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Karl Radek 19171006 Die Revolution und der Bruch mit der Bourgeoisie in Russland

Karl Radek: Die Revolution und der Bruch mit der Bourgeoisie in Russland

(Zur demokratischen Konferenz)

[Nach Bote der Russischen Revolution. Organ der ausländischen Vertretung des Zentralkomitees der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (Bolschewiki) Nr. 4, 6. Okt. 1917, S. 1-5]

Auf der Tagesordnung der demokratischen Konferenz steht das Problem, das vom ersten Tage der Revolution ihre wichtigste Frage war: die Bildung der revolutionären Staatsgewalt. Die Staatsgewalt ist während der Revolution, wie in sonstigen Zeiten, kein allmächtiger Faktor. Es beherrschen sie die Kräfte, die draußen in der Fabrik, auf dem Markte, darüber bestimmen, ob genug Brot und Eisen vorhanden ist, ob die Volksmassen für oder gegen sie gehen. Aber sie kann mit den gegebenen Kräften gut oder schlecht wirtschaften, sie für oder gegen die Revolution einsetzen. Sie kann sich der Niederreißung der alten Gemäuer widersetzen, oder die Kolonnen der Maurer organisieren, die das alte und morsche entfernen und neue Gebäude aufrichten

Die Frage: wem gehört die Gewalt? – beantworteten die Führer der kleinbürgerlichen und proletarisch-opportunistischen Demokratie mit der Überweisung der Staatsmacht an die Vertreter der Bourgeoisie und des kapitalistischen Junkertums. In der ersten Regierung saßen nicht nur die Vertreter der liberalen, sondern selbst der nationalliberalen Bourgeoisie und des freikonservativen Junkertums: neben Miljukow Gutschkow, Konowalow und Fürst Lwow. Kerenski, der einzige Vertreter des Kleinbürgertums in der Regierung, spielte die Rolle des Geiseln. Die Übergabe der Macht an die Bourgeoisie erklärten die Vertreter der Sowjets zuerst mit Rücksichten auf die Lage in den ersten Tagen der Revolution. Nur Petrograd stand auf der Seite der Revolution, die Haltung der Armee und der Generalität war unbekannt, da sei es ein Gebot der Klugheit gewesen, bürgerliche Kräfte heranzuziehen, die dank ihrer Fürsorgetätigkeit während des Krieges eine große Popularität im Heere besaßen, in besten Beziehungen zu der Generalität standen, über große organisierte Kräfte verfügten; Später wurde diese Argumentation durch eine allgemein historische ersetzt die russische Revolution sei eine bürgerliche, sie könne noch nicht zum Sozialismus führen, deshalb sei möglich und notwendig alle Kräfte heranzuziehen, die an der Liquidierung des Zarischen Regimes interessiert sind; zwar gingen die Ziele der Bourgeoisie, was Demokratie und Sozialpolitik anbetrifft, nicht so weit wie die der proletarischen und kleinbürgerlichen Demokratie, aber diese habe einen solchen Einfluss auf die Volksmassen, dass die bürgerliche Regierung genötigt sein wird, weiter zu gehen, als sie beabsichtigt.

Diese Auffassung, die den alten Ansichten des Menschewismus entsprach, stand im glatten Widerspruch zu allen Lehren der Geschichte. Die französische Revolution des 18. Jahrhunderts war ganz gewiss in noch höheren Maße eine bürgerliche Revolution, da die Bildung der Vorbedingungen einer kapitalistischen Produktionsweise erst überhaupt auf der Tagesordnung der Geschichte stand. Und trotzdem wurden ihre Errungenschaften im Gegensatz nicht nur zu den feudalen, sondern den großkapitalistischen Elementen, den Girondisten, durch eine Diktatur des Kleinbürgertum in Land und Stadt und des Handwerker-und Manufakturproletariats, durch die Jakobiner durchgeführt. Und wo die vollkommene oder teilweise Lösung der Agrarfrage die Hauptkraft des Kleinbürgertums, das Bauerntum, seiner revolutionären Tendenzen beraubte, wo dem Bürgertum keine jakobinische Koalition gegenüberstand, sondern ein isoliertes Proletariat, dort dachte das Bürgertum keinen Augenblick an die Durchführung der Demokratie, sondern begnügte sich mit der Eroberung des Ellenbogenraumes für die kapitalistische Entwicklung: so in Frankreich und Deutschland im J. 1848. Die Erfahrungen der russischen Geschichte bestätigten diese Lehren vollauf. Die russische Revolution des Jahres 1905 war das Werk des Proletariats und sie endete mit seiner Niederlage, weil die an seinem Siege interessierten Bauernmassen [nur] langsam in Bewegung traten, und die Bourgeoisie Zeit hatte, mit dem Zarismus sich gegen das Proletariat zu verbünden, bevor sich dieses mit den Bauern verbünden konnte. Die siegreiche Bourgeoisie begnügte sich mit der Zulassung zur Leitung des Staates durch den Zarismus, machte alle seine Infamien gegen die demokratischen Kräfte mit und selbst als die Lehren des Krieges, der Zusammenbruch bei Gorlitze ihr zeigten, dass der Zarismus unfähig ist, ihr eine ruhige Entwicklung zu sichern, erklärte nicht nur der Nationalliberale (Oktobrist) Rodsjanko in seinen Briefe an den General Alexejew: wir sind ohnmächtig, weil jede unsere Bewegung gegen den Zarismus ein zweischneidiges Schwert ist, sie kann eine proletarische Bewegung auslösen; auch der liberale Miljukow erklärte von der offenen Dumatribüne: besser eine Niederlage als eine Revolution. Die Legende von der Teilnahme der Duma an der Organisation der Revolution, die die Liberalen später verbreiteten, um ihren Anspruch der Leitung der Revolution zu begründen, wurde dann durch die einfache chronologische Darstellung der Ereignisse so oft widerlegt, dass es vollkommen richtig ist, wenn das konservative Dumamitglied Mansirew in der patriotischen Revue „Russkaja Buduschnost" schreibt: „Ihr Sich-an-die-Spitze-Stellen erinnert zu sehr an den freiwilligen Besuch auf den Polizeiamt, wenn einer von dem Hütern der Ordnung zu diesen Besuch eingeladen wird. Die Dumamitglieder stellten sich nicht an die Spitze der Revolution, sondern bewegten sich im Schwanze der Ereignisse und sie setzten sich in Bewegung erst dann, als ihnen nichts übrig blieb."

Die ersten sechst Monate der Revolution bewiesen mit einer Klarheit, die selbst einen großen Teil der kleinbürgerlichen Demokratie zur Umkehr nötigte, die vollkommene Unmöglichkeit, die bürgerlichen Gäule vor den Wagen der Revolution zu spannen. Zwischen dem Bürgertum und der Revolution klafft ein tiefer Gegensatz nicht nur in der Frage der Ziele, sondern auch der Wege. Das Bürgertum ist Gegner einer demokratischen Republik, in der den Volksmassen und ihren Organisationen ein ausschlaggebender Einfluss auf den Staat garantiert sein wird. Es könnte sich aussöhnen mit der Entthronung des selbstherrlichen Zaren, wenn nur seine eigene Selbstherrlichkeit dessen Stelle einnehmen würde. Die Demokratisierung des Heeres, die Wahl der Beamten durch das Volk, die Kontrolle der Industrie durch Arbeiterorganisationen, die Abschaffung der Polizei, das alles würde aber in einen Lande mit 17 Millionen Proletarier in Stadt und Land, von denen ein Teil sehr stark konzentriert, revolutionär gestimmt ist, der kapitalistischen Politik überhaupt und der imperialistischen in Besonderen solche Schwierigkeiten bereiten, dass es hieße, vom Kapital Selbstmord zu verlangen, wenn man von ihm Hilfe für die Revolution fordern würde. Nicht nur die Ziele, sondern auch die Wege der Revolution müssen der kapitalistischen Bourgeoisie tief verhasst sein. Das Land wurde durch den Krieg in einen Zustand der tiefen wirtschaftlichen Desorganisation und Erschöpfung versetzt. Die Arbeitermassen, die nach vielen Jahren der rücksichtslosesten Ausbeutung und Unterdrückung sich als Sieger, als Herrn der Situation fühlen, müssen versuchen, ihre Lage bessern; inzwischen erzeugt die vollkommene finanzielle Zerrüttung, die Entwertung der Valuta zusammen mit dem Mangel an Rohstoffen und Lebensmitteln eine fantastische Teuerung. Den einzigen Ausweg bildet die Ausschaltung jeder Spekulation, Profitmacherei, die Einteilung der Produktivkräfte nach den Bedürfnis des Staatsganzen, die Produktion nur dessen, was notwendig ist für den Staat, d. h. in den gegebenen Umständen für die Massen Das Kapital soll somit nicht nur auf die ungeheuren Kriegsprofite verzichten, es soll noch aus seinen bisherigen Profiten große Teile hergeben zur Linderung der finanziellen Not des Staates. Die Klasse, deren soziale Rolle im Nehmen bestand, im Enteignen der Volksmassen, soll nicht nur ruhig zusehen, wie sie um große Teile ihres Vermögens enteignet wird, sondern sie soll selbst ihre Hand hilfreich und mit Begeisterung dazu reichen. Und dies alles, damit die Revolution in die Lage kommt, die Demokratie zu verwirklichen, den Bauern kostenlos den Grund und Boden zu geben, wobei die kapitalistischen Besitzer der Hypothekarpfandscheine ihre Vermögen einbüßen; sie sollen Opfer bringen, damit die Proletarier ihre Lage bessern können und einen Riegel den imperialistischen Bestrebungen des Kapitals vorschieben.

Natürlich dachten die russischen Kapitalisten nicht daran, sich die Metzger selbst auszuwählen. Sie nahmen Teil an der Regierung nicht um die Revolution zu stützen, zu fördern, sondern um sie zu hemmen auf Schritt und Tritt.

Sie schrieben über die Desorganisation der Industrie und hielten bewiesenermaßen oft die Produktion auf, obwohl Rohstoffe vorhanden waren: unter dem Vorwand, als fehlten sie. Die Banken schlugen den Städten Kreditgewährung ab, obwohl dies mit vollkommener sozialen Desorganisation drohte. Durch ihren Vertrauensmann im Handelsministerium, den berüchtigten Paltschinski, sabotierten sie jeden Versuch der Regelung der Beziehungen zwischen den Kapitalisten und den Arbeiten; gar nicht von der Lahmlegung der Arbeiterbestrebungen auf Kontrolle der Profite zu sprechen, ohne die das Proletariat die begründete Vermutung hat, dass während ihm Mäßigung gepredigt wird, die Kapitalisten nach wie vor den Staat die Haut über die Ohren ziehen. Sie verschleppten jedes Gesetz, das die Bauern ihrem Ziele, der Ergreifung von Grund und Boden näher bringen könnte. Sie unterstützten die Bemühungen der Generalität der Wiederherstellung des Regimes der Gewalt in der Armee, was die Soldatenmasse nur in der vollkommen berechtigten Überzeugung bestärkte, dass sie als stummes willenloses Werkzeug fremder Interessen gebraucht werden sollen. Indem die kapitalistischen Vertreter in der Regierung jede schöpferische Arbeit zu Gunsten der Massen hinderten und die Staatsgewalt zu immer neuen Repressalien gegen die Arbeiter und Bauern anspornten, gruben sie einen Abgrund zwischen den Trägern der Revolution, den revolutionären Volksmassen und der Revolutionären Regierung. Dadurch wurde ebenso sehr ein Staatsstreich der Konterrevolution, wie eine neue revolutionäre Erhebung vorbereitet.

Die kleinbürgerliche Demokratie sammelte sich, am Abgrunde stehend, zur Abwehr. Dank der Energie der Arbeiterschaft, der revolutionären Treue der Soldaten, die fühlten, dass der Sieg der Konterrevolution sie von ihren beiden Zielen: der Freiheit und dem Boden, entfernt, wurde nicht nur der Staatsstreich im Keime ersticht, sondern die Situation mit einem Ruck zu Gunsten der Demokratie geändert. Die Volksmassen bekamen das Gefühl ihrer Kraft und der ihnen seitens der Konterrevolution drohenden Gefahr. Im Lager der kleinbürgerlichen Demokratie fand ein Ruck nach links statt. In der menschewistischen Partei, in der Sozialisten-Revolutionären verschwand die Mehrheit, die bisher mit aller Energie die Koalition mit den Kadetten vertrat. Der Schrei der Potressow ,Lenin naht!' – so ist wörtlich ein Artikel Potressows, eines der hervorragendsten menschewistischen Schriftsteller im „Djen" betitelt – der Schrei, die Bolschewiki seien gefährlicher als die Kornilows, half nicht. Die Lehren des halben Jahres der Revolution haben das ihrige getan. Der Ruck nach links der Mehrheit der kleinbürgerlichen Sozialisten soll nicht überschätzt werden. Es liegt erst das Eingeständnis des Bankrotts der Politik der Koalition mit dem Kapital und die Fassung der Telegramme der Petrograder Agentur erlaubt nicht einmal sicher zu sagen, ob sich die demokratische Konferenz gegen die Koalition mit der kapitalistischen Bourgeoisie überhaupt oder nur gegen die Koalition mit den Kadetten ausgesprochen hat. Sollte nur das letzte geschehen sein, dann steht noch eine Periode von Experimenten mit bürgerlichen Elementen vor, die sozial nichts als ihre eigene Unfähigkeit zur revolutionären Politik repräsentieren Aber man soll die Linksschwenkung der kleinbürgerlichen Führer auch nicht unterschätzen. Je tiefer sozial die Wurzel ihrer bisherigen Koalitionspolitik liegen – und die Koalitionsdoktrin ist nur der ideologische Ausdruck der Abhängigkeit des Kleinbürgertums von Kapital – desto höher muss der Druck eingeschätzt werden, den die Ereignisse und die kleinbürgerlichen Massen auf sie ausgeübt haben, bis sie sich aus den Banden der Koalitionspolitik befreit haben. Sie haben natürlich ihre kleinbürgerliche Ideologie, ihr Misstrauen in die Kräfte der Volksmassen nicht aufgegeben. Es werden Kämpfe von ungeheurer Schärfe notwendig sein, bis sie die Konsequenzen des Bruches mit dem Kapital ziehen werden. Ganz abgesehen von dem sehr wahrscheinlichen Versuchen noch mit „fortschrittlichen" kapitalistischen Elementes anzubandeln, was ein reiner Verlust der in der Revolution sehr teuren Zeit ist, so werden sie lange nicht verstehen, dass der Bruch mit der Bourgeoisie in Russland einen Bruch mit der europäischen Bourgeoisie nach sich ziehen muss. Umgekehrt sind jetzt Rütlischwüre der Treue den Alliierten gegenüber zu erwarten.

Aber die Logik der Tatsachen ist stärker als die Unlogik politischer Führer und ihrer Richtungen. Der Bruch mit der Bourgeoisie wird seine Folgen haben. Wir sehen in ihm die erste große Wendung seit der Revolution.

Wird in Russland eine Staatsnacht gebildet, die ohne Rücksicht auf die Interessen des Kapitals die Interessen des Kleinbürgertums und des Proletariats vertreten wird, dann wird sie zwar keine Wunder im Innern und Außen schaffen können, aber sie wird mit Verzweiflung gegen die kapitalistischen Erdrosselungsversuche kämpfend, die Kräfte der Volksmassen entfesseln müssen und indem sie das in Russland tut, wird sie auch imstande sein, auf die proletarischen Kräfte in Europa wirken zu können. Wenn sich die Konsequenzen des Bruches mit der Bourgeoisie in Russland in praktischen Taten zeigen, so wird des proletarische Europa vor die Frage gestellt, ob es im Dienste seines Kapitals einen Kreuzzug gegen eine proletarische Revolution mitmachen will.

Trotz allem Niederdrückenden, das wir in den drei Jahren des Krieges und dem halben Jahre der russischen Revolution erlebt haben, sind wir tief überzeugt, dass das europäische Proletariat sich aufmannen wird, dass die Wendung in Russland eine Wendung in allen kriegsführenden Ländern nach sich ziehen wird. Dass der Bruch der russischen Revolution mit dem Kapital die internationale Solidarität der Proletariats zur Tatsache machen wird.

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