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Karl Radek 19170922 Die russische Republik

Karl Radek: Die russische Republik

[Nach Bote der Russischen Revolution. Organ der ausländischen Vertretung des Zentralkomitees der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (Bolschewiki) Nr. 2, 22. Sept. 1917, S. 1-4]

Die Provisorische Regierung hat Russland als Republik erklärt, nachdem sie sechs Monate lang sich geweigert hat, dies zu tun. Die Frage der Proklamation der Republik trennte die Bourgeoisie von der kleinbürgerlichen und Arbeiterdemokratie schon vom ersten Tage der Revolution. Als am 12 März Tschcheïdse und Steklow als Vertreter des neu gebildeten Arbeiter- und Soldatenrates mit, den Vertretern des Dumakomitees über die Bildung der Provisorischen Regierung berieten, widersetzten sich die Bürgerlichen in erster Linie der Forderung der Proklamation der Republik. Nach dem Berichte, den Steklow in der ersten allgemein russischen Konferenz der Sowjets am 13. April erstattete, war es Miljukow, der den starrköpfigsten Widerstand leistete. Man dürfe nicht die Entscheidung über die Staatsform der Konstituierenden Versammlung vorenthalten – das war das Hauptargument der Bourgeois. Diese demokratischen Gefühle hinderten natürlich dieselben Leute nicht, hinter dem Rücken der Arbeiter und Soldaten mit dem Zaren über die Abtretung der Krone an den Großfürsten Michail Alexandrowitsch zu verhandeln und nur die energische Haltung der Arbeiter und Soldaten hat Russland in den schmachvollen Zustand gebracht, sechs Monate lang ohne Zaren auszukommen. Dass Russland nicht sofort nach den Sturz des Zarismus als Republik proklamiert wurde, war der schwankenden Haltung der Sowjetführer zuzuschreiben. Steklow erklärte in dem eben erwähntem Bericht die nachgiebige Haltung den Protesten der Kadetten und Oktobristen gegenüber mit der Erwägung. dass es keinem Zweifel unterlag, dass die Erinnerung an die Herrschaft der Romanows im Volke jede Vorliebe für die monarchische Staatsform ausrotten wird. Aber es unterliegt keinem Zweifel, dass nicht diese Erwägung, sondern die Angst vor dem Bruch mit der Bourgeoisie die Haltung der Sowjetführer bestimmte. Die Bourgeoisie widersetzte sich aber der Proklamation der Republik, weil sie immer noch hoffte, dass sich die Wellen der Revolution legen werden und man zu der monarchischen Form zurückkehren können wird: sie wollten sie vor einer formellen Unterbrechung ihrer Herrschaft bewahren. Und die sog revolutionäre Demokratie, d. h. schlichter gesagt, die kleinbürgerlichen Führer respektierten diesen Willen der Bourgeois so sehr, dass die Kerenskis und Zeretellis selbst nach dein Austritt der Kadetten aus der Regierung, als sie am 21. Juli die berühmte Deklaration des Programms der Regierung formulierten, nicht wagten, die Republik zu proklamieren.

Nun hat die Regierung Kerenskis sich genötigt gesehen, die Rücksichten auf die monarchische „Gesinnung" der Bourgeoisie fallen zu lassen. Der konterrevolutionäre Staatsstreich Kornilows, von dem sie sehr gut weiß, dass er kein Abenteuer eines einzelnen Generals ist, nötigte sie den Volksmassen einen Knochen zuzuwerfen, um ihnen zu zeigen, dass es wert ist, Herrn Kerenskis Regime zu verteidigen. Aber mag die Regierung Kerenskis mit ihrem Beschluss in den Kreisen der revolutionären Intelligenz, die im Sowjet das große Wort führt, Enthusiasmus erwecken, die Volksmassen wird sie kühl lassen. Die breitesten Massen des Bauerntums stehen der Frage der Staatsform ziemlich fremd gegenüber. Sie wollen Grund und Boden haben und eine Monarchie, die ihnen ihn geben würde, würde eher auf ihre Unterstützung rechnen können, als eine Regierung, die dem Zaren die Krone nimmt, aber den Besitz der Junker nicht anzutasten wagt. Die klassenbewussten Proletarier wissen aber, dass die Republik, für die sie seit zwei Jahrzehnten kämpfen, ein Unding, ein Schemen ist, ohne Aufräumung mit dem junkerlichen Großgrundbesitz, der die soziale Grundlage des Zarismus bildet. Solange kein Ende der Junkerherrschaft bereitet ist, kann die zarische Restauration immer kommen, mag die Republik zehnmal verkündet worden sein. Aber abgesehen davon, ist die Republik eine Lüge, solange sie sich auf die Abschaffung der Krone beschränkt. Das Regime Kerenskis überlässt die Staatsverwaltung in der Provinz in den Händen der Junker und der Bourgeoisie. In den Ministerien schalten und walten die alten zarischen Tschinowniks. Ohne gründliche Auskehr in der Verwaltung ist zwar der Zar abgeschafft, aber die Zaren sind geblieben. Und der Kampf des Herrn Kerenski gegen die revolutionären Organisationen und Organe selbst im Augenblick, wo ihn die Generäle der Konterrevolution bei der Gurgel zu packen suchten, legt der Arbeiterschaft die Frage nahe: haben wir denn deswegen die zarische Gewalt- und Schandregierung gestürzt, um die Kerenskis zu dulden? Die Republik kann nicht durch ein Dekret proklamiert werden, das ein Prinzip feststellt, ohne das eine umfassende Arbeit die Demokratie unten, in allen Staatszeilen organisiert wird. Für eine Republik nach dem Muster der französisch-bürokratischen oder der amerikanisch-plutokratischen haben die Arbeiter Russlands nicht geblutet.

Wohl weiß jeder aufgeklärte Arbeiter Russlands, dass falls der Kapitalismus in Europa aus dem Kriege gestärkt ausgehen, falls der russische sich in der Atmosphäre der europäischen Reaktion entwickeln würde, auch die demokratischsten Staatsformen das Kapital nicht hindern könnten, alles, zu unternehmen, um die russische Republik mit kapitalistischen Inhalt zu erfüllen, sie zu einer Form der schamlosesten Klassenherrschaft zu machen. Aber sie wissen gleichzeitig, das je mehr die Institutionen der Volksherrschaft ausgebaut werden, je mehr die Volksmassen lernen werden, ihre Angelegenheiten selbst und durch gewählte Beamten zu erledigen, je mehr die bürokratischen Elemente ausgerottet werden, desto schwieriger wird es dem Kapitalismus sein, mit ihnen fertig zu werden, mag sich die Lage in Europa gestalten, wie sie will. Im Volke tief verankerte demokratische Institutionen und Gewöhnungen lassen sich nicht mit einem Federstrich einführen, wie Änderungen in der Spitze der Staatsmaschine, aber sie lassen sich auch nicht mit einem Federstrich aus der Welt schaffen, wie jene. Aber noch eins kommt in Betracht.

Das kapitalistische Europa wird aus dem Kriege nicht so ausgehen, als es in ihn eingetreten, war. Kein denkender kapitalistischer Politiker nimmt an, dass die Schuldenlast, die der Krieg hinterlässt, mit den alten Methoden der kapitalistischen Steuerpolitik behandelt werden kann. Und kein denkender Sozialdemokrat nimmt an, dass die Eingriffe des kapitalistischen Staates in die Privatwirtschaft, mit denen sich schon die kapitalistischen Politiker aussöhnen, imstande sein werden, die tiefe soziale Krise aufzuhalten, in der sich Europa befindet. Jeder Kampf um die Linderung einer der Schmerzen, die jetzt den Leib Europas zerwühlen, wird zu sozialen Umwälzungen führen. Nicht der ist ein Utopist, der behauptet, dass die Tage der Herrschaft des Kapitalismus gezählt sind, sondern der, der es nicht sehen will. Kommt es aber zu diesen entscheidenden Kämpfen um eine soziale Neugestaltung Europas, so werden auch die Fragen von der Staatsform in den kapitalistischen Ländern, in denen, wie in Russland die Vorbedingungen des Sozialismus noch nicht entwickelt sind, einen viel schärferen Kampfescharakter bekommen. In Russland ist der direkte Kampf um den Sozialismus jetzt unmöglich angesichts des mittelalterlichen Zustandes der Agrarwirtschaft, dem niedrigen Zustand der Arbeitsproduktivität auch in der Industrie. Aber die wichtigsten Industriezweige, wie die Metallurgie, der Kohlen- und Erzbergbau, das Transportwesen, die Banken sind konzentriert, wie in Deutschland und Amerika. Wenn sie heute in den Händen der Kartelle für eine kleine Clique der russischen und fremden Kapitalisten arbeiten können, so können sie es auch für den Staat tun. Russland wird auf sie die Hand legen müssen, wenn es die sozialen Folgen des Krieges überwinden will. Die Frage Ist nur, was für ein Gebilde geschaffen wird: wird die Herrschaft des kapitalistischen Staatsmonopols, der die Massen des Proletariats und der Konsumenten nicht anders behandelt, als es die Privatkartelle tun, aufgerichtet, oder wird die Wirtschaft unter der Leitung eines Staates sich befinden, in dem die Arbeiterschaft und die kleinbürgerlichen Volksmassen das ausschlaggebende Wort sprechen. Die parlamentarische Republik mit der Herrschaft der Bürokratie und der parlamentarischen Klientenklüngel kann nicht die Form der Durchsetzung des entscheidenden Einflusses der Volksmassen sein. Dazu sind lokale und zentrale Organe der Arbeiter und Bauernmassen notwendig, die in ihren Händen die Verwaltung des Staates und die dauernde Kontrolle der Industrie besitzen würden. Diese Rolle werden die Sowjets spielen, die Organe der Arbeiterschaft und des Kleinbürgertums. Die klugen Leute der kleinbürgerlichen Demokratie greifen zu den Handbüchern des Staatsrechts und beweisen, dass die Forderung der Bolschewiki: keine bürokratisch-parlamentarische Republik, sondern die Republik der Sowjets utopisch, unerfüllbar ist, weil die Geschichte kein Beispiel kennt, wo die sozial nicht-herrschende Klasse eine so weitgehende Kontrolle ausüben konnte. Die guten Leute scheinen der Meinung zu sein, dass die Geschichte nichts bilden darf, was sie auf der Schulbank nicht gelernt haben. Aber die Geschichte kennt auch kein Beispiel einer solchen Vernichtung der Produktivkräfte wie sie der jetzige Weltkrieg zeigt, sie sah noch nicht die sozialistische Revolution, als einzige Möglichkeit der Lösung des sozialen Knotens, den der Krieg geschürzt hat. Die Geschichte kennt auch kein Beispiel eines Landes, das Nordamerika und Asien in sich vereinigt und an dessen Grenze der Sozialismus durchgeführt wird. Aus dem Krieg wird nicht nur West- und Mitteleuropa sozial umgebildet ausgehen, sondern auch Russland wird das Bild von sozialen Übergangsformen bieten, das weit entfernt von dem sein wird, was wir aus der bisherigen Geschichte kennen.

Alle diese Fragen, die vor dem Geiste des denkenden Sozialdemokraten in theoretischer Form entstehen, den Volksmassen als wirtschaftlich-politische Notwendigkeiten sich im Kampfe aufdrängen werden, sie existieren für den „Retter der russischen Revolution", Herrn Kerenski nicht. Er lebt, wie es die zarische Regierung getan hat, von der Hand in den Mund. Er sucht die Volksmassen abzuspeisen mit Blei, wenn er glaubt, sich auf die Bourgeoisie stützen zu können, und mit Papier, wenn er genötigt wird, gegen die Bourgeoisie zu gehen. Aber die Geschichte kann man nicht betrügen. Und sieht man die von ihr auf die Tagesordnung gestellten Fragen nicht, nun dann erinnert sie durch Schläge an ihre Existenz. Sie ist eine höchst undelikate Person: will man sie schneiden, so zieht sie sich nicht beleidigt, zurück. Herr Kerenski kennt die Geschichte nur aus den Schulbüchern von Bowajski, er wird sie schmerzlich näher kennen lernen. Seine heroische Tat, der Abschaffung der Monarchie ist nur ein Vorspiel zur Abschaffung des Herrn Kerenski und seines Regimes.

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