Hélvetius

HELVÉTIUS

Helvétius, ein eleganter Generalpächter und ehrenwerter Mann, selbstlos, wohltuend, dem Voltaire in seinen schmeichlerischen geschichtlichen Erinnerungen den Beinamen Atticus gab, setzte es sich in den Kopf, ein Buch zu schreiben; um zu seinem Ziel zu gelangen, sammelte er in den Versammlungen der Philosophen, die er zu seiner Tafel einlud, deren Lehren, Apercus, Paradoxa; geschickt, interessante Diskussionen hervorzurufen, wusste er bald die überschäumende Verve Diderots, bald den Scharfsinn Suards oder den witzigen und ätzenden Verstand des Abbé Galiani in Tätigkeit zu setzen; dann verschmolz er diese Meinungen, deren getreuer Berichterstatter er so wurde, in ein Lehrgebäude. Das Resultat dieser von Helvétius angehörten, analysierten und zusammengefassten Unterhaltungen ist das Buch ,De l'Esprit', das heißt der Materialismus in der Metaphysik, in der Moral das persönliche Interesse."1

Der Leser kennt jetzt die Entstehung des Hauptwerkes von Helvétius. Man kann hierin Demogeot mit umso größerer Sicherheit folgen, als dieser Schönredner nur die Fabel wiederholt, die sich seit mehr als einem Jahrhundert von einer alten Literaturklatschbase zur anderen fortschleppt. Demogeot ist eine wohlwollende Klatschbase. Er sagt nichts Schlechtes von Helvétius, er lässt es den Leser nur ahnen. Es gibt andere, weniger wohlwollende, aber freimütigere Klatschbasen. Sie erzählen dem Leser, dass das Hauptmotiv unseres Philosophen bei seinen Untersuchungen eine maßlose Eitelkeit war. Dieser Eitelkeit verdanken wir die „Sophismen" des Helvétius; sie hat ihn daran gehindert, etwas Dauerndes und Grundlegendes zu vollbringen. Die Klatschbasen sind immer und überall mit außerordentlichem Scharfsinn begabt. Ihnen steht es von Rechts wegen zu, Literatur- und politische Geschichte zu schreiben. In ihren geschichtlichen Darstellungen ist alles klar und begreiflich. Man liest sie mit viel Vergnügen, wenig Mühe und ungeheurem Vorteil.

Man hört sie lieber als die Sorte von Schriftstellern, die, wie der alte gute Hegel, in der Geschichte weiter sehen wollen als die Klatschbasen. Das ist eine langweilige Gesellschaft, aber… audiatur et altera pars.2

Wo Hegel von der Rolle der großen Männer in der Geschichte spricht, donnert er gegen „jene kleinliche Menschenkennerei, welche anstatt des Allgemeinen und Wesentlichen der menschlichen Natur, vornehmlich nur das Partikulare und Zufällige vereinzelter Triebe, Leidenschaften usw. zum Gegenstand ihrer Betrachtungen macht"; nach ihm haben „die großen Männer das gewollt, was sie getan, und das getan, was sie gewollt haben". Man könnte dasselbe, allerdings „mit ein bisschen anderen Worten", von allen denen behaupten, die auf dem einen oder anderen Gebiet mit mehr oder weniger Erfolg für das Wohl der Menschheit, wie sie es begriffen, gearbeitet haben. Man könnte sagen, dass dieser von Hegel so verabscheute „Standpunkt des Neides" uns ganz und gar nicht in dem Verständnis und der Wertschätzung der verschiedenen Epochen der Geschichte weiterbringt. Man könnte sagen… kurz, man könnte noch vieles sagen, aber würde man gehört werden? Man hört die Klatschbasen viel lieber. Man sagt zum Beispiel, dass Helvétius ein gefährlicher Sophist, ein eitler und oberflächlicher Mensch war, man ist mit sich, seinem Scharfsinn und seiner Rechtschaffenheit sehr zufrieden, und ist mit seinem Urteil fertig.

Besonders die deutschen Geschichtsschreiber misshandeln Helvétius. In Frankreich lässt man manchmal seinem persönlichen Charakter Gerechtigkeit angedeihen3; in Deutschland vermeidet man eine einem „gefährlichen" Menschen gegenüber übel angebrachte Herablassung. In Deutschland ist Helvétius noch mehr verschrien als Lamettrie. Dieser war auch nicht wenig „gefährlich"; aber nach seinem Tode hat es weiland Sr. Majestät Friedrich dem Großen gefallen, einige wohlwollende Worte über ihn zu sagen. Nun, voluntas regis suprema lex4, die deutschen Gelehrten wissen dies besser als irgend etwas anderes, und das eben, weil sie Gelehrte sind.

Bemerkenswerter Umstand! Obwohl die Lehren des Helvétius die „Philosophen" selbst erschreckt haben und unter seinen Gegnern sich Leute von der Größe Diderots fanden, so bekämpfte man ihn in Frankreich doch viel mehr nach der Revolution als vor derselben. La Harpe gesteht ein, dass seine Widerlegung der „Sophismen" dieses Menschen im Jahre 1788 bei weitem nicht denselben Eindruck machte als neun Jahre später, 1797. Man hatte eben, sagte La Harpe, damals begriffen, dass die materialistische Philosophie eine „bewaffnete Doktrin", eine revolutionäre Doktrin war. Im Jahre 1797 bedurfte die Bourgeoisie nicht mehr derartiger Lehren, die für ihre neuen Erwerbungen nur eine fortgesetzte Drohung gewesen wären; man musste mit dem Materialismus aufräumen, und man hat damit aufgeräumt, ohne sich zu fragen, ob die Beweise der Sykophanten vom Schlage La Harpes wirklich so begründet waren, wie sie vorgaben. Andere Zeiten, andere Bestrebungen, andere Bestrebungen, andere Philosophien.5

Was die Klatschbasen angeht, so haben sie guten Grund, sich über Helvétius zu beklagen. Sie begreifen ihn nur selten. Und dies nicht allein deshalb, weil seine Gedanken ihren Horizont übersteigen. Helvétius setzte seine Theorien in einer Art und Weise auseinander, die sehr originell und sehr geeignet ist, die Klatschbasen in Verwirrung zu bringen. Weniger als irgendein Schriftsteller seiner Zeit respektiert er, was Nordau die konventionellen Lügen nennt. Als Weltmann und feiner Beobachter kannte er die französische „Gesellschaft" des achtzehnten Jahrhunderts sehr gut; als bissiger und satirischer Schriftsteller hat er sich keine Gelegenheit entgehen lassen, dieser Gesellschaft einige Wahrheiten zu sagen, die sich schwer verdauen ließen und nichts mit den unschuldigen Wahrheiten gemein hatten, die sich stets „so gut sagen" lassen. Daher eine Unzahl von Missverständnissen. Was er von seinen Zeitgenossen sagte, nahm man für sein Ideal. Madame de Bouffiers sagte von ihm, er habe das Geheimnis von jedermann enthüllt. Sie glaubte, dass dies der ganze Wert und die ganze Tragweite des Buches „De l'Esprit" sei. Dank diesem Quidproquo6 ereignete sich nun aber folgendes. Handelt es sich um die Achtung, welche man der „Tugend" zollt, so sagte Helvétius, dass man in den „despotischen Reichen" nur Verachtung für sie hat und nur ihren Namen ehrt. „Wenn man immerfort die Tugend anruft und von den Bürgern fordert, so geht es ihr damit wie der Wahrheit, die man unter der Bedingung verlangt, dass man klug genug ist, sie zu verschweigen." Dieser Satz findet den Beifall von Madame de Bouffiers; sie erklärt ihn für wahr, geistreich, entzückend; sie behauptet, dass er das Geheimnis von jedermann aufdeckt. Helvétius fährt fort. Er erklärt, weshalb es so sein muss, wie er sagt; er zeigt, wie das Interesse der Menschen sie in den despotischen Staaten die „Tugend" hassen lässt. Madame de Bouffiers stimmt immer zu; aber da kommt ein Lampe, meistens ein Deutscher, bisweilen ein französischer, erhebt seinerseits die Stimme und sagt, dass Helvétius die Verachtung der Tugend preist. Handelt es sich um die Liebe, so sagt Helvétius, dass da, wo die „Reichen und Großen" keinen Anteil an der Regierung haben, sie sich der Liebe als dem sichersten Mittel gegen die Langeweile hingeben müssen. Madame de Bouffiers lächelt maliziös; der liebenswürdige Blaustrumpf weiß davon mehr als der Philosoph. Aber der Philosoph bleibt hier nicht stehen; er fragt sich, wie kann eine Geliebte zu einer Beschäftigung werden? Er findet, dass „die Liebe von Gefahren umgeben ist, dass der Liebhaber fortgesetzt damit beschäftigt sein muss, die wachsame, sich ohne Aufhören seinen Plänen entgegenstellende Eifersucht zu überraschen", und er schließt, dass unter diesen Bedingungen eine „Kokette eine entzückende Geliebte" ist Madame de Bouffiers stimmt immer zu; aber da kommt Frau Buchholz und klagt, bleich vor Empörung, unseren Philosophen an, die Koketterie zu verherrlichen und die weibliche Tugend, die geprüfte Tugend der Frau Buchholz, anzugreifen usf. Und dies wiederholt sich ohne Aufhören und pflanzt sich immer fort. Das Missverständnis hat sich bis auf unsere Tage erhalten, setzt sich in den Köpfen derer fest, die niemals Helvétius gelesen haben, und schlägt, wie natürlich, in diesen Köpfen die festesten Wurzeln. Übrigens würde die Lektüre daran wenig ändern, man würde ihn nur mit den Augen der Frau Buchholz lesen, und diese Dame ist sehr kurzsichtig, wenn schon sehr tugendhaft und sehr ehrbar.

Ist Helvétius streng das gewesen, was man einen Materialisten nennen kann? Dank seinem Rufe zweifelt man oft daran. „Der rücksichtsvolle und zurückhaltende Buffon, der verschlossene und diplomatische Grimm, der eitle und oberflächliche Helvétius", sagt der verstorbene Lange, „sie alle stehen dem Materialismus nahe, ohne uns jene festen Gesichtspunkte und jene folgerichtige Durchführung eines Grundgedankens darzubieten, durch welche Lamettrie bei aller Frivolität des Ausdrucks sich auszeichnete."7 Das französische Echo des deutschen Neokantianers, Jules Soury, wiederholt Wort für Wort dieses Urteil.8 Wir wollen mit eigenen Augen sehen.

Die Frage, ob es im Menschen eine immaterielle Substanz gibt, der er sein psychisches Leben verdankt, kam nicht in das Bereich der Untersuchungen Helvétius'. Nur im Vorübergehen streifte er diese Frage und behandelte sie mit äußerster Vorsicht. Auf der einen Seite bemühte er sich, die Zensur nicht wild zu machen. Aus diesem Grunde sprach er mit offenbarer Ehrfurcht von der Kirche, die „unseren Glauben über diesen Punkt festgesetzt hat". Andererseits liebte er die „philosophischen Phantasien" nicht. Man muss mit der Beobachtung gehen, sagte er, in dem Augenblick anhalten, wenn sie uns verlässt, und den Mut haben, nicht zu wissen, was man noch nicht wissen kann. Das ist mehr „zurückhaltend" als „eitel" und „oberflächlich". Lange würde es wohl gefühlt und aufgezeigt haben, wenn es sich um einen weniger „gefährlichen" Schriftsteller handeln würde. Da es sich aber um Helvétius handelt, hat er ein anderes Gewicht, ein anderes Maß; es schien ihm evident, dass der „eitle" und „oberflächliche" Autor des Buches vom „Geiste" nur „eitel" und „oberflächlich" sein konnte.9

Tatsächlich teilte Helvétius in allen fundamentalen Fragen der „Metaphysik" (zum Beispiel in der der Materie, des Raumes, des Unendlichen usw.) die Ansichten des englischen Materialisten John Toland. Um sich davon zu überzeugen, genügt es, die „Letters to Serena" (London 1704) des letzteren mit dem 4. Kapitel des ersten Diskurs des Buches „De l'Esprit" zu vergleichen. Toland war für Lange ein über jeden Zweifel erhabener Materialist; seine Ideen erschienen ihm so klar als möglich; was Helvétius angeht, so „näherte" er sich nur dem Materialismus, weil seine „Oberflächlichkeit" ihn daran hinderte, einen fundamentalen Gedanken festzuhalten. „Und so schreibt man Geschichte!" Und so verderblich ist der Einfluss „oberflächlicher" Menschen: die „gründlichsten" Leute werden ihrerseits oberflächlich, indem sie sie lesen!

Besitzt die Materie die Empfindungsfähigkeit? „Man hat darüber ein langes und breites disputiert", sagte Helvétius. „Sehr spät erst kam man darauf, sich zu fragen, worüber man disputiere, und einen genauen Begriff mit dem Wort Materie zu verbinden. Wenn man dessen Bedeutung zuerst fixiert hätte, so hätte man erkannt, dass die Menschen sozusagen die Schöpfer der Materie sind, dass die Materie kein Wesen ist, dass es in der Natur nur Individuen gibt, denen man den Namen Körper gegeben hat, und dass man unter dem Wort Materie nur die Sammlung der allen Körpern gemeinsamen Eigenschaften verstehen kann. Die Bedeutung des Wortes einmal so bestimmt, hätte es sich nunmehr darum gehandelt, zu wissen ..,, ob die Entdeckung einer Kraft, wie zum Beispiel der Anziehungskraft, nicht die Vermutung erwecken könnte, dass die Körper noch einige unbekannte Eigenschaften besäßen, wie die Fähigkeit zu empfinden, die, mag sie sich nur in den organisierten Körpern der Tiere offenbaren, doch allen Individuen gemeinsam sein könnte. Nachdem man in dieser Frage einmal so weit gekommen war, hätte man eingesehen, dass, wenn es streng genommen unmöglich ist, zu beweisen, dass alle Körper absolut unempfindlich sind, ein jeder, der nicht hierüber durch die Offenbarung aufgeklärt ist," (wir wissen, was diese Reverenzen der „Philosophen" vor der „Offenbarung" und den Dogmen der Kirche im allgemeinen bedeuten. G. P.) „die Frage nur entscheiden kann, wenn er die Wahrscheinlichkeit dieser Ansicht mit der Wahrscheinlichkeit der entgegen gesetzten vergleicht. Um diesen Streit zu beenden, wäre es also nicht notwendig gewesen, verschiedene Weltsysteme zu bauen, sich in Kombinationen von Möglichkeiten zu verlieren und diese erstaunlichen Geistesanstrengungen zu machen, die nur in mehr oder weniger geistreichen Irrtümern geendigt haben und endigen konnten."10

Dieses lange Zitat zeigt gleich gut die Verwandtschaft des Materialismus des Helvétius mit dem Tolands11 und den Charakter dessen, was man seinen Skeptizismus, seinen Probabilismus zu nennen versucht sein könnte. Aber für ihn gehen nicht die Materialisten, sondern die Idealisten der verschiedenen Schulen mit „philosophischen Phantasien" hausieren. Er empfiehlt ihnen Klugheit, Umsicht, die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Diese Klugheit, diese Umsicht würden ihnen zeigen, dass ihre Negierung der Empfindungsvermögen der Materie nur ein Produkt ihrer Einbildung zum Fundament hat, dass nicht die Eigenschaften der „Körper", sondern allein die Definition, welche sie von der Materie gegeben haben, das heißt ein einziges Wort, sie daran hindert, den Begriff eines Körpers mit dem der Empfindungsfähigkeit zu verbinden. Der Skeptizismus ist hier nur eine gegen die Gegner der Materialisten gerichtete Waffe. Ebenso liegt die Sache da, wo Helvétius von der „Existenz der Körper" spricht. Die Empfindungsfähigkeit der Materie ist nur eine Wahrscheinlichkeit! Nichts ist wahrer. Aber was beweist das gegen die Materialisten? Die Existenz der Körper ist ihrerseits nur eine Wahrscheinlichkeit, und doch wäre es absurd, sie zu leugnen. Diesen Weg hat das Räsonnement des Helvétius eingeschlagen, und wenn es etwas beweist, so das vor allem, dass er nicht beim skeptischen Zweifel stehengeblieben ist.

So gut wie alle seine Zeitgenossen wusste Helvétius, dass wir die Körper nur durch die Empfindungen, die sie in uns entstehen lassen, kennen. Dies beweist wieder einmal, dass sich Lange mit seiner Behauptung, „der Materialismus nimmt hartnäckig die Welt des Sinnenscheins für die Welt der wirklichen Dinge", irrte.12 Aber das hat Helvétius nicht gehindert, ein überzeugter Materialist zu sein. Er zitiert „einen berühmten englischen Chemiker", dessen Meinung über das Empfinden der Materie er offenbar teilt. Dies sind die Worte des Chemikers: „Man erkennt in den Körpern zwei Arten von Eigenschaften; die einen, deren Existenz dauernd und unabänderlich ist: wie die Undurchdringlichkeit, die Schwere, die Beweglichkeit usw. Diese Eigenschaften gehören der allgemeinen Physik an. In denselben Körpern gibt es noch andere Eigenschaften, deren flüchtige und vergängliche Existenz abwechselnd durch gewisse Kombinationen, Analysen oder Bewegungen in den inneren Teilen erzeugt oder zerstört wird. Diese Arten von Eigenschaften bilden den Gegenstand der verschiedenen Zweige der Naturwissenschaft, der Chemie usw.; sie gehören der besonderen Physik an. Das Eisen zum Beispiel ist aus Phlogiston (Feuerstoff) und einer besonderen Erde zusammengesetzt. In diesem Zustand der Zusammensetzung ist es der Anziehungskraft des Magneten unterworfen. Zerlegt man das Eisen, so verschwindet diese Eigenschaft. Der Magnet hat keinen Einfluss auf eine eisenhaltige Erde, die ihres Phlogiston beraubt ist… Warum sollte nun im animalen Reiche die Organisation nicht in ähnlicher Weise diese besondere Eigenschaft, die man Empfindungsvermögen nennt, erzeugen? Alle Phänomene der Medizin und Naturgeschichte beweisen deutlich, dass diese Kraft in den Tieren nur das Resultat der Struktur ihrer Körper ist; dass diese Kraft mit der Bildung ihrer Organe beginnt, sich erhält, solange sie leben, und sich endlich mit der Auflösung dieser' selben Organe verliert. Wenn mich die Metaphysiker fragten, was denn beim Tier aus dem Empfindungsvermögen wird, würde ich ihnen antworten, was beim zerlegten Eisen aus der Fähigkeit wird, von dem Magneten angezogen zu werden."13

Helvétius war nicht nur ein Materialist, sondern er hat auch unter seinen Zeitgenossen mit der größten „Folgerichtigkeit" an dem Grundgedanken des Materialismus festgehalten. Er ist so „folgerichtig" gewesen, dass er die anderen Materialisten erschreckt hat. Keiner von ihnen hat gewagt, ihm in seinen kühnen Deduktionen zu folgen. In diesem Sinne stand er tatsächlich nur in der „Nähe" von Männern wie Holbach, da diese Männer sich ihm nur nähern konnten.

Die Seele in uns ist nur die Fähigkeit zu empfinden; der Verstand ist die Wirkung davon; alles im Menschen ist Empfindung; „die Fähigkeit des sinnlichen Empfindens ist daher der Grund seiner Bedürfnisse, seiner Leidenschaften, seiner Geselligkeit, seiner Gedanken, seiner Urteile, seiner Willensäußerungen, seiner Handlungen… Der Mensch ist eine Maschine, die, durch das sinnliche Empfinden in Bewegung gesetzt, alles tun muss, was sie ausführt."14 So ist also Helvétius' Ausgangspunkt absolut identisch mit dem Holbachs. Dies ist die Basis, auf der unser „gefährlicher Sophist" baute. Sehen wir ein wenig zu, wie viel in der Architektur seines Gebäudes original ist.

Was ist die Tugend? Es gibt keinen Philosophen im achtzehnten Jahrhundert, der in seiner Weise über diese Frage nicht diskutiert hätte. Für Helvétius ist die Sache sehr einfach. Die Tugend besteht in der Kenntnis dessen, was die Menschen einander schuldig sind. Sie setzt also die Bildung einer Gesellschaft voraus. „Auf einer verlassenen Insel geboren, mir selbst überlassen, lebe ich ohne Laster und Tugend. Ich kann dort weder die eine noch das andere zeigen. Was muss man also unter den Worten: tugendhaft und lasterhaft verstehen? Die der Gesellschaft nützlichen und schädlichen Handlungen. Diese einfache und klare Idee ist meiner Ansicht nach jeder unklaren und schwülstigen Deklamation über die Tugend vorzuziehen."15

Das allgemeine Interesse ist das Maß wie die Basis der Tugend. Unsere Handlungen sind also umso lasterhafter, je schädlicher sie der Gesellschaft sind. Sie sind umso tugendhafter, je vorteilhafter sie für sie sind. Salus populi, suprema lex.16 „Die Tugend" unseres Philosophen ist vor allem eine politische Tugend. Es führt zu nichts, Moral zu predigen; eine Predigt wird niemals einen Helden machen. Man muss der Gesellschaft eine Organisation geben, die ihre Mitglieder Achtung vor dem Gemeininteresse zu lehren vermag. Sittenverderbnis bedeutet nur die Scheidung des öffentlichen und privaten Interesses. Der beste Moralprediger ist ein Gesetzgeber, der diese Scheidung verschwinden zu lassen weiß.

Man behauptet oft, dass der „Utilitarismus" J. S. Mills als Morallehre der Ethik der Materialisten des achtzehnten Jahrhunderts weit überlegen sei, da diese die Moral auf das persönliche Interesse begründen wollten, während der englische Philosoph das Prinzip des größten Glückes der größten Zahl in den Vordergrund gestellt hat. Der Leser sieht jetzt, dass hierin das Verdienst J. S. Mills mehr ab zweifelhaft ist. Das Glück der größten Zahl ist nur eine, noch dazu sehr schwache, der revolutionären Farben beraubte Kopie des „Gemeininteresses" der französischen Materialisten. Wenn dem aber so ist, woher stammt denn jene Ansicht, die in dem „Utilitarismus" J. S. Mills eine glückliche Modifikation der materialistischen Moral des achtzehnten Jahrhunderts sieht?

Was ist das Prinzip des größten Glückes der größten Zahl? Es ist die Sanktion des menschlichen Betragens. Von dieser Seite würden die Materialisten nichts aus dem berühmten Buche Mills zu lernen gehabt haben. Aber die Materialisten begnügten sich nicht damit, eine Sanktion gefunden zu haben. Sie hatten ein wissenschaftliches Problem zur Lösung vor sich. Durch welche Mittel lernt der Mensch, da er nur Empfinden ist, das Gemeinwohl achten? Welches Wunder lässt ihn die Forderungen seines sinnlichen Empfindens vergessen, um zu Zielen zu kommen, die nichts damit gemein zu haben scheinen? Auf dem Gebiet und in den Grenzen dieses Problems nahmen die Materialisten in der Tat das persönliche Interesse der Individuen zum Ausgangspunkt. Hier bedeutet aber das persönliche Interesse zum Ausgangspunkt nehmen bloß die nochmalige Wiederholung des Satzes, dass der Mensch ein empfindendes Wesen ist und nur ein empfindendes Wesen. Das persönliche Interesse war also nicht ein moralisches Gebot, sondern nur eine wissenschaftliche Tatsache.17

Holbach ist der Schwierigkeit dieses Problems durch eine zu weite Terminologie aus dem Wege gegangen. „Wenn wir sagen, dass das Interesse der einzige Beweggrund der menschlichen Handlungen ist", schreibt er, „so wollen wir damit anzeigen, dass jeder Mensch nach seiner Weise an seinem Glücke arbeitet, welches er in irgendeinem sichtbaren oder verborgenen, reellen oder imaginären Gegenstand sucht und auf dessen Erlangung das ganze System seines Handelns hinzielt."18 Das heißt mit anderen Worten, dass das persönliche Interesse sich nicht auf die Forderungen des „sinnlichen Empfindens" zurückführen lässt. Aber zur selben Zeit ist der Mensch für Holbach, wie für alle Materialisten des achtzehnten Jahrhunderts nur Empfinden. Hier ist ein logischer Sprung, und dank diesem logischen Sprung flößt die „Ethik" Holbachs den Geschichtsschreibern der Philosophie weniger Abscheu ein als die des Helvétius. Nach Lange ist „Holbachs Ethik ernst und rein".19 Hettner seinerseits sieht in ihr etwas von der Ethik des Helvétius wesentlich Verschiedenes.20

Der Verfasser des Buches „De l'Esprit" ist von den „Philosophen" des achtzehnten Jahrhunderts der einzige, der die Frage nach dem Ursprung der moralischen Gefühle zu berühren gewagt hat. Er ist der einzige, der sie aus dem „sinnlichen Empfinden" des Menschen abzuleiten gewagt hat.

Der Mensch ist für die physische Lust und den physischen Schmerz empfindlich. Er flieht diesen und sucht jene. Dies fortwährende und unvermeidliche Fliehen und Streben trägt den Namen Selbstliebe. Diese Liebe ist vom Menschen durchaus untrennbar; sie ist seine fundamentale Empfindung. „Von allen Gefühlen ist sie das einzige dieser Art; wir verdanken ihr alle unsere Begierden, alle unsere Leidenschaften; sie können in uns nur die Anwendung der Selbstliebe auf dieses oder jenes Objekt sein…" „Man öffne das Buch der Geschichte, und man wird finden, dass in den Ländern, wo bestimmte Tugenden durch die Hoffnung auf sinnliche Genüsse ermutigt wurden, diese Tugenden die gewöhnlichsten waren und den meisten Glanz verbreitet haben."21 Die der Liebe am meisten ergebenen Völker sind die mutigsten gewesen. „Weil in diesen Ländern die Frauen nur den Tapfersten ihre Gunst gewährten." Bei den Samniten war die größte Schönheit der Preis der höchsten kriegerischen Tugend. In Sparta hat der weise Lykurg, davon überzeugt, „dass das Vergnügen der einzige und allgemeine Beweger des Menschen ist", die Liebe zum Hebel der Tapferkeit zu machen gewusst. Bei den großen Festen bewegten sich die jungen schönen Lazedämonierinnen halbnackt und tanzend in der Versammlung des Volkes vorwärts. Sie beschimpften die Feigen, priesen die Tapferen in ihren Gesängen. Nur die Tapferen konnten Anspruch auf die Gunst des schönen Geschlechts erheben. Die Spartiaten strebten darum, tapfer zu sein; die Leidenschaft der Liebe entzündete in ihren Herzen die Leidenschaft der Ruhmbegierde. Doch hierin ist die äußerste Grenze des Möglichen noch nicht von den „weisen" Einrichtungen Lykurgs erreicht worden. In der Tat, nehmen wir an, „dass nach dem Beispiel der der Isis oder der Vesta geweihten Jungfrauen die schönsten Lazedämonierinnen dem Verdienst geweiht worden wären, dass sie nackt in den Versammlungen zur Schau gestellt, als Preis der Tapferkeit von den Kriegern davongetragen worden wären, und dass die jungen Heroen zugleich die doppelte Trunkenheit der Liebe und des Ruhmes ausgekostet hätten; wie bizarr und unseren Sitten fremd auch eine solche Gesetzgebung sein mag, sicherlich hätte sie die Spartiaten noch tugendhafter und kriegerischer gemacht, da die Kraft der Tugend stets in direktem Verhältnis zu dem Grade der Lust steht, die man ihr als Belohnung zuweist."

Helvétius spricht soeben von der doppelten Trunkenheit der Liebe und des Ruhmes. Man muss dies nicht missverstehen. In der „Leidenschaft" der Ruhmbegierde lässt sich alles auf das sinnliche Empfinden zurückführen. Wir lieben den Ruhm, wie wir die Reichtümer lieben: der Macht wegen, die daraus folgt. Was ist aber Macht? Es ist das Mittel, andere zu zwingen, unserem Glücke zu dienen. Nun geht aber im Grunde das Glück auf die Lust der Sinne zurück. Der Mensch ist nur Empfinden. Alle derartigen Leidenschaften, wie die für Ruhm, Macht, Reichtümer usw., sind nur künstliche Leidenschaften, die sich aus physischen Bedürfnissen ableiten. Um diese Wahrheit besser zu begreifen, muss man sich immer daran erinnern, dass unsere Lustempfindungen, wie unsere Schmerzen, zweierlei Art sind: wirkliche Lustempfindungen oder Schmerzen und voraussichtliche. Ich habe Hunger; ich empfinde einen wirklichen Schmerz. Ich sehe voraus, dass ich Hungers sterben werde; ich empfinde einen voraussichtlichen Schmerz. „Wenn ein Mensch, der schöne Sklavinnen und schöne Gemälde liebt, einen Schatz findet, wird er entzückt sein. Und doch, wird man einwerfen, empfindet er kein physisches Vergnügen dabei; ich gebe dies zu. Aber er erwirbt in diesem Augenblick die Mittel, sich die Gegenstände seiner Wünsche zu verschaffen. Nun, diese Voraussicht eines nahen Vergnügens ist bereits ein Vergnügen."

Es versteht sich von selbst, dass die Voraussicht dem Ausgangspunkt des Helvétius gar nicht widerspricht. Die Voraussicht ist nur eine Wirkung des Gedächtnisses. Wenn ich voraussehe, dass der Mangel an Nahrung mir Schmerz verursachen wird, so geschieht das, weil ich bereits diesen Schmerz erprobt habe. Aber das Eigentümliche des Gedächtnisses ist es, „auf die Organe bis zu einem gewissen Punkt dieselbe Wirkung auszuüben", die der Schmerz oder das Vergnügen ausüben würde. Es ist also evident, dass „alle als innere bezeichneten Schmerzen und Vergnügungen ebenso viele physische Empfindungen sind, und dass man mit den Worten innere und äußere nur solche Eindrücke bezeichnen kann, die entweder, durch das Gedächtnis oder durch die Gegenwart von Gegenständen hervorgerufen werden".

Die Voraussicht, das heißt das sinnliche Empfinden, lässt mich den Tod meines Freundes beklagen. Er hielt durch seine Unterhaltung die Langeweile von mir fern, „dieses Seelenleiden, das wirklich ein physischer Schmerz" ist; er hätte sein Leben und sein Vermögen aufs Spiel gesetzt, um mich dem Tode und dem Schmerz zu entreißen, er suchte stets durch Vergnügungen aller Art die Summe meines Glückes zu vermehren. Die Erkenntnis, dass die Mittel meiner Vergnügungen mir durch den Tod meines Freundes entzogen sind, lässt meinen Augen Tränen entströmen. „Man steige und dringe zum Grunde des Herzens hinab, man wird in all diesen Gefühlen nur die Entwicklungen physischer Lust oder physischen Schmerzes bemerken."

Aber Ihr Freund, wird man Helvétius einwerfen, hätte doch sein Leben und Vermögen aufs Spiel gesetzt, um Sie dem Schmerz zu entreißen. Sie geben es selbst zu. Sie gestehen also zur selben Zeit ein, dass es Leute gibt, die, um ein ideales Ziel zu erreichen, der Stimme ihres „sinnlichen Empfindens" ein taubes Ohr zuwenden können.

Unser Philosoph gibt keine direkte Antwort auf diesen Einwurf. Aber man kann leicht einsehen, dass er ihn nicht in Verwirrung gebracht haben würde. Was ist, würde er fragen, der Beweggrund heroischer Handlungen? Die Hoffnung auf Belohnung. Man läuft bei solchen Handlungen große Gefahr, aber je größer die Gefahr, umso größer die Belohnung. Das Interesse (das sinnliche Empfinden) sagt, dass das Spiel des Spielens wert ist. Wenn es sich bei den großen und ruhmreichen Taten der Geschichte so verhält, hat die Selbstverleugnung eines Freundes nichts Besonderes an sich.

Es gibt Leute, die die Wissenschaft lieben, die über Büchern blass werden und Entbehrungen aller Art erdulden, um sich Kenntnisse zu erwerben. Man wird sagen, dass die Liebe zur Wissenschaft mit physischer Lust nichts Gemeinsames hat. Man täuscht sich. Warum beraubt sich heute ein Geizhals des Notwendigen? Weil er seine Mittel vermehren will, um morgen, übermorgen, kurz in der Zukunft zu genießen. Gut! Man nehme an, dass dies auch mit dem Gelehrten der Fall ist, und man hat die Lösung des Rätsels. „Der Geizhals wünscht sich ein schönes Schloss und der Mann von Talent eine schöne Frau. Wenn es nun, um beide zu kaufen, großer Reichtümer und eines großen Rufes bedarf, so arbeiten diese beiden Menschen jeder nach seiner Art, der eine an der Mehrung seiner Reichtümer, der andere an der seines Rufes. Wenn sie aber nun im Laufe der Zeit, mit der Erwerbung des Geldes und des Rufes beschäftigt, gealtert sind, wenn sie Gewohnheiten angenommen haben, die sie nur durch Anstrengungen, zu denen das Alter sie unfähig gemacht hat, aufgeben können, so werden der Geizhals und der Mann von Talent, der eine ohne sein Schloss, der andere ohne seine Geliebte sterben."22

Das genügt schon, um alle „anständigen Leute" des ganzen Universums in Entrüstung zu versetzen und um zu verstehen, wie und weshalb Helvétius zu seinem schlechten Ruf gekommen ist. Aber das genügt auch, um die schwache Seite seiner „Analyse" zu zeigen. Wir werden nur noch ein Zitat zu den bisherigen hinzufügen.

Wenn man auch eingesteht, dass unsere Leidenschaften ursprünglich ihre Quelle in der Fähigkeit des sinnlichen Empfindens haben, könnte man doch noch glauben, dass in den Zuständen, in denen sich die zivilisierten Nationen tatsächlich befinden, diese Leidenschaften unabhängig von der Ursache, die sie geschaffen hat, bestehen. Ich will daher, indem ich die Verwandlung der physischen Schmerzen und Lustempfindungen in künstliche verfolge, zeigen, dass in Leidenschaften, wie Geiz, Ehrgeiz, Stolz, Freundschaft, deren Gegenstand am wenigsten Bezug auf sinnliche Lust zu haben scheint, wir doch stets den physischen Schmerz und die physisch Lust zu vermeiden suchen oder sie erstreben."23

Also, keine Vererbung. Nach Darwin sind die intellektuellen und moralischen Fähigkeiten des Menschen variabel; „und wir haben allen Grund, zu glauben, dass die Abänderungen zu Vererbung neigen."24 Nach Helvétius sind die Fähigkeiten des Menschen außerordentlich variabel, aber die Veränderungen übertragen sich nicht von einer Generation zur anderen, da ihre Basis, die Fähigkeit des sinnlichen Empfindens, unveränderlich bleibt. Helvétius' Blick ist scharf genug, die Phänomene der Evolution zu bemerken. Er sieht, dass „dieselbe Rasse von Tieren, je nach der Art und dem Überfluss an Futter, stärker oder schwächer wird, sich hebt oder zurückgeht". Ebenso beobachtet er, dass dasselbe für die Eichen gilt. „Man sieht kleine, große, gerade, krumme, aber keine, die der anderen absolut gleich wäre." Wovon hängt dies ab? „Vielleicht davon, dass keine genau dieselbe Kultur empfängt, denselben Platz einnimmt, vom selben Wind getroffen wird und in dieselbe Erdader: gesät ist." Nichts ist vernünftiger als diese Erklärung. Helvétius bleibt hier nicht stehen. Er fragt sich: „Liegt die Verschiedenheit der Wesen in ihren Keimen oder in ihrer Entwicklung?" Das ist nicht die Frage eines trägen Geistes. Man bemerke aber wohl den Sinn des Dilemmas: entweder in den Keimen oder in der Entwicklung. Unser Philosoph ahnt nicht einmal, dass die Geschichte der Gattung Spuren in der Struktur der Keime zurücklassen kann. Die Geschichte der Gattung? Sie existierte für ihn so wenig wie für seine Zeitgenossen. Er hat nur das Individuum im Auge, er befragt die individuelle „Natur", er beobachtet die individuelle „Entwicklung".

Wir sind weit davon entfernt, uns mit der Ansicht Darwins über die Erblichkeit der moralischen und intellektuellen „Anlagen" zufrieden zu geben. Sie ist nur das erste Wort der evolutionistischen Naturwissenschaft. Aber wir wissen sehr wohl, dass, zu welchen Resultaten immer sie auch kommen wird, sie nur durch Anwendung der dialektischen Methode auf das Studium der Phänomene, deren Natur wesentlich dialektisch ist, Erfolg haben wird. Helvétius bleibt ein Metaphysiker, selbst dann, wenn ihn sein Instinkt zu einem anderen, gänzlich entgegen gesetzten Gesichtspunkt, zu dem dialektischen, hintreibt.

Er räumt ein, „nicht zu wissen", ob die Verschiedenheit der Wesen ganz und gar in ihrer (individuellen) Entwicklung „liegt". Eine solche Hypothese erscheint ihm offenbar zu kühn. Und in der Tat würde daraus folgen, was Lucretius, der den materialistischen „Philosophen" wohl bekannt war, für das Allerabsurdeste hielt:

Ex omnibus rebus

Omne genus nasci posset …

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Nec fructus idem arboribus constare solerent

Sed mutarentur: ferre omnes omnia possent.25

Wenn aber das Problem beschränkt wird, wenn es sich nur um eine Gattung, das heißt den Menschen handelt, dann hat Helvétius nicht mehr solche Skrupel. Er behauptet positiv und mit der größten Sicherheit, dass alle „Verschiedenheit" der Menschen in ihrer Entwicklung und nicht in ihren Keimen, nicht in der Erblichkeit liegt; bei unserer Geburt sind wir alle in gleicher Weise beanlagt; es ist nur die Erziehung, welche uns einander unähnlich macht. Wir werden weiter unten sehen, dass dieser Gedanke, obgleich ohne solide Basis, unter seinen Händen sehr fruchtbar wird. Aber er gelangt auf einem falschen Wege zu ihm, und dieser Ursprung seines Gedankens macht sich überall fühlbar, wo er ihn benutzt, wie auch überall da, wo er ihn zu beweisen sucht. Er zeigt, dass Diderot mit seinem Worte recht hatte, die Behauptungen des Helvétius seien viel stärker als seine Beweise. Die metaphysische Methode des Materialismus des achtzehnten Jahrhunderts rächt sich ohne Aufhören an dem Kühnsten und Logischsten ihrer Anhänger.

Wir suchen stets die physische Lust, fliehen stets den physischen Schmerz. Eine bedeutende Behauptung. Wie wird sie bewiesen? Helvétius nimmt einen fertigen Menschen, einen erwachsenen Menschen mit „Leidenschaften", deren wirkende Ursachen außerordentlich zahlreich und kompliziert sind, die unbestritten ihren Ursprung in dem Einfluss des sozialen Milieus, das heißt in der Geschichte der Gattung haben, und versucht, diese „Leidenschaften" aus dem sinnlichen Empfinden abzuleiten. Was unabhängig von dem Bewusstsein entsteht, wird uns als eine unmittelbare, augenblickliche Frucht dieses selben Bewusstseins dargeboten. Eine Gewohnheit, ein Instinkt nimmt die Form einer Überlegung an, die im Menschen dies oder jenes Gefühl entstehen lässt. In unserer Studie über Holbach haben wir auseinandergesetzt, dass dieser Irrtum allen die utilitäre Moral vertretenden „Philosophen" eigentümlich ist. Aber bei Helvétius nimmt dieser Irrtum ein geradezu bedauerliches Ausmaß an. Genau genommen verschwindet in dem Bilde, das uns Helvétius zeichnet, die Überlegung, um einer Reihe von Vorstellungen Platz zu machen, die alle ohne Ausnahme in Beziehung zum „sinnlichen Empfinden" stehen. Dieses Empfinden, das ohne Zweifel die wirkende, sehr entfernte Ursache unserer moralischen Gewohnheiten ist, wird in die Endursache unserer Handlungen verwandelt. Eine Fiktion gilt so als eine Lösung des Problems. Es versteht sich aber von selbst, dass das Problem in der Säure der Fiktion nicht zu lösen ist. Noch mehr. Durch seine „Analyse" beraubt Helvétius unsere moralischen Gefühle ihrer spezifischen Eigenschaften und streicht auf diese Weise dasselbe X, die unbekannte Größe, deren Wert er zu bestimmen sucht: er will beweisen, dass alle unsere Gefühle sich von dem sinnlichen Empfinden herleiten; zu diesem Beweis stellt er sich einen Menschen vor, der stets auf der Jagd nach fleischlicher Lust, „schönen Sklavinnen" usw. ist. In der Tat, seine Behauptung ist stärker als seine Beweise.

Nach dem, was wir soeben auseinandergesetzt haben, brauchen wir nicht hervorzuheben, wie dies La Harpe und viele andere getan, dass Newton nicht deshalb seine gewaltigen Rechnungen überdachte, um eine schöne Mätresse zu besitzen. Sicherlich nicht! Aber eine solche Wahrheit bringt uns weder in der Wissenschaft „vom Menschen" noch in der Geschichte der Philosophie irgendwie weiter. Es gibt viele andere Dinge zu tun, als solche „Wahrheiten" vorzubringen.

Glaubt man ernstlich, dass sich Helvétius einen Menschen nur als einen wollüstigen Verstandesmenschen vorstellen konnte? Man braucht nur seine Werke durchzublättern, um sich davon zu überzeugen, dass dies nicht der Fall ist. Helvétius weiß zum Beispiel sehr wohl, dass es Leute gibt, die, „im Geist in die Zukunft getragen und im Voraus die Lobsprüche und Achtung der Nachwelt genießend", den Ruhm und die Achtung des Augenblicks der oft entfernten Hoffnung auf größeren Ruhm und größere Achtung opfern, Leute, die im allgemeinen „nur die Achtung achtungswerter Bürger begehren".26 Diese Leute sehen offenbar voraus, dass sie nicht viele sinnliche Vergnügungen haben werden. Helvétius spricht auch aus, dass es Leute gibt, für die nichts höher steht als die Gerechtigkeit. Und er setzt auseinander, dass in der Erinnerung dieser Leute die Idee der Gerechtigkeit sich eng mit der des Glückes verbindet; dass beide Ideen nur eine sind, dass es nicht möglich ist, sie zu trennen. Man gewöhnt sich daran, sich an sie gleichzeitig zu erinnern, und setzt, „wenn man einmal diese Gewohnheit angenommen hat, seinen Stolz darein, sich immer gerecht und tugendhaft zu zeigen; es gibt nichts, das man dann nicht diesem edlen Stolze opferte".27 Um gerecht zu sein, brauchen diese Leute offenbar nicht mehr wollüstige Bilder in ihren Köpfen zu entfalten. Unser Philosoph spricht es außerdem aus, dass die Erziehung die Menschen gerecht und ungerecht macht, dass die Macht der Erziehung unbeschränkt ist, dass „der moralische Mensch ganz Erziehung und Nachahmung ist".28 Er spricht von der Mechanik unserer Gefühle, von der Kraft der Ideenassoziation: „Wenn ich infolge der Regierungsform alles von den Großen zu fürchten habe, so werde ich mechanisch selbst in dem ausländischen Seigneur, der nichts über mich vermag, die Hoheit respektieren. Wenn ich in meiner Erinnerung die Idee der Tugend mit der des Glückes assoziiert habe, so werde ich jene selbst dann pflegen, wenn sie Gegenstand der Verfolgung ist. Ich weiß sehr wohl, dass auf die Dauer diese beiden Ideen in Widerspruch geraten werden, aber das wird das Werk der Zeit und noch dazu einer langen Zeit sein." Als Schluss fügt er hinzu, dass „man in der tiefen Überlegung dieser Tatsache die Lösung einer Unzahl, ohne die Kenntnis dieser Ideenassoziation unlösbarer, moralischer Probleme finden wird".29

Was ist aber dies alles? Ein Haufen von Widersprüchen, der eine noch schreiender als der andere? Zweifellos! Die Metaphysiker sind oft die Opfer solcher Widersprüche. Sich auf Schritt und Tritt zu widersprechen, ist ihre Berufskrankheit, ist für sie das einzige Mittel, ihre Entweder-Oder zu versöhnen. Helvétius ist weit davon entfernt, eine Ausnahme von dieser allgemeinen Regel zu sein. Im Gegenteil; ein lebhafter und unternehmender Geist, wie er ist, büßt er häufiger als die anderen die Fehler seiner Methode mit dieser Münze. Man tut gut, diese Fehler zu konstatieren und so die Vorzüge der dialektischen Methode aufzuzeigen; aber man glaube nicht, sie mit hier übel angebrachter moralischer Entrüstung und mit einigen unendlich kleinen Wahrheiten, die noch dazu so alt sind wie die Welt, loszuwerden.

Wenn man ihn liest, bemerkt man", sagt La Harpe von unserem Philosophen, „dass seine Einbildung sich nur für glänzende und wollüstige Gedanken begeistert; und nichts entspricht einem philosophischen Geiste weniger."30 Das bedeutet, dass Helvétius nur deshalb von dem „sinnlichen Empfinden" sprach und es zum Ausgangspunkt seiner Untersuchungen nahm, weil er den sinnlichen Trieben zu sehr zugeneigt war. Man hat viel von seiner Liebe für die „schönen Mätressen" erzählt. Man hat diese Liebe zu einem Pendant seiner Eitelkeit gemacht. Wir enthalten uns jeder Würdigung eines derartigen „kritischen" Verfahrens. Aber es scheint uns interessant zu sein, hier Helvétius mit Tschernyschewski zu vergleichen. Der große russische Aufklärer war alles andere, nur nicht „elegant", oder „Generalpächter", oder „eitel" (niemand hat ihn dieser letzten Schwäche angeklagt), oder Liebhaber „schöner Sklavinnen". Und doch gleicht von allen französischen Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts Helvétius ihm am meisten. Er hat dieselbe logische Unerschrockenheit, dieselbe Verachtung für Sentimentalität, dieselbe Methode, dieselben Geschmacksrichtungen, dieselben räsonierenden Beweise, oft bis in die Detailfragen dieselben Schlüsse und dieselben Beispiele zur Unterstützung dieser oder jener Behauptung.31 Wie eine solche Übereinstimmung erklären? Liegt ein Plagiat auf Seiten des russischen Schriftstellers vor? Niemand hat bisher gegen Tschernyschewski diesen Vorwurf zu erheben gewagt. Aber nehmen wir an, er sei begründet. Wir müssen dann sagen, dass Tschernyschewski die Ideen des Helvétius gestohlen hat, der sie seinerseits seinem wollüstigen Temperament und seiner maßlosen Eitelkeit verdankte. Eine wunderbare Klarheit! Eine tiefe Philosophie der Geschichte des menschlichen Gedankens!

Beim Hervorheben der Fehler des Helvétius darf man nicht vergessen, dass er ebenda fehlte, wo es die ganze idealistische (oder besser gesagt dualistische) Philosophie, die der französische Materialismus bekämpfte, tat. Spinoza und Leibniz wussten bisweilen sehr gut die dialektische Waffe zu führen (letzterer besonders in den „Nouveaux essais sur l’entendement humain"), aber ihr allgemeiner Gesichtspunkt war nichtsdestoweniger metaphysisch. Außerdem waren Leibniz und Spinoza weit davon entfernt, in der offiziellen französischen Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts das Wort zu führen. Ein mehr oder weniger modifizierter und verwässerter Kartesianismus herrschte damals. Nun aber existierte nicht der geringste Gedanke von Entwicklung für den Kartesianismus.32 Die Hilflosigkeit der Methode war gewissermaßen ein Vermächtnis, das der Materialismus von seinem dualistischen Vorgänger ererbte. Man darf sich hier also nicht täuschen. Wenn die Materialisten unrecht haben, beweist dies noch nicht, dass ihre Gegner recht haben. Ganz und gar nicht! Ihre Gegner irren doppelt, vierfach, mit einem Wort, unvergleichlich viel mehr.

Was sagt uns La Harpe über den Ursprung unserer moralischen Gefühle, er, der ohne Zweifel nicht ermangelt hat, alle Batterien der guten alten Philosophie gegen Helvétius zu richten? O, sehr wenig! Er versichert uns, dass „alle unsere Leidenschaften uns unmittelbar von der Natur gegeben sind"; dass sie „zu unserer Natur gehören," (von La Harpe selbst unterstrichen) „obschon sie eines Exzesses fähig sind, den die Verderbtheit großer Gesellschaften allein veranlassen kann"; dass die „Gesellschaft sich in der natürlichen Ordnung befindet" und „dass deshalb Helvétius ganz und gar zu Unrecht das künstlich nennt, was von einer natürlichen und notwendigen Ordnung abhängt"; dass es im Menschen „eine andere Regel seiner Urteile gibt als sein eigenes Interesse", und dass „diese Regel das Gerechtigkeitsgefühl ist"; dass „das Vergnügen und der Schmerz die einzigen Beweger der niederen Tiere sein können", dass aber „Gott, das Gewissen und Gesetze, die dem Bewusstsein beider entspringen, die Menschen leiten müssen".33 Ist das nicht sehr tief? Jetzt ist doch alles klar!

Bewundern wir jetzt einen anderen Gegner unseres „Sophisten". Diesmal ist es ein Mann des neunzehnten Jahrhunderts, der spricht. Nachdem er in dem Buche vom „Geiste" gelesen, dass das Gemeininteresse das Maß der Tugend ist, dass eine jede Gesellschaft die Handlungen, die ihr nützlich sind, für tugendhaft hält, und dass die Urteile der Menschen über die Handlungen ihrer Nebenmenschen gemäß ihren Interessen sich ändern, lässt er mit siegreicher Miene den folgenden Wortschwall vom Stapel: „Wenn man behauptete, dass die Urteile des Publikums über einzelne Handlungen ein Recht auf Unfehlbarkeit haben, sobald sie die Mehrheit der Individuen für sich haben, so müsste man auch eine Reihe von Konsequenzen aus diesem Prinzip zugeben, von denen eine absurder ist als die andere, wie zum Beispiel: die Meinungen der Mehrzahl stimmen allein mit der Wahrheit überein… Eine Wahrheit wird ein Irrtum, wenn sie aufhört, die Meinung der Mehrzahl zu sein und die der Minderzahl wird, und umgekehrt: ein Irrtum wird eine Wahrheit, wenn er die Meinung der Mehrzahl wird, nachdem er lange die der Minderzahl gewesen ist."34 Der gute Mann! Seine Widerlegung des Helvétius, dessen Lehren zu begreifen ihm nicht einmal geglückt ist, ist in der Tat „neu".

Selbst Leute von viel größerer Bedeutung, wie Lange zum Beispiel, sehen in dieser Lehre nur eine Apologie des „persönlichen Interesses". Es gilt als ein Axiom, dass die Moraltheorie Adam Smiths nichts mit der Ethik der französischen Materialisten gemein habe. Sie seien Antipoden zueinander. Lange, der nur Geringschätzung für Helvétius hat, spricht mit großer Achtung von Adam Smith als Moralisten. „Und ist denn A. Smiths Ableitung aus der Sympathie", sagt er, „obwohl selbst für die damalige Zeit sehr mangelhaft durchgeführt, doch bis auf den heutigen Tag noch der zweckmäßigste Versuch einer natürlichen und rationellen Begründung der Moral." Der französische Kommentator der „Theory of moral sentiments", H. Baudrillart, betrachtete sie als eine heilsame Reaktion „gegen die Systeme des Materialismus und des Egoismus". Smith selbst hatte nur wenig „Sympathie" für die Moralsysteme der Materialisten. Die Theorie des Helvétius musste ihm, wie die Mandevilles, „zügellos" erscheinen. Und in der Tat erscheint auf den ersten Blick die Theorie Smiths dem, was wir in den Schriften des Helvétius finden, gänzlich entgegengesetzt. Der Leser hat hoffentlich noch nicht vergessen, wie der letztere das Bedauern, das wir für den Verlust eines Freundes haben, erklärt. Man lese jetzt die Zeilen des berühmten Engländers: „Wir sympathisieren sogar mit den Toten… Wir bedauern sie, dass sie des Lichtes der Sonne, des Anblicks und Umgangs der Menschen beraubt sind; dass sie in ein kaltes Grab eingeschlossen sind und dort den Würmern und. der Verwesung als Beute dienen; dass sie von der Welt vergessen werden und allmählich aus der Liebe, ja fast der Erinnerung ihrer teuersten Freunde und Verwandten verschwinden… Die Unfähigkeit unserer Sympathie, ihnen zu helfen, erscheint uns noch als eine Vermehrung ihres Unglücks…" usw.35 Das ist allerdings etwas gänzlich Verschiedenes! Aber betrachten wir es einmal näher. Was ist die „Sympathie" Adam Smiths? „Welchen Grad von Selbstliebe man auch bei dem Menschen voraussetzen mag", antwortet er, „es gibt offenbar in seiner Natur einige Prinzipien, die ihm Interesse für die Geschicke seiner Nebenmenschen einflößen und ihr Glück für ihn selbst dann notwendig machen, auch wenn er daraus nur das Vergnügen gewinnt, Zeuge desselben zu sein… Es ist zu gewöhnlich, dass man die Leiden anderer mitempfindet, als dass eine solche Tatsache des Beweises bedürfte." Die Quelle dieser Sensibilität für die Leiden eines anderen „liegt in der Fähigkeit, die wir besitzen, uns durch die Einbildung an ihre Stelle zu denken, eine Fähigkeit, die es uns möglich macht, das, was sie fühlen, zu begreifen oder mitzuempfinden".36 Glaubt man, dass es nichts dieser Theorie der Sympathie Analoges in den Schriften des Helvétius gibt? In seinem Buche „De l’Homme", 2. Abschnitt, 7. Kapitel, fragt er sich, was ein humaner Mensch ist. Und er antwortet: „Derjenige, für den der Anblick des Elends eines Nebenmenschen ein schmerzvoller Anblick ist." Woher kommt aber diese Fähigkeit, die Schmerzen eines anderen zu empfinden? Wir verdanken sie der Erziehung, die uns daran gewöhnt, uns mit den anderen zu identifizieren. „Hat das Kind die Gewohnheit angenommen, sich mit den Notleidenden zu identifizieren, so wird es, sobald diese Gewohnheit bei ihm Wurzel gefasst hat, um so mehr von ihrem Elend gerührt, als es voll Mitleid über ihr Geschick, über die Menschheit im allgemeinen und daher über sich selbst im besonderen in Rührung gerät. Eine Unzahl verschiedener Gefühle vermischen sich dann mit diesem ersten Gefühl, und aus ihrer Gesamtheit setzt sich das Lustgefühl zusammen, das eine edle Seele genießt, wenn sie einem Notleidenden hilft, ein Gefühl, das sie nicht immer zu analysieren imstande ist."

Man wird zugeben, dass Smith die Sympathie, den Ausgangspunkt seiner Ableitung, in ganz derselben Weise betrachtet. Allerdings lässt Helvétius die Sympathie sich mit anderen weniger „sympathischen" Gefühlen verbinden. Nach ihm „unterstützt man die Unglücklichen: 1. um den physischen Schmerz, sie leiden zu sehen, zu vermeiden; 2. um den Anblick einer Erkenntlichkeit zu genießen, die in uns wenigstens die unklare Hoffnung einer entfernten Nützlichkeit erweckt; 3. um einen Akt der Macht auszuüben, deren Ausübung uns stets angenehm ist, weil sie stets vor unseren Geist das Bild der mit dieser Macht verbundenen Lust zurückruft; 4. weil sich die Idee des Glückes in einer guten Erziehung stets mit der Idee der Wohltätigkeit verbindet und weil diese Wohltätigkeit, die uns die Achtung und Zuneigung der Menschen erwirbt, ebenso wie der Reichtum als eine Macht oder als ein Mittel, sich von Schmerzen zu befreien und sich Vergnügen zu verschaffen, betrachtet werden kann." Dies ist bereits nicht mehr das, was Smith sagt, ändert aber nichts an dem, was die Sympathie betrifft. Es zeigt uns, wie Helvétius zu Resultaten kommt, die denen des Autors der „Theory of moral sentiments" so gänzlich entgegengesetzt sind. Für diesen liegt die Sympathie in unserer „Natur", für Helvétius gibt es in unserer Natur nur „sinnliches Empfinden". Er sieht sich zur Zerlegung dessen, woran Smith nicht zu rühren denkt, gezwungen. Smith bewegt sich in der einen Richtung vorwärts; Helvétius schlägt die entgegen gesetzte ein. Wie kann man sich darüber wundern, dass sie sich immer mehr voneinander entfernen und sich schließlich nicht mehr begegnen?

Ohne Zweifel ist Helvétius weit davon entfernt, alle unsere Gefühle durch die Sympathie als durch eine der Etappen ihrer Entwicklung hindurchgehen zu lassen. Er ist hierin nicht „einseitig".

Man muss aber auch nicht glauben, dass die „Sympathie" Smith den utilitären Gesichtspunkt gänzlich aufgeben lässt. Für ihn wie für Helvétius ist das Interesse der Gesellschaft die Basis und Sanktion der Moral.37 Nur kommt ihm nicht der Gedanke, diese Basis und Sanktion aus den ersten Elementen der menschlichen Natur abzuleiten. Er fragt sich nicht, was im Grunde diese „oberste Weisheit ist, die das System der menschlichen Neigungen regelt". Er sieht dort nur eine Tatsache, wo Helvétius bereits einen Entwicklungsprozess sieht. Smith sagt, dass jene „Erklärung der menschlichen Natur, die alle unsere Leidenschaften und Gefühle aus der Selbstliebe ableitet. aus einer verworrenen, falschen Auffassung des Systems der Sympathie entsprungen zu sein scheint".38 Er hätte sagen müssen, dass sich dieses System bemüht, den Ursprung unserer Leidenschaften und Gefühle zu enthüllen, während er selbst sich mit ihrer mehr oder weniger guten Beschreibung begnügt.39

Die Widersprüche, in die sich Helvétius verwickelt, sind, wie wir schon öfters gesagt haben, eine Folge seiner metaphysischen Methode. Man findet bei ihm außerdem viele Widersprüche, welche dadurch bewirkt werden, dass er häufig seinen theoretischen Gesichtspunkt beschränkt, um desto mehr die Möglichkeit und Leichtigkeit, bestimmte praktische Ziele zu erreichen, hervortreten zu lassen. Das sieht man unter anderem an dem Beispiel des von unserem Autor „verleumdeten" Regulus.

Er beweist, dass, einmal die Lage des Generals und die Sitten der alten Römer gegeben, Regulus nicht anders hätte handeln können, als er tat, wenn er nur seinem persönlichen Interesse gefolgt wäre. Das ist die „Verleumdung", gegen die sich Jean-Jacques auflehnt. Aber Helvétius hat gar nicht sagen wollen, dass Regulus in Wirklichkeit nur seinem Interesse gefolgt sei. „Die Handlung des Regulus war ohne Zweifel die Folge des stürmischen Enthusiasmus, der ihn zur Tugend leitete." Was will er aber dann mit seiner „Verleumdung"? Er will zeigen, dass „ein derartiger Enthusiasmus sich nur in Rom entzünden konnte". Die höchst „vollendete" Gesetzgebung dieser Republik hat das persönliche Interesse ihrer Bürger mit dem des Staates aufs engste zu verbinden gewusst.40 Daher der Heroismus der alten Römer. Praktische Folgerung: Man verstehe nur jetzt dasselbe zu tun, und man wird Menschen ebenso heroisch wie Regulus erstehen sehen. Damit sie seinen Lesern augenfälliger wird, zeigt Helvétius nur die eine Seite der Sache. Aber das beweist nicht, dass er den Einfluss der Gewohnheit, der Ideenassoziation, der „Sympathie", des „Enthusiasmus", des edlen Stolzes usw. vergisst. Durchaus nicht. Er weiß nur nicht immer die Fäden zu finden, die diesen Einfluss mit dem persönlichen Interesse, dem „sinnlichen Empfinden" verbinden, und bemüht sich zu gleicher Zeit, sie zu entdecken, da — er vergisst dies nie — der Mensch nur Empfinden ist. Wenn er dieser Aufgabe unterliegt, so liegt der Fehler im metaphysischen Charakter des Materialismus seiner Zeit; ihm wird stets das Verdienst bleiben, alle Konsequenzen gezogen zu haben, die aus seinem Fundamentalprinzip folgten.

Dieselbe Vorherrschaft praktischer Tendenzen hat ihn die Frage, ob alle Menschen mit gleichen Fähigkeiten geboren werden, übers Knie brechen lassen. Er hat diese Frage nicht einmal gut zu stellen gewusst. Was wollte er aber sagen, indem er diese Frage übers Knie brach? Grimm, der kein Meister in der Theorie war, hat es sehr wohl begriffen. Über das Buch „De l'Homme" sagt er in seiner „Korrespondenz" (November 1773): „Sein Hauptzweck ist, zu zeigen, dass das Genie, die Tugenden, die Talente, denen die Nationen ihre Größe und ihr Glück verdanken, nicht eine Wirkung verschiedener Nahrung, der Temperamente, noch der Organe der fünf Sinne, auf welche Gesetze und Verwaltung keinen Einfluss haben, sondern die Wirkung der Erziehung sind, über die Gesetze und Regierung alles vermögen."41 Man begreift leicht, von welchem praktischen Wert eine solche Ansicht in der Zeit revolutionärer Gärung sein konnte.

Wenn der Mensch nur eine durch das „sinnliche Empfinden" in Bewegung gesetzte Maschine ist, die alles tun muss, was jenes tut, so ist die Rolle des „freien Willens" in der Geschichte eines Volkes ebenso sehr. Null wie im Leben eines Individuums. Wenn das „sinnliche Empfinden" das Prinzip der Willensäußerungen, der Bedürfnisse, der Leidenschaften, der Gesellschaftlichkeit, der Gedanken, der Urteile und der Handlungen des Menschen ist, so ist es evident, dass man nicht im Menschen, in seiner „Natur" den Schlüssel zu den geschichtlichen Schicksalen des Menschengeschlechts suchen muss; wenn alle Menschen eine gleiche geistige Begabung haben, so erklären die angeblichen Eigentümlichkeiten der Rasse und des Nationalcharakters selbstverständlich nichts in den gegenwärtigen oder früheren Zuständen dieser oder jener Nation. Diese drei, logisch unvermeidlichen Schlüsse bilden bereits sehr wichtige Prolegomena für eine Philosophie der Geschichte.

Nach Helvétius haben alle Völker in derselben Lage dieselben Gesetze, denselben Geist, dieselben Leidenschaften. Aus diesem Grunde „findet man bei den Indianern die Sitten der alten Germanen"; aus diesem Grunde „wird Asien, das zum größten Teil von Malaien bewohnt ist, von unseren alten Feudalgesetzen regiert"; aus diesem Grunde war der „Fetischismus nicht nur die erste Religion, sondern war auch sein Kultus, der sich heute noch in fast ganz Afrika erhalten hat, einst allgemein"; aus demselben Grunde hat die Mythologie der Griechen viel Ähnlichkeit mit der der Kelten; aus diesem Grunde endlich haben die verschiedensten Völker oft dieselben Sprichwörter. Im Allgemeinen existiert eine bemerkenswerte Analogie in den Einrichtungen, dem Geist und dem Glauben primitiver Völker. Die Völker, wie die Individuen, gleichen sich mehr, als man glaubt.

Das Interesse, das Bedürfnis sind die großen, einzigen Lehren des Menschengeschlechts. Weshalb ist der Hunger das gewöhnliche Prinzip der Handlungen des Menschen? Weil er von allen Bedürfnissen das am häufigsten wiederkehrende, am gebieterischsten sich meldende ist. Der Hunger schärft den Geist der Tiere; er zwingt uns in Übung unserer Fähigkeiten, uns, die Menschen, die wir uns den Tieren so überlegen dünken. Er lehrt den Wilden, den Bogen zu krümmen, Netze zu flechten, seiner Beute Fallen zu stellen. „Es ist gleichfalls der Hunger, der bei den kultivierten Völkern alle Bürger in Bewegung setzt, sie zwingt, die Erde zu bebauen, ein Handwerk zu lernen und ein Amt auszuüben." Ihm verdankt die Menschheit die Kunst, die Erde urbar zu machen und die Pflugschar zu schmieden, wie sie die Kunst zu bauen, sich zu bekleiden usw. dem Bedürfnis verdankt, sich gegen die Strenge der Jahreszeiten zu schützen. Der Mensch ohne Bedürfnisse würde ohne ein Prinzip des Handelns sein. „Eine der Hauptursachen der Unwissenheit und Trägheit der Afrikaner ist die Fruchtbarkeit jenes Weltteils; er befriedigt fast ohne Kultur alle Bedürfnisse. Der Afrikaner hat kein Interesse daran, zu denken. So denkt er denn auch wenig. Man kann dasselbe vom Karaiben behaupten. Wenn er weniger fleißig als der Wilde des Nordens von Amerika ist, so hat das seinen Grund darin, dass der letztere größeren Fleißes bedarf." Das Bedürfnis ist ein genaues Maß der Anstrengungen des menschlichen Geistes. „Die Bewohner von Kamtschatka, in gewissen Beziehungen von einer Dummheit ohnegleichen, sind in anderen von wunderbarer Geschicklichkeit. Ihre Geschicklichkeit in der Verfertigung von Kleidern … übertrifft die der Europäer. Weshalb? Weil sie Gegenden der Erde bewohnen, die am meisten der Rauheit des Klimas ausgesetzt sind, wo also das Bedürfnis der Kleidung sich am meisten gewohnheitsmäßig fühlbar macht. Nun ist aber ein gewohnheitsmäßiges Bedürfnis stets ein betriebsames."42

Wenn wir also dem Bedürfnis „die Kunst, die Felder zu bearbeiten, verdanken", so gewinnt diese Kunst, einmal erfunden und ausgeübt, einen großen entscheidenden Einfluss auf unsere Einrichtungen, unsere Gedanken und unsere Gefühle. „Der Mensch der Wälder, der nackte und sprachlose Mensch, kann wohl eine klare und deutliche Idee von Kraft oder Schwäche, nicht aber von Gerechtigkeit und Billigkeit erwerben." Diese Ideen setzen eine Gesellschaft voraus; sie ändern sich mit den Interessen der Gesellschaft. Weshalb war der Diebstahl in Sparta erlaubt? Weshalb bestrafte man dort nur die Ungeschicklichkeit der ertappten Diebe? Gibt es etwas Bizarreres als einen solchen Gebrauch? „Wenn man sich indes an die Gesetze des Lykurg und die Verachtung erinnert, in der Gold und Silber in einer Republik standen, wo die Gesetze nur einem schwerfälligen und spröden Eisengeld Kurs gaben, wird man begreifen, dass die Diebstähle von Hühnern und Gemüse die einzig möglichen waren. Stets mit Geschicklichkeit vollbracht, oft mit Festigkeit abgeleugnet, erhielten solche Diebstähle die Lakedämonier in der Gewohnheit des Mutes und der Wachsamkeit. Das Gesetz, das den Diebstahl gestattete, konnte diesem Volke nur sehr nützlich sein …" Andererseits blicke man auf die Skythen. Sie betrachteten den Diebstahl als das größte aller Verbrechen. Ihre Lebensgewohnheit machte diese Ansicht für sie notwendig. „Ihre Herden bewegten sich zerstreut in den Ebenen. Wie leicht, sie zu plündern! Und welche Unordnung, wenn man derartige Diebstähle geduldet hätte! Man hat daher auch bei ihnen das Gesetz zur Hüterin der Herden gemacht, um den Ausdruck des Aristoteles zu gebrauchen." Die Völker, bei denen Herden den Reichtum ausmachen, brauchen das Privateigentum an Grund und Boden nicht; es erscheint zuerst bei den Ackerbauern, für die es von fast absoluter Notwendigkeit ist. Die wilden Völker, welche in den Wäldern umherirren, kennen nur vorübergehende und zufällige Vereinigungen von Mann und Weib. Die sesshaften und ackerbauenden Völker führen eine untrennbare Ehe ein. „Während der Ehemann die Erde urbar macht, den Acker bearbeitet, füttert die Frau das Geflügel, tränkt das Vieh, schert die Schafe, besorgt den Haushalt und Viehhof, bereitet das Essen des Gatten, der Kinder und Diener." So ist also die Unlöslichkeit der Ehe, weit davon entfernt, ein lastendes Joch für die Gatten zu sein, für sie von dem größten Nutzen. Die Gesetze, welche die Ehe in den katholischen Ländern ordnen, sind auf solche Verhältnisse berechnet. Sie sind daher auch nur den Interessen und dem Beruf der Landarbeiter angemessen. Sie sind auf der anderen Seite für Leute anderer Berufe, insbesondere für die „Großen", die „Reichen" und die „Müßiggänger" sehr hinderlich, die in der Liebe nicht ein Mittel der Befriedigung reeller sehr gebieterischer Bedürfnisse, sondern eine Zerstreuung, ein Mittel gegen die Langeweile erblicken. Das Gemälde der ehelichen Sitten der parasitischen Klassen der Gesellschaft, welches, der Graf Leo Tolstoi in seiner „Kreuzersonate" und vor ihm Fourier gezeichnet haben, erinnert in den Hauptpunkten an das, was Helvétius von der Ehe und der Liebe bei den „Müßiggängern" sagt.

Der Charakter eines ackerbautreibenden Volkes unterscheidet sich notwendigerweise von dem eines Nomadenvolkes. „In jedem Lande gibt es eine bestimmte Zahl von Objekten, welche die Erziehung allen in gleicher Weise darbietet, und der gleichmäßige Eindruck dieser Gegenstände erzeugt in den Bürgern jene Übereinstimmung der Gedanken und Gefühle, der man den Namen Nationalgeist und Nationalcharakter gibt." Nun begreift man aber leicht, dass diese „Objekte", deren Einfluss so entscheidend bei der Erziehung ist, nicht dieselben sind bei Völkern, welche in so verschiedenen Verhältnissen, wie zum Beispiel die des Ackerbaues und der Jagd, leben. Ebenso evident ist es, dass der Charakter eines Volkes veränderlich ist. Man hält den der Franzosen für heiter. Er war es nicht immer. Der Kaiser Julian sagte von den Parisern: „Ich liebe sie, weil ihr Charakter, wie der meine, streng und ernsthaft ist."43 Man betrachte die Römer. Welche Kraft, welche Tugend, welche Liebe zur Freiheit, welcher Hass gegen die Knechtschaft in den Zeiten der Republik! Und welche Schwäche, welche Feigheit, welche Gemeinheit von der Erhebung der Cäsaren an! Diese Gemeinheit ermüdet selbst Tiberius! Außerdem variiert der Charakter eines Volkes nicht nur mit den historischen Ereignissen; er ist zu einer gegebenen Zeit nicht einmal in verschiedenen Berufen derselbe. Der Geschmack und die Gewohnheiten der Krieger sind nicht die des Priesters, der Geschmack und die Gewohnheiten der „Müßiggänger" sind nicht die der Ackerbauer und Handwerker, Alles das hängt von der Erziehung ab. Die Erziehung macht aus der Frau ein dem Manne nachstehendes Wesen. Und diese Inferiorität tritt nicht in allen Ständen in gleicher Weise hervor. Die Fürstinnen („Frauen, wie Elisabeth, Katharina II." usw.44) geben an Genie den Männern nichts nach. Dasselbe gilt für die „Kammerfrauen". „Sie haben soviel Geist wie ihre Ehemänner." „Der Grund liegt darin, dass in zwei so verschiedenen Lagen beide Geschlechter eine gleich schlechte Erziehung erhalten."

Die verschiedenen Ideen von der Schönheit werden durch die Eindrücke der Kindheit verursacht. „Wenn man mir die Gestalt einer bestimmten Frau besonders rühmt, wird sich diese Gestalt meinem Gedächtnis als das Modell der Schönheit einprägen, und ich werde die anderer Frauen nur nach der mehr oder weniger großen Ähnlichkeit beurteilen, die sie mit diesem Modell haben. Daher die Verschiedenheiten im Geschmack!" Es ist also eine Sache der Gewohnheit. Da aber die Gewohnheiten eines Volkes nicht immer dieselben bleiben, so ändern sich sein Geschmack und seine Urteile über die Schönheit der Kunst- und Naturgegenstände ebenfalls.45 Weshalb gefallen uns die Romane des Mittelalters nicht? „Weshalb war die Art Corneilles zu Lebzeiten des berühmten Dichters mehr beliebt als heute?" (Es handelt sich natürlich um die Zeit des Helvétius. G. P.) „Weil man damals von der Liga, der Fronde, jenen Zeiten der Unruhe kam, wo die noch vom Feuer des Aufruhrs erhitzten Geister kühner, bessere Beurteiler kühner Gefühle und empfänglicher für den Ehrgeiz waren; weil der Charakter, den Corneille seinen Helden gibt, die Entwürfe, mit denen sich seine Ehrgeizigen beschäftigen, dem Geiste seines Jahrhunderts mehr entsprachen als dem des heutigen, wo man weniger Helden und Ehrgeizigen begegnet, wo eine glückliche Ruhe so vielen Stürmen gefolgt ist und wo die Vulkane des Aufruhrs überall erloschen sind."

Um noch besser die Ansichten des Helvétius über die Rolle des „Interesses" in der Geschichte der Menschheit zu erfassen, wollen wir noch bei einer von ihm ausgedachten Robinsonade etwas verweilen. Sein Robinson sind „einige Familien", welche sich „auf eine Insel" begeben haben. Ihre erste Sorge ist, sich Hütten zu bauen und den Boden in der für ihre Erhaltung notwendigen Ausdehnung urbar zu machen. Wenn ihre Insel mehr kulturfähiges Land aufzuweisen hat, als für diese ersten Kolonisten notwendig ist, so werden sie alle fast gleich reich sein; die Begüterten unter ihnen werden jene sein, welche stärkere Arme und mehr Eifer zur Arbeit haben. Ihre Interessen sind also sehr wenig kompliziert, und „daher" werden ihnen „wenige Gesetze" genügen. Wenn man sich genötigt sehen sollte, einen Obersten zu erwählen, so würde dieser Oberste doch Ackerbauer bleiben wie die übrigen. „Der einzige Vorzug, den man ihm gewähren könnte, wäre, ihm die Wahl des Geländes zu lassen. Er wird im Übrigen ohne Macht sein."

Aber allmählich vermehrt sich die Bevölkerung unserer Insel; sie wird sehr dicht; es gibt kein okkupierbares Land mehr. Was bleibt denen, die kein Grundeigentum haben, zu tun übrig? Vom Diebstahl, der Räuberei oder der Auswanderung abgesehen, werden sie zu neuen Erfindungen ihre Zuflucht nehmen müssen. Derjenige von ihnen, dem es gelingt, einen neuen Gegenstand des Gebrauchs oder des Luxus zu erfinden, der etwas weitere Verbreitung findet, wird von dem Austausch seines Produkts gegen die Produkte der Ackerbauern und anderer Handwerker leben. Er wird vielleicht der Gründer einer Manufaktur sein, die er „an einem angenehmen und bequemen Platz einrichten wird, gewöhnlich an den Ufern: eines Flusses, dessen Arme sich weit in das Land hinein erstrecken und dadurch den Transport seiner Waren erleichtern werden". Natürlich wird er nicht der einzige Industrielle seiner Insel bleiben. Die fortgesetzte Vermehrung der Einwohner wird die Erfindung anderer Gegenstände des Luxus oder des Gebrauchs veranlassen, neue Manufakturen werden entstehen. Mehrere Manufakturen werden einen Flecken, dann eine bedeutende Stadt bilden. „Diese Stadt wird bald die reichsten Bürger besitzen, da die Profite des Handels stets ungeheuer sind, wenn die wenig zahlreichen Kaufleute noch wenige Konkurrenten haben." Die Reichtümer lassen Vergnügungen aller Art entstehen. Die reichen Grundeigentümer werden ihre Landsitze verlassen, um wenigstens mehrere Monate des Jahres in der Stadt zu wohnen. Die Armen werden ihnen folgen in der Hoffnung, dort leichter ihren Lebensunterhalt zu erwerben. Kurz, unsere Stadt wird eine Hauptstadt werden.

Wir haben also Reiche und Arme, Unternehmer und einfache Arbeiter. Die ursprüngliche Gleichheit ist verschwunden. Unter einem und demselben Namen schließt jetzt unser Volk „eine Unzahl verschiedener Völker, deren Interessen mehr oder weniger entgegengesetzt sind", ein. So viele Klassen, so viele Nationen. Und dieser Prozess der Bildung von Klassen mit verschiedenen und sogar entgegen gesetzten Interessen ist in der Geschichte der Völker unvermeidlich. Er geht mehr oder weniger schnell vor sich, aber er geht vor sich, er wird immer vor sich gehen. „Es ist notwendig, dass der Fleißigere mehr gewinnt, dass der Wirtschaftliche mehr spart und dass er mit den bereits erworbenen Reichtümern neue erwirbt. Überdies gibt es Erben, welche große Erbschaften antreten. Es gibt Kaufleute, die große Einsätze auf ihre Schiffe und damit große Gewinne machen, weil im Handel aller Art das Geld das Geld anzieht. Seine ungleiche Verteilung ist daher eine notwendige Folge seiner Einführung in einen Staat."

Aber diese notwendige Folge zieht andere, nicht weniger notwendige Folgen nach sich. Diejenigen, welche nichts haben, und ihre Zahl wird sich dank der Vermehrung der Bürger stets vergrößern, werden sich eine stets wachsende Konkurrenz machen, um Beschäftigung zu finden. Sie werden ihre Lebensansprüche immer mehr beschneiden. So wird also die Ungleichheit immer größer; so dehnt sich die Not immer mehr aus: „der Arme verkauft, der Reiche kauft", und die Zahl der Besitzenden wird unaufhörlich kleiner. Dann werden die Gesetze immer strenger. Milde Gesetze genügen, um ein Volk von Besitzenden zu regieren. „Bei den Germanen, den Galliern und Skandinaviern waren mehr oder weniger hohe Bußen die einzigen Gesetze für die verschiedenen Vergehen. Es wird anders, wenn die Besitzlosen die große Mehrheit einer Nation ausmachen. Der, welcher nichts hat, kann nicht an seinem Vermögen bestraft werden, man muss ihn an seiner Person strafen: daher die Leibesstrafen. Je mehr Arme es gibt, desto mehr wird es auch Diebstähle, Räubereien, Verbrechen geben. Man muss zur Gewalt greifen, um sie zu bekämpfen. Ein Mensch ohne Eigentum wechselt leicht seinen Ort. Der Schuldige kann also leicht seiner Strafe entgehen. Man wird gezwungen, Bürger mit weniger Formalität, oft auf den ersten Verdacht hin, zu verhaften. „Nun ist aber eine Verhaftung bereits eine willkürliche Strafe, die, bald auch auf die Besitzenden selbst ausgedehnt, die Freiheit durch die Sklaverei ersetzt." Die Leibesstrafen, zunächst nur gegen die Armen gebraucht, finden auch auf die Besitzenden Ausdehnung. „Alle Bürger werden dann mit Blutgesetzen regiert. Alles vereinigt sich, sie einzuführen."

Die Vermehrung der Bürger lässt eine Repräsentativregierung entstehen, da sich die Bürger nicht mehr an einem Ort versammeln können, um die öffentlichen Angelegenheiten zu beraten. Solange die Bürger noch einander fast gleich sind, bringen ihre Vertreter nur Gesetze ein, die mit dem öffentlichen Interesse übereinstimmen. In dem Maße aber, wie die ursprüngliche Gleichheit verschwindet, in dem Maße, wie die Interessen der Bürger komplizierter werden, trennen die Vertreter ihr Eigeninteresse von dem der von ihnen Vertretenen; sie werden unabhängiger von ihren Auftraggebern, sie erwerben allmählich eine Macht, welche der der ganzen Nation gleich ist. „Begreift man nicht, dass in einem großen und bevölkerten Lande die Teilung der Interessen der Regierten stets den Regierenden das Mittel liefern muss, eine Autorität an sich zu reißen, welche die natürliche Liebe des Menschen zur Macht stets zum Gegenstand seiner Wünsche macht?" In der Tat „hören" einerseits die Besitzenden, allein mit ihrem Vermögen beschäftigt, „auf, Bürger zu sein", andererseits sind für sie die Menschen ohne Eigentum ebenso viele geheime Feinde, welche der Tyrann oder die Tyrannen nach ihrem Beheben gegen die Besitzenden bewaffnen können. Auf diese Weise also künden „die geistige Trägheit bei den Auftraggebern, das tätige Machtbegehren bei den Beauftragten eine große Veränderung im Staate an. Alles begünstigt im rechten Augenblick den Ehrgeiz." Die Freiheit stirbt, die Aussichten des Despotismus vermehren sich mehr und mehr. So lässt also die Vermehrung der Bürger die Repräsentativregierung entstehen. Der Gegensatz ihrer Interessen bringt die Willkürherrschaft herauf.

An einer Stelle seines Buches „De l'Homme", mit dem wir es bei der obigen Auseinandersetzung im Wesentlichen zu tun haben, sagt Helvétius, er schließe nach der Erfahrung und Xenephon. Das ist ein sehr charakteristischer Ausdruck. Er hatte, ebenso wie Holbach und die anderen „Philosophen" seiner Zeit, einen ziemlich klaren Blick für die Rolle des Klassenkampfes in der Geschichte. Aber in der Würdigung desselben ist er nicht weiter gegangen als „Xenephon", das heißt als die Schriftsteller des Altertums. Nach ihm erzeugt der Klassenkampf die Tyrannei, stets die Tyrannei und nichts als die Tyrannei. Für ihn sind die Menschen „ohne Eigentum" nur eine gefährliche Waffe in den Händen ehrgeiziger Reicher; sie können — und suchen nur, es zu tun — sich einem jeden verkaufen, „der sie kaufen will". Es ist nicht das moderne Proletariat, sondern das antike und insbesondere dasjenige Roms, das er hier im Auge hat. In Übereinstimmung damit ist die soziale Bewegung für ihn nur ein Zirkel ohne Ausweg. „Nehmen wir an, ein Mensch bereicherte sich im Handel und vereinigte eine Unzahl kleiner Vermögen mit dem seinen. Damit wird die Zahl der Besitzenden und zugleich derjenigen, deren Interesse aufs Engste mit dem nationalen Interesse verbunden ist, vermindert, die Zahl der Menschen ohne Eigentum und ohne Interesse an den öffentlichen Angelegenheiten vermehrt sich dagegen. Wenn nun aber solche Menschen immer dem zu Dienste stehen, der sie bezahlt, wie kann man nur glauben, dass der Mächtige sich ihrer niemals bedienen wird, um sich seine Mitbürger zu unterwerfen? Das ist die notwendige Folge der zu großen Vermehrungen der Menschen in einem Reiche. Das ist der Zirkel, den bisher alle bekannten, noch so verschiedenen Regierungen durchlaufen haben."

Helvétius ist weit davon entfernt, die Engländer mit demselben Misstrauen wie Holbach zu betrachten. Er fand, dass die sozialen und politischen Zustände Großbritanniens viel zu wünschen übrigließen, aber er achtete in ihm das freieste und erleuchtetste Land der Welt. Indes hielt er diese, ihm so zusagende englische Freiheit für nicht sehr stabil. Er glaubte, dass die in England so weit gediehene Scheidung der Interessen dort früher oder später ihre unvermeidliche Wirkung, das Erscheinen des Despotismus erzeugen würde. Man muss zugeben, dass wenigstens die Geschichte Irlands ihn nicht in auffallender Weise Lügen straft.

Die Ansichten unseres Philosophen über die Vermehrung der Menschen beweisen wiederum, wie wenig originell die Lehre des Malthus war. Wir wollen diese Ansichten hier ebenso wenig wie die über die Urgeschichte des Eigentums und der Familie kritisieren. Es genügt für uns, den allgemeinen geschichtsphilosophischen Standpunkt des Helvétius anzuzeigen.46 Um aber dessen Charakteristik zu vollenden, müssen wir noch einige andere Konsequenzen der „Vermehrung der Bürger", oder besser ausgedrückt, der stets und unvermeidlich wachsenden Ungleichheit der Vermögen betrachten.

Für eine Gesellschaft gibt es nichts Gefährlicheres als die Menschen ohne Eigentum! Für die Unternehmer gibt es nichts Vorteilhafteres, nichts, das ihrem Interesse mehr dient, als diese Menschen. „Je mehr Arme es gibt, desto weniger zahlen die Unternehmer für ihre Arbeit." Nun sind aber die letzteren in einem „Handelsland" eine wahre Macht. Das öffentliche Interesse wird ihrem „privaten" geopfert, welches der Hebel ihrer Handlungen, das Kriterium ihrer Urteile ist. Wir sehen dies in jeder Gesellschaft mit komplizierten und gegensätzlichen Interessen. Sie zerfällt in kleine Gesellschaften, welche über die Tugend, den Geist und das Verdienst der Bürger vom Standpunkt ihrer besonderen Interessen urteilen. Schließlich ist es das Interesse der Mächtigsten, deren Stimme in einer Nation am meisten befiehlt und am meisten gehört wird.

Wir wissen bereits, dass die Verderbnis der Sitten überall da eintritt, wo das private Interesse vom öffentlichen getrennt ist. Die immer wachsende Ungleichheit der Vermögen muss also die Sittenverderbnis erzeugen und vermehren. Das ereignet sich auch in Wirklichkeit. Das Geld, welches den Fortschritt der Ungleichheit begünstigt, verursacht zu gleicher Zeit die Entartung der Tugend. In einem Lande, „wo das Geld keinen Kurs hat", ist die Nation die "einzige gerechte Austeilerin der Belohnungen. „Die allgemeine Achtung, die Gabe der öffentlichen Anerkennung kann dort nur solchen Ideen und Handlungen zugeteilt werden, die der Nation nützen, und jeder Bürger findet sich daher dort zur Tugend genötigt." In den Ländern, wo das Geld Kurs hat, kann sein Besitzer der Person oder den Personen, welche ihm am meisten Vergnügen verschaffen, davon geben und tut es auch gewöhnlich. Diese Person aber oder diese Personen sind nicht immer die Ehrbarsten. Die Belohnungen werden also häufig für Handlungen bestimmt, die „persönlich für die Reichen nützlich, der Gemeinschaft aber schädlich" sind. Dem Laster bewilligte Belohnungen werden lasterhafte Menschen erzeugen, und die Liebe zum Geld, die jeden Geist, jede patriotische Tugend erstickt, wird nur niedrige Charaktere, Betrüger und Intriganten hervorbringen. „Die Liebe zum Reichtum kann sich gar nicht auf alle Klassen der Bürger ausdehnen, ohne dem regierenden Teil die Lust zum Diebstahl und zu Missbräuchen einzuflößen. Dann wird die Konstruktion eines Hafens, eine Rüstung, eine Handelskompanie, ein, wie man sagt, zur Ehre der Nation unternommener Krieg, kurz jeder Vorwand zur Plünderung gierig ergriffen. Dann dringen alle Laster, Kinder der Gier, zu gleicher Zeit in ein Reich ein, stecken der Reihe nach alle Glieder an und stürzen es endlich ins Verderben."

Auch Holbach, wie wir in der Studie über ihn gezeigt haben, betrachtete die Liebe zum Reichtum als die Mutter aller Laster und den Ruin der Nationen. Aber Holbach hatte nur Deklamationen, wo Helvétius in die Gesetze der sozialen Entwicklung einzudringen versuchte. Holbach donnerte gegen den „Luxus"; Helvétius bemerkte, dass der Luxus nur die Wirkung einer zu ungleichen Verteilung des Reichtums sei. Holbach forderte die Gesetzgeber zum Kampfe gegen den Geschmack am Luxus auf; Helvétius fand, dass ein solcher Kampf für die Gesellschaft nicht nur unnütz, sondern sehr schädlich sei. Einmal bilden die Luxusgesetze, die stets leicht zu umgehen sind, einen so scharfen Angriff auf das Eigentumsrecht, „das geheiligteste der Rechte"; zweitens müsste man, um den Luxus zu verjagen, das Geld verbannen; „nun kann aber kein Fürst einen solchen Plan fassen, und selbst vorausgesetzt, er fasste ihn, so würde er keine Nation im gegenwärtigen Zustand Europas finden, welche sich seinen Wünschen fügen würde". Die Realisation eines solchen Planes wäre der totale Ruin der Nation.

Der Luxus besteht nur da, wo die Vermögen sehr ungleich sind. In einem Reich, wo unter den Bürgern annähernde Vermögensgleichheit herrscht, kann es keinen Luxus geben, welchen Grad von Wohlhabenheit sie auch erreichen, oder vielmehr in diesem Reich wird der Luxus, weit davon entfernt, ein Unglück zu bilden, ein großes öffentliches Gut sein. Sobald aber die Reichtümer sehr ungleich verteilt sind, würde die Verbannung des Luxus das Aufhören der Produktion einer Menge von Gegenständen und daher die Arbeitslosigkeit einer Menge von Armen bedeuten. Das Endresultat wäre also dem, was man erreichen wollte, ganz und gar entgegengesetzt. „Die Entrüstung, mit der die Mehrzahl der Moralisten sich gegen den Luxus erhebt, ist die Wirkung ihrer Unwissenheit", schloss Helvétius.47

Hier ist also ein konstantes Gesetz der sozialen Entwicklung. Von der Armut gelangt ein Volk zum Reichtum, vom Reichtum zur ungleichen Verteilung des Reichtums, zur Sittenverderbnis, zum Luxus, zu den Lastern; von da gelangt es zum Despotismus und vom Despotismus zum Ruin. „Das Prinzip des Lebens, das, in einer majestätischen Eiche sich entwickelnd, ihren Schaft erhebt, ihre Zweige ausbreitet, ihren Stamm verdickt und sie über die Wälder herrschen lässt, ist das Prinzip ihres Untergangs." Und „bei der bestehenden Form der Regierung" können die Völker diese so gefährliche Bahn der Entwicklung nicht verlassen. Es ist sogar für sie gefährlich, ihre Schritte auf derselben zu verzögern. Eine Stagnation wird unzählige Übel, vielleicht das Aufhören des Lebens bewirken.

Die Zahl und besonders die Art der Manufakturen eines Landes hängen von den Reichtümern dieses Landes und der Art und Weise, wie sie dort verteilt sind, ab. Wenn alle Bürger wohlhabend sind, werden sie alle gut gekleidet sein wollen; es wird also eine große Zahl weder zu feiner noch zu grober Manufakturen entstehen. Wenn im Gegenteil die Mehrheit der Bürger arm ist, wird es nur Betriebe geben, welche für die Bedürfnisse der reichen Klasse sorgen, man wird nur reiche, glänzende, wenig dauerhafte Stoffe fabrizieren, „so hängt alles in einer Regierung von einander ab".

Einer der wichtigsten Zweige der modernen Industrie ist die Produktion von Baumwollstoffen. Diese Stoffe sind nicht für die reichen Konsumenten bestimmt. Die Ansicht des Helvétius stimmt also nicht mit der Wirklichkeit überein.48 Es ist deshalb nicht weniger wahr, dass in einer „Regierung" alles voneinander abhängt. Wir haben schon viele Beispiele dafür gehabt, wir werden noch ein weiteres dafür anführen.

Das Bedürfnis lehrt die Menschen, die Erde zu kultivieren, das Bedürfnis lässt Künste und Wissenschaften entstehen. Es ist auch das Bedürfnis, das dieselben stillstehen oder sich in dieser oder jener Richtung vorwärtsbewegen lässt. Sobald eine große Vermögensungleichheit sich bildet, sehen wir eine Menge von Vergnügungskünsten entstehen, deren Zweck es ist, die Reichen zu unterhalten, sie von der Langeweile zu befreien. Das Interesse hört niemals auf; der große einzige Lehrmeister des Menschengeschlechts zu sein. Wie könnte dem anders sein? Man vergesse nicht, dass „jeder Vergleich von Gegenständen untereinander Aufmerksamkeit voraussetzt, jede Aufmerksamkeit setzt Mühe und jede Mühe ein Motiv für ihres Aufwendung voraus". Es liegt zweifellos im Interesse einer jeden Gesellschaft, die Bildung zu fördern. Da aber die Belohnungen, mit denen man die Männer von Verdienst bedenkt, nicht immer denen zuteil werden, die sich um das allgemeine Interesse, sondern sehr oft denjenigen, die sich um das Interesse der Mächtigen verdient gemacht haben, so begreift man leicht, wie die Wissenschaften, Künste und Literatur eine mit dem Interesse dieser letzteren übereinstimmende Richtung einschlagen. „Wie hätten die Wissenschaften und Künste nicht den größten Glanz in einem Lande wie Griechenland ausstrahlen müssen, wo man ihnen eine so allgemeine und andauernde Huldigung erwies? Warum war Italien so reich an Rednern? Ist es dem Einfluss des Klimas zu danken, wie die gelehrte Geistesschwäche einiger akademischer Pedanten behauptet hat? Eine unwiderlegliche Antwort liegt in der Tatsache, dass Rom zu gleicher Zeit seine Beredsamkeit und seine Freiheit verlor. „Man prüfe, worauf sich die Vorwürfe der Barbarei und Dummheit gründen, welche die Griechen, Römer und alle Europäer immer den Völkern des Orients gemacht haben; man wird finden, dass die orientalischen Nationen deshalb als Barbaren und Dummköpfe von den gebildeten Völkern Europas behandelt und Gegenstände der Verachtung der freien Nationen und der Nachwelt werden mussten, weil sie stets den Namen Geist nur einem Haufen von Gedanken gegeben haben, die ihnen nützlich waren, und weil der Despotismus in fast ganz Asien das Studium der Moral, der Metaphysik, der Jurisprudenz, der Politik, kurz aller für die Menschheit interessanten Wissenschaften verboten hatte." Wenn, wie schon oben gesagt wurde, alle Völker in derselben Lage dieselben Gesetze, denselben Geist, dieselben Neigungen haben, so ist das auf den Einfluss derselben Interessen zurückzuführen. Die Kombination der Interessen bestimmt den Entwicklungsgang des menschlichen Geistes.

Das Interesse der Staaten, wie das der Privaten, wie das aller menschlichen Angelegenheiten unterliegt tausend Wandlungen. Dieselben Gesetze, dieselben Gebräuche und dieselben Handlungen werden nacheinander einem und demselben Volke nützlich und schädlich. Daraus folgt, dass dieselben Gesetze nacheinander angenommen und verworfen werden, dass dieselben Handlungen nacheinander die Namen tugendhaft und lasterhaft tragen: „eine Behauptung, die man nicht leugnen kann, ohne zuzugeben, dass es Handlungen geben kann, die für den Staat zugleich tugendhaft und schädlich sind, ohne damit die Fundamente jeder Gesetzgebung und jeder Gesellschaft zu untergraben".

Viele wilde Völker haben den Gebrauch, ihre Greise zu töten. Auf den ersten Blick erscheint nichts so scheußlich wie dieser Gebrauch. Aber man denke nur ein wenig nach, und man wird zugeben, dass in ihrer gegebenen Lage diese Völker gezwungen sind, den Mord der Greise als eine tugendhafte Handlung zu betrachten, und dass die Liebe für die alt und hinfällig gewordenen Eltern die Jugend so handeln lässt. Die Wilden haben Mangel an Lebensmitteln. Die Alten sind nicht imstande, sich solche durch die Jagd zu verschaffen, da dieselbe eine große Rüstigkeit des Körpers voraussetzt. Sie müssten also einen langsamen und grausamen Tod erleiden oder ihren Kindern oder der gesamten Gesellschaft zur Last fallen, die wegen ihrer Armut nicht imstande wäre, eine solche Last zu tragen. Es ist also besser, durch rasche und notwendige Elternmorde solche Leiden zu ersparen. „Das ist die Grundlage eines so scheußlichen Brauches; so sieht sich ein Wandervolk, das die Jagd und die Not an Lebensmitteln sechs Monate im Jahr in ungeheuren Wäldern festhält, sozusagen zu dieser Barbarei gezwungen, und so wird in diesen Ländern der Elternmord durch dasselbe Prinzip der Humanität eingegeben und auf Grund desselben begangen, das uns ihn mit Schauder betrachten lässt."

Holbach fragte sich, weshalb die positiven Gesetze der Völker so oft mit denen der „Natur" und „Billigkeit" in Widerspruch sind. Die Antwort lag sehr nahe und bereit. „Die verkehrten Gesetze", sagte er, „sind eine Folge entweder der Verderbtheit der Sitten oder der Irrtümer der Gesellschaften oder der Tyrannei, welche die Natur zwingt, sich unter ihre Autorität zu beugen."49 Helvétius begnügt sich mit einer solchen Antwort nicht. Er findet „reelle oder wenigstens scheinbare Nützlichkeit" als Grund der Gesetze und Gebräuche, den man so billig in „der Verderbtheit" oder den „Irrtümern" sucht. „Für wie töricht man auch die Völker halten mag", sagt er, „sicherlich haben sie, durch ihre Interessen erleuchtet, nicht ohne Beweggrund die lächerlichen Gebräuche angenommen, die man bei einigen von ihnen vorfindet; die Bizarrerie dieser Gebrauche hängt also von der Verschiedenheit der Interessen der Völker ab." Nur jene Sitten und Gesetze sind wirklich hassenswert, die noch zu existieren fortfahren, nachdem die Ursachen ihrer Einführung verschwunden sind, und die so der Gesellschaft schädlich werden. „Alle Sitten, die nur vorübergehende Vorteile verschaffen, sind wie Gerüste, die man abbrechen muss, wenn die Paläste errichtet sind."

Das ist eine Theorie, die für das Naturgesetz, die absolute Gerechtigkeit, wenn überhaupt, so nur sehr wenig Raum lässt. Von Anfang an schien sie selbst Menschen wie Diderot gefährlich, der sie als ein Paradoxon behandelte. „In Wahrheit verändert das allgemeine und besondere Interesse die Ideen Gerecht und Ungerecht; aber ihr Wesen ist davon unabhängig." Was ist aber das Wesen dieser Ideen? Und wovon hängt es ab? Diderot sagt darüber nichts. Er gibt einige Beispiele, welche beweisen sollen, dass die Gerechtigkeit absolut ist. Diese Beispiele sind sehr mager! Einem, der vor Durst stirbt, zu trinken zu geben, ist das nicht immer und überall eine lobenswerte Handlung? Gewiss. Aber das beweist höchstens, dass es Interessen gibt, welche der Menschheit überall, in allen Jahrhunderten, in allen Phasen ihrer Entwicklung eigentümlich sind. „Zu trinken geben!", das bringt uns nicht weiter als die folgende Überlegung Voltaires: „Wenn ich von einem Türken, einem Cebern, einem Malabaren das Geld, das ich ihm geliehen habe, wieder fordere… „so wird er zugeben, dass es gerecht ist, mich zu bezahlen." … Ohne Zweifel! Aber wie mager ist diese absolute Moral, welch ehrbare Göttin sie immer sein mag! Locke sagte: „jene, welche die Existenz angeborener, praktischer Prinzipien behaupten, sagen uns nicht, was diese Prinzipien sind." Helvétius hätte dasselbe von den Anhängern der „universellen Moral" sagen können.

Es liegt auf der Hand, dass in dieser Frage der Moral die Ansicht des Helvétius allein mit den Prinzipien des materialistischen Sensualismus übereinstimmte. Er hat übrigens nur die Ideen Lockes, der sein Meister wie der Holbachs, Diderots und Voltaires war, wiederholt und entwickelt. „Gut und Böse sind für den englischen Philosophen nur Lust oder Schmerz oder das, was Lust oder Schmerz bewirkt und uns verschafft. Moralisch Gut und Böse ist dann nur die Übereinstimmung unserer gewollten Handlungen mit einem Gesetz oder ihre Abweichung davon, durch das Gut und Böse auf uns nach dem Willen und der Macht des Gesetzgebers gebracht wird." Lange vor Helvétius hat Locke gesagt: „Tugend wird gewöhnlich gebilligt …, weil vorteilhaft… Wer die Geschichte der Menschheit sorgfältig durchgeht und die verschiedenen Stämme der Menschen im Ausland betrachtet und mit Vorurteilslosigkeit ihre Handlungen prüft, wird imstande sein, sich davon zu überzeugen, dass kaum ein Prinzip der Moralität genannt oder eine Regel der Tugend gedacht werden kann (jene allein ausgenommen, die absolut notwendig sind, um die Gesellschaft zusammenzuhalten, die dazu noch zwischen verschiedenen Gesellschaften gewöhnlich vernachlässigt werden), die nicht irgendwo durch den allgemeinen Gebrauch ganzer Gesellschaften von Menschen geringgeschätzt oder verurteilt wird, welche ihrerseits von ganz entgegen gesetzten praktischen Ansichten und Lebensregeln regiert werden." Das ist gerade das, was uns Helvétius sagt. Nur hat noch Helvétius an rechter Stelle die Punkte über die „i" gesetzt. Indem er von der „Lust" und dem „Schmerz" ausging, stellte er sich die Aufgabe, durch das Interesse die historischen Veränderungen des Willens der Gesetzgeber zu erklären. Das war sehr logisch, zu logisch sogar für die französischen „Philosophen" des achtzehnten Jahrhunderts. In der Tat war die Partei der Philosophen eine kriegführende Partei. In ihrem Kampfe gegen das damals bestehende System empfand sie das Bedürfnis, sich auf eine weniger anfechtbare Autorität als die immer wechselnden Interessen der Menschen zu stützen. Diese Autorität sahen sie in der „Natur". Die auf diese Basis gegründete Moral und Politik war nicht weniger utilitarisch: salus populi war nicht weniger suprema lex.50 Aber dies Wohl war, wie man glaubte, unauflöslich an gewisse unwandelbare, für alle „empfindenden und vernunftbegabten Wesen" gleich gute Gesetze gebunden. Diese so begehrten und angerufenen Gesetze, ein idealer Ausdruck der sozialen und politischen Tendenzen der Bourgeoisie, nannte man natürliche Gesetze, und da man den psychologischen Ursprung der Gedanken, welche diese Gesetze begehrenswert erscheinen ließen, nicht kannte und sogar den logischen Ursprung dieser Gedanken vergaß, versicherte man, wie es Diderot in dem oben zitierten Artikel tat, dass ihr Wesen vom Interesse unabhängig sei. Das brachte die Philosophen fast wieder zu den seit Locke so verschrienen angeborenen Ideen zurück.

Es gibt keine angeborenen praktischen Prinzipien." Keine Idee ist von der Natur in unsere Seele geschrieben. Das sagte Locke, indem er hinzufügte, dass jede Sekte die Prinzipien für angeboren halte, die mit ihrem Glauben übereinstimmten. Die Philosophen verlangten nicht mehr. Die Existenz angeborener Ideen zuzugeben, wäre für sie soviel gewesen, wie sich den verachtungswerten „Prinzipien" einer „Sekte", der Parteigänger der Vergangenheit, zu unterwerfen. Die Natur hat nichts in unsere Seele geschrieben. Daher verdanken auch veraltete Einrichtungen und eine veraltete Moral ihre Existenz nicht der Natur. Dennoch gibt es ein natürliches Gesetz, ein universales und absolutes Gesetz, das die Vernunft mit Hilfe der Erfahrung entdecken kann. Nun war aber die Vernunft auf Seiten der Philosophen. Also musste die Natur zugunsten ihrer (der Philosophen) Tendenzen sprechen. Die „angeborenen Prinzipien" waren also die „Vergangenheit", die man vernichten musste; das natürliche Gesetz war die von den Neuerern angerufene Zukunft. Man hat den Dogmatismus nicht verlassen, man hat nur seine Grenzen erweitert, um für die Bourgeoisie einen freien Weg zu bahnen. Die Ansichten des Helvétius bedrohten diese neue Art von Dogmatismus. Daher wurden sie auch von der Mehrzahl der „Philosophen" nicht anerkannt. Aber das hinderte ihn nicht, der konsequenteste unter Lockes Schülern zu sein.

Seine Ansichten bedrohten nicht weniger die im achtzehnten Jahrhundert so sehr verbreitete Ansicht, dass die Welt von der öffentlichen Meinung regiert würde. Wir haben gesehen, dass nach ihm die Meinungen der Menschen von ihren Interessen diktiert werden; wir haben ebenfalls gesehen, dass diese Interessen nicht vom menschlichen Willen abhängen (man erinnere sich an den Fall mit den Wilden, die ihre Greise infolge einer ökonomischen Notwendigkeit töten). „Die Fortschritte der Bildung", mit deren Hilfe die Philosophen die ganze historische Bewegung erklären zu können glaubten, fingen also an, anstatt irgendetwas zu erklären, ihrerseits einer Erklärung zu bedürfen. Das Auffinden einer solchen hätte eine wahre Revolution in der „Philosophie" bedeutet. Helvétius schien die Konsequenzen einer solchen Revolution zu ahnen. Er gesteht, dass er bei dem Studium des Weges des menschlichen Geistes oft den Verdacht gehabt hat, dass „alles in der Natur sich von selbst auslöst und zur Reife gelangt", und dass „die Vollendung der Künste und Wissenschaften vielleicht weniger das Werk des Genies als der Zeit und der Notwendigkeit ist". Der „gleichförmige" Fortschritt der Wissenschaften in allen Ländern scheint ihm diese Ansicht zu bestätigen. „In der Tat, wenn man bei allen Nationen, wie Hume bemerkt, erst, nachdem man gute Verse geschrieben hat, dahin kommt, auch gute Prosa zu schreiben, so würde mir ein so beharrliches Fortschreiten der menschlichen Vernunft die Wirkung einer allgemeinen und dunklen Ursache zu sein scheinen."51

Nach allem, was der Leser von den historischen Ansichten unseres Philosophen weiß, muss ihm eine solche Sprache ohne Zweifel sehr vorsichtig und unentschlossen erscheinen. Aber gerade diese Sprache voll Unentschiedenheit zeigt, in welchem Grade dunkel die Begriffe waren, die sich in dem Kopfe des Helvétius mit den Worten Interesse, Bedürfnisse der Menschen verbanden, deren Sinn so klar und so wenig zweifelhaft erscheint.

Den Gesetzen und Sitten, wie bizarr sie uns auch scheinen mögen, liegt immer eine „wirkliche oder wenigstens vermeintliche Nützlichkeit" zugrunde. Was ist eine vermeintliche Nützlichkeit? Wovon hängt sie ab, wem verdankt sie ihren Ursprung? Sie verdankt ihn offenbar der Meinung der Menschen. Hier sind wir wieder bei dem Zirkel angekommen, dem wir entronnen zu sein glaubten: die Meinung hängt vom Interesse ab, das Interesse hängt von der Meinung ab. Und am merkwürdigsten ist, dass Helvétius gar nicht anders konnte, als zu dem Zirkel zurückzukehren. Er mochte immerhin den Ursprung der verschiedensten und seltsamsten Gesetze, Gebräuche und Meinungen mit den reellen Bedürfnissen der Gesellschaften verknüpfen. Am Schlusse seiner Analyse fand er sich stets einem Residuum gegenüber, das von seinen metaphysischen Reagenzien nicht zu lösen ist. Dies Residuum war vor allem die Religion.

Jede Religion entsteht aus der Furcht vor einer unsichtbaren Macht, aus der Unwissenheit der Menschen über die Kräfte der Natur. Alle primitiven Religionen gleichen einander. Woher kommt diese Gleichförmigkeit? Daher, dass Völker in derselben Lage immer denselben Geist, dieselben Gesetze, denselben Charakter haben. „Daher, dass die Menschen, welche von beinahe demselben Interesse bewegt werden, die beinahe dieselben Gegenstände miteinander zu vergleichen haben und dasselbe Instrument, das heißt denselben Geist für die Vergleichung besitzen, notwendigerweise zu denselben Resultaten haben kommen müssen. Weil im Allgemeinen alle stolz sind …, betrachten alle den Menschen als den einzigen Günstling des Himmels und als Hauptgegenstand seiner Sorgen." Und dieser Hochmut lässt die Menschen an alle die Dummheiten glauben, welche ihnen die Betrüger anschwindeln. Man öffne den Koran (Helvétius spricht scheinbar nur von „falschen Religionen"). Er kann auf tausenderlei Weise erklärt werden; er ist dunkel, unverständlich. Aber so groß ist die menschliche Blindheit, dass man noch jetzt dies von Lügen und Torheiten volle Buch, dies Werk, wo Gott als ein verdammenswürdiger Tyrann geschildert wird, für heilig hält. Daher ist das Interesse, welches die religiöse Leichtgläubigkeit entstehen lässt, nur ein Interesse der Eitelkeit, ein Interesse des Vorurteils. Anstatt uns zu erklären, woher die Gefühle der Menschen kommen, ist es selbst nur der Ausdruck dieser Gefühle. Die „Nützlichkeit" einer Religion ist nur eine „vermeintliche Nützlichkeit". Ein Philosoph des achtzehnten Jahrhunderts konnte dem „infamen" Feinde der Vernunft nichts anderes zugestehen.

Einmal die Eitelkeit und Unwissenheit, die Mutter der Furcht, gegeben, ist es leicht zu begreifen, durch welche Mittel die Diener der Religionen ihre Autorität vergrößern und bewahren. „In jeder Religion besteht die erste Aufgabe, welche sich die Priester stellen, darin, den Wissensdrang des Menschen zu betäuben und dem Auge die Prüfung jedes Dogmas zu entziehen, dessen zu greifbare Absurdität ihm nicht entgehen könnte. Um dahin zu gelangen, musste man den Leidenschaften der Menschen schmeicheln, so dass sie blind zu sein begehrten und ein Interesse hatten, es zu sein. Nichts leichter für den Bonzen" usw. Wir sehen einmal, dass die religiösen Dogmen und Gebräuche in überlegter Absicht von einigen schlauen, gierigen und kühnen Schuften erfunden werden; andererseits sehen wir, dass das Interesse der Völker, welches uns wenigstens den erstaunlichen Erfolg dieser Schufte erklären sollte, oft nur das „vermeintliche" Interesse von Blinden ist, die blind zu bleiben wünschen. Das ist offenbar nicht das reelle Interesse, nicht das „Bedürfnis", das alle Künste und Wissenschaften entstehen ließ.

Überall, wo Helvétius seine historischen Ansichten auseinandersetzt, schwankt er ohne Aufhören und ohne es zu bemerken zwischen diesen zwei einander diametral entgegen gesetzten Auffassungen des Interesses. Dies ist der Grund, weshalb er mit der Theorie nicht fertig wurde, nach der die Welt von der öffentlichen Meinung regiert wird. Einmal sagt er uns, dass die Menschen ihren Geist der Lage verdanken, in der sie sich befinden; ein andermal erscheint es ihm klar wie der Tag, dass die Menschen ihre Lage nur ihrem Geiste verdanken. Einmal sagt er uns, dass der Hunger eine Zahl von Künsten entstehen lässt, dass das gewohnheitsmäßige Bedürfnis immer erfindungsreich ist, was so viel sagen will, dass jede mehr oder weniger große Erfindung nur das Integral unendlich kleiner Erfindungen ist: ein andermal versichert er uns in seiner Polemik mit Rousseau, dass die Kunst des Ackerbaus „die Erfindung der Pflugschar, des Pfluges, des Schmiedens, also eine Unzahl von Kenntnissen im Bergbau, in der Kunst, Öfen zu bauen, in der Mechanik, in der Hydraulik voraussetzt". Diesmal ist also der Geist, die Wissenschaft die Quelle der Erfindungen, und bei endgültiger Analyse ist es die „öffentliche Meinung", welche die Fortschritte der Menschen bestimmt. Einmal zeigt uns Helvétius, wie die Gesetze, die Sitten und der Geschmack eines Volkes aus seiner „Lage", das heißt aus den „Künsten", den Produktivkräften, über die es verfügt, und den ökonomischen Verhältnissen, die daraus entstehen, sich ableiten; ein andermal erklärt er: „Von der Vollendung der Gesetze hängen die Tugenden der Bürger ab; und von den Fortschritten der menschlichen Vernunft die Vollendung dieser selben Gesetze." Einmal stellt er uns die willkürliche Gewalt als eine unvermeidliche Folge der stets wachsenden Ungleichheit in der Verteilung der Reichtümer dar; ein andermal schließt er wie folgt: „Der Despotismus, diese grausame Plage der Menschheit, ist am häufigsten ein Erzeugnis der nationalen Dummheit. Jedes Volk beginnt damit, frei zu sein. Welcher Ursache soll man nun den Verlust seiner Freiheit zuschreiben? Seiner Unwissenheit, seinem törichten Vertrauen auf Ehrgeizige. Der Ehrgeizige und das Volk sind das Mädchen und der Löwe der Fabel. Hat das Mädchen den Löwen einmal überredet, sich die Klauen schneiden und die Zähne abfeilen zu lassen, so übergibt es ihn den Schlächterhunden." Trotzdem Helvétius sich die Aufgabe gestellt hat, überall in der Geschichte das Interesse, diesen „einzigen Beweger der Menschen" zu suchen, kommt er auf die „öffentliche Meinung" zurück, welche, indem sie den Gegenständen mehr oder weniger Interesse beimisst, schließlich die absolute Herrin der Welt ist. Das „vermeintliche Interesse" ist die Klippe, an der er bei seinem wahrhaft grandiosen Versuch einer materialistischen Erklärung der menschlichen Entwicklung scheitert. In der Geschichte wie in der Moral wird sich dies Problem vom metaphysischen Standpunkt aus als unlösbar erweisen.

Wenn bei Helvétius das vermeintliche Interesse so häufig die Stelle des wirklichen Interesses einnimmt, mit dem er es allein zu tun haben wollte, so sehen wir dasselbe Unglück dem öffentlichen Interesse zustoßen, das vor dem Interesse der „Mächtigsten" verschwindet. Es ist unbestreitbar, dass das Interesse der Mächtigsten stets der Herr der Situation in jeder in Klassen geteilten Gesellschaft gewesen ist. Wie erklärt aber Helvétius diese unbestreitbare Tatsache? Bisweilen spricht er von der Gewalt, am häufigsten aber nimmt er seine Zuflucht „zur öffentlichen Meinung", da er wohl fühlt, dass die Gewalt nichts erklärt, weil sie in vielen Fällen, wenngleich nicht immer, auf Seiten der Unterdrückten war. Die Dummheit der Völker lässt sie den Tyrannen, den „müßigen Reichen", den Leuten, die nur an sich denken, gehorchen. Er, einer der glänzendsten Repräsentanten der französischen Bourgeoisie in der Zeit ihrer Blüte, ahnt nicht, dass in dem historischen Leben jeder Klasse der „Mächtigen" es eine Periode gibt, in der ihr „besonderes" Interesse auch das der fortschreitenden Bewegung und somit der ganzen Gesellschaft ist. Helvétius war zu sehr Metaphysiker, um diese Dialektik der Interessen zu erfassen. Während er wiederholt, dass einem jeden Gesetz, wie bizarr es immer erscheinen mag, ein wirkliches Interesse der Gesellschaft zugrunde liegt oder lag, sieht er im Mittelalter nur eine Zeit, in der die Menschen, wie Nebukadnezar, in Tiere verwandelt waren; die feudalen Gesetze erscheinen ihm als ein „Meisterwerk der Absurdität".52

Das wirkliche Bedürfnis führt zur Erfindung der nützlichen Künste. Jede Kunst, einmal erfunden und angewandt, veranlasst das Entstehen neuer „Künste" mit größerer oder geringerer Schnelligkeit und Fruchtbarkeit, je nach den Produktionsverhältnissen der Gesellschaft, in der sie das Licht erblickt. Die Aufmerksamkeit des Helvétius verbleibt nur einen Augenblick bei diesem Phänomen von „Künsten", die aus „wirklichen" Bedürfnissen entstehen und neue Bedürfnisse erzeugen, die nicht weniger wirklich sind und neue, nicht weniger nützliche Künste erzeugen. Er geht zu schnell zu den „angenehmen Künsten" über, deren Aufgabe es ist, die Reichen zu ergötzen und ihnen die Langeweile zu nehmen. „Wie viele Künste wären ohne die Liebe noch unbekannt!", ruft er aus. Mag sein! Aber wie viele Künste wären noch unbekannt ohne die kapitalistische Produktion der notwendigsten Gegenstände.

Was ist ein wirkliches Bedürfnis? Für unseren Philosophen ist es vor allem ein physiologisches Bedürfnis. Um aber ihre physiologisches Bedürfnisse zu befriedigen, müssen die Menschen bestimmte Gegenstände produzieren, und der Fortschritt dieser Produktion lässt andere Bedürfnisse entstehen, ebenso wirklich wie die ersten, deren Natur aber nicht mehr physiologisch ist; sie ist ökonomisch, da diese Bedürfnisse eine Folge der Entwicklung der Produktion und der gegenseitigen Beziehungen sind, welche die Menschen in dem Fortschritt der Produktion eingehen müssen. Helvétius führt auch einige dieser ökonomischen Bedürfnisse an; aber nur einige: meistens entgehen sie seinem Blick. Deshalb ist für ihn der stärkste Hebel der historischen Entwicklung der Gesellschaft die Vermehrung der Bürger, das heißt die Vermehrung der zu füllenden Mägen, zu bekleidenden Körper usw. Die Vermehrung der Bürger ist die Vergrößerung der Totalsumme der physiologischen Bedürfnisse. Helvétius will nicht in Betracht ziehen, dass die „Vermehrung der Bürger" ihrerseits von dem ökonomischen Zustand der Gesellschaft abhängt, obwohl er über diesen Gegenstand einige ziemlich klare Bemerkungen macht. Er ist aber weit davon entfernt, hierüber die klaren und genauen Gedanken seines Zeitgenossen Sir James Steuart zu hegen, der in seinem „Inquiry into the principles of political economy" usw. (zuerst London 1767) die „Vermehrung der Bürger" „moralischen", das heißt sozialen Ursachen zuschreibt, und der schon begreift, dass das einer Gesellschaft eigentümliche Bevölkerungsgesetz mit der Produktionsweise variiert, die in einer gegebenen Zeit dort vorherrscht. Übrigens enthalten die Ansichten des Helvétius keine solchen Plattheiten wie die eines Malthus.

Alles in der Natur vollzieht und bewirkt sich von selbst. Das ist der dialektische Gesichtspunkt. Helvétius ahnt nur, dass dieser Gesichtspunkt in der Wissenschaft der fruchtbarste und berechtigste ist. Die Ursache des „gleichförmigen" Fortschritts des menschlichen Geistes bleibt für ihn „dunkel". Sehr häufig denkt er nicht mehr an sie; er appelliert von ihr an den Zufall. „In der Moral wie in der Physik", sagt er, „erregt nur das Große unsere Aufmerksamkeit. Man nimmt stets bei großen Wirkungen große Ursachen an. Man will, dass himmlische Zeichen den Sturz oder die Revolutionen von Reichen anzeigen. Indes, wie viele Kreuzzüge wurden unternommen oder verschoben, wie viele Revolutionen vollendet oder gehindert, wie viele Kriege angefacht oder ausgelöscht durch die Intrigen eines Priesters, einer Frau oder eines Ministers. Nur aus Mangel an geheimen Memoiren findet man nicht überall den Handschuh der Herzogin von Marlborough wieder." Dieser Gesichtspunkt ist demjenigen gänzlich entgegengesetzt, nach welchem alles „sich von selbst vollzieht und bewirkt".

Das Prinzip des Lebens, das in einer majestätischen Eiche sich entwickelnd, ihren Schaft erhebt, ihre Zweige ausbreitet, ihren Stamm verdickt und sie über die Wälder herrschen lässt, ist das Prinzip ihres Untergangs." Hier spricht Helvétius noch einmal wie ein Dialektiker, der die Absurdität einer abstrakten und absoluten Gegenüberstellung des Nützlichen und Schädlichen begreift. Hier erinnert er sich noch einmal, dass ein jeder Prozess der Evolution seine immanenten und unwiderstehlichen Gesetze hat. Indem er von diesem Gesichtspunkt ausgeht, kommt er zu dem Schlusse, dass es kein „Spezifikum" gegen die Ungleichheit der „Vermögen" gibt, die auf die Länge unvermeidlich jede Gesellschaft ruinieren muss. Aber dies ist nicht sein endgültiger Schluss. Nur unter der „tatsächlich bestehenden Form der Regierungen" gibt es kein Spezifikum gegen dieses Übel. Bei einer rationelleren Form könnte man sehr viel gegen dasselbe ausrichten. Welches ist diese wohltätige Form der Regierung? Die, welche die von der Erfahrung unterstützte Vernunft entdecken wird. Die Philosophie kann sehr wohl das „Problem einer vollkommenen und dauernden Gesetzgebung“ lösen, die, einmal von einer Nation angenommen, die Quelle ihres Glückes sein wird. Eine vollkommene Gesetzgebung wird nicht die Ungleichheit der Vermögen verbannen, aber sie wird sie daran hindern, ihre schädlichen Wirkungen zu erzeugen. In seiner Eigenschaft als „Philosoph" setzt uns Helvétius in der Form eines „moralischen Katechismus" „die Vorschriften und Prinzipien einer Billigkeit" auseinander, deren „Nützlichkeit und Wahrheit"53 uns zugleich von der täglichen Erfahrung bewiesen wird und die als Basis für eine „vortreffliche" Gesetzgebung dienen sollen. Außerdem fügt er seinem Katechismus einige andere Züge einer solchen Gesetzgebung hinzu.

Das Buch „De l'Esprit" erschreckte die Anhänger des Naturrechts. Sie sahen in seinem Autor einen Feind dieses Rechts. Ihre Furcht war nur zur Hälfte begründet. Helvétius war nur ein verirrtes Schaf unter ihnen, das früher oder später auf den von der Herde eingeschlagenen Weg zurückkommen musste. Er, der keinen Platz mehr für das Naturrecht zu lassen schien; er, der die scheinbar absurdesten Gesetze und Gebräuche als vernünftig betrachtete, endigte mit der Behauptung, dass die Völker in ihren Einrichtungen sich dem Naturrecht um so mehr nähern, je größer der Fortschritt ihrer Vernunft ist. Er verbessert sich also, er kehrt in den Schoß der philosophischen Kirche zurück. Der Glaube, der heilige und rettende Glaube an die „Vernunft" trägt bei ihm über jede andere Betrachtung den Sieg davon. „Es ist Zeit, dass der Mensch, taub für die theologischen Widersprüche, nur auf die Lehren der Weisheit hört", ruft er aus; „erwachen wir … aus unserer Schlaftrunkenheit; die Nacht der Unwissenheit ist vorbei; der Tag der Wissenschaft ist gekommen."

Hören wir ein wenig die Stimme der „Vernunft", blättern wir in dem „moralischen Katechismus" ihres Interpreten.

F. (Frage.) Was macht das Eigentumsrecht so heilig, und weshalb hat man unter dem Namen Terminus daraus fast überall einen Gott gemacht?"

A. (Antwort.) Weil die Erhaltung des Eigentums der sittliche Gott der Staaten ist; weil es in ihnen den häuslichen Frieden erhält, die Billigkeit herrschen lässt; weil die Menschen sich nur deshalb vereinigt haben, um sich ihr Eigentum zu sichern; weil die Gerechtigkeit, die fast alle Tugenden in sich schließt, darin besteht, einem jeden das, was ihm gehört, zu geben, sich also auf die Aufrechterhaltung dieses Eigentumsrechts reduziert und weil endlich die verschiedenen Gesetze stets nur die Mittel gewesen sind, dies Recht den Bürgern zu sichern."

*

F. Gibt es nicht unter den verschiedenen Gesetzen solche, denen man den Namen natürliche gibt?"

A. Das sind diejenigen, welche, wie ich schon gesagt habe, das Eigentum betreffen, die man bei fast allen zivilisierten Nationen und Gesellschaften in Kraft findet, weil sich die Gesellschaften nur mit Hilfe dieser Gesetze bilden können."

*

F. Was soll ein Fürst tun, wenn er den Wunsch hat, die Wissenschaft der Gesetze zu verbessern?"

A. Er soll die Männer von Genie zum Studium dieser Wissenschaft ermutigen und sie damit beauftragen, die verschiedenen Probleme zu lösen."

F. Was wird dann geschehen?"

A. Die veränderlichen, noch unvollkommenen Gesetze würden aufhören, es zu sein, und unveränderlich und geheiligt werden…"

*

Das genügt! Die Utopie einer „vollkommenen Gesetzgebung" ist bei Helvétius wie bei Holbach, wie bei allen „Philosophen" des achtzehnten Jahrhunderts nur eine bürgerliche Utopie. Ihr wesentlicher Charakter wird durch einige unserem Autor eigentümliche Züge nicht verändert. Wir werden einige derselben nur anführen, um das Bild dieses Mannes zu vollenden, dessen moralische Physiognomie so oft von den Ideologen einer undankbaren Bourgeoisie entstellt worden ist.

In seiner vollendeten Gesellschaft lässt Helvétius die Arbeiter nicht so lange arbeiten, wie das bei uns der Fall ist. „Die weisen Gesetze", sagt er, „könnten ohne Zweifel das Wunder eines universellen Glückes bewirken. Alle Bürger haben etwas Eigentum. Alle sind in einem Zustand der Wohlhabenheit und können durch eine Arbeit von 7 oder 8 Stunden ihre und ihrer Familien Bedürfnisse im Überfluss befriedigen. Sie sind dann so glücklich, wie sie es nur sein können…" „Wenn die Arbeit allgemein als ein Übel betrachtet wird, so geschieht dies, weil man in der Mehrzahl der Staaten sich das zum Leben Notwendige nur durch eine übermäßige Arbeit verschafft, weil daher die Idee der Arbeit stets die Idee des Schmerzes in Erinnerung bringt."54

Die anziehende Arbeit Fouriers ist nur eine Entwicklung dieses Gedankens von Helvétius, wie der achtstündige Arbeitstag nur die Lösung ist, welche das Proletariat dem von einem bürgerlichen Philosophen gestellten Problem gegeben hat. Nur wird das Proletariat in seiner Bewegung zum „Glück" hier nicht haltmachen.

Helvétius ist für die öffentliche Erziehung. Nach ihm gibt es viele Gründe, die ihr stets den Vorzug vor dem privaten Unterricht geben. Er gibt nur einen, aber einen durchaus zureichenden an. Nur von dem öffentlichen Unterricht kann man Patrioten erwarten. Er allein kann in dem Gedächtnis der Bürger die Idee des persönlichen mit der des nationalen Glücks verbinden. Auch dies ist ein Gedanke eines bürgerlichen Philosophen, mit dessen Verwirklichung sich das Proletariat beschäftigen wird, indem es ihn nach den Bedürfnissen der Zeit erweitert.

Helvétius selbst aber erwartete, wie wir wissen, nichts vom Proletariat. Wem vertraute er also die Ausführung seines Planes an? Selbstverständlich einem fürstlichen Weisen. Da aber der Mensch nur das Produkt des ihn umgebenden Milieus ist, da ferner die Umgebung der Fürsten sehr lasterhaft ist, wie konnte man da vernünftigerweise das Erscheinen eines Weisen auf dem Thron erwarten? Unser Philosoph sieht sehr wohl, dass die Antwort nicht leicht ist. In seiner Verlegenheit nimmt er zur Theorie der Wahrscheinlichkeit seine Zuflucht. „Wenn in einer mehr oder weniger langen Zeit, wie die Weisen sagen, alle Möglichkeiten sich realisieren müssen, weshalb will man da an dem zukünftigen Glücke der Menschheit verzweifeln? Wer kann behaupten, dass die oben begründeten Wahrheiten ihr immer nutzlos sind? Es ist selten, aber in einer gegebenen Zeit notwendig, dass ein Penn(!), ein Manco Capoc (!!) geboren wird, um entstehenden Gesellschaften Gesetze zu geben. Nun aber vorausgesetzt …, dass ein solcher Mensch, nach neuem Ruhme gierig, unter dem Titel Menschenfreund seinen Namen der Nachwelt als heilig überliefern wollte, und dass dieser Mensch daher, mehr mit der Abfassung seiner Gesetze und dem Glücke der Völker als der Vermehrung seiner Macht beschäftigt, Glückliche und keine Sklaven machen wollte, so würde er ohne Zweifel … in den von mir soeben begründeten Prinzipien den Keim einer neuen und dem Glücke der Menschheit angemesseneren Gesetzgebung entdecken."55

Sobald die „Philosophen" die Frage nach dem Einfluss des Milieus auf das Individuum in Angriff nahmen, führten sie die Aktion dieses Milieus auf die Aktion der „Regierung" zurück. Helvétius tut es nicht so schnell wie die anderen. Eine Zeitlang sieht und erklärt er sehr deutlich, dass die Regierung ihrerseits nur ein Produkt des sozialen Milieus ist; er versteht mit mehr oder weniger Erfolg, das zivile, Straf- und öffentliche Recht seiner hypothetischen Insel aus dem ökonomischen Zustand dieser Insel abzuleiten. Aber sobald er zum Studium der Entwicklung der „Bildung", das heißt der Wissenschaft und Literatur übergebt, bemerkt er nur noch den Einfluss der Regierung, wie sich der Leser nach der vorausgegangenen Auseinandersetzung erinnert. Nun ist aber der unwiderstehliche Einfluss der Regierung eine Art Sackgasse, aus der man nur mittels eines Wunders, das heißt einer Regierung herauskommen kann, die sich plötzlich entscheidet, alle von ihr selbst oder den vorausgegangenen Regierungen bewirkten Übel zu heilen. Auch Helvétius ruft dies Wunder an und, um seinen eigenen Glauben wie den seiner Leser zu beleben, rettet er sich auf ein Gebiet, das ohne Grenzen scheint, auf das Gebiet der „Möglichkeiten".

Aber eine Theorie schafft noch keinen Glauben. Um wie viel weniger könnte das eine Theorie, die so wenig Gewissheit bietet wie die der Möglichkeiten, welche sich innerhalb einer mehr oder weniger langen Zeit verwirklichen. Helvétius bleibt also, wenigstens was Frankreich angeht, gänzlich ungläubig. „Mein Vaterland", sagt er in der Vorrede des Buches „De l'Homme", „ist endlich unter das Joch des Despotismus gebeugt worden. Es wird also keine berühmten Schriftsteller mehr produzieren… Dies Volk wird nicht mehr unter dem Namen des französischen berühmt werden: diese erniedrigte Nation ist heute der Gegenstand der Verachtung Europas. Keine heilsame Krisis wird ihr die Freiheit zurückgeben… Die Eroberung ist das einzige Heilmittel für ihr Unglück… Das Glück, wie die Wissenschaften, ist; wie man sagt, ein Reisender auf Erden. Nordwärts richtet es jetzt seinen Weg. Große Fürsten rufen dorthin das Genie und das Genie das Glück… Solchen Fürsten widme ich dies Buch." Es scheint uns, dass es gerade diese Ungläubigkeit, die nur ein geringes Gegengewicht in dem Vertrauen auf die Fürsten des Nordens fand, ihm möglich machte, seine Analyse der moralischen und sozialen Phänomene weiter als die anderen „Philosophen" zu bringen. Holbach war, wie Voltaire, ein unermüdlicher Propagandist. Er hat eine große Zahl von Büchern veröffentlicht, in denen er im Grunde stets dasselbe wiederholte. Helvétius hat nur das Buch „De l'Esprit" geschrieben; das andere, „De l'Homme", ist nur ein langer Kommentar des ersten. Der Autor hat es zu seinen Lebzeiten niemals drucken lassen wollen.

Wer die wahren Prinzipien der Moral", sagt unser Philosoph, „erkennen will, muss, wie ich, zum Prinzip des sinnlichen Empfindens sich erheben und in den Bedürfnissen des Hungers, des Durstes usw. die Ursache suchen, welche die zahlreich gewordenen Menschen zwingt, die Erde zu bebauen, sich zu vergesellschaften und untereinander Verträge einzugehen, deren Beobachtung die Menschen gerecht, deren Verletzung sie ungerecht macht." Er hat also seine Analyse in der Absicht unternommen, die wahren Prinzipien der Moral und damit die der Politik zu finden. Indem er sich zum Prinzip des „sinnlichen Empfindens" erhob, zeigte er sich als der konsequenteste, logischste der Materialisten des achtzehnten Jahrhunderts. Indem er in dem „Bedürfnis des Hungers, des Durstes usw." die Ursache der historischen Bewegung der Menschheit suchte, stellte er sich die Aufgabe, eine materialistische Erklärung dieser Bewegung zu finden. Er hat von weitem viele Wahrheiten gesehen, die unendlich mehr Wert haben als sein Plan einer vollendeten Gesetzgebung, als die unabänderlichen und absoluten „großen Wahrheiten", die er den Souveränen des ..Nordens" widmete. Er hat begriffen, dass es eine „allgemeine Ursache" in der menschlichen Entwicklung geben muss. Diese Ursache selbst kannte er nicht und konnte er nicht erkennen, weil es ihm an Tatsachen und der notwendigen Methode fehlte. Sie blieb „verborgen", „dunkel" für ihn. Aber das machte ihn nicht trostlos. Der Utopist tröstete den Philosophen in ihm. Der Hauptzweck wurde erreicht; die Prinzipien einer „ausgezeichneten" Gesetzgebung wurden ausgearbeitet.

Wie das Prinzip des sinnlichen Empfindens bisweilen Helvétius bei der Ausarbeitung seiner utopischen Pläne gedient hat, dies zu zeigen, werden zwei Beispiele genügen.

Ich bin", sagt er, „weder ein Feind der Schauspiele noch in diesem Punkte der Ansicht des Herrn Rousseau. Die Schauspiele sind ohne Widerspruch ein Vergnügen. Nun gibt es aber kein Vergnügen, das nicht in den Händen einer weisen Regierung ein die Tugend förderndes Prinzip werden könnte, wenn es deren Belohnung ist."56

Nun noch ein Plädoyer zugunsten der Ehescheidung. „Wenn es überdies wahr ist, dass der Wunsch nach Abwechslung so sehr mit der menschlichen Natur übereinstimmt, wie man sagt, so könnte man also die Möglichkeit eines Wechsels als die Belohnung des Verdienstes vorschlagen: man könnte also dadurch die Krieger tapferer, die Beamten gerechter, die Handwerker fleißiger und die Leute von Genie eifriger zu machen versuchen." Die Ehescheidung als Preis der „Tugend"! Kann es etwas Komischeres geben?

Wir wissen, dass, sind die Prinzipien einer ausgezeichneten Gesetzgebung einmal „realisiert, die veränderlichen, noch unvollkommenen Gesetze aufhören, es zu sein, und unveränderlich werden". Die Gesellschaft wird sich also in einem stationären Zustand befinden. Was werden die Konsequenzen eines solchen Zustandes sein? „Setzen wir voraus, dass in den Wissenschaften und Künsten aller Art die Menschen alle bereits bekannten Gegenstände und Tatsachen untereinander verglichen hätten und endlich dahin gelangt wären, alle ihre verschiedenen Beziehungen zu entdecken: so würde, da die Menschen dann keine neuen Kombinationen mehr zu machen hätten, das, was man Geist (esprit) nennt, nicht mehr existieren. Alles würde dann Wissenschaft (science) sein, und der menschliche Geist wäre gezwungen, so lange zu ruhen, bis ihm die Entdeckung unbekannter Tatsachen von neuem ihre Vergleichung und Kombination gestatten würde, einem erschöpften Bergwerk gleich, das man bis zur Bildung neuer Gänge ruhen lässt."57

Diese Ruhe also, diese Erschöpfung des menschlichen Geistes musste, wenigstens was die sozialen Beziehungen der Menschen angeht, die Realisation der moralischen und politischen Prinzipien des Helvétius unvermeidlich mit sich führen. Die Stagnation, das ist also das Ideal dieser Philosophen, der fanatischen Anhänger der fortschrittlichen Bewegung! Der metaphysische Materialismus war nur zur Hälfte revolutionär. Die Revolution war für ihn nichts anderes als ein Mittel (und auch das nur mangels friedlicher Mittel), ein für allemal in einen sicheren und ruhigen Hafen zu gelangen. Zwei Seelen lebten, ach! in ihm, wie in Faust und in der Bourgeoisie, deren vorgeschrittenste Vertreter die Materialisten des achtzehnten Jahrhunderts waren.

1 Histoire de la litterature francaise depuis ses origines jusqu'à nos jours par Demogeot. 22. Ausgabe, Paris 1886, S. 493, 494. Dies Buch ist ein Teil der „Histoire universelle“, die von einer Gesellschaft von Professoren unter Leitung von V. Duruy publiziert wird.

2 Auch die Gegenpartei muss gehört werden. Die Red.

3 „Wie muss man sich vor den Illusionen der Systemsucht hüten: Helvétius hatte Tugenden, und sein Buch ist die Vernichtung aller Tugend." La Harpe, Refutation du »vre De l'Esprit, prononcee au Lycee Republicain, dans les seances des 26 et 29 mars et des 3 et 5 avril. Paris, an 5 (1797), S. 54.

4 Der Wille des Herrschers ist oberstes Gesetz. Die Red.

5 Auch Marat liebte den Helvétius gar nicht. Für ihn war dieser Philosoph nur ein „verkehrter und oberflächlicher Kopf", sein „System" absurd, sein Buch ein „fortlaufendes Gewebe von Sophismen, sorgfältig mit dem Aufputz einer großen Gelehrsamkeit geziert". (Vergl. De l'Homme ou des principes et des lois de l'influence de l'âme sur le corps et du corps
sur l’âme
par J. P. Marat, docteur en mediane, Amsterdam 1775, S. XV, XVI des Discours preliminaire.) Aber dies Buch Marats gehört nicht der revolutionären Periode seines Lebens an. Außerdem sind die Meinungen von Revolutionären nicht immer revolutionäre Meinungen. Für Marat ist „der Mensch wie das Tier aus zwei verschiedenen Substanzen' zusammengesetzt, der Seele und dem Körper"…Die ewige Weisheit" hat die Seele in die Hirnhäutchen (!) gesetzt. „Der Saft der Nerven ist der Ort des Verkehrs zwischen den beiden disparaten Substanzen." „Bei den maschinenähnlichen Bewegungen ist das nervöse Fluidum die hauptsächlich wirkende Kraft. Bei den freien Handlungen ist es der Seele untergeordnet und wird das Mittel, dessen sie sich bedient, um jene auszuführen." (I, S. 24, 40, 107.) Dies alles ist von geradezu seltener Plattheit. In der Art, seine Vorgänger zu behandeln und in seiner erregbaren Eigenliebe hat Marat viel Ähnlichkeit mit Dühring.

6 Missverständnis, Verwechslung. Die Red.

7 Geschichte des Materialismus, 2. Auflage, Iserlohn 1873, I, S. 360.

8 Bréviaire de l'histoire du Matérialisme, Paris 1883, S. 645, 646

9 Nach Helvétius ist für uns nur unsere eigene Existenz evident; die Existenz der Körper ist nur eine Wahrscheinlichkeit, „eine Wahrscheinlichkeit, die ohne Zweifel sehr groß und im praktischen Leben so gut wie Evidenz, indes nur Wahrscheinlichkeit ist". Jeder andere, der etwas Ähnliches gesagt hätte, wäre von Lange unter die Zahl der „kritischen" Köpfe gezählt worden. Helvétius aber kann kein „Kritizismus" rehabilitieren und von ihm das Mal der „Oberflächlichkeit" tilgen, das dem gründlichen Geschichtsschreiber des Materialismus vor allem in die Augen sprang.

10 De l'Esprit, Discours I, 4. Kapitel.

11 Offenbar veranlasste es diese Verwandtschaft, dass man Helvétius das Buch: „Les progrès de la Raison dans la recherche du vrai" zuschrieb, das in der Pariser Ausgabe seiner Werke von 1818 wieder abgedruckt ist. Keine Seite in diesem Buch ist original. Es ist teilweise eine Übersetzung eines Teils der „Briefe an Serena" von Toland, an die einige Stücke aus dem „Système de la Nature" und anderen mehr oder weniger bekannten Büchern dieser Zeit angehängt sind. Das Ganze ist von dem unbekannten „Verfasser" sehr schlecht zusammengefügt und sehr schlecht begriffen. Helvétius konnte mit einem solchen Produkt nichts gemein haben.

Es gibt noch ein anderes Buch, das man ihm zugeschrieben hat: „Le vrai sens du Système de la Nature". Vielleicht gehört es ihm, aber wir sind dessen nicht sicher und werden es um so weniger zitieren, als es nichts zu dem hinzufügt, was man in den Büchern „De l'Esprit" und „De l'Homme" findet.

12 Geschichte des Materialismus, I, S. 378. Wunderbarerweise findet Lange bei Robinet ein „Element" der Kantischen Lehre. Aber Robinet sagt über das Ding an sich nur das, was Holbach und Helvétius sagen. Es ist nicht weniger sonderbar, dass der Verfasser des Buches „De la Nature" von Lange unter die Materialisten gerechnet, während Helvétius nur in ihre Nähe gestellt wird. Ein seltsames Kriterium, das Lange befolgt!

13 Zitiert in „De l'Homme", 2. Abschnitt, 2. Kapitel. In der Ausgabe von 1773 dieses Werkes wird gesagt, dass dies Zitat aus dem „Treatise on the principles of Chemistry" stammt. Wir haben diese Abhandlung nicht finden können. Es möge hier aber folgen, was Priestley in seiner Diskussion mit Price sagt: „Um meine Ansicht, wenn möglich, noch klarer zu machen, will ich den folgenden Vergleich brauchen. Die Fähigkeit zu schneiden in einem Rasiermesser hängt von einer bestimmten Kohäsion und Anordnung der Teile ab, aus denen es besteht. Wenn wir annehmen, dass dies Rasiermesser gänzlich in einer Säure aufgelöst wird, so wird sicher seine Fähigkeit zu schneiden verlorengehen oder zu sein aufhören, obschon kein Teilchen des Metalls, welches das Rasiermesser darstellte, durch den Prozess vernichtet wird, und seine frühere Gestalt und Fähigkeit zu schneiden usw. wiederhergestellt werden kann, nachdem das Metall ausgeschieden worden ist. In derselben Weise hört, wenn der Körper durch Fäulnis aufgelöst wird, seine Fähigkeit zu denken gänzlich auf…" (A free discussion of the doctrine of materialism usw., London 1778, S. 82, 83.) Dies ist genau der Gesichtspunkt des von Helvétius zitierten Chemikers. Wir haben hier nichts mit den religiösen Ideen zu tun, die Priestley mit seinem Materialismus zu versöhnen wusste. Wir haben ebenso wenig nötig, zu bemerken, dass die chemischen Ideen der Materialisten des vergangenen Jahrhunderts nicht die unserer Zeit sind.

14 De l'Homme, 2. Abschnitt, 10. Kapitel. Helvétius weiß wohl, dass wir mit Gedächtnis begabt sind. Aber das Organ des Gedächtnisses ist physisch, sagt er, und sein Amt besteht darin, uns die vergangenen Eindrücke gegenwärtig zu machen. Deshalb muss es in uns wirkliche Empfindungen hervorrufen; alles kommt also auf die Empfindungsfähigkeit zurück; alles im Menschen ist Empfinden.

15 Ebenda 16. Kapitel, letzte Anmerkung dieses Kapitels.

16 Das Wohl des Volkes ist oberstes Gesetz. Die Red.

17 Ch. Darwin hat sehr gut begriffen, was die Moralphilosophen nur selten begreifen. „Die Philosophen … haben früher angenommen, dass die Moral auf einer Art Egoismus beruhte; aber kürzlich ist das ‚Prinzip des größten Glückes' in den Vordergrund getreten. Es wäre jedenfalls kor­rekter, dies letztere Prinzip vielmehr als einen Maßstab denn als ein Motiv des Handelns zu betrachten." Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl. Stuttgart 1875, S. 154.

18 Système de la Nature, I, S. 268.

19 Geschichte des Materialismus, I, S. 363.

20132 Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts, Braunschweig 1881, II, S. 398.

21 De l'Homme, 4. Abschnitt, 4. Kapitel; De l'Esprit, Discours III, 15 Kapitel.

22 Ebenda 2. Abschnitt, 10. Kapitel.

23 De l'Esprit, Discours III, 9. Kapitel.

24 Abstammung des Menschen. Übersetzt von Carus, Stuttgart 1875, S. 166.

25Zu deutsch:

Aus jedem Ding

Könne jegliche Art erwachsen,

-----------------------------------------------------

Noch pflegten die Bäume immer dieselben Früchte zu tragen,

Sondern wechselnde: jegliches könne jegliches hervorbringen.

26 De l'Homme, 4. Abschnitt, 6. Kapitel.

27 Ebenda 4. Abschnitt, 10. Kapitel, letzt» Anmerkung diases Kapitels.

28 Ebenda 4. Abschnitt, 22. Kapitel.

29 Ebenda 8. Abschnitt, 4. Kapitel.

30 Refutation du livre De l'Esprit, S. 5.

31 Helvétius empfiehlt, dem Beispiel der Geometer zu folgen: „Was tun sie, wenn man ihnen ein kompliziertes mechanisches Problem stellt? Sie vereinfachen es; sie berechnen die Geschwindigkeit der sich bewegenden Körper ohne Rücksicht auf ihre Dichte, den Widerstand der sie umgeben­den Flüssigkeiten oder die Reibung der anderen Körper usw." (De l'Homme, 9. Abschnitt, 1. Kapitel.) Fast mit denselben Worten empfiehlt Tscher­nyschewski die Vereinfachung der Probleme der politischen Ökonomie. — Man klagte Helvétius an, Sokrates und Regulus verleumdet zu haben. Was Tschernyschewski von dem berühmten Selbstmord der keuschen Lucretia sagt, welche ihre Schande nicht überleben wollte, erinnert erstaunlich an die Betrachtungen des Helvétius über den heroischen Gefangenen der Karthager. Tschernyschewski glaubte, dass die politische Ökonomie sich in der Hauptsache nicht mit dem, was ist, sondern mit dem, was sein soll, zu beschäftigen habe. Damit vergleiche man nun, was Helvétius in einem Briefe an Montesquieu sagt: „Erinnern Sie sich, dass ich in der Diskussion mit Ihnen (über die ,Principes' Montesquieus) in Brède zugab, dass sich dieselben auf die tatsächlichen Verhältnisse bezögen; dass sich aber ein Schriftsteller, der den Menschen nützen will, mehr mit den wahren Maxi­men in einer besseren, zukünftigen Ordnung der Dinge als mit der Heilig­sprechung solcher Grundsätze beschäftigen soll, die von dem Augenblick an gefährlich sind, wo sich das Vorurteil ihrer bemächtigt, um sich ihrer zu bedienen und sie fortzupflanzen." (Vergl. Œuvres complètes d'Helvétius, Paris 1818, III, S. 261.) Man könnte diesem merkwürdigen Beispiel noch viele andere hinzufügen. Aber wir ziehen es vor, diese Übereinstimmung in den Ansichten der beiden um ein Jahrhundert voneinander getrennten Schriftsteller in dem Maße aufzuzeigen, wie sich uns die Gelegenheit dazu in unserer Auseinandersetzung der Theorien des Helvétius bieten wird.

32 „Descartes", sagt Flint, „zeigt gelegentlich an vielen Stellen seiner Schriften, dass er soziale Tatsachen mit klarem, scharfem Auge betrachtete. Dasselbe gilt von Malebranche." Aber derselbe Flint erkennt an, „dass Descartes von einer Geschichtswissenschaft keinen Begriff hatte", und dass „erst seit dem Verfall des Kartesianismus die Geschichtswissenschaft in Frankreich zu blühen begann". (Vergl. „The Philosophy of History in France and Germany", Edinburgh and London 1874, S. 76-78.)

33 Refutation du livre De l'Esprit, S. 57, 61, 63, 68, 69.

34Nouvelle refutation du livre De l'Esprit. A Clermont-Ferrand 1817, S. 46. Die Beweisführung des anonymen Autors dieses Buches ist der des sehr gelehrten — „Gelehrten!" — Damiron analog. Am Anfang des Buches vom „Geiste" sagt Helvétius, dass der Mensch seine intellektuelle Überlegenheit gegenüber den Tieren unter anderem der Struktur seiner Extremitäten verdankt. „Ihr denkt", donnert Damiron, „dass man einem Pferde mit den Händen des Menschen zugleich auch dessen Verstand geben wird. Nichts derart wird eintreten; man wird es nur unfähig machen, als Pferd zu leben." (Memoires pour servir à l'histoire de la Philosophie au XVIIle siecle, Paris 1858, I, S. 406.) Ein guter Theologieprofessor in Petersburg bekämpfte die Theorie Darwins in ähnlicher Weise: „Werft ein Huhn ins Meer", sagte er, „nach Darwin wird es sofort Schwimmhäute an seinen Füßen haben, und ich sage euch, das arme Tier wird jämmerlich umkommen."

35 The Theory of moral sentiments, London 1873, S. 12/13. Die Schrift erschien zuerst 1757.

36 A. a. O., S. 8, 10.

37 „Wir lieben unser Land nicht nur deshalb, weil es ein Teil der großen Gesellschaft des Menschengeschlechts ist; wir lieben es um seiner selbst willen und unabhängig von jeder anderen Betrachtung. Die oberste Weisheit, die das System der menschlichen Neigungen wie das aller anderen Teile der Natur regelte, scheint der Ansicht gewesen zu sein, dass das Interesse der großen menschlichen Gesellschaft am besten gefördert werde, wenn die Hauptaufmerksamkeit eines jeden Individuums auf jenen besonderen Teil derselben gerichtet sei, der seinen Fähigkeiten und seinem Verständnis am nächsten liegt." S. 203, 204 der bereits zitierten englischen Ausgabe.

38 The Theory of moral sentiments, S. 281.

39 Dies ist sehr einfach und scheint doch schwer zu begreifen. „Jeden­falls ist die Tugend vorteilhaft", sagt Huxley; „aber der Mensch, dem die Wege der Tugend immer angenehm erscheinen, ist doch beneidenswert… Die Berechnung des größten Glückes kann nicht so leicht wie eine Regel de tri aufgestellt werden"; „das Moralgesetz hat schließlich instinktive Vorstellungen zur Basis…" (Hume, sa vie, sa Philosophie, traduit par G. Compayre, Paris 1880, S. 281, 284.) Wenn der große englische Natur­forscher mit solchen Überlegungen die materialistische Moral des acht­zehnten Jahrhunderts umzustürzen glaubt, so täuscht er sich sehr und vergisst seinen Darwin. Übrigens hat er wahrscheinlich nur die Epigonen, wie Bentham und J. S. Mill, im Auge. In dem Fall hat er recht.

40 De l’Esprit, Discours III, 22. Kapitel

41 Holbach teilt diese Meinung des Helvétius, den er übrigens einen „berühmten Moralisten“ nennt, nicht. Für ihn „ist es eine Täuschung, zu glauben, dass die Erziehung alles am Menschen machen kann; sie kann nur die Materialien, welche die Natur ihr bietet, verwenden. Sie kann nur mit Erfolg auf einem Boden säen, den die Natur ihr biete“ (Vergl. „La Morale universelle“, 5. Abschnitt, 3. Kapitel; vergl. Auch dasselbe Werk, 1. Abschnitt, 4. Kapitel) Holbach fragt auch nicht nach dem Bestandteil, den die Gesellschaft in dem, was er die Natur des Individuums nennt, ausmacht. Übrigens weiß Helvétius selbst, dass seine Ansicht keines strengen Beweises fähig ist. Er glaubt nur, dass man wenigstens behaupten kann, „dass dieser Einfluss (der der Organisation der ‚durchschnittlich gut' konstituierten Menschen auf ihren Geist) so gering ist, dass man ihn als eine der unwichtigen Größen betrachten kann, die man bei den algebraischen Rechnungen vernachlässigt, und dass man sehr gut durch moralische Ursachen (das heißt durch den Einfluss des sozialen« Milieus. G. P.) das erklärt, was man bisher der Physik zugeschrieben hat und durch diese Ursache nicht hat erklären können". Tschernyschewski spricht fast in ganz denselben Ausdrücken von dem Einfluss der Rasse auf die historischen Schicksale der Völker.

42 Dies bringt uns zum Einfluss des Klimas zurück. Aber der Leser sieht, dass es nicht mehr der unmittelbare Einfluss des Klimas auf die Moral des Menschen ist, von dem Montesquieu spricht. Nach Helvétius macht sich dieser Einfluss durch das Mittel der Künste, das heißt durch eine mehr oder weniger schnelle Entwicklung der Produktionskräfte geltend. Das ist ein ganz verschiedener Gesichtspunkt.

43 Was die Franzosen seiner Zeit angeht, so bemerkt Helvétius, dass die französische Nation nicht heiter sein könne, da „unglückliche Zeiten die Fürsten gezwungen hätten, bedeutende Steuern auf das Land zu legen, so dass die Klasse der Landleute, welche allein zwei Drittel der Nation ausmacht, in Not lebe, und die Not niemals heiter sei". Er verspottet die Art und Weise, wie man die Nationalcharaktere beschreibt. „Nichts im allgemeinen lächerlicher und falscher als die Bilder, die man von dem Charakter der verschiedenen Völker entwirft. Die einen malen ihre Nation nach ihrer Gesellschaft und stellen sie dementsprechend als trau­rig, heiter, grob, geistreich dar… Andere kopieren, was Tausende von Schriftstellern vor ihnen geschrieben haben; niemals haben sie den Wan­del untersucht, den die in der Regierung und in den Sitten eingetretenen Veränderungen notwendigerweise im Charakter einer Nation hervorrufen müssen." (De l'Esprit, Discours III, 30. Kapitel.)

44 Katharina II. gelang es, Helvétius, wie so viele andere, zu täuschen. Er spricht von ihr immer mit großer Bewunderung Er. ist überzeugt, dass die Messalina des Nordens Polen im Interesse der Toleranz angegriffen habe.

45 Was Helvétius von unseren Urteilen über die Schönheit sagt, ist gewissermaßen der Keim der ästhetischen Theorie Tschernyschewskis. Aber nur der Keim. Die Analyse des russischen Schriftstellers geht auf diesem Gebiet viel weiter und kommt zu viel wichtigeren Resultaten.

46 Wir wollen nur im Vorbeigehen bemerken, dass Holbach die „Vermehrung der Bürger" von dem direkt entgegen gesetzten Standpunkt betrachtete. Für ihn bedeutete sie nur die Vermehrung der Kraft und des Reichtums des Staates. Er stimmt hierin mit der Mehrzahl der Schriftsteller des achtzehnten Jahrhunderts überein.

47 So äußert er sich in dem Buche „De l'Homme"; in dem Buche „De l'Esprit" drückt Helvétius seine Meinung nicht in klarer Weise aus, aber er lässt bereits ahnen, dass die Frage des Luxus nicht so leicht zu lösen ist, wie die „Moralisten" vorgeben. Diderot äußert sich, dass, die den Luxus betreffende Stelle eine der besten des Buches sei. (Vergl. seine Œuvres, I, 1. Teil, Artikel: Über das Buch „De l'Esprit".)

48 Helvétius kennt Gesellschaften, wo das „Geld Kurs hat"; er kennt andere, wo dies nicht der Fall ist. Aber hier wie dort kleiden sich die Produkte für ihn immer in Warenform. Dies erscheint ihm ebenso natürlich wie das Privateigentum. Seine ökonomischen Ansichten lassen im Allgemeinen viel zu wünschen. Diejenigen von ihnen, die am besten begründet und am meisten überlegt sind, übertreffen die ökonomischen Ansichten des D. Hume nicht.

49 Politique naturelle, London 1773, I, S. 37, 38.

50 Übrigens war der populus, dessen salus man wollte, nicht immer das arbeitende und produzierende Volk. Nach Voltaire könnte das Menschen­geschlecht nicht existieren, wenn es nicht eine „Unzahl nützlicher Men­schen, die nichts besitzen, gäbe…" „Man braucht Menschen, die nur ihre Arme und guten Willen haben… Es wird ihnen freistehen, ihre' Arbeit an den, der sie am besten bezahlt, zu verkaufen." (V. Dictionnaire philosophique, Artikel Egalité und Propriété.) — (Salus populi — suprema lex: Das Wohl des Vqlkes ist oberstes Gesetz. Die Red.)

51 De l'Homme, 2. Abschnitt, 23. Kapitel.

52 Vergl. seine „Pensées et réflexions" im 3. Band seiner Œuvres completes, Paris 1818, S. 314.

53 De l'Homme, 10. Abschnitt, 7. Kapitel.

54 De l'Homme, 8. Abschnitt, 1. und 2. Kapitel.

55 De l'Homme, 8. Abschnitt, 26. Kapitel

56 De l'Homme, 1. Abschnitt, 10. Kapitel, Note.

57 De l'Homme, 2. Abschnitt, 15. Kapitel, Note. Helvétius nennt hier den Geist den „Komplex neuer Ideen", Wissenschaft die Erwerbung bereits von der Menschheit gekannter Ideen.

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