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Karl Radek 19110429 Die auswärtige Politik des Kapitalismus und die Internationale

Karl Radek: Die auswärtige Politik des Kapitalismus und die Internationale

[„Leipziger Volkszeitung“, Nr. 98., 29. April 1911, 11. Beilage]

Die Frage vom Verhältnis der Sozialdemokratie zum Wettrüsten zu Schiedsgerichten etc., kurz vom Verhältnis zur auswärtigen Politik der kapitalistischen Staaten wurde in Kopenhagen für die ganze Internationale beantwortet. Die Debatte in der deutschen Parteipresse ist es indessen nicht allein, die diese anscheinend schon erledigte Frage wieder aufrollte. Die Resolution des Parteitags der englischen Sozialdemokratie, die in der „Aufrechterhaltung einer ausreichenden Flotte“ ein Mittel zur Minderung der Kriegsgefahr proklamiert, wirft den ganzen Kopenhagener Beschluss über den Haufen und macht eine neue internationale Aussprache über die Frage nötig. So wächst sich die in Deutschland begonnene Diskussion über das Verhältnis der Sozialdemokratie zur auswärtigen Politik des Kapitalismus in eine internationale Debatte aus.

Wie es hier schon einige Mal ausgeführt war, bildet den eigentlichen Kern der Debatte die verschiedene Würdigung der Quellen, der Stärke und der Folgen des Imperialismus. In den verschiedenen Auffassungen des Imperialismus liegt die Quelle aller Differenzen in dieser Frage, denn anders wird die Rüstungstendenzen der einschätzen, der im Imperialismus die Politik des Kapitalismus sieht, anders, wer sie als Politik begrenzter Interessentengruppen betrachtet, der man siegreich die Interessen anderer und breiterer Schichten der Bourgeoisie gegenüberstellen kann. Anders wird sich der zur Frage stellen, der im Imperialismus das Produkt der wirtschaftlich für den Sozialismus reifen kapitalistischen Gesellschaft sieht, anders der, für den der Sozialismus ein in fernen Nebeln flimmernder Stern ist.

Politische Streitfragen müssen auf eine politische Formel gebracht werden, damit die praktischen Folgen des scheinbar theoretischen Streites klar werden, und die Formulierung der vorliegenden Streitfrage dürfte sein: ist ein sozialdemokratisches Minimalprogramm in Fragen der auswärtigen Politik möglich oder nicht? Die Klärung dieser Frage wird manches Licht auf alle andern zur Debatte stehenden werfen.

Die Resolutionen der englischen Sozialdemokratie (SDP) und der Unabhängigen Arbeiterpartei (ILP) in der Rüstungsfrage zeugen uns, dass die Frage so steht, wie sie hier formuliert wurde. Die SDP brandmarkt ebenso den Krieg und das Wettrüsten, wie es der Internationale Kongress getan, und man tut nicht nur ihr als Ganzem, sondern selbst ihren Führern, den Genossen Hyndman und Quelch, unrecht, wenn man annimmt, es handle sich hier um Redensarten, die den imperialistischen Pferdefuß verhüllen sollen. Die Vergangenheit dieser Genossen, ihre unermüdliche Arbeit im sozialrevolutionären Geiste ist die Bürgschaft dafür, dass die in den einleitenden Sätzen formulierten Gefühle des Abscheus gegen den Krieg ebenso echt sind, wie die, die die Führer und Mitglieder der ILP belebten, als sie ihre Resolution gegen das Wettrüsten annahmen. Der Unterschied besteht also nicht in der Verurteilung des Imperialismus. Er beginnt erst dort, wo die beiden Parteitage die Frage beantworteten, was ist jetzt zu tun, um die Kriegsgefahr, um das ununterbrochene Wettrüsten einzuschränken? Der Gegensatz liegt also nicht auf dem Gebiete des Maximalprogramms, unserer sozialistischen Ziele, sondern des Minimalprogramms, unseres Handelns im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft. Die SDP

ist überzeugt, dass unterdessen“ (d.h. solange der Kapitalismus besteht) „die Aufrechterhaltung einer ausreichenden Flotte, die Neuorganisation unseres militärischen Systems auf der Grundlage einer nationalen Volksmiliz und der Verzicht auf jegliche aggressive bzw. imperialistische Politik die unmittelbaren Ziele bilden, die wir zwecks der Verwirklichung der Beschlüsse der internationalen sozialistischen Bewegung zu realisieren suchen müssen.“

Die Grundlage dieser Stellungnahme bildet also die Annahme, dass es in der Macht der Arbeiterklasse liegt, die Folgen des Imperialismus zu mildern: die dazu führenden Wege sind: einerseits die Anpassung der Arbeiterklasse an die Notwendigkeiten des Kapitalismus durch die Zustimmung zur Aufrechterhaltung einer angemessenen Flotte, zweitens die Anpassung des Kapitalismus an die Friedensliebe des Proletariats durch den Verzicht auf jegliche aggressive imperialistische Politik. Die Anerkennung eines Minimalprogramms in der auswärtigen Politik brachte die radikale englische Sozialdemokratie dazu, nicht nur die Natur des Sozialismus zu verkennen, der durch Anerkennung des Wettrüstens zum Hausdiener des Imperialismus wird, sondern auch die Natur des Kapitalismus zu verkennen, der wegen der Freundschaft der SDP auf seine letzte Zuflucht, die aggressive imperialistische Politik nicht verzichten kann. Das politische Resultat der Anerkennung des Minimalprogramms in den Fragen der auswärtigen Politik durch die SDP ist die imperialistische Versuchung der englischen Arbeiterklasse, das Heraufbeschwören eines Konflikts in der Internationalen wegen des Interessengegensatzes des deutschen und englischen Kapitals.

Wie steht es aber mit der Resolution der ILP, dieses opportunistischen Musterknaben. Die ILP brandmarkt ebenfalls das Wettrüsten und stellt ihm als Gegenlosung nicht den Kampf um den Sozialismus sondern ein Minimalprogramm gegenüber, indem sie erklärt,

Dass die Streitigkeiten zwischen den Nationen nicht durch brutale Gewalt, sondern auf dem Wege der Vernunft und des schiedsgerichtlichen Verfahrens ausgeglichen werden müssen und fordert die Arbeiter auf, gemeinsam mit ihren Brüdern in Deutschland und anderen Ländern systematisch gegen den Einfluss der Panikmacher zu kämpfen und eine Verständigung zwischen allen Völkern zwecks Sicherung des internationalen Friedens und der Förderung der sozialen Gerechtigkeit zu erstreben.“

Als unmittelbares Ziel wird hier gestellt, die kapitalistische, durch Gegensätze zerrissene, durch den blinden Kampf der Elemente regierte Welt zur „Vernunft“ zu bringen, sie zu nötigen, ihre Gegensätze auszugleichen und Streitfragen von der Größe des englisch-deutschen Gegensatzes durch Schiedsgerichte zu schlichten. Dass auch diese Formulierung des Verhältnisses der Sozialdemokratie zu den Fragen der auswärtigen Politik unklar und deshalb verfehlt ist, brauchen wir hier nicht weiter auszuführen. Die Folge dieses Minimalprogramms ist nicht besser als die des ersten: die SDP sah im Kriege — denn wer dem Wettrüsten zustimmt, der stimmt auch dem Kriege zu — die Losung, die das Proletariat auf seine Fahne schrieben kann, die ILP sieht diese Losung im Zusammenschluss der kapitalistischen Staaten, was als proletarische Losung um keinen Pfifferling besser ist als die Kriegslosung.

Dazu kommt die gänzliche Verdunkelung des Charakters der kapitalistischen auswärtigen Politik, das Herausfinden von „Gemeinsamkeitsgedanken“ im Kapitalismus und das Operieren mit „Nationen", wo es sich um die Bourgeoisien handelt.

Das sind die Resultate der Suche nach einem Minimalprogramm in den Fragen der auswärtigen Politik. Wie jetzt die SDP dem konservativen und die ILP dem liberalen Einfluss auf das Proletariat die Türe öffnet, so machte sich der glühende Republikaner Jaurès im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts zum Befürworter der Allianz zwischen der Republik und dem Zarismus, weil er in ihr eine Friedensgarantie sah. Dass die französisch-russische Allianz die Festigung des Zarismus bedeutete, kümmerte ihn ebenso wenig wie es ihn kümmerte, dass er ungewollt der blutrünstigen russischen Konterrevolution half, als er in der Tripelentente die Friedensgarantie im Jahre 1908 sah, einige Monate, bevor England bestrebt war, Russland in einen Krieg mit Österreich und Deutschland hineinzuhetzen! Und was wurde aus der internationalen Solidarität der Proletarier, als im März 1909 im deutschen Reichstag deutsche Sozialdemokraten und im Jahre 1910 in den österreichischen Delegationen die Vertreter der österreichischen Sozialdemokratie den Dreibund als Garantie des Friedens priesen? An Stelle des Schlachtrufs Proletarier aller Länder, vereinigt euch! Der Ruf: zu den Fahnen des Dreibunds! zu den Fahnen der Tripelentente!, das ist der Erfolg der Versuche, die kapitalistischen Gegensätze auf dem Boden des Kapitalismus zu lösen. Aus dieser Situation gibt es zwei Auswege: ein utopischer und ein revolutionärer. Der Kopenhagener Beschluss wählte den utopischen, indem er die Aussöhnung der gegnerischen Staatsgruppen als Ziel der proletarischen auswärtigen Politik aufstellte. Dreibund und Tripelentente, vereinigt euch!, das war der politische Sinn dieser Resolutionen. Und in den Wüsteneien dieser reaktionären Utopie bricht der Pfad des minimalen Programms in den Fragen der auswärtigen Politik ab. Und über die Leere der Grundsatzlosigkeit, des Schwankens nach allen Weltrichtungen führt eine Brücke. Der revolutionäre Ausweg besteht in der Erkenntnis, dass es keine Möglichkeit gibt, die Gegensätze der kapitalistischen Weltpolitik auszugleichen, ihre Folgen dem Proletariat annehmbar zu machen, wenn man die Lösung dieser Aufgabe um Rahmen des Kapitalismus sucht, d.h. dass es kein sozialdemokratisches Minimalprogramm für die auswärtige Politik gibt, dass die Losung, die wir dem Imperialismus gegenüber stellen können, nur der Sozialismus und nur er allein ist. Praktisch gesagt, bedeutet das, unsere Aufgabe den Fragen der auswärtigen Politik gegenüber kann nur darin bestehen, die Aufmerksamkeit des Proletariats für die Fragen der Weltpolitik durch ihre marxistische Beleuchtung und durch sozialdemokratische Aktionen in Momenten größerer Bedeutung zu schärfen, in der Ablehnung jeder Verantwortung für alle Schritte der Regierungen auf dem Schachbrett er Weltpolitik; durch unermüdliche Propaganda des Gedankens, dass nur der Sozialismus eine dem Proletariat genehme Lösung dieser Frage bringen kann, durch revolutionäre Aktionen bei Verschärfung der weltpolitischen Gegensätze. Nur auf diesem Wege ist eine einheitliche sozialdemokratische auswärtige Politik möglich. Wenn dem aber so ist, so ist es nicht einmal nötig, speziell auseinanderzusetzen, dass dieser einzig uns bleibende Weg kein Ausfluss einer künstlichen Unentwegtheit ist, sondern der Weg der Internationale. Wie die Staatsgewalt in den kapitalistischen Staaten nicht teilweise eingenommen, ausgehöhlt, sondern nur durch die Gewalt der siegreichen sozialen Revolution erobert werden kann, so kann auch die höchste Funktion, die auswärtige Politik, die mit jedem Jahr mehr das Lebensinteresse des Kapitalismus verkörpert, nicht allmählich reformiert, sondern nur auf revolutionärem Wege erobert werden. Darum noch einmal: Keine Reform des Imperialismus, sondern Sozialismus.

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