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Karl Radek 19171103 Zwei Friedensprogramme

Karl Radek: Zwei Friedensprogramme

[Nach Bote der Russischen Revolution. Organ der ausländischen Vertretung des Zentralkomitees der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (Bolschewiki) Nr. 8, 3. Nov. 1917, S. 6-10]

1.

Der Stockholmer Friedenskongress konnte nicht stattfinden, weil die Regierungen der Entente noch zu keinem Kompromiss bereit sind, was ihnen die Zentralmächte weidlich erleichtern, indem sie bisher nicht zu bewegen waren, offen ihre Friedensbedingungen zu nennen. Und da die Knechte tanzen, wie die Herrn pfeifen, so konnten die Sozialpatrioten der Entente und der Zentralmächte sich nicht zusammenfinden. Nun hatten die neutralen ehrlichen Makler aus Holland, Schweden, Dänemark und Norwegen Zeit, sich an den Konferenztisch zu setzen und aus den sich ausschließenden Standpunkten der sich im Interesse der vaterländischen Bourgeoisie bekämpfenden Sozialpatrioten einen gemeinsamen Standpunkt, ein gemeinsames Friedensprogramm auszuarbeiten. Das Dokument wird ohne jeden Einfluss bleiben. Es steht hinter ihm kein Wille zum Kampfe. Entschließen sich aber die Regierungen zu einem Kompromissfrieden, so brauchen sie den Rat der Herren Troelstra, Branting und Stauning nicht. Sie haben eigene große Männer, die den Frieden ebenso gut … verpfuschen können, wie die großen Staatsmänner der kleinen neutralen Länder. Trotzdem verdient das Friedensprogramm des Stammtisches von der Klara Västra Kyrkogatan besprochen zu werden, weil es das Wesen der „Verständigungspolitik" von Stockholm zeigt.

Die Herrn neutralen Makler sagen ehrlich und offen, dass sie auf dem Boden des Status quo „mit Korrekturen" stehen. Diese Offenheit ist sehr zu loben. Worin die Korrekturen bestehen, sagen sie auch klar. Sie richten sich nach der militärischen Lage. Russland ist der schwächste Teil, also unternehmen sie vorerst Korrekturen an seinem Leibe vor. Sie knöpfen ihm Polen, Finnland ab. Frankreich bekommt zwar Elsass Lothringen nicht, aber das Volk von Elsass-Lothringen soll selbst über seine Zugehörigkeit entscheiden. Dafür belassen die guten Neutralen Galizien und das Posensche den bisherigen Besitzern, wie auch die südslawischen Bezirke und fordern für all die nationalen Splitterteile nur Autonomie. Von den englischen Eroberungen in Asien und Afrika wird kein Wort gesprochen, wie es überhaupt für alle kleinbürgerlichen Friedensprogramme charakteristisch ist, dass sie die kolonialen und überseeischen Fragen, die Fragen der Wege des Weltverkehrs in souveräner Unkenntnis der treibenden Kräfte und der Objekte der Weltpolitik vollkommen aus dem Auge lassen und an Europa herum doktern Die belgische Frage hat für Deutschland keine selbständige Bedeutung, sie ist nur die Frage des Kampfes gegen England, der um die Beherrschung Vorderasiens geführt wird. Indem die Skandinavo-Holländer kein Wort von der Wiedergabe Bagdads, der Teile Arabiens, die jetzt England beherrscht, sprechen, dafür aber die Unabhängigkeit Belgiens fordern, stellen sie sich unter der Maske der Anerkennung des Status quo auf den Boden eines glatten Sieges des englischen Imperialismus. Der Schrei der Ententepresse, dass sie das Programm Deutschlands eigentlich durchführen, bedeutet dagegen nichts. Die Entente ist der Meinung, dass nur der Säugling, der kräftig schreit, auch redlich ernährt wird. Indem das skandinavisch-holländische Programm die Bildung eines mitteleuropäisch-vorderasiatischen Staatenkomplexes außerhalb der Frage stellt (durch die Unterbrechung der Verbindung Bulgariens mit Österreich und offene oder stillschweigende Anerkennung der Abtrennung Armeniens und Mesopotamiens) so ist das Stockholmer Programm objektiv das Programm des siegreichen Englands, mag es sonst den anderen Ententemächten unangenehm sein. Damit sagen wir natürlich nicht, dass die neutralen Sozialpatrioten bewusst den Sieg des englischen Imperialismus fördern wollten. Sie haben doch alle zukünftigen Fragen „gelöst", indem sie noch einmal die sakrosankten Formeln der Abrüstung, der Gesellschaft der Nationen proklamierten. Aber durch solche Lufterschütterungen kann man nicht Tatsachen aus den Welt schaffen. Diese mythischen Produkte sind einstweilen keine Wirklichkeit, sondern Instrumente des politischen Schwindels der Regierungen, die mit dem Hinweis auf den wunderschönen dauerhaften Frieden den unsere Urenkel in der schönen Gesellschaft der Nationen gemessen werden, uns über die Aussicht auf den vierten Winterfehlzug zu vertrösten suchen. Und der korrigierte Status Quo der Herren Troelstra und Branting würde einstweilen bis zum Eintritt des goldenen Zeitalters, in dem die deutschen und englischen Imperialisten friedlich auf einer völkerrechtlichen Weide grasen werden, den Sieg des englischen Imperialismus bedeuten. Das Schicksal des Friedensprogramms des skandinavisch-holländischen Komitees ist kein zufälliges. Entweder baut man ein Kampfprogramm des internationalen Proletariats, dann handelt es sich um ein Programm der wirtschaftlichen und politischen Umgestaltung der Welt in der Epoche der sozialen Revolution die dieser Krieg einleitet, oder geht auf die Jagd nach einer Korrektur des Status Quo. In dem letzten Falle muss man diese Korrekturen nach der Sachlage richten, man muss mit der militärischen Lage rechnen. Und wie sehr die Branting, Troelstra überzeugt sind, dass sie ein „gerechtes" Programm ausdestilliert haben, so haben sie ein Programm geschaffen, das nur zeigt, wie sich die Weltkarte im Kopfe des Philisters gestaltet, in dessen Gehirn aus der Lektüre seines Leibblattes ein Bild auch des militärischen Kräfteverhältnisses sich gebildet hat. Wie der gesunde Menschenverstand gewöhnlich nichts anderes ist als die Auffassung des Philisters von der Sachlage, so ist ein „gerechtes und realistisches Friedensprogramm" eines opportunistischen Sozialdemokraten nur eine Abspiegelung seiner unmaßgeblichen Auffassung der Militärlage.

2.

Davon geben sich keine Rechnung weder die Leute des holländisch-skandinavischen Komitees, noch die russischen Sozialpatrioten, wie die um sie herum krächzenden und ächzenden schwankenden Gestalten, die im Gorkischen Organ gleichzeitig mit den Iswestija das Stockholmer Programm freundlichst „als Grundlage" begrüßt haben. Sie hätten eigentlich jede Ursache dieses Programm aufs Entschiedenste abzulehnen, weil sie doch selbst gleichzeitig ein ganz entgegengesetztes angenommen haben. In der Instruktion für Skobelew haben sie doch auf alle nationalen Streitobjekte die Formel des Selbstbestimmungsrechtes angewendet. Die Entscheidung der Staatsgrenzen durch den souveränen Willen der Volksmassen bedeutet einen solchen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht des Kapitals über die Geschicke der Welt, dass nur eine europäische Revolution imstande wäre dem europäischen Kapital eine solche Art der Beendigung des Krieges aufzudrängen. Die Lösung des Komplexes der nationalstaatlichen Fragen durch die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker steht im strikten Gegensatz zu den Korrekturen des skandinavischen Komitees. Sie ist eine Lösung im Prozess der sozialen Revolution, und es ist im Vorhinein klar, dass diese programmatische Losung für die skandinavischen Sozialpatrioten unakzeptabel ist, weil sie auf dem Boden des Burgfriedens, des Reformismus stehen. Ebenso widerspricht die Praxis der russischen Sozialpatrioten, ihr Bündnis mit der eigenen wie der Entente-Bourgeoisie, diesem Programm der Revolution Wie kommt es also, dass sie es anwenden? Nun sie wenden es nur zum Scheine an. In allen (mit einer Ausnahme) Fragen, wo sie überzeugt sind, dass eine solche Lösung unannehmbar für die kapitalistischen Staaten wäre, verzichten sie eben auf die Anwendung des Selbstbestimmungsrechtes. Teils tun sie es offen, teils stillschweigend. Sie belassen die südslawischen Gebiete Österreichs-Ungarns ganz offen in dem alten Staatsverbande, sie sprechen mit keinem Worte von dem Schicksal der Polen in Österreich wie in Deutschland, sie schweigen über die alten wie neuen Eroberungen Englands. Aber selbst wo sie das Prinzip anwenden, geschehen dabei mystische Dinge. Statt anzugeben generell, wie das Prinzip in Konkreto angewendet wird, suchen sie verschiedene Modalitäten seiner Anwendung, die zu den verschiedensten politischen Konsequenzen [führen] können. In Elsass-Lothringen lassen sie einfach die Bevölkerung abstimmen und fertig. In Makedonien lassen sie einstweilen die Autonomie im Staatsverbande Bulgariens genießen, und führen erst dann die Abstimmung durch, was natürlich Bulgarien die Möglichkeit gibt sehr nachdrücklich „die Stimmung" der Volksmassen zu bearbeiten. In Armenien nehmen sie noch verwickeltere Prozeduren vor, wobei nicht einmal klar ist welcher Staat die Autonomie den Armeniern einstweilen gewähren soll: ob Russland oder die Türkei? All die Künste zeigen, dass die Verfasser den bisherigen Herrn des Schicksals der strittigen Gebiete Zugeständnisse machen wollen. Aber wie in der Behandlung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker sich eine vollkommene Zweideutigkeit und Unklarheit zeigt, so desto mehr in der Behandelung der anderen Fragen. Die Verfasser des Sowjetfriedensprogramms fordern die Neutralisierung der Seewege, die die Zugänge zu den Binnenmeeren bilden. Daneben fordern sie die Neutralisierung des Suez- und Panamakanals. Warum schweigen sie von Gibraltar, ohne dessen Neutralisierung der neutrale Suezkanal ohne weiteres durch die Engländer geschlossen werden könnte? Tun sie es weil sie wissen, dass England niemals auf die Beherrschung des Gibraltars verzichten wird, ohne dass es dazu gezwungen wird? Solcher Fragen kann man an die Verfasser des Sowjetprogramms eine ganze Anzahl stellen, Aber die bisherigen genügen vollkommen, um zu zeigen, dass das Programm der bisherigen Leiter des Sowjets keinesfalls die Konkretisierung seines ursprünglichen Programms darstellt, des Rufes: Friede ohne Annexionen und Kontributionen auf Grund des Selbstbestimmungsrechtes der Volker. Nur der letzte Teil dieses Programms unterscheidet es von den pazifistischen Programmen des Bürgertums, weil es in guter oder schlechter Formulierung die Sache des Friedens in die Hände der Volksmassen legte und sie so auf den Weg der europäischen Revolution hinwies. Indem die innerhalb sieben Monaten vollkommen bankrotten sozialpatriotischen Führer dieses Programm zum Programm machten, das sie auf diplomatischen Wege verwirklichen wollen müssten sie das revolutionäre Prinzip des Selbstbestimmungsrechtes entweder völlig aufheben, oder so verklausulieren, dass seine Anwendung vollkommen unbestimmt bleibt: nur in einem Falle, wo sie in ihm eine Brücke zwischen dem deutschen und französischen Kapitalismus sehen, wenden sie es wirklich an. In wirtschaftlicher Hinsicht bleibt das Programm vollkommen auf dem Boden des bürgerlichen Freihandels stehen und wo es versucht die Perspektive der weiteren Entwicklung der Beziehungen zwischen den Staaten zu zeichnen, gerät es in vollkommene nicht nur pazifistische Konfusion, sondern ureigene Konfusion seiner Verfasser: so wenn sie gleichzeitig Abrüstung und Miliz fordern. Man muss annehmen, dass sie dabei ihr Ideal aus den Petrograder Verhältnissen geschöpft haben, wo eine Miliz existiert, die vollkommen abgerüstet ist.

3.

Das Programm der russischen Sozialpatrioten, die sich Europa immer noch als Führer der Sowjets präsentieren, obwohl sie schon lange die Mehrheit in den Sowjets verloren haben, ist ein Kompromissprogramm, wie das des skandinavischen Komitees, nur müssten seine Verfasser angesichts des revolutionären Milieus, in dem sie wirken, etwas mehr revolutionär scheinende Losungen hineinbringen, die sie jedoch sofort durch entsprechende Klausel unschädlich machten. Aber um eine Kompromisspolitik zu treiben, genügt noch nicht ein gutes oder schlechtes Kompromissprogramm. Es ist noch ein Partner nötig, der zu einem Kompromiss bereit wäre. Die Tragikomik der Friedensprogramme der Sowjets wie der skandinavischen Peacemakers besteht aber darin, dass sie mit ihrem Aufruf zum Kompromiss keine Gegenliebe gefunden haben.

Wir sprechen nicht einmal von den Angriffen der verschiedenen sozialpatriotischen Parteien, die dagegen protestieren, dass der Standpunkt, den jede von ihnen einnimmt, nicht genügende Berücksichtigung gefunden hat, obwohl bei einem Programm, das die sozialistischen Parteien zum gemeinsamen Kampfe vereinigen soll, ihre Zustimmung zu ihm nicht ohne Bedeutung ist. Es handelt sich darum, dass es nicht das geringste Anzeichen dafür gibt, dass die Neigung zu einem Kompromissfrieden bei der Entente wachse. Auf die Ankündigung, dass der Sowjet auf der Pariser Ententekonferenz sein Programm durch Skobelew einbringen wird, antwortete die Entente vorerst mit der Verschiebung der Konferenz. Dann erklärte Herr Bonar Law im Namen der englischen Regierung die Konferenz werde sich nicht mit den Kriegszielen, sondern mit der Verstärkung der Kriegsführung beschäftigen und die französische Madame Anastasia schnitt den Bürger Skobelew, obwohl er ein eleganter und salonfähiger Mann ist, und die revolutionäre Mähne in der kurzen Ministerzeit eingebüßt hat. Die Zensur verbot den Abdruck des Sowjetprogramms in der französischen Presse. Das sind Zeichen die darauf hinweisen, dass sich die Entente nicht so sehr beeilt, das Programm der Skobelew zu akzeptieren. Dass es bei den Zentralmächten besser aussieht, kann nur der annehmen, der gewöhnt ist, die freundlichen Worte der Nord. Allg, und des Fremdenblattes ernster zu nehmen, als es die Verfasser verdienen, die auch dem Sowjetprogramm gegenüber jede Auslassung über Konkreta vermieden. Niemand kann zweifeln, dass nur die Niederlage Deutschlands auf dem innerem oder äußeren Kriegsfelde seine Regierung dazu bringen könnte, die Elsass-Lothringische Frage einem Plebiszit zu unterwerfen. Nicht nur Kühlmann sagt: niemals! – sondern auch Scheidemann, der doch durch sein Auftreten der Regierung den zukünftigen Kompromiss vorbereiten soll. Ja selbst in Russland, wo die Niederlagen, die Revolution und der Zustand der Armee die Bourgeoisie für einen Kompromissfrieden geneigter machen müsste, riefen die beiden Kompromissfriedensprogramme eine Flut von Schmähungen hervor.

Die Rjetsch fragte mit vollem Recht die russischen Sozialpatrioten: ihr fordert die Neutralisierung des Suez- und Panamakanals? Was wollt ihr tun, wenn England und Amerika es ablehnen wird, was sicher anzunehmen ist? Wollt ihr den Separatfrieden mit Deutschland oder den Separatkrieg mit der ganzen Welt? Diese Frage steht bei jedem Kompromissprogramm. Stellt man ein Kompromissprogramm auf. so muss man wissen, was man tut, wenn der Kompromiss nicht zustande kommt. Die Sozialpatrioten Russlands haben ein Kompromissprogramm zusammengebraut, ohne zu wissen was sie tun werden, falls es abgelehnt wird. Bankrott als soziale Kraft, beginnen sie eine Abenteurerpolitik zu treiben. Sie haben die dreimal verkrachte Koalitionspolitik wieder zusammen geleimt und treiben in sie jetzt durch die Aufrollung der Kriegszielfrage einen Keil. Sie tun es, weil sie in den Arbeiter- und Bauernmassen den Eindruck wecken wollen, dass sie irgend etwas zur Herbeiführung des Friedens unternehmen. Aber der Bankrott dieses Versuches wird ihre Lage nur verschlechtern.

Die Geschichte stellt die Arbeiterklasse vor die Alternative: Kampf auf Leben und Tod um die Befreiung, oder Verblutung auf den Kriegsfeldern. Sie zeigt keinen anderen Ausweg. Und diese objektive Situation, die Unmöglichkeit eines praktischen Kompromisses äußert sich in der Schwindelhaftigkeit das Friedensprogrammes der Leute, die auf dem Wege des Kompromisses das entwirren wollen, was nur das Schwert der internationalen Revolution zerhauen kann.

Wo ist sie? höhnen die Sozialpatrioten und fragen melancholisch die Zentrumsleute. Die Hoffnung auf die Revolution ist ebenso bankrott, wie die auf den Sieg – schrieb dieser Tage in der Gorkischen Zeitung Raf Grigoriew, einer der Anhänger Martows, des Hamlets der russischen Revolution. Drum Kompromiss. Wir fragen aber: zeigt doch den Weg zum Kompromiss! Je länger die Zeit dauert, in der die Volksmassen verbluten, ohne dass die Regierungen sich zum Kompromiss bereit finden, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Volksmasse selbst das Urteil in diesem schrecklichen Ringen und über die Gesellschaft, die es ermöglicht hat, sprechen. Mehr als jemals muss der europäische Sozialismus an das Wort der heiligen Schrift denken: ich bringe das Schwert, nicht den Frieden.

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