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Karl Radek 19110405 Die Sozialdemokratie und die Kriegsrüstungen

Karl Radek: Die Sozialdemokratie und die Kriegsrüstungen

[„Bremer Bürger-Zeitung“, Nr. 81 und 82, 5. und 6. April 1911, gezeichnet K.R., gekürzt in „Leipziger Volkszeitung“, Nr. 82 und 84, 8. und 11. April 1911]

[Einleitung der Redaktion der „Leipziger Volkszeitung“: „Wir hatten am Montag in der „Leipziger Volkszeitung“ einem Verteidiger der Fraktion in der Frage der Abrüstung das Wort gegeben. Wir selber waren diesem Artikel am nächsten Tage kurz entgegengetreten. Ausführlich befasst sich die „Bremer Bürger-Zeitung“ mit ihm. K.R. widmet ihm zwei Artikel zur Widerlegung, denen wir folgende Stellen entnehmen:“]

I.

Die „Leipziger Volkszeitung“, die auf dem selben Standpunkt wie wir die Haltung der Reichstagsfraktion in der Abrüstungsfrage vor einigen Tagen einer Kritik unterzogen hat, bringt am Montag eine Zuschrift eines ihrer Mitarbeiter, der den Standpunkt der Reichstagsfraktion teilt und zu verteidigen sucht. Wie wir zeigen werden, ist diese Verteidigung weder stichhaltig noch geschickt, aber es ist wert, auf sie einzugehen, denn sie ist die erste Probe einer Begründung des Standpunktes der Fraktion.

Die Beweisführung für die Richtigkeit des von der Fraktion eingenommenen Standpunktes zerfällt in drei Teile. Zuerst wird der Beweis versucht, dass in der Bourgeoisie der westeuropäischen Länder, in England und Frankreich, ernsthafte Bedenken gegen die Rüstungen bestehen, daher „staatsmännische Erwägungen der Regierungen, aus dem Dilemma einen Ausweg zu finden“. Das Bestehen dieser Bedenken erklärt der Mitarbeiter der „L[eipziger] V[olkszeitung]“ durch Argumente, die wir hier wörtlich wiedergeben:

Solange es gelingt, diese Kosten den arbeitenden Massen aufzubürden, während alle Vorteile der Bourgeoisie zufließen, bleiben die bürgerlichen Friedensfreunde in hoffnungsloser Minorität. Es wird anders, wenn die Lasten der Rüstung auf die Bourgeoisie zu drücken beginnen. Dieser Punkt scheint erreicht. Die englische Regierung musste sich dazu entschließen, zur Deckung der Ausgaben Steuern zu fordern, die der herrschenden Klasse unbequem sind, und es besteht in England kein Zweifel darüber, dass auch in den nächsten Jahren eine weitere Steigerung der direkten Steuern notwendig werden wird, um die Panzerschiffe zu bezahlen. Ähnlich in Frankreich. Eine weitere Steigerung der indirekten Steuern ist hier kaum mehr möglich, es muss zu der direkten Besteuerung gegriffen werden, wenn die Ausgaben für Heer und Marine weiterhin steigen. Auch das bequeme Mittel neuer Staatsanleihen versagt. Die Bourgeoisie lässt sich freilich der Staatsschulden wegen keine grauen Haare wachsen, im Gegenteil: Staatsschulden sind ihr ein bequemes Mittel, einen fortwährend steigenden Teil der produzierten Werte auf dem Umwege über die Staatskasse als den Taschen der Arbeiter in die eigenen Taschen zu lenken. Erst wenn Kapital und Perzentchen gefährdet sind, weil man befürchten muss, dass eben aus den Taschen der Arbeiter nichts mehr zu holen ist, um die immensen Summen an Zins und Amortisation aufzubringen, regt sich der „kritische Gedanke“ des Bourgeois gegen die Vergrößerung der Staatsschuld.

Wir können natürlich im engen Rahmen unseres Blattes nicht durch weitläufige Darlegungen der englischen und französischen Finanzverhältnisse die Hinfälligkeit dieser Argumente beweisen. Es ist aber auch nicht nötig, dies zu tun, denn es sprechen genügend allgemein bekannte Tatsachen gegen sie. Es ist überhaupt nicht wahr, dass die französische und englische Bourgeoisie sich gegen die Rüstung wendet. Die einflussreichsten Schichten der englischen Bourgeoisie stehen hinter den Unionisten, der Partei der Kriegshetze, die keine Rüstungen für zu groß hält. In Frankreich rekrutieren sich die Kriegshetzer in erster Linie aus der Schicht des Export- und Finanzkapitals. Das englische Kleinbürgertum wendet sich gegen die Rüstungen nicht so sehr wegen der jetzigen Steuerlast als weil es fürchtete, dass die imperialistische Politik mit dem Schutzzoll enden wird, der, indem er die Unterhaltungskosten des Kleinbürgertums erhöht, ihm die Möglichkeit der Konkurrenz rauben würde. In Frankreich gibt es außerhalb der Arbeiterklasse keine ernst zu nehmenden aktiven Gegner des Rüstungswahnsinns, denn erstens gibt es im Kleinbürgertum viele Rentner-Elemente, die an Auslandspapieren interessiert sind, also einen starken Schutz im Ausland fordern, zweitens weil die nationalistische Revancheidee eben in diesen Schichten ihre Zuflucht findet. Aber selbst die Unzufriedenheit des englischen Kleinbürgertums mit dem Wettrüsten, der die liberale Partei Ausdruck gibt, setzt sich in keine Taten um. Die liberale Partei, obwohl ihrem jetzigen sozialen Inhalte nach kleinbürgerlich, muss als regierende Partei eines großen Staates die Interessen der sozial einflussvollsten Schichten vertreten und kann darum die kleinbürgerliche Unzufriedenheit in der Praxis nicht durch Einschränkung der Rüstungen betätigen. Und so ist das englische Marinebudget seit 1906, in welchem Jahre die englischen Liberalen ans Ruder kamen, von 642 Millionen Mark auf 87 in dem laufenden Jahre gestiegen. Und Frankreich steht jetzt vor einer neuen Ära kolonialer Marinerüstungen, die das Schwergewicht vom Küstenschutz auf die Großseekolosse übertragen soll. Es steht also sehr schlecht mit der Behauptung des Fraktionsverteidigers, wonach der Punkt, wo der westeuropäischen Bourgeoisie vor den Rüstungen bange wird, erreicht sei.

Nicht besser ist es um seine Argumente bestellt, mit welchen er den angeblichen Unterschied zwischen der englischen und der deutschen Bourgeoisie wie auch der beiderseitigen Regierungen klarlegen will.

Aber die Bethmann-Hollweg und Wermuth rechnen immer noch darauf“, schreibt er, „die Rüstungen auf Kosten der großen steuerzahlenden Masse fortsetzen zu können und Junker und Pfaffen bauen darauf, dass ihre Handlanger dieses Kunststück auch wirklich fertig bringen. Daher die augenblickliche Situation: zunehmende Angst um den Profit der französischen und englischen Bourgeoisie, daher ernsthafte Bedenken gegen die Rüstungen, daher staatsmännische Erwägungen der Regierung, aus dem Dilemma einen Ausweg zu finden. Dagegen schnodderige, durch keine Sachkenntnis gestörte Überhebung bei der deutschen Regierung, die jede Gefahr leugnet.“

Erstens fällt hier in die Augen, dass der Verfasser die deutsche Bourgeoisie beiseite lässt: während er sich früher auf die englische und französische Bourgeoisie bezog, bezieht er sich hier nur auf die deutsche Regierung. Und das hat seine Gründe, denn sonst müsste er zugeben, dass die deutsche Bourgeoisie — wie ihre Haltung bei der Reichsfinanzreform bewiesen hat — mit der Notwendigkeit der Heranziehung direkter Steuern zu rechnen beginnt. Trotzdem sind die einflussreichsten Vertreter des deutschen Kapitals, die in den Kreisen der Nationalliberalen und Freikonservativen zu suchen sind, die forschesten Vertreter des Rüstungsgedankens, der in seiner marinistischen Form am Anfange den Junkern fremd war. Es ist also Tatsache, dass die deutsche Bourgeoisie zwar schon mit der Notwendigkeit der Heranziehung direkter Steuern rechnet, an eine Einschränkung der Flottenrüstungen jedoch nicht denkt. In dieser Hinsicht existiert zwischen ihr und der englisch-französischen kein Unterschied. Trotzdem besteht faktisch ein gewisser Unterschied zwischen der deutschen und englischen Flottenpolitik: die französische lassen wir beiseite, weil, obwohl der Mitarbeiter der „Leipziger Volkszeitung“ sie unrichtigerweise mit der englischen identifiziert, sie dennoch eine besondere Behandlung erfordert, die hier indes unnötig ist. Nur muss man den Unterschied ganz wo anders suchen als es der Genosse tut. Dieser Unterschied besteht erstens in der verschiedenen Weltlage des englischen und deutschen Kapitals, zweitens in der verschiedenen innenpolitischen Lage der englischen und deutschen Regierung.

Mit der Weltmacht Englands geht es bergab, die deutsche Weltpolitik aber verdient sich erst ihre ersten Sporen. Das englische Kapital, das ein Monopol auf dem Weltmarkt bis in die achtziger Jahre besaß, begegnet dort einer mit jedem Jahr wachsenden Konkurrenz. Es hat ein Weltreich zusammengeraubt, in dem es jetzt in allen Ecken kracht. Das deutsche Kapital erlebt erst seinen Triumphzug in der Welt und hat noch keine auseinander berstenden Reiche zu verteidigen. Darum treibt das englische Kapital eine hysterische Politik, darum inszeniert es Paniken, während das deutsche, seitdem die ersten Zeiten des Tastens vergangen sind, eine große Zuversicht und zu seiner weltpolitischen Zukunft einen starken Glauben besitzt. Weiter: das englische Kapital muss die demokratischen Institutionen, die individualistischen Instinkte der angelsächsischen Rasse brechen, wenn es sich ein Schwert schaffen will — und ohne stehendes Heer ist England kein bündnisfähiger Faktor in der kontinentalen Politik — dem deutschen Kapital dagegen kommt das nicht beendete Werk der deutschen Revolution zugute, die Tatsache, dass das deutsche Reich durch eine Revolution von oben geschaffen worden ist. Das gibt dem deutschen Kapital erstens die größere Leichtigkeit der Durchsetzung seiner Politik — Fehlen der Demokratie im Lande — und das starke Heer als Mittel dieser Politik. So sehen die weltpolitischen Unterschiede aus. Und nun erst die Verschiedenheit in der inneren Lage beider Länder: in England besteht ein ökonomisch stärkeres Kleinbürgertum, wir können auf die Ursachen dieser Tatsache hier nicht eingehen, die Demokratie erlaubt ihm, einen Einfluss auf die Regierung zu üben. Darum muss die liberale Regierung, selbst wo sie unter dem Druck des Großkapitals Kriegsschiff nach Kriegsschiff baut, den Eindruck zu erwecken suchen, dass sie daran unschuldig ist, sie muss Friedenskomödien spielen, um nicht die Gefolgschaft des Kleinbürgertums zu verlieren. In Deutschland hat der Kapitalismus dem Kleinbürgertum im Sturmlauf das Genick gebrochen; ökonomisch gleich Null hat es als eine Klasse ohne irgendeine politische Vergangenheit und Zukunft keinen stärkeren Einfluss auf die bürgerlichen Parteien, und so brauchen diese keine Friedenskomödien zu spielen. In England glaubt die Regierung noch die erst erwachende Arbeiterklasse am Gängelbande des Kleinbürgertums führen zu können, wenn sie ihre kriegerischen Taten mit friedlichen Worten begleitet; in Deutschland rechnet die Regierung nicht mehr mit der Möglichkeit der Irreführung der Arbeiterklasse, vielmehr, da sie sie nicht einschläfern kann, glaubt sie mit dem starken Mann einschüchtern zu können. Darum tritt die englische Regierung in friedlich-pastoraler Art für das Wettrüsten ein, während die deutsche säbelrasselnd in Kürassierstiefeln und eisernem Helm das Rüsten ohne Ende verkündet.

So liegen die Dinge. Wir sehen also, dass dem Verteidiger der Fraktion weder die Beleuchtung der angeblichen Gegensätze zwischen der Haltung der deutschen und englischen Bourgeoisie noch die Hervorkehrung und Erklärung der Unterschiede, die zwischen der Flottenpolitik beider Länder in der Tat bestehen, gelungen ist. Wir wollen uns in einem zweiten Artikel die sonderbaren taktischen Schlüsse ansehen, die er aus der so konstruierten Sachlage zieht.

II.

Auf dem Boden der Tatsachen verunglückt, begibt sich der Verteidiger der Fraktion auf den Boden der Tendenzen. Er stellt die Frage, ob „eine Einschränkung der Rüstungen im kapitalistischen Staate überhaupt möglich“ wäre, bejaht sie und versucht nun in der gegenwärtigen Gesellschaft schon Tendenzen zur Einschränkung der Rüstungen zu finden. Aber lassen wir ihn selbst sprechen:

Sicher ist nur eines: die herrschende Klasse kann nicht auf den Militarismus verzichten, weil sie die Armee braucht gegen das Proletariat, weil sie nur noch durch rohe Gewalt herrschen kann. Dazu aber bedarf es keineswegs ungemessener Steigerung der Kriegsmacht. Diese Steigerung ist nur bedingt durch die Rivalität der nationalen Bourgeoisien Europas untereinander. Aber diese Rivalität wird abgeschwächt, je mehr die Tendenz zur Geltung kommt, gemeinsam die internationalen Interessen zu wahren. Deshalb ist es durchaus denkbar, dass die Bourgeoisien sich über den „nationalen Staat“ hinwegsetzen, dass sie ihre Regierungen zwingen, immer weiter auf dem Wege internationaler Vereinbarungen zu Nutz und Frommen der Bourgeoisie weiter zu schreiten. Es ist z.B. durchaus möglich, dass die internationale Bourgeoisie sich verständigt, wo es den gemeinsamen Raub an Asien gilt, ja wir sehen, dass in dieser Richtung sogar schon erkleckliches geleistet wird. Kein Wunder daher, wenn die fortgeschrittene Bourgeoisie Englands und Frankreichs diesen Gedanken der internationalen Interessengemeinschaft, jetzt, wo es ihr auf den Finger brennt, auch in der Frage der Rüstungen ventiliert, einen Gedanken, der freilich dem in Deutschland herrschenden Junkertum über den Horizont geht.“

Wir finden hier also eine Wurzel, aus der der Friedensbaum erwächst. Im ersten Teil des Artikels entstammte die Tendenz zur Rüstungseinschränkung der Angst vor der Einschränkung des Profits durch die Rüstungskosten, welche in den fortschrittlichen Ländern auch die Bourgeoisie zu belasten beginnen. Hier wird das Wettrüsten dem Kapital unnötig, weil es sich in der Richtung eines Ausgleichs seiner „nationalen“ Gegensätze bewegt. Wie die erste, so befindet sich auch diese Wurzel nicht im Boden der Wirklichkeit, sondern in dem der Phantasie. Wie im ersten Falle, so phantasiert der Verfasser auch hier aus gewissen Tatsachen Tendenzen, ohne zu fragen, ob das Material ausreicht. Hier der Beweis. Worauf beruht diese — nebenbei auch nicht neue — Idee von der Verschlingung der nationalen sich bekämpfenden Armeen des Kapitalismus zu einer zusammenhängenden internationalen Phalanx, die ihre inneren Gegensätze aufhebt und auf ein Wettrüsten verzichten kann? Aus der Tatsache, dass es oft vorkommt, dass sich das Kapital einiger Länder alliiert, um, um gemeinsam eine Bahn irgendwo in Asien zu finanzieren oder eine Anleihe unterzubringen. Würde die Tatsache auch hundertmal öfter als in Wirklichkeit vorkommen, so ließen sich daraus keinesfalls die Schlüsse ziehen, die der Verfasser zieht. Denn erstens sind die Kapitalistenallianzen eben Produkte des Kampfes. Eine oder mehrere Kapitalistengruppen bekommen von einer asiatischen Regierung eine Bahnkonzession. Da meldet sich eine neue Kapitalistengruppe und fordert ihren Anteil an der Beute. Natürlich lassen sie die älteren Gruppen nicht aus christlicher Liebe zum Geschäft zu. Nur wenn hinter ihnen eine starke, sich auf Dreadnoughts mit Kanonen stützende Regierung steht, die ihnen irgendwo anders das Bein stellen kann oder selbst schon in dem gegebenen Fall durch Druck auf die exotische Regierung schaden kann, rechnen sie mit der neuen Kapitalistengruppe. So ist diese neue Erscheinung eben nur im Rahmen des imperialistischen Wettrüstens verständlich und sie erfordert, damit sie funktionieren kann, das weitere Rüsten. Das wird durch die folgenden Ausführungen erklärt. Die Forderungen einzelner nationalen Gruppen betreffs Anteils an den internationalen Kapitalallianzen sind nicht stabil, sie ändern sich je nach dem Wachstum der wirtschaftlichen und politischen Macht der nationalen Gruppen und der unter ihnen stehenden Regierungen. Steht es z.B. mit dem englischen Kapital aus irgendeiner Ursache schlecht oder kann die englische Regierung es augenblicklich nicht genügend unterstützen, so haben die deutschen oder amerikanischen Kapitalgruppen keine Ursache, ihm bei einem neuen Geschäft den gleichen Anteil wie früher zuweisen. Und wächst z.B. die Macht des deutschen Kapitals in schnellerem Tempo als die des englischen, hat es irgendwelche speziellen Trümpfe bei einem Geschäft in der Hand, so wird es einen größeren Anteil am Profit verlangen. In beiden Fällen muss die maritime und militärische Macht die Rolle eines Ausgleichsfaktors spielen. Dies bedeutet nicht, dass sie sofort zum Kriege schreiten muss, es genügt schon ihr Bestehen und der Hinweis auf sie, um der einen oder anderen Kapitalistengruppe zu ihrem Rechte — hier ist eben das Recht, was man durchsetzen kann — zu verhelfen. Speziell muss unterstrichen werden, dass keine kapitalistische Macht sich qualitativ und quantitativ gleichwertig einer anderen betrachtet, weil die Verschiedenheit der geographischen Lage usw. mit sich bringt, dass z.B. die Interessen Englands in der Türkei anders sind als die Deutschlands oder Frankreichs. Und jedes solche spezielle Interesse hat eine Aussicht auf Würdigung durch andere kapitalistische Staaten, wenn die betreffende Regierung sich den anderen entgegenstellen kann, wenn sie auf das Risiko eingehen kann, zu versuchen, dem Lande, auf dessen Rücken das ganze Spiel gespielt wird, beizubringen, dass es am ratsamsten ist, sich mit ihr auch gegen alle anderen einzulassen! Wir spekulieren hier nicht, sondern entwerfen das Schema nach den Erfahrungen mit der Bagdadbahn. Zuerst wollte England sich nur dann auf das Geschäft mit Deutschland einlassen, wenn es die Führung bekommen würde. Deutschland brachte, verschiedene Momente ausnützend, die Türkei auf seine Seite, und jetzt soll England unter viel ungünstigeren Umständen am Geschäft teilnehmen.

So bleibt das Wettrüsten für das Kapitel ein Mittel, das es nicht entbehren kann, selbst wenn es zusammen mit den anderen auf den Raub geht. Dazu muss noch eins in Betracht gezogen werden: die kapitalistische Entwicklung Asiens und ihre weltpolitischen Folgen. Sie wird die Mächte der alten kapitalistischen Welt nötigen, sich gegen den Orient zu rüsten, und sie wird einzelne von ihnen reizen gegen die anderen europäischen Mächte mit den aufkommenden asiatischen zusammenzugehen. Ansätze zu einer solchen Politik könnte man in der Politik der Vereinigten Staaten Nordamerikas China gegenüber finden. Statt das Wettrüsten einzuschränken, wird dies eine Triebkraft der Rüstungen sein. — Wenn also der Verfechter der Stellungnahme der Reichstagsfraktion schon die weiten Perspektiven der Entwicklung in Betracht ziehen wollte, so darf er nicht diese Möglichkeit aus den Augen lassen. Und zieht er sie in Betracht, so wird aus seiner Tendenz zur Abrüstung Wasser.

Wir sind mit dem Teil der Argumente fertig, die beweisen sollten, dass der Antrag der Fraktion sich nicht in den Lüften bewegt, dass seine Verwirklichung möglich ist weil sie sich auf der ganzen Linie der sozialen Entwicklung im Rahmen des Kapitalismus bewegt. Wenn die Reichstagsfraktion wirklich auf dem Boden dieser Auffassung stehen würde — was uns angesichts der Fadenscheinigkeit dieser Argumente fast unglaublich erscheint — es konnte ihr der Vorwurf der opportunistischen Hascherei nach leichten Erfolgen, der ihr hier gemacht wurde, gespart werden, denn dann würde es feststehen, dass sie aussprechen wollte, was nach ihrer Meinung wirklich ist. Man kann ihr aber nicht den Vorwurf ersparen, dass sie mit gänzlicher Beiseiteschiebung der Ergebnisse marxistischer Studien völlig den Charakter des Imperialismus verkennt, dass sie zur Unterlage ihrer Aktion nicht die Kenntnis dessen, was ist, sondern ganz unbegründete Phantasien nahm. Bis wir uns entscheiden, welcher von beiden Vorwürfen berechtigt ist, wollen wir den weiteren Gang der Diskussion abwarten, die uns wohl noch manche sonderbare Begründung der Haltung der Reichstagsfraktion bringen wird.

Aber eins kann man schon heute sagen. Der von der Fraktion gemachte taktische Fehler sollte der Fraktion beweisen, dass sie keine wichtigen politischen Aktionen unternehmen darf, ohne vorher die Meinung der Partei gehört zu haben. Es ist natürlich weder möglich noch nötig, jede solche Aktionen einem Parteitag zur Diskussion zu unterbreiten. Aber jede Aktion muss in der Presse ventiliert werden. Der Antrag auf die Rüstungseinschränkung wurde — wenn wir nicht irren — zum ersten Mal nach der Daily-Telegraph-Affäre von unserer Fraktion eingebracht, ohne dass seine taktische Tragweite in der Partei diskutiert worden wäre. Die Partei stand vor einer vollendeten Tatsache, die eine Diskussion über die Frage sehr erschwerte, weil mache Genossen in ihr irrtümlicherweise die Gefahr einer Bloßstellung der Fraktion sahen. Die sich trotzdem gegen diese Haltung erhebenden Stimmen wurden totgeschwiegen und selbst unsere wissenschaftliche Revue hielt es für inopportun, der Diskussion vor den Wahlen Raum zu geben. Die jetzt eingetretene Diskussion muss die Frage möglichst vollständig klarstellen, weil — wie es in unserem Blatte bereits ausgeführt wurde — davon in hohem Maße die Rüstung abhängt, mit der wir in den Wahlkampf einziehen werden.

Wir haben in diesem zwei Artikeln nur die Seiten der Frage zu beleuchten gesucht, die der Verteidiger der Fraktion in der „L[eipziger] V[olkszeitung]“ nach unserer Meinung in ein ganz falsches Licht gerückt hat. Die Beleuchtung einer ganzen Reihe von mit dem Problem zusammenhängenden Fragen, wie die ausführliche Begründung unserer taktischen Position, werden wir im Zusammenhange mit der weiteren Diskussion besorgen. Die Artikel, mit welchen die „Schwäbische Tagwacht“ und die „Breslauer Volkswacht“ ihr Teil beizusteuern suchen, geben leider keine Begründung der Haltung der Fraktion, sondern nur Beweise, dass die beiden Parteiblätter sich keine Mühe gaben, aus unserem und ihrem eigenen Standpunkt die Konsequenzen zu ziehen.

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