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Karl Radek 19170929 Der Arbeiter- und Soldatendelegiertenrat

Karl Radek: Der Arbeiter- und Soldatendelegiertenrat

[Nach Bote der Russischen Revolution. Organ der ausländischen Vertretung des Zentralkomitees der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (Bolschewiki) Nr. 3, 29. Sept. 1917, S. 1-5]

Als im Jahre 1905 die Revolution in Russland dem Zarismus die Zugeständnisse des Manifestes vom 31. Oktober abgerungen und so einen Ellenbogenraum für den weiteren Kampf gewonnen hatte, schufen sich die Arbeitermassen der Industriezentren ein Kampforgan, wie es früher die Geschichte des revolutionären Kampfes nirgends gesehen hat.

Die französische revolutionäre Bourgeoisie versammelte sich in Cafés, in politischen Klubs in deren Beratungen sie ihren Willen formte. Das Organ ihres Kampfes war das Parlament. Die Volksmassen sammelten sich in den Straßen, in den städtischen Rayonsorganisationen, den Sektionen, die nicht nur ein Laboratorium ihres Willens, sondern ihr Kampfes-Organ waren: des Druckes auf das Parlament. Alle diese Organisationsformen der revolutionären Demokratie waren von gemischter Klassenzusammensetzung, mit überwiegendem Kleinbürgertum. Jede von ihnen stellte ein Organ zur Ausführung eines besonderen Zweckes aus, keine von ihnen umfasste das ganze Leben der revolutionären Masse. Wie es dem kleinen Handwerker in den Vorstädten geht, wie der Manufakturarbeiter in der Manufaktur schuftet, darum kümmerte sich die Sektion wenig, das Parlament am wenigsten. Sie waren in erster Linie Organe der Staatseinrichtung, die ökonomischen Fragen interessierten sie nur insoweit, inwieweit es sich um die Aufhebung der Vorrechte „des Feudalismus“ handelte. Das entsprach vollkommen dem kleinbürgerlichen Charakter der Revolution. Der Kapitalismus dehnte sich erst und streckte zu seinem Siegeslauf die von ihm erzeugten Leiden wurden noch nicht sum Ausgangspunkt einer Massenaktion gegen ihn, zwecks seiner Vertretung durch eine höhere Form der gesellschaftlichen Organisation und der Kleinbetrieb konnte, die Massen nicht zusammenballen, die Produktionsform direkt konnte noch nicht zur Grundlage der politischen Macht- und Kampforganisation werden.

Die Revolution den Jahres 1905 fand in Russland in Bedingungen statt, die das industrielle, in ungeheuren Betrieben zusammengeballte Proletariat, die Sklaven der modernen industriellen Plantatoren, der Putilow-, Obuchwwerke, der Werften und Gruben zum Hauptträger machte. Instinktiv fand das Proletariat in der durch den Kapitalismus geschaffenen Produktionsorganisation die Grundlage für seine politische Organisation. Es wählte Fabrikorganisationen, die seinen Kampf um alle seine Bedürfnisse führten: um Brot und Freiheit, um eine Arbeitszeit, die ihm nach dem schweren Robot für den Kapitalisten noch die Möglichkeit beließ, an seine Befreiung zu denken. Die Zusammenfassung der Proletarier in der Fabrik bildete dann die Grundlage zu ihrer Zusammenfassung zur revolutionären Kraft in der Stadt. Die Vertreter der Fabriken versammelten sich und so war der Arbeiterdelegiertenrat entstanden, das Organ des revolutionären Kampfes der ganzen Arbeiterklasse der ganzen Stadt. Und wie sich im Leben des Proletariats sein Streben nach einem Stückchen Brot mehr, nach dem Achtstundentage, nach einer menschlichen Behandlung in der Fabrik von seinem Kampfe gegen die Unterdrückung durch die Staatsorgane nicht trennen lies, so war der Arbeiterdelegiertenrat nicht nur ein Organ des Kampfes gegen die zarische Regierung, sondern auch des gegen die kapitalistische Ausbeutung. Er focht ebenso um die Republik, wie um die Verkürzung der Arbeitszeit. Der bürgerliche Parlamentarismus ist nicht nur ein Organ der Vertretung der Volksmassen, sondern auch ihrer Zertretung, ihrer Beherrschung im Interesse des Kapitalismus. In ihm tragen selbst die die Interessen der Arbeiterschaft vertretenden Abgeordneten die Tendenz in sich, sich von der Arbeiterschaft abzusondern, eine sie beherrschende Oligarchie zu bilden, die dank der besseren Kenntnis der sozialen Zusammenhänge, dank der Befreiung von der kapitalistischen Fron eine Übergewicht über die Masse ihrer Mandatare besitzt: diese werden zur Rolle der Statisten heruntergedrückt. Der Arbeiterdelegiertenrat überwindet diesen Charakter der Vertretungskörperschäften als Beherrschungsorganisationen. Die zu ihm entsandten Arbeitervertreter bleiben in der Fabrikarbeit, sie teilen alle Leiden und Freuden der Arbeiterklasse, sie kommen von der Drehbank und dem Bessemerofen in den Rat der Revolution und kehren von dem Beratungssaal in die Hölle der Ausbeutung zurück. Und haben sie bei ihrer Arbeit in dem Delegiertenrat neue Einsichten gesammelt, so dienen diese nicht zur Beherrschung der Masse, sondern sie müssen ihr Allgemeingut werden Der Arbeiter-Delegiertenrat verfügt über keine Gewaltmittel über die Masse, sein einziges Gewaltmittel ist die Masse selbst. Will er sie zu einer Aktion bewegen oder von einer abhalten, so muss er mit ihr all sein Wissen teilen, so muss er sie zu seiner Höhe heben. Nun, Parlamentsvertreter der Arbeiterklasse wollten es auch, wenn sie keine pflichtvergessenen Politikaster waren, die auf dem Rücken der Arbeiterschaft heraufgeklettert sind um persönlicher Vorteile willen. Aber dies Bemühen der besten Arbeitervertreter hat in sog. friedlichen Zeiten seine Schranke nicht nur in der Stumpfheit der breitesten, von Not und Elend zermürbten und niederdrückten, zum geistigen Leben unfähig gemachten Volksmassen: deswegen ist der Gedanke, als könne man die Arbeitermassen im Kapitalismus bis zu Ende organisieren und aufklären, und müsse mit dem Gedanken an die Revolution bis zur Erlangung einer vollkommenen Organisation und Aufklärung warten, nicht nur ein utopischer, sondern auch ein konterrevolutionärer Gedanke. Die wichtigste Schranke der sog. Aufklärungsarbeit des Proletariats in friedlichen, nichtrevolutionären Zeiten ist die Tatsache, dass die Arbeitermassen nur im Prozess der Revolution den Schwung finden, die Kraft, sich für alle sozialen und politischen Fragen zu interessieren weil nur in der Revolution die Masse ihr Wissen nicht in den Schranken des Gehirns aufzustapeln braucht, sondern es gebrauchen kann: in nicht revolutionären Zeiten leistet die Arbeitermasse ihre unermessliche Arbeit nur an den Fundamenten der Gesellschaft, in der Produktion. Am Überbau hantieren die Vertreter des Kapitals, die den Staat beherrschen, sie lassen zu ihrer Flickarbeit höchstens die Meine Anzahl der Arbeiterparlamentarier zu, für die Arbeitermassen ist die Ruhe die höchste Bürgerpflicht. Die Revolution, das ist der Staatsumbau durch die Volksmassen selbst: sie erschüttern die alten Fundamente, reißen sie aus, mauern an den Grundlagen, bauen ein neues Haus für die Menschheit, und drum lechzen sie nach Wissen. In dem Zeitalter des entwickelten Kapitalismus hat die russische Revolution des Jahres 1905, weil ihre Kolonnen aus dem industriellen Proletariat bestanden, auch die Form der Zusammenfassung der Massen zum Kampfe gefunden und überall, wo die proletarischen Massen in revolutionären Kampf treten werden, wird nicht das Parlament, sondern der Arbeiterdelegiertenrat ihr Kampforgan sein, welchen Umformungen Anpassungen an die lokalen Bedingungen anderer proletarischen Revolutionen dieses Kampforgan auch unterliegen mag.

Die Revolution des Jahres 1917 griff natürlich auf den Arbeiterdelegiertenrat zurück, der in den Herzen der Masse lebendig war. Noch knatterten die Maschinengewehre auf den Straßen Petrograds und schon fanden die Wahlen in den Fabriken statt, schon eilten die Arbeiterdelegierten nach dem Taurischen Palast, dem Symbol des Sieges der Konterrevolution des Jahres 1907, dem Sitz der zarischen Duma, um dort, wo man in den schwarzen Jahren der Konterrevolution die Stimme der Vertreter der Arbeiterschaft erdrücken wollte, nicht nur das Parlament der Arbeit, sondern die revolutionäre Waffenschmiede zu eröffnen. Aber der Arbeiterdelegiertenrat des Jahres 1905 ist nicht auferstanden. An seiner Stelle entstand der Arbeiter- und Soldatenrat.

In der russische Revolution bildet das Proletariat die treibende Kraft. Aber sie ist keine rein proletarische Revolution. Die nicht gelöste Agrarfrage verleiht der Bauernschaft eine große revolutionäre Bedeutung. Aber das Bauerntum lebt zersplittert und in gewöhnlichen Bedingungen der Revolution könnte es niemals mit der Arbeiterschaft um die führende Rolle in der Revolution kämpfen. Aber der Krieg hat die Bauern als organisierte Macht auf die Bühne der Geschichte geworfen, als die Armeen, die in ihrer Mehrheit bäuerlicher Herkunft sind. Ein Teil der Armee hat in Petrograd aktiv an der Seite der Arbeiter gefochten. Die Mehrheit der Armee an der Front stellte sich auf die Seite der Revolution. Das Proletariat hatte nicht nur kein Interesse, sich von der Armee abzusondern, sondern umgekehrt, es hatte jedes Interesse die Armee mit sich zu verbinden, sie aus dem Banne des Einflusses der zarischen Offiziere zu reißen. Darum forderten die Führer des Proletariats die Soldaten sofort auf, überall Vertreter zu wählen und sie in den Arbeiterdelegiertenrat zu entsenden. Je intimer die Verbindung zwischen Armee und dem Delegiertenrat, desto gesicherter die Revolution. So wählte jede kleinste Einheit der Armee ihre Vertreter in den Arbeiterdelegiertenrat. Da aber die Versammlungen des Arbeiterdelegiertenrates nicht arbeitsfähig wären, wenn sie zu groß wären, so kam en, dass die Fabriken nur je einen Vertreter auf größere Arbeitereinheiten bekamen. Im Resultat bekamen die 300 Tausend Petrograder Fabrikarbeiter eine sechsmal kleinere Vertretung als die 150 T. Mann der Petrograder Garnison. Ähnlich war es in der Provinz. Die Verwandlung des Arbeiterdelegiertenrates in den Arb.- und Soldatenrat bedeutete somit die Verwandlung des proletarischen Kampforgans in ein Organ der revolutionären Demokratie überhaupt, in ein Organ also mit überwiegender – und das selbst in künstlichem Ausmaße – kleinbürgerlichen Mehrheit.

Die Bauernsoldaten schleppten mit sich nicht nur die Bleigewichte ihrer politischen Traditionen, nicht nur die Last ihrer Kultur- und Bildungslosigkeit, sondern sie bildeten auch sozial keine einheitliche Masse. Ganz abgesehen von allen kleinbürgerlichen Elementen, die von der Bourgeoisie assimiliert, an ihren großen Wagen ihr Wägelchen angebunden haben, politisch vollkommen im Banne der liberalen Partei sich befanden. Die Bauernmasse selbst hat in ihrer Mitte eine Masse von Elementen, die die Dorfbourgeoisie darstellen, nicht von der Revolution, der Konfiskation des feudalen Großgrundbesitzes, sondern von der ruhigen kapitalistischen Entwicklung ihr Heil erwarten. Sie haben durch Wucher manchen Bauern um Grund und Boden gebracht, sie hoffen beim Steigen der Getreidepreise ihren Großgrundbesitz zu vergrößern. Sie fürchten die Revolution, weil sie unter der Losung der Konfiskation des Grundbesitzes segelt, der die Norm übersteigt, die ein Bauer mit seiner Familie bebauen kann. So kamen mit der Soldatenvertretern nicht nur kleinbürgerliche, sondern sogar konservative Elemente in die Arbeiter- und Soldatenräte.

Der kleinbürgerliche Charakter des Arb.- und Soldatenrates wurde noch durch die Umschichtung in der Arbeiterschaft selbst verstärkt, die sich während des Krieges vollzogen hat. Massen industrieller Arbeiter wurden eingezogen, am stärksten die Jahrgänge, die vor zehn Jahren die Revolution mit durchgekämpft haben, oder unter ihren Einfluss aufgewachsen sind. Vom Dorfe, aus den halb bäuerlichen Elementen der Stadt-Kutscher, niederer Dienerschaft rekrutieren sich die Kader der neuen Industrieproletarier. Sie werden verstärkt durch Hunderttausende Frauen, die erst in der Fabrik in die Reihen der kämpfenden Arbeiterklasse hineingezogen werden. Diese ganze Masse hat weder politische Traditionen, noch politische Schulung, sie lebt noch im Banne der Ehrfurcht vor dem Baron, dem Herrn, der allein imstande ist, die Staatskutsche zu leiten.

Aus dieser uneinheitlichen Zusammensetzung des Arbeiter- und Soldatenrates ergab sich seine Unfähigkeit zu einer einheitlichen proletarischen Politik. Die Voraussetzung dieser bilden: rücksichtsloser Klassenkampf und seine Internationalität. Aber die Bauern stehen nicht im direkten Gegensatz zur industriellen Bourgeoisie: nur indem sie sich als Verteidigerin des Junkertums allmählich demaskiert, sehen sie in ihr den Feind. Und die Internationalität des Kampfes um den Frieden? Inwieweit sich die Bauern zu ihrer Verständnis emporschwingen können, so ist es die Idee der Übereinkunft über den Kampf gegen den Krieg. Wie utopisch sie sein sein mag – nur im Kampfe selbst können die Massen eine internationale Front formen – sie scheint den Bauern die einzige Gewähr dafür zu bilden, dass der Krieg „gerecht" endet. D. h. der Bauer will dem „anderen" nichts rauben, aber er will sich durch einen Kontrakt versichern, dass auch ihm nichts genommen wird.

Der Kampf zwischen dem proletarischen und dem kleinbürgerlichen Element füllt die Geschichte des ersten halben Jahres der Sowjets und der Revolution aus. Diese Geschichte sichert die Bolschewiki vor jeder Illusion über die Bedeutung einer eventuellen Übernahme der Gewalt durch die Sowjets. Nehmen die Sowjets die Macht in die Hand, so bedeutet das nur, dass sich die kleinbürgerliche Masse überzeugt hat von der Gegensätzlichkeit ihrer und der kapitalistischen Elemente. Aber es bedeutet nicht, dass sie das Wesen dieses Gegensatzes, die Wege und Mittel seines Austragens kennt und versteht. Die Entscheidung der kleinbürgerlichen Massen, die Macht in die Hände zu nehmen, wurde durch den Einfluss ihrer quasisozialistischen Führer ungeheuer verzögert; derselbe Einfluss wird auch verhindern, dass die Massen schnell die Lehren ihrer Fehler erkennen. Die sozial schwankende Position des Kleinbürgertums wird noch mehr schwankend dank dem kleinbürgerlich-sozialistischen Wippetaktik ihrer Führer.

Das Ergreifen der Macht durch die Sowjets würde vorerst die direkten kapitalistischen Interessen als Bleigewicht der proletarischen Politik aus der Regierung wegräumen, aber keinesfalls die bürgerliche Ideologie, die die Rücksichtnahme auf die Interessen des Bürgertums diktiert. Somit wurde die Übernahme der Macht durch die Sowjets zwar den Kampf gegen die Kapitalistische Konterrevolution erleichtern, aber nicht verhindern können, dass jede Etappe dieses Kampfes neue Kämpfe innerhalb der Sowjets, zwischen Proletariat und Kleinbürgertum entfachen würde.

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