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Karl Radek 19171229 Die Masken sind gefallen

Karl Radek: Die Masken sind gefallen!

[Nach Ernst Drahn (Hg.): Brest-Litowsk. Berlin 1920, S. 28-31]

Am Weihnachtstage, am Tage, da die Glocken den Frieden allen gut denkenden Menschen verkünden, erklärten die Regierungen Deutschlands, Österreichs und ihre bulgarischen und türkischen Vasallen ihren Beschluss, von jeder Gewaltanwendung abzusehen. Sie anerkannten das Recht eines jeden Volkes über das eigene Geschick zu entscheiden. Die deutsche, österreichische und russische Arbeiterpresse begrüßte diesen Entschluss der Zentralmächte als einen Lichtstrahl, der in die dunkle Nacht des Krieges hineinleuchtete, den Weg zu einem allgemeinen Frieden zeigt. Denn es war klar: falls die deutsche Regierung einen ehrlichen demokratischen Frieden mit Russland schließen würde und die Bereitschaft zum allgemeinen Frieden auf derselben Grundlage kundgeben würde, dass dann die Regierungen Frankreichs und Englands nicht imstande sein würden, den Krieg weiter zu führen. Die kriegsmüden Arbeitermassen dieser Länder würden ihre Kapitalisten nötigen, den Krieg zu beenden. Eine große Hoffnung entstand in den Herzen der Volksmassen aller Länder; bald wird der Völkermord ein Ende nehmen.

Aber es verging keine Woche, und die deutsche und österreichische Regierung ließ die Masken fallen. In der vertraulichen Sitzung händigte sie der russischen Friedensdelegation ihre Friedensbedingungen ein, die zeigen, dass alle deutschen und österreichischen Verheißungen eines demokratischen Friedens eine unverschämte Lüge sind. Die Arbeiter- und Soldatenregierung anerkennt keine geheime Diplomatie, und sie veröffentlicht diese Friedensbedingungen. Hier sind sie:

Artikel 1. Russland und Deutschland erklären die Beendigung des Kriegszustandes.

Beide, Nationen sind entschlossen, fortan in Frieden und Freundschaft zusammen zu leben. Deutschland würde (unter der Voraussetzung … der zugestandenen vollen Gegenseitigkeit gegenüber seinen Bundesgenossen) bereit sein, sobald der Friede mit Russland geschlossen und die Demobilisierung der russischen Streitkräfte durchgeführt ist. die jetzigen Stellungen und das besetzte russische Gebiet zu räumen, soweit sich nicht aus Artikel 2 ein anderes ergibt.

Artikel 2. Nachdem die russische Regierung entsprechend ihren Grundsätzen für alle im Verbande des russischen Reiches lebenden Völker ohne Ausnahme ein bis zur ihre völligen Absonderung gehendes Selbstbestimmungsrecht proklamiert hat, nimmt sie Kenntnis von den Beschlüssen, worin der Volkswille ausgedrückt ist, für Polen, sowie für Litauen, Kurland und Teile von Estland und Livland die volle staatliche Selbständigkeit in Anspruch, zu nehmen und aus dem russischen Reichsverbande auszuscheiden

Die russische Regierung erkennt an, dass diese Kundgebungen unter den gegenwärtigen Verhältnissen als Ausdruck des Volkswillens anzusehen sind, und ist bereit, die hieraus sich ergebenden Folgerungen zu ziehen. Da in denjenigen Gebieten, auf welche die vorstehenden Bestimmungen Anwendung finden, die Frage der Räumung nicht so liegt, dass diese gemäß den Bestimmungen des Artikels 1 vorgenommen werden kann, so werden Zeitpunkt und Modalitäten der nach russischer Auffassung nötigen Bekräftigung der schon vorliegenden Lostrennungserklärungen durch ein Volksvotum auf breiter Grundlage, bei der irgendein militärischer Druck in jeder Weise auszuscheiden ist, der Beratung und Festsetzung durch eine besondere Kommission vorbehalten."

Das deutsche Selbstbestimmungsrecht.

Um den Zynismus, die Verlogenheit dieser „Friedensbedingungen" zu verstehen, genügt es, daran zu erinnern, wie die Herrschaft der Deutschen in Polen und Litauen aussieht, unter der sich der Volkswille dieser Gebiete, ausgedrückt hat. In den von den deutschen Truppen besetzten Gebieten herrscht die bewaffnete Faust. Auf Arbeiter wird in den Straßen eine wilde Jagd organisiert, sie werden gefangen nach Deutschland geführt, in Fabriken zur Arbeit gezwungen, als Sklaven behandelt. Die im Lande verbleibenden Arbeitermassen werden unter der Fuchtel der militärischen Gewalt gehalten. Die Arbeiterpresse wurde zuerst unter die schroffste Zensur gestellt, dann vollständig unterdrückt. Die Arbeiterführer zu Hunderten in die Konzentrationslager verschleppt, wo sie monatelang hungerten. Hungerdemonstrationen der Arbeiter werden mit Waffengewalt auseinander gejagt, mit Blei wird der Hunger der Frauen und Greise gestillt. Dies alles wurde viel Mal im deutschen Reichstag und im preußischen Landtag von deutschen sozialdemokratischen und polnischen bürgerlichen Abgeordneten dargestellt und mit Akten belegt.

Rücksichtslose Willkür ist das Zeichen der deutschen Herrschaft in den okkupierten Gebieten den Arbeitermassen gegenüber. Aber vielleicht stützt sich die deutsche Regierung auf das polnische und litauische Bürgertum? Die Antwort geben einfache Tatsachen: die deutsche Regierung hat eine polnische Universität eröffnet und musste sie schließen. Die deutsche Regierung wollte Soldaten in Polen rekrutieren und musste davon absehen. Ja, sie sah sich genötigt, den Brigadier Pilsudski, den Schöpfer der unter deutscher und österreichischer Leitung kämpfenden Legionen, zu verhaften. Nur in Kurland hat die deutsche Regierung Stützen gefunden: in den verhassten Sklavenhändlern, den deutschen baltischen Baronen, den Schindern der lettischen Bauern. Diese Leuteschinder finden in Polen vielleicht Gesinnungsgenossen bei den polnischen Junkern, die in heller Angst leben, dass die russische Revolution auch in den polnischen ländlichen Proletariern die Lust erwecken wird, dem Beispiel der russischen Bauern zu folgen und sich von dem Joch der Junker zu befreien. Das ist das „Volk", dessen Stimme die deutsche und österreichische Regierung als entscheidend für die Geschicke der polnischen, litauischen und lettischen Bevölkerung ansieht.

Wenn die Zentralmächte also sagen, die Völker der von ihnen besetzten Gebiete Russlands hätten sich für die Abtrennung von Russland, d. h. von der russischen Arbeiter- und Soldatenrevolution ausgesprochen, so belügen sie die Volksmassen Deutschlands und der Welt. Das deutsche Selbstbestimmungsrecht bedeutet nichts anderes als die Vergewaltigung des Willens der Volksmassen, der Arbeiter und armen Bauern durch deutsche Bajonette und durch die polnischen und deutschen Ausbeuter,

Das russische Selbstbestimmungsrecht.

In demselben Augenblick, in dem die Zentralmächte ein Attentat auf das Selbstbestimmungsrecht des polnischen, lettischen und litauischen Volkes verüben, haben sie die Stirn, sich auf die Tatsache zu berufen, dass die russische Arbeiterregierung das Recht der Selbstbestimmung anerkannt hat – ist das Hohn oder vollkommener Stumpfsinn?

Die russische Arbeiterregierung sagt: der Zarismus hat Völker geknechtet, wir, die Arbeiter und Bauern Russlands, geben ihnen die Freiheit, zu entscheiden, ob sie zusammen mit uns oder abgesondert von uns leben wollen.

Da kommt die deutsche Regierung und erklärt: da die russischen Arbeiter und Bauern ihre Klassengenossen anderer Nationen nicht knechten wollen, so sind diese Freiwild. Die deutschen Barone Lettlands, die Junker Litauens und Polens können sie an das deutsche Kapital verschachern.

Ja, an das deutsche Kapital verschachern. Denn wenn die deutschen Kapitalisten und Generäle so mit dem Selbstbestimmungsrecht umspringen, so wird doch niemand glauben können, dass sie es wegen der schönen Augen der Polen, Letten und Litauer tun. Die Wahrheit ist: die deutsche Regierung will die Völker an der russischen Ostgrenze von der russischen Revolution „befreien", um sie dem deutschen Kapital zu unterwerfen. Kurz vor dem Ausbruch der russischen Novemberrevolution hat der Kronrat in Polen schon beschlossen, ein polnisches Königreich zu begründen, mit dem österreichischen Kaiser Karl als polnischen König, und ein litauisches und kurländisches Herzogtum mit dem deutschen Kaiser als Herzog an der Spitze. Selbst die getreuen Mameluken des deutschen Imperialismus, die Liberalen, protestieren gegen diesen Plan, ohne Russland, ohne Polen, ohne Letten, die Geschicke dieser Gebiete zu bestimmen. Nun, der deutsche Imperialismus hat die Klauen für den Augenblick eingezogen, jetzt kommt er aber mit dem neuen Vorschlag – die russische Arbeiterregierung soll ihm die Letten, Polen und Litauer, verschachern. Nein, Ihr Herren so war die Sache nicht gemeint. Die russischen Arbeiter sind keine Unterdrücker, sie haben allen Völkern Russlands die Freiheit gegeben. Aber Menschenhändler sind sie nicht, sie werden ihre Klassengenossen nicht verschachern und verkaufen Auf dieser Grundlage wird die russische Arbeiterregierung in keinem Falle verhandeln!

Die Masken sind gefallen – Ihr habt das Wort, deutsche Soldaten und Arbeiter! Die deutsche Regierung hat euch drei Jahre lang genarrt mit ihren Friedensbeteuerungen. Sie hat sich als den unschuldigen Engel dargestellt, das Lamm, das niemand das Wasser trübt. Die Russen waren es, die Franzosen, die Engländer, die den Frieden nicht wollten. Nun, da habt Ihr die Probe auf das Exempel.

Die Arbeiter und Soldaten Russlands haben den Zaren zum Teufel gejagt, sie haben die Bourgeoisie, die den Krieg verlängern wollte, auf die Knie gezwungen. Sie wollen einen ehrlichen Frieden – allen zum Schutz, niemandem zum Trutz. Die deutsche Regierung drischt heuchlerische Phrasen, legt sich die demokratische Maske an, aber als man ihr auf die Fäuste, nicht auf die Lippen schaute, zeigte es sich, sie sind geballt.

Die Masken sind gefallen. Eure Regierung ist demaskiert. Sie konnte durch eine ehrliche, demokratische Friedenspolitik gegenüber Russland die Regierungen Englands, Frankreichs und Italiens zwingen, dem grausamen Spiel ein Ende zu machen: denn würden die Volksmassen dieser Länder sehen, dass die deutsche Regierung kein Volk vergewaltigen will, sie würden ihre Regierungen zu Friedensverhandlungen zwingen. Statt dessen gibt die deutsche Regierung den Kriegsverlängerern aller Länder die Möglichkeit, zu sagen: seht, Ihr Völker, euch den gefräßigen deutschen Wolf an, mit ihm kann man keinen Frieden schließen.

Nun, deutsche Soldaten und Arbeiter, jetzt habt Ihr das Wort: zwingt Ihr nicht eure Regierung, auf Friedensbedingungen zu verzichten, die sie die Frechheit hat, der russischen Revolution vorzulegen, so wird euer Blut zusammen mit dem der Proletarier aller Länder ins Unendliche fließen. Auf Proletarier! Auf Soldaten Deutschlands, zum revolutionären Kampfe gegen eure den Krieg verlängernden, die Volksmassen aufopfernden Regierungen.

Es falle kein Schuss an der russischen Front! Seid keine Henker der russischen Arbeiterrevolution!

Es lasse sich kein Regiment an die andere Front werfen. Wollt Ihr den allgemeinen Frieden, so lasst die Völker zur Vernunft kommen.

Es lebe die internationale Arbeiter- und Soldatenrevolution!

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