Kapitel XXXII

Kapitel XXXII

Wir sind ehrliche Leute: die Gerechtigkeit wird nach den gewöhnlichen Gesetzen ausgeübt werden. Wir werden nur zum Gesetze unsere Zuflucht nehmen.“

Thiers zur Nationalversammlung, 22. Mai 1871.

Honest, honest Jago!“ (Ehrlicher, ehrlicher Jago!)

Shakespeare.

Die Gräuel von Versailles. Die Schlachtbänke. Die Prevotalgerichte. Varlins Tod. Die Einscharrung.

Die Ordnung herrschte in Paris. Überall Ruinen, Tote, unheimliches Knattern der Gewehre. Die Offiziere machten sich in den Straßen breit und ließen herausfordernd ihre Säbel rasseln. Die Unteroffiziere taten es ihnen an Arroganz gleich. Die Soldaten biwakierten auf allen Hauptstraßen, einige, durch die Ermüdung und das Gemetzel abgestumpft, schliefen auf den Trottoirs, andere kochten ihre Suppe neben den Leichen, indem sie die Lieder ihrer Heimat sangen.

Die Tricolore hing zu allen Fenstern heraus, um die Haussuchungen abzuwenden. Flinten, Patronentaschen, Uniformen lagen in den Gassen der Volksviertel aufgehäuft. Unter den Türen saßen Frauen, den Kopf in die Hände gestützt, starr vor sich hinsehend, einen Sohn oder Gatten erwartend, der nicht wiederkehren sollte.

In den reichen Vierteln tobte die Freude. Die Francs-fileurs der beiden Belagerungen, die Manifestanten des Vendômeplatzes, viele Ausgewanderte von Versailles hatten von den Boulevards wieder Besitz ergriffen. Seit Donnerstag lief dieser behandschuhte, in Seide gehüllte Pöbel den Gefangenen nach, jauchzte den Gendarmen zu, welche die Züge führtenA und jubelte beim Anblick der blutigen Möbelwagen. Die Philister wetteiferten mit dem Militär an Ausgelassenheit. Leute, die nicht über das Café Helder hinausgekommen waren, erzählten die Einnahme von Château d’Eau, oder rühmten sich, ein Dutzend Gefangener erschossen zu haben. Ausgelassene, elegante „Damen“ machten sich ein Vergnügen daraus, die Leichen zu betrachten, und hoben mit ihren Sonnenschirmen die letzte Bekleidung der tapferen Toten auf, um sich daran zu ergötzen. „Einwohner von Paris“, sagte MacMahon, am Mittag des 28., „Paris ist befreit. Heute ist der Kampf zu Ende, Ordnung, Arbeit und Sicherheit werden aufleben.“

Das befreite Paris wurde in vier Kommandos unter die Befehle der Generale Vinoy, Ladmirault, Cissey und Douay eingeteilt und wieder in den Belagerungszustand versetzt, den die Kommune aufgehoben hatte. Es gab in Paris nur noch eine Regierung, die Armee, welche Paris zerfleischte. Die Vorübergehenden wurden gezwungen, die Barrikaden abzuräumen, und jedes Zeichen von Ungeduld zog die Verhaftung, jeder Fluch den Tod nach sich. Man verkündigte durch Anschlagzettel, dass jeder Besitzer einer Waffe augenblicklich vor ein Kriegsgericht gestellt, dass über jedes Haus, aus dem geschossen würde, eine summarische Exekution verhängt würde. Alle öffentlichen Lokale wurden um 11 Uhr abends geschlossen. Von dieser Stunde an konnten nur Offiziere in Uniform frei umhergehen, berittene Patrouillen durchzogen die Straßen. Es war schwer zur Stadt herein, unmöglich hinaus zu gelangen. Da die Marktleute nicht aus und ein konnten, wären die Lebensmittel beinah ausgegangen. Nach beendigtem Kampfe verwandelte sich die Armee in ein ungeheures Exekutionspeloton. Am Sonntag wurden mehr als 5000 Gefangene, die in der Umgegend des Père Lachaise aufgegriffen waren, in das Gefängnis la Roquette geführt. Ein Bataillonschef stand am Eingang und musterte die Gefangenen, ohne an einen Einzigen eine Frage zu stellen, indem er nur „rechts“ oder „links“ sagte. Die zur Linken wurden sogleich erschossen. Man leerte ihnen die Taschen, lehnte sie an eine Mauer und machte sie nieder. Der Mauer gegenüber hielten zwei oder drei Pfaffen sich die Breviere vor die Nase und murmelten die Gebete der Sterbenden.

Von Sonntag bis Montag früh mordete man allein in Roquette auf diese Weise mehr als 1900 Personen. Das Blut floss in Strömen in den Gossen des Gefängnisses, dieselbe blindwütige Schlächterei ging in MazasB, in der École Militaire, im Park Monceau vor sich.

Das waren die Schlächtereien sans phrase. Noch schrecklicher vielleicht waren die legalen Metzeleien, die Prevotalgerichte, mit denen Paris seit Montag angefüllt war. Sie kamen nicht von Ungefähr und, wie man glaubte, in Folge der Wut des Kampfes auf. Vor dem 3. Kriegsgericht kam es zur Sprache, dass die Zahl, der Sitz, die topografischen Grenzen der Gerichtsbarkeit dieser Gerichtshöfe in Versailles vor dem Einmarsch der Truppen bestimmt worden waren.

Einer der berüchtigsten ist der des Theaters Châtelet, wo sich der Oberst Vabre befand. Die Tausende von Gefangenen, die man dorthin führte, waren zuerst auf der Bühne und im Saal unter den Flinten der in den Logen postierten Soldaten eingepfercht. Hierauf drängte man sie nach und nach, wie die Schafe zur Schlachtbank, von Korridor zu Korridor gegen das Foyer, wo an einem großen Tische Offiziere der Armee und der loyalen Nationalgarde, den Säbel zwischen den Beinen, die Zigarre im Munde, saßen.C Das Verhör dauerte eine Viertelminute. „Haben Sie Waffen getragen? Haben Sie bei der Kommune gedient? Zeigen Sie Ihre Hände!“ – Wenn die entschlossene Haltung eines Gefangenen einen Kämpfer verriet, wenn sein Gesicht nicht gefiel, erklärte man ihn, ohne nach seinem Namen, nach seinem Berufe zu fragen, ohne in irgend ein Register ein Zeichen einzutragen, für abgetan. „Und Sie?“ ging es dann weiter, und so fort bis ans Ende der Reihe, ohne die Frauen, Greise und Kinder auszunehmen. Wenn durch eine Laune irgend ein Gefangener verschont blieb, so wurde er als „Gewöhnlicher“ bezeichnet und für Versailles aufgespart. Niemand wurde freigegeben.

Frisch weg überlieferte man die „Abgetanen“ den Henkern, die sie in den Garten oder den nächsten Hof führten. Von Châtelet z. B. wurden sie in die Kaserne Lobau geführt. Hier, nachdem kaum die Türen geschlossen waren, gaben Gendarmen Feuer, ohne nur die Opfer vor einem Peloton zu gruppieren. Einige, die schlecht getroffen waren, flohen die Mauer entlang. Die Gendarmen machten Jagd auf sie und schossen sie wie das Wild nieder, bis Alle tot waren. Moreau vom Zentralkomitee starb bei einer dieser Massenabschlachtungen. Donnerstag Abend wurde er in der Rue Rivoli ergriffen, nach Châtelet geführt und Tags darauf erschossen. Die vom Prevotalgericht im Luxembourg Verurteilten wurden in den Garten geführt und an einer Terrasse erschossen. Es waren so viele Opfer da, dass die müde gewordenen Soldaten ihre Flinten auf die Verurteilten stützen mussten. Auf der Mauer der Terrasse schwamm das Gehirn umher. Die Mörder wateten in einem Sumpf von Blut.

So dauerte das methodisch regelrechte Gemetzel an der Kaserne Dupleix, am Lyceum Bonaparte, am Nord- und Ostbahnhof, im Jardin des Plantes, in vielen Mairien und Kasernen, mit den übrigen Schlächtereien wetteifernd, fort. Große Möbelwagen mit Gittertüren holten die Leichen und leerten ihren Inhalt in den nächsten Square oder sonstigen leeren Platz aus.

Die Opfer starben schlicht, ohne Prahlerei. Viele kreuzten die Arme vor den Flinten und kommandierten Feuer. Frauen und Kinder folgten ihren Gatten und Vätern, indem sie den Soldaten zuriefen: „Erschießt uns auch!“ Und man erschoss sie wirklich. Man sah Frauen, die bis dahin dem Kampfe fern geblieben waren, durch die Schlächtereien aufs Äußerste gebracht, in die Straßen stürzen, die Offiziere ohrfeigen, sich hierauf an eine Mauer lehnen und dort den Tod erwarten.

Im Juni 1848 hatte Cavaignac Pardon verheißen und doch gemordet. Thiers hatte bei den Gesetzen geschworen: er gab dem Heere jede Vollmacht. Die aus Deutschland zurückkehrenden Offiziere konnten nach Belieben ihre Wut an jenem Paris kühlen, das ihnen die Beleidigung angetan hatte, nicht zu kapitulieren, die Bonapartisten konnten an den Republikanern den alten Hass des Kaisertums auslassen, und die Gelbschnäbel, die kaum aus St. Cyr entlassen waren, an den „Philistern“ ihr Probestück von Unverschämtheit versuchen. Ein General (höchst wahrscheinlich Cissey) gab Befehl, Cernuschi zu erschießen, dessen Verbrechen darin bestand, 100.000 Francs für den Kampf gegen das Plebiszit von 1870 geboten zu haben. Jeder Einzelne von nur einiger Popularität durfte des Todes gewiss sein. Der Dr. Tony Moilin, der unter der Kommune keine Rolle gespielt hatte, der aber unter dem Kaiserreich in einige politische Prozesse verwickelt war, wurde in wenigen Minuten gerichtet und zum Tode verurteilt, „nicht“, wie seine Richter zu sagen geruhten, „weil er eine todeswürdige Handlung begangen, sondern weil er ein Führer der sozialistischen Partei sei, einer jener Männer, deren sich eine vorsichtige Regierung entledigen muss, sobald sie eine gesetzliche Gelegenheit findet.“ Die Radikalen, deren Hass gegen die Kommune am besten bewiesen war, durften den Fuß nicht nach Paris setzen, aus Furcht, ebenfalls niedergemacht zu werden.

Da die Armee weder eine Polizei noch genaue Unterweisungen hatte, so tötete sie blindlings. Der erste beste Vorübergehende, der einen Anderen mit einem revolutionären Namen anredete, gab Veranlassung, dass derselbe alsobald von den nach der Prämie lüsternen Soldaten erschossen wurde. In Grenelle erschossen sie einen falschen Billioray ungeachtet seiner verzweifelten Proteste. Auf dem Vendômeplatz erschossen sie einen falschen Brunel in den Gemächern der Frau Fould. Der Gaulois veröffentlichte den Bericht eines Militärchirurgen, der Valles kannte und seiner Hinrichtung beigewohnt hatte. Augenzeugen behaupteten, die Hinrichtung von Lefrançais am Donnerstag in der Rue de la Banque mit angesehen zu haben. Der wirkliche Billioray wurde aber erst im August abgeurteilt, und Valles, Brunel und Lefrançais konnten sich auf fremden Boden retten. So wurden oft Personen erschossen, weil sie den Mitgliedern und Beamten der Kommune mehr oder weniger ähnlich waren, und zwar für Einen Mehrere.

Varlin sollte leider nicht entkommen. Am Sonntag, den 28., erkannte ihn ein Pfaffe in der Rue Lafayette und bat einen Offizier, ihn zu verhaften. Der Leutnant Sicre packte Varlin und ließ ihm die Hände auf den Rücken binden. Er führte ihn selbst durch die zusammengeströmte Menge auf den Gipfel des Hügels, wo sich der General Laveaucoupet befand. Durch die steilen Straßen des Montmartre führte man Varlin eine ganze Stunde lang, die Hände auf den Rücken gebunden, unter einer Menge von Misshandlungen und Beschimpfungen. Sein junges Haupt mit der Denkerstirn, das nur von brüderlichen Gedanken erfüllt gewesen, glich, von den Säbeln ganz zerhackt, bald nur noch einem blutigen Fleischklumpen; das Auge hing aus der Höhle heraus. Als er beim Generalstab, Rue des Rosiers, ankam, konnte er nicht mehr gehen; man musste ihn tragen. Man setzte ihn nieder, um ihn zu erschießen. Die Elenden misshandelten selbst seinen Leichnam noch mit Kolbenschlägen.

Der „Berg der Märtyrer“ hat keine Glorreicheren aufzuweisen. Möge auch sein Andenken in dem großen Herzen der Arbeiterklasse bewahrt sein! Varlins ganzes Leben ist ein leuchtendes Beispiel: durch seine Willenskraft hatte er sich selbst gebildet; die kargen Abendstunden, die ihm die Werkstatt übrig ließ, verwandte er auf das Studium; er lernte nicht, um sich wie Andere in die Bourgeoisie zu drängen, sondern um das Volk zu unterrichten und zu befreien. Er war die Seele der Arbeiterassoziationen am Ende des Kaisertums. Unermüdlich, bescheiden, wenig und immer nur im passenden Augenblick redend, aber dann auch mit einem Worte die verwickelte Beratung erleuchtend, hatte er sich den revolutionären Sinn erhalten, der so oft bei den gebildeten Arbeitern erschlafft. Am 18. März Einer der Ersten, während der ganzen Kommune immer an der Arbeit, hielt er auch bis zuletzt auf den Barrikaden aus. Dieser Tote gehört ganz und gar den Arbeitern an. Varlin und Delescluze würde diese Geschichte gewidmet sein, wenn auf dem Titelblatt für etwas Anderes Raum wäre als für das große Paris.

Die Versailler Journalisten begeiferten seinen Leichnam und behaupteten, man habe hunderte von Tausend-Francs-Billets bei ihm gefunden.D Hinter der Armee nach Paris zurückgekehrt, folgten sie ihr wie Schakale und wühlten grunzend unter den Leichen. Besonders die der Demi-Monde waren von hysterischer Blutgier besessen. Die Koalition vom 21. März war wieder geschlossen. Alle stimmten in das Wutgeheul gegen die besiegten Arbeiter ein. Statt dem Gemetzel eine Grenze zu ziehen, hetzten sie dazu; sie veröffentlichten die Namen, die Schlupfwinkel Derer, die getötet werden sollten, und waren unerschöpflich in Erfindungen, um den wütenden Schrecken des Bourgeois aufrecht zu erhalten. Nach jeder Hinrichtung schrien sie nach weiteren.

A „Mit welch reiner Freude ruhte der Blick auf den loyalen Gesichtern dieser braven Gendarmen, die mit munterem Schritte zur Seite der hässlichen Kolonne gingen und einen strengen und kriegerischen Rahmen für sie bildeten.“ Francisque Sarcey.

Auf dem Boulevard des Italiens küssten „Damen“ die Stiefel der Reiter, die die Züge eskortierten.

B Bei der Beratung, welche im April 1877 im Munizipalrat von Paris stattfand, als es sich darum handelte, der Familie eines jungen Mannes, Namens Popp, der in Mazas erschossen worden war, obgleich er durchaus nicht am Kampfe teilgenommen hatte, eine Unterstützung zu gewähren, sagte ein Rat, Herr Dumas: „Nach dem Einmarsch der Truppen war ich in meinem Amt als Adjunkt beim Maire des 12. Arrondissements tätig, um die Erlaubnisscheine zur Bestattung für mehr als 400 im Gefängnis Mazas erschossene Personen zu geben. Alle diese Leichen, unter denen sich wahrscheinlich die des jungen Popp befand, wurden in eine Grube auf dem Kirchhof von Bercy geworfen. Soviel ist gewiss, dass die Identität dieser Personen nicht festgestellt wurde, und dass man keinen Totenschein ausstellte.“

C Später wird man alle Namen erfahren. Von mehr als hundert wollen wir nur folgende erwähnen: Auf der Mairie des 5. Arrondissements der Oberst der Nationalgarde Galle; auf dem Collège Bonaparte Herr v. Soulanges, Chef des 69. Bataillons; auf der Mairie des 13. Arrondissements die Herren d’Avril, Chef des 4. Bataillons, Cascol, Chef des 17. Bataillons, Thierce; auf dem Elysée der Chef des 3. Bataillons, Herr v. St. Geniée; auf der Mairie des 7. Arrondissements Herr Blamont, Leutnant im 17. Bataillon; auf der Mairie des 9. Arrondissements Charpentier; auf dem Luxembourg die Herren Gabriel Ossude, Gosselin, Parfait, Daniel vom 115. Bataillon. Auf Châtelet der Oberst Vabre, welcher am 18. März, vom Stadthaus im Stich gelassen, in wenigen Stunden eine grauenvolle Berühmtheit erlangt hatte.

D Der Bericht des Leutnants Sicre sagt: „Unter den bei ihm Vorgefundenen Gegenständen befand sich eine Brieftasche mit seinem Namen, ein Portemonnaie mit 284 Fr. 15 C., ein Federmesser, eine silberne Uhr und eine Visitenkarte mit dem Namen Tridon.“

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