniger vollkommenen Befriedigung der Konsumtionsbedürfnisse der Masse…»

Wäre dem so, so hätten wir allerdings seit 1918, als durch die Diktatur des Proletariats staatlich-organisatorisch die Produktionsmittel enteignet wurden, den Sozialismus in Russland und brauchten nur weiter an ihm zu bauen, wobei dann aber immer noch die Frage der Möglichkeit der Vollendung offen bleibt und auch von Rück offen gelassen wird. Sozialismus ist aber «auf Grund der genauen Analyse der marxistischen Theorie» gar nicht die staatliche Maßnahme der Enteignung der Produktionsmittel. Diese Staatsmaßnahmen schaffen die Voraussetzung für den Sozialismus. (Daher der an sich ungenaue Ausdruck sozialistischer Staat). Aber nicht mehr. Sozialismus nach Marx-Engels ist etwas anderes, viel mehr. Sozialismus nach Marx-Engels ist ein ganz anderer gesellschaftlicher und produktionstechnischer Zustand. (Und einen solchen behaupten ja auch die Stalinisten kousequenterweise vom heutigen Sowjetrussland.) Sehr eindringlich warnt Marx in der Programmkritik vor der Vermengung der Begriffe Staat und Gesellschaft (S. 36). Leider umsonst für Fritz Rück.

In verschiedenen Schriften, insbesondere im III. Kapitel des «Anti-Dühring» sind die Anschauungen Marx-Engels' über den Sozialismus niedergelegt. Es handelt sich bei ihnen keineswegs um eine klassenlose Gesellschaft schlechthin. Als Voraussetzung nennen sie einen gewissen Höhegrad der Entwicklung der Produktion (Anti-Dühring, S. 304). Hierauf baut sich auf nicht nur eine reichlichere Versorgung der Individuen, sondern sogar eine «Verwandlung der Arbeit aus einer Last in eine Lust!» (Ebenda, S. 31, Programmkritiken, S. 27).

In diesem neuen Zustand ist der Gegensatz zwischen Stadt und Land aufgehoben (Manifest, S. 45; Anti-Dühring, S. 313), infolgedessen sind die großen Städte verschwunden (ebenda, S. 320). Überhaupt ist die Arbeitsteilung in ihrer heutigen Form, d. h„ die Verkümmerung des Menschen zum Teilwerkzeug, verschwunden (ebenda, S. 317). Das Geld ist abgeschafft, (S. 330) die Zwangsmaschinerie Staat ist abgestorben, es besteht nur noch ein Wirtschaftsapparat (S. 303). Infolgedessen ist auch der ideologische Oberbau verändert, die Religion z. B. hat sich aufgelöst.

Es bedarf keiner näheren Ausführungen um zu beweisen, dass diese Marxsche Vorstellung nichts zu tun hat mit der Rückschen Definition. Auch findet der Wohlwollendste bei einem Vergleich der heutigen russischen Wirklichkeit, die nach Stalin ja bereits Sozialismus ist, nicht einen dieser Punkte erfüllt. Das ist auch nach der Auffassung von Marx und Lenin über das Wesen der sozialistischen Gesellschaft und ihren Platz in der historischen Stufenleiter vollkommen verständlich.

Die sozialistische Gesellschaft ist ja eine höhere Stufe der menschlichen Entwicklung als die kapitalistische. Beruht schon die kapitalistische Gesellschaft auf einer weltwirtschaftlichen Zusammenarbeit, so ist es unmöglich die höhere Stufe der sozialistischen Gesellschaft vermittels der «autarken» Wirtschaft eines zurückgebliebenen Landes zu erreichen. Darum sagt Lenin: «Wir haben stets jene ABC-Wahrheiten des Marxismus ausgesprochen und wiederholt, dass für den Sieg des Sozialismus die gemeinsamen Anstrengungen mehrerer vorgeschrittener Länder notwendig sind». (Über das Besteigen hoher Berge, geschrieben 1923). Und so an hundert anderen Stellen*). Und darum ist die Theorie vom Sozialismus in einem Lande wirklich unleninistisch, unmarxistisch, ihr Brandler, Stalin, Rück!

Darum steht auch ausdrücklich im Programm des russischen Jugendverbandes (in § 4):

«Obwohl Russland über ungeheure natürliche Reichtümer verfügt, bleibt es trotzdem bezüglich der Industrie ein rückständiges Land. Es kann nur mit Hilfe einer internationalen proletarischen Revolution, in deren Entwicklungsperiode wir jetzt eingetreten sind, zum Sozialismus gelangen».

Ja darum schreibt Stalin selbst noch im Februar 1924 (erst am 17. Dezember 1924 hat er Lenin verbessert) in seinem Buch «Lenin und der Leninismus»;

«Für den endgültigen Sieg des Sozialismus, für die Organisierung der sozialistischen Produktion, sind aber die Kräfte eines Landes, besonders eines Landes wie Russland, ungenügend, das erfordert die Kräfte der Proletarier einiger fortgeschrittener Länder … Das sind im Allgemeinen die charakteristischen Züge der Leninschen Theorie über die proletarische Revolution». Kommentar erübrigt sich, das ist eindeutig genug. Das überhebt uns auch jeder Polemik gegen den ekelhaften und lächerlichen Vorwurf des Antibolschewismus.

Der Vergleich Sowjetrusslands mit jedem kapitalistischen Land zeigt es ganz klar: Der russische Staat ist proletarisch. Die Methoden (Planwirtschaft etc.) sind sozialistisch und den kapitalistischen ungeheuer überlegen. Das erreichte Niveau aber liegt noch unter dem der kapitalistischen Länder. Das ist kein sozialistischer Gesellschaftszustand. Gerade aber das will uns Stalin einreden, wir seien bereits in den Sozialismus eingetreten. Mit Recht schreibt demgegenüber Trotzki in seinem Plattformentwurf: «Der Sozialismus als System der Produktion nicht für den Markt, sondern für die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse ist nur denkbar auf der Grundlage hochentwickelter Produktivkräfte. Indes wird nach der Quantität der Güter, die im Durchschnitt auf den Kopf der Bevölkerung entfallen, die USSR sogar noch am Schluss des Fünfjahresplanes noch immer eines der rückständigsten Länder sein. Damit sie sich tatsächlich den fortgeschrittenen Ländern des Kapitals angleicht, wäre eine Reihe von Fünfjahresprogrammen erforderlich.

Die Diskussionen über die Fragen des Aufbaues des Sozialismus in einem Lande sind keine akademisch-theoretischen, nein, hier geht es um die Lebensfrage der Komintern – die Weltrevolution. Hier werden nicht irgendwelche abstrakten Möglichkeiten verhandelt, sondern es geht um die Frage der Orientierung. Durch die stalinsche Auffassung wird zur Achse der Politik nicht mehr die Weltrevolution, sondern der Aufbau. Wie wenig der Aufbau unter den heutigen Umständen direkt für die Revolutionierung leistet, darüber hat in Nr. 8 der «P. R.» Genosse W. M. an dieser Stelle einiges gesagt. Wie sehr die beschränkte Aufbaupolitik der Revolution schadet, dafür ist die gesamte Geschichte der Komintern seit 1924, China, England, Amerika, Deutschland ein einziges, entsetzlich trauriges Beispiel.

Die Theorie des Aufbaues des vollendeten Sozialismus in einem Lande, die der Theorie der permanenten Revolution entgegengestellt wurde, ist die grundlegende Abweichung vom Marxismus-Leninismus, die alle taktischen Fehler der heutigen Kominternführung bedingt. Sie ist ein wahrer Prüfstein. Man verstehe uns recht. Sie ablehnen heißt noch sehr wenig. Denn leicht kann sich dahinter die Ablehnung der proletarischen Diktatur in Russland überhaupt verstecken. Die Ablehnung gewinnt ihren Wert erst im Zusammenhang mit einer positiven revolutionären Theorie. Das muss man gegenüber allen Siemsens, Seydewitzen, Urbahns und auch anderen sagen. Aber sie anerkennen, das heißt ganz eindeutig, sich selbst unfähig machen, eine richtige revolutionäre Linie zu verfolgen.

Die Theorie vom Sozialismus in einem Lande ist ein Produkt der Reaktion, welche im Zusammenhang mit der proletarischen Niederlage und kapitalistischen Prosperität nach 1923 unter der Sowjetbürokratie Fuß fasste. Mit der revolutionären Entwicklung und um ihretwillen muss sie verschwinden.

E. Bauer.

* Bei den wenigen Stellen, wo Lenin über den Sieg des Sozialismus in Russland schreibt, wie im Januar 1918 z. B.: «Für den Erfolg des Sozialismus ist unbedingt ein gewisser Zeitraum erforderlich, wenigstens von einigen Monaten», ist es klar, dass er, der andererseits schrieb: «Gebe Gott, dass die sozialistische Ordnung unter unseren Kindern, vielleicht auch erst unter unseren Enkeln durchgeführt sein werde», dann unter Sozialismus den proletarischen Staat meint. Sich auf diese Stellen zur Stützung der Theorie der Möglichkeit des vollendeten Aufbaus der sozialistischen Gesellschaft in einem Lande berufen, heißt nur den Trick der Begriffsverwechslung wiederholen.

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