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Georgi Plechanow 18850000 Zweiter Entwurf eines Programms russischer Sozialdemokraten

Georgi Plechanow: Zweiter Entwurf eines Programms

russischer Sozialdemokraten

[Nach G. W. Plechanow: Sozialismus und politischer Kampf, Frankfurt am Main 1980, S. 123-128]

Die russischen Sozialdemokraten erstreben gleich den Sozialdemokraten der anderen Länder die volle Befreiung der Arbeit vom Joch des Kapitals. Eine solche Befreiung kann erreicht werden durch den Übergang aller Produktionsmittel und Produktionsgegenstände in gesellschaftliches .Eigentum,. einen Übergang, der nach sich ziehen wird:

a) die Abschaffung der gegenwärtigen Warenproduktion (d. h. des Kaufs und Verkaufs der Produkte auf dem Markt) und

b) ihre Ersetzung durch ein neues System gesellschaftlicher Produktion nach einem im Voraus aufgestellten Plan zur Befriedigung der Bedürfnisse sowohl der gesamten Gesellschaft als auch jedes ihrer Mitglieder in den vom Stand der Produktivkräfte zu einer gegebenen Zeit zugelassenen Grenzen.

Diese kommunistische Revolution wird die tiefgreifendsten Änderungen in dem gesamten Charakter der gesellschaftlichen und der internationalen Beziehungen hervorrufen.

Indem sie die gegenwärtige Herrschaft des Produkts über den Produzenten durch die Herrschaft des Produzenten über das Produkt ersetzt, wird sie die Bewusstheit dort hinein tragen, wo heute blinde ökonomische Notwendigkeit herrscht; indem sie alle gesellschaftlichen Verhältnisse einfach und vernünftig macht, wird sie gleichzeitig jedem Bürger die reale ökonomische Möglichkeit verschaffen, an der Erörterung und Entscheidung aller gesellschaftlichen Angelegenheiten unmittelbar teilzunehmen.

Diese unmittelbare Teilnahme der Bürger an der Leitung der gesellschaftlichen Angelegenheiten setzt die Abschaffung des gegenwärtigen Systems der politischen Vertretung und seine Ersetzung durch die direkte Volksgesetzgebung voraus.

Außerdem kann man heute schon den internationalen Charakter der bevorstehenden ökonomischen Revolution voraussehen. Bei der gegenwärtigen Entwicklung des internationalen Austausches ist die Festigung dieser Revolution nur bei Teilnahme aller oder zumindest einiger zivilisierter Gesellschaften an ihr möglich. Daraus ergibt sich die schon von der Internationalen Arbeiterassoziation anerkannte und proklamierte Solidarität der Interessen der Produzenten aller Länder.

Aber da die Befreiung der Arbeiter die Sache der Arbeiter selbst sein muss, da die Interessen der Arbeit in ihrer Gesamtheit den Interessen der Ausbeuter diametral entgegengesetzt sind und da deshalb die oberen Klassen der angegebenen Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse immer im Wege stehen werden – daher ist ihre unvermeidliche Vorbedingung die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse in dem .jeweiligen Land. Nur diese zeitweilige Herrschaft der Arbeiterklasse kann die Anstrengungen der Konterrevolutionäre lähmen und der Existenz der Klassen und ihrem Kampf ein Ende setzen.

Diese politische Aufgabe trägt ein Element der Verschiedenartigkeit in die Programme der Sozialdemokraten der verschiedenen Staaten entsprechend den gesellschaftlichen Bedingungen jedes einzelnen von ihnen.

Die praktischen Aufgaben und folglich auch die Programme der Sozialdemokraten müssen naturgemäß in den Ländern einen komplizierteren Charakter tragen, wo die moderne kapitalistische Produktion erst noch danach strebt, zur herrschenden zu werden, und wo die werktätigen Massen sich unter einem doppelten Joch befinden – dem des sich entwickelnden Kapitalismus und dem der überlebten patriarchalischen Wirtschaft. In solchen Ländern müssen die Sozialdemokraten als Übergangsstufen solche Formen der gesellschaftlichen Ordnung anstreben, die schon heute in den fortgeschrittenen Ländern bestehen und unentbehrlich sind für die weitere Entwicklung einer Arbeiterpartei. Russland befindet sich gerade in solch einer Situation. Dort hat der Kapitalismus ungeheure Fortschritte gemacht seit der Aufhebung der Leibeigenschaft. Das alte System der Naturalwirtschaft macht der Warenproduktion Platz und öffnet gerade dadurch der Großindustrie einen riesigen inneren Markt. Die patriarchalischen, gemeinschaftlichen Formen des bäuerlichen Grundbesitzes lösen sich rasch auf, die Dorfgemeinde verwandelt sich in ein bloßes Mittel des Staates zur Versklavung der bäuerlichen Bevölkerung, und an vielen Orten dient sie ebenso als Werkzeug zur Ausbeutung der armen durch die reichen Gemeindebauern. Gleichzeitig behindert sie dadurch, dass sie die Interessen des größten Teils der Produzenten auf den Boden fixiert, deren geistige und politische Entwicklung und schränkt ihren Gesichtskreis auf den engen Rahmen der ländlichen Traditionen ein.

Die russische revolutionäre Bewegung, deren Sieg vor allem dem Nutzen der Bauernschaft dienen würde, stößt bei ihr kaum auf Unterstützung, Sympathie oder Verständnis. Die hauptsächliche Stütze des Absolutismus besteht gerade in der politischen Gleichgültigkeit und der geistigen Rückständigkeit der Bauernschaft. Unvermeidliche Folge dessen ist die Ohnmacht und Zaghaftigkeit derjenigen gebildeten Schichten der oberen Klassen, deren materiellen, geistigen und sittlichen Interessen das gegenwärtige politische System widerspricht.

Wenn sie die Stimme im Namen des Volkes erheben, sehen sie mit Verwunderung, dass es gegenüber ihren Aufrufen gleichgültig ist. Daher die Unbeständigkeit der politischen Auffassungen, und bisweilen die Zaghaftigkeit und die völlige Enttäuschung unserer Intelligenz.

Eine solche Sachlage wäre gänzlich hoffnungslos, wenn die genannte Bewegung der russischen ökonomischen Verhältnisse nicht neue Erfolgschancen für die Anwälte der Interessen der werktätigen Klasse geschaffen hätte. Der Verfall der Dorfgemeinde schafft bei uns die neue Klasse des Industrieproletariats. Aufnahmefähiger, beweglicher und entwickelter, reagiert diese Klasse leichter auf den Aufruf der Revolutionäre als die rückständige ländliche Bevölkerung. Während das Ideal des Gemeindebauern in der Vergangenheit liegt, in denjenigen Bedingungen der patriarchalischen Wirtschaft, deren notwendige politische Ergänzung die zaristische Selbstherrschaft war, kann sich das Los des Industriearbeiters nur dank der Entwicklung moderner, freierer Formen des gesellschaftlichen Lebens verbessern. In Gestalt dieser Klasse gerät unser Volk zum ersten Mal in ökonomische Bedingungen, die allen zivilisierten Völkern gemeinsam sind, und deshalb kann es auch nur vermittels dieser Klasse an den fortschrittlichen Strömungen der zivilisierten Menschheit teilnehmen. Auf dieser Grundlage halten die russischen Sozialdemokraten die Bildung einer revolutionären Arbeiterpartei für ihre erste und hauptsächliche Pflicht. Wachstum und Entwicklung einer solchen Partei werden allerdings in dem gegenwärtigen russischen Absolutismus ein sehr starkes Hindernis vorfinden.

Daher ist der Kampf gegen ihn gerade für die Arbeiterzirkel verpflichtend, die heute die Keime der künftigen russischen Arbeiterpartei darstellen. Der Sturz des Absolutismus muss ihre erste politische Aufgabe sein.

Als Hauptmittel des politischen Kampfes der Arbeiterzirkel gegen den Absolutismus betrachten die russischen Sozialdemokraten die Agitation innerhalb der Arbeiterklasse und die weitere Verbreitung der sozialistischen Ideen und revolutionären Organisationen in ihr. Untereinander zu einem harmonischen Ganzen eng verbunden, werden diese Organisationen, da sie sich mit einzelnen Zusammenstößen mit dem Absolutismus nicht begnügen, nicht zögern, in einem günstigen Moment zum allgemeinen entschlossenen Angriff gegen ihn überzugehen, wobei sie auch nicht Halt machen werden vor den sogenannten terroristischen Aktionen, wenn sich das im Interesse des Kampfes als nötig erweisen sollte.

Das Ziel des Kampfes der Arbeiterpartei gegen den Absolutismus ist die Erkämpfung einer demokratischen Verfassung, die gewährleistet:

1. Das Recht eines jeden Bürgers, sowohl in die gesetzgebende Versammlung als auch in die Selbstverwaltungsorgane der Provinzen und Gemeinden zu wählen und gewählt zu werden, sofern er nicht von einem Gericht wegen gewisser durch Gesetz genau bestimmter entehrender Handlungen zum Verlust der politischen Rechtsfähigkeit verurteilt ist.

2. Eine durch Gesetz festgelegte Geldzahlung an die Volksvertreter, die es erlaubt, diese aus den armen Klassen der Bevölkerung zu wählen.

3. Allgemeine, weltliche, unentgeltliche und obligatorische Schulbildung, wobei der Staat die armen Kinder mit Kost, Kleidung und Unterrichtsmitteln zu versorgen hat.

4. Unantastbarkeit der Person und der Wohnung der Bürger.

5. Uneingeschränkte Freiheit des Gewissens, des Wortes, der Presse, der Versammlung und der Vereinigung.

6. Freizügigkeit und Gewerbefreiheit

7. Volle Gleichberechtigung aller Bürger, unabhängig von der Religion und der Rassenzugehörigkeit.

8. Ersetzung des stehenden Heeres durch die allgemeine Volksbewaffnung.

9. Revision unserer gesamten Zivil- und Strafgesetzgebung, Abschaffung der Ständeordnung und der Strafen, die mit der Würde des Menschen unvereinbar sind.

Gestützt auf diese grundlegenden politischen Forderungen, erhebt1 die Arbeiterpartei eine Reihe nächster ökonomischer Forderungen, wie zum Beispiel:

1. Radikale Revision unserer Agrarverhältnisse, d. h. der Bedingungen für den Loskauf des Bodens und für seine Zuweisung an die Bauerngemeinden. Den Bauern, die das angemessen finden, ist das Recht einzuräumen, auf den Bodenanteil zu verzichten und aus der Dorfgemeinde auszuscheiden, und dgl. mehr

2. Abschaffung des gegenwärtigen Steuersystems und Einführung einer progressiven Einkommenssteuer.

3. Gesetzliche Regelung der Beziehungen der (städtischen und ländlichen) Arbeiter zu den Unternehmern und Organisierung einer entsprechenden Inspektion, in der die Arbeiter vertreten sind.

4. Staatliche Hilfe für Produktivgenossenschaften, die in allen Zweigen der Landwirtschaft, der extrahierenden und der verarbeitenden Industrie organisiert werden (von Bauern, Bergarbeitern, Arbeitern der Fabriken und der Betriebe, Kustaren usw.).

Diese Forderungen sind für die Interessen der Bauernschaft im gleichen Maße vorteilhaft wie für die Interessen der Industriearbeiter; daher wird sich die Arbeiterpartei, indem sie ihre Verwirklichung anstrebt, einen breiten Weg für die Annäherung an die ländliche Bevölkerung bahnen. Aus dem Dorf hinausgeworfen als verarmtes Mitglied der Dorfgemeinde, wird der Proletarier dorthin als sozialdemokratischer Agitator zurückkehren. Sein Auftreten in dieser Rolle wird das heute hoffnungslose Schicksal der Dorfgemeinde verändern. Ihr Zerfall ist nur so lange unabwendbar, wie dieser Zerfall selbst keine neue Kraft des Volkes hervorbringen wird, die in der Lage ist, der Herrschaft des Kapitalismus ein Ende zu setzen. Eine solche Kraft wird die Arbeiterpartei und der von ihr mitgerissene ärmste Teil der Bauernschaft sein.

Anmerkung: Wie aus dem oben Gesagten ersichtlich ist, glauben die Sozialdemokraten, dass die Arbeit der Intelligenz, besonders unter den gegenwärtigen Bedingungen des sozialen und politischen Kampfes, sich zuerst auf die entwickeltere Schicht der werktätigen Bevölkerung richten muss, wie sie die Industriearbeiter darstellen. Nachdem sie sich die kraftvolle Unterstützung seitens dieser Schicht gesichert haben, können die Sozialdemokraten mit weit größerer Hoffnung auf Erfolg ihren Einfluss auch auf die Bauernschaft ausdehnen, insbesondere dann, wenn es ihnen gelungen ist, die Freiheit der Agitation und der Propaganda zu erhalten. Es versteht sich übrigens von selbst, dass auch in der Gegenwart Leute, die sich in unmittelbarem Kontakt mit der Bauernschaft befinden, durch ihre Tätigkeit in ihr der sozialistischen Bewegung in Russland einen bedeutenden Dienst erweisen könnten. Die Sozialdemokraten werden solche Leute nicht nur nicht von sich stoßen, sondern alle Mühe aufwenden, um sich mit ihnen in den grundlegenden Prinzipien und Methoden ihrer Tätigkeit zu einigen.

  1. 1In den ersten beiden Ausgaben: „Gestützt auf diese Rechte wird die Arbeiterpartei … erheben." Die Änderung erfolgte in der Ausgabe von 1903.

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