Karl Radek‎ > ‎Im Ersten Weltkrieg‎ > ‎

Karl Radek 19161104 Die Tragödie des 21. Oktober

Karl Radek: Die Tragödie des 21. Oktober

[Arbeiterpolitik, I. Jahrgang, Nr. 20, 4. November 1916. Nach ders., In den Reihen der deutschen Revolution 1909-1919, S. 397-401]

Während die bürgerliche und sozialpatriotische Presse das Attentat des Genossen Friedrich Adler auf den österreichischen Ministerpräsidenten nur als Werk eines Verrückten verstehen zu können glaubt, hat die Arbeiterklasse ein Interesse daran, die wahren Kräfte kennen zu lernen, die dem ruhigen, keinesfalls exaltierten Kämpfer den Revolver in die Hand gedrückt haben. Nicht um Neugierde handelt es sich, nicht einmal um das schmerzliche Bedürfnis, durch die Aufdeckung der wahren Quellen der Tat den Mann gegen all die Vorwürfe zu verteidigen, die nicht nur die bürgerliche Presse, sondern auch die Stampfer und Austerlitz gegen ihn erhoben. Die Aufdeckung der Triebkräfte der Tat Friedrich Adlers wird gleichzeitig ihre politische Bedeutung darstellen. Würde zur Erklärung der Tragödie des 21. Oktober nur die allgemeine Not des Krieges oder die besonderen politischen und wirtschaftlichen Kriegszustände Österreichs genügen, man brauchte zu ihrer Darstellung keinesfalls zum Manifest der österreichischen Internationalisten zu greifen, das unter Mitverfasserschaft Friedrich Adlers im Dezember 1915 erschien: die bürgerlichen und sozialpatriotischen Quellen, die alle die Wiener Zensur passierten, genügen vollkommen.

Hugo Ganz, der langjährige Wiener Korrespondent der „Frankfurter Zeitung" telegraphierte diesem Blatte eine Woche vor dem Attentat: „Man kann einem Volke, das behandelt wird, als wäre es stumm und unmündig, nicht zumuten, die Opfer zu bringen, die drei furchtbare Kriegsjahre von ihm fordern. Man kann das Gift, das sich in drei Kriegsjahren im Lande angesammelt hat, nicht weiter im Dunkeln schwären lassen." Und die Wiener „Arbeiterzeitung" schrieb einen Tag vor dem Attentat: „In einer Höhe thront der Graf Stürgkh, die es ihm überflüssig macht, die Stimmungen und Gärungen im Volke zu beachten, geschweige denn mit ihnen rechnen zu müssen. Der Tadel erreicht ihn nicht, die Kritik wird weißer Fleck, die politische Forderung darf nicht laut werden. Wir wissen nicht, ob unsere Klage ihn erreichen wird; aber kann sich der verantwortliche Staatsmann der Frage entschlagen, ob dieser Zustand, der für das Verhältnis von Regierung und Volk die unbegrenzte Macht auf der einen, das zermürbende Gefühl der absoluten Ohnmacht auf der andern Seite als das einzig sachgemäße Verhältnis kennen will, ob dieser Zustand auf die Dauer haltbar ist und vor allem, ob er auch dem Staate frommt?" Der in diesen beiden, jeder „subversiven" Tendenz baren Auslassungen geschilderte Zustand allein erklärt keinesfalls, weswegen Friedrich Adler zum Revolver griff. Die Erklärung für diese Tatsache kann auch nicht im Charakter des Genossen Adler gefunden werden, der das ruhige Temperament eines Gelehrten besaß. Nur in den besonderen Verhältnissen der österreichischen Sozialdemokratie, in der Adler für die Sache der Internationale kämpfte, liegt die Erklärung.

Als der Krieg ausbrach, lag die österreichische Sozialdemokratie zerschmettert und zerklüftet am Boden. Die tschechische Sozialdemokratie, vom Nationalismus zerfressen, konnte selbstverständlich keine Kämpfe für die Internationale liefern. Die polnischen und ruthenischen Sozialdemokraten waren von jeher sozialpatriotisch. Die deutsche Sozialdemokratie Österreichs war seit Jahren vollkommen im Banne des Opportunismus. Ihre Führer waren teils durch ununterbrochene Kompromisse mit der Regierung zu einer unabhängigen Politik völlig unfähig geworden, teils durch ihren großdeutschen Patriotismus (Leuthner, Pernerstorffer, Austerlitz), teils durch ihren schwarzgelben Patriotismus (Renner) an die Bourgeoisie gekettet. Dazu kam noch die politische Unselbständigkeit der Arbeiterklasse, die in Österreich viel größer als sonst irgendwo war.

Im Jahre 1904 schrieb Fritz Austerlitz aus Anlass des Goehre-Konfliktes in der deutschen Partei, in der österreichischen Partei gebe es keine öffentliche Meinung. Das ist bis auf den heutigen Tag so geblieben. Der Nationalitätenkampf verleidet nicht nur den Arbeitern die Teilnahme am politischen Leben, sondern er erschwert ungeheuer sein Verständnis. Die Politik wird durch eine Handvoll Führer gemacht, die sich im Café und Fraktionszimmer über die Taktik verständigen. Diskussionen über politische wie taktische Fragen in den Organisationen wie in der Presse waren äußerst selten. Was für ein Wunder, dass die deutsch-österreichische Arbeiterklasse nicht nur keine Kraft hatte, angesichts der Haltung der Führer selbständig aufzutreten – nirgends besaß sie diese Selbständigkeit –, sondern auch nicht einmal genügend Kraft hatte, sich auch nur zu einem Teile zu ermannen und die kleine Schar der der Internationale treu gebliebenen Männer zu sammeln.

Dieses Fehlen eines wachsenden Kerns oppositioneller Arbeiterorganisationen erlaubte der österreichischen Parteiopposition nicht, ihre Aufgabe richtig zu erfassen. Man lese die beiden Kriegsjahrgänge des „Kampf", die vielen in ihnen zerstreuten Artikel Fritz Adlers, man lese das Manifest der österreichischen Opposition. Bis am Ende des Jahres 1915 stehen sie vollkommen auf dem Boden der Landesverteidigung. Erst in dem Manifest und später im offenen Schreiben Adlers an Huysmans im Juni 1916 beginnt es der österreichischen Parteiopposition klar zu werden, dass im Zeitalter des Imperialismus die Landesverteidigung mit den imperialistischen Zielen des Krieges unzertrennlich verknüpft ist. Aber noch jetzt entscheidet Adler diese Frage für sich und seine Freunde nicht, sondern er erklärt: „Die Internationale wird in Zukunft zu dieser Erkenntnis Stellung nehmen und die Frage entscheiden müssen." Aber das mag man für theoretische Unklarheit ohne praktische Bedeutung halten, obwohl es auf die österreichische Opposition lähmend wirken musste. Aber diese Unklarheit ging Hand in Hand mit dem völligen Fehlen jeder anderen Aussicht. Im Januar 1915 schrieb Adler in einem Artikel über die deutsche Sozialdemokratie: „Während die Kanonen donnern, bleibt dem Sozialismus nur die Politik des Schweigens übrig". Er forderte von der Sozialdemokratie keinen Kampf, sie solle nur die Arbeit der Kanonen nicht beweihräuchern. Die „Internationale der Tat" werde erst das Werk der Zeit nach dem Kriege sein („Kampf", April 1915).

Als der Krieg immer länger und länger dauerte, als Friedrich Adler einsah, dass man nicht schweigen dürfe, da forderte er wieder keinen Kampf, sondern nur sozialistische Propaganda: „Man kann weder den Ausbruch des Krieges mit Gewalt verhindern, noch ihm durch Gewalt ein Ziel setzen. Trotzdem hat die Sozialdemokratie eine wichtige Funktion für die Wiederherstellung des Friedens zu erfüllen. Sie allein wäre in der Lage gewesen, die geistige Disposition für eine gemeinsame Auffassung der Völker von den Bedingungen des Friedens herzustellen." Nichts mehr. Man glaube nicht, dass diese Beschränkung durch die Zensurverhältnisse verursacht wurde. In seinem Bericht über die Lage in Österreich, den Adler am 1. August dieses Jahres in einem intimen Kreise der Zimmerwaldisten in Zürich abstattete, sprach er ebenfalls mit tiefstem Pessimismus über die Aussichten des proletarischen Kampfes in Österreich während des Krieges, von der rein propagandistischen Arbeit der Opposition.

Wenn seine Auffassungen in hohem Maße die vollkommene Zertrümmerung der österreichischen Sozialdemokratie widerspiegelten – das Wort der „Arbeiterzeitung" von der „absoluten Ohnmacht" der Partei bestätigt es –, so erlaubten sie ihrerseits Adler und seinen Freunden nicht, diesen Zustand auch teilweise zu überwinden. Nur der Kampf kann Leben schaffen.

In diese Stimmung, die durch ununterbrochenen aber zwecklosen Hader mit den Instanzen noch bedrückter wurde, fielen irgendwelche aktuellen Vorfälle, die wir nicht kennen. Am 20. Oktober, einen Tag vor dem Attentat, fordert Adler in einer Vertrauensmännersitzung in Wien die Veranstaltung von Kundgebungen. Die Massen werden die Partei für das Schweigen verantwortlich machen – ruft er. Die Vertrauensmänner lehnen nach scharfem Kampfe seine Forderung mit Stimmenmehrheit ab. Die bisherige rein propagandistische Arbeit der Opposition hat aber keinen separaten Aktionskörper geschaffen. Friedrich Adler kann nicht schweigen, glaubt nicht schweigen zu dürfen; da die Massen schweigen, entschließt er sich zu seiner Tat. Er begeht sie nicht in einer Exaltation, er begeht sie mit eiserner Ruhe. De Profundis clamavi!

Die Chemnitzer „Volkstimme" (Nr. 297) erklärt, Friedrich Adler sei dem Beispiel Karl Liebknechts gefolgt; sie übersieht vollkommen die grundlegenden Unterschiede, die zwischen dem deutschen und österreichischen Milieu und den Wegen, die die beiden Männer beschritten haben, bestehen. Friedrich Adler hatte keine Massen hinter sich, glaubte nicht an ihre Bewegung während des Krieges, jedenfalls glaubte er nicht, dass man sie mit gewöhnlichen Mitteln aufbieten, sammeln könne. Deswegen griff er zur individuellen Gewalt, die, wie wir sehen werden, nicht nur in ihren Angriffspunkten, sondern auch in ihren Resultaten der Massentaktik strikte entgegengesetzt ist.

Es ist eine tiefe menschliche und sozialistische Tragödie, die sich in der Nacht vom 20. auf den 21. Oktober im Herzen Friedrich Adlers abspielte. Eine menschliche, weil er zum Revolver gegen einen andern Menschen griff; eine sozialistische, weil er einen Menschen tötete, den für den Krieg verantwortlich zu machen ihm seine sozialistische Einsicht nicht erlaubte. Er wollte in dem Ministerpräsidenten Stürgkh nur einen der Vertreter des Systems treffen, das in allen Ländern Europas herrscht und den Krieg mit all seinen schrecklichen Folgen verursacht hat. Es war die Tragödie eines der Idee bis in das Grab ergebenen Mannes, dem die Worte des alten griechischen Dichters: „Liebe die Sonne nicht zu sehr und nicht zu sehr die Sterne; komm, folge mir ins dunkle Grab hinab" in dem Herzen klangen, als es von Leid überfloss. Friedrich Adler gehört zum Geschlecht der Sazonow und Kalajew, die die Schwäche, den Unglauben, das Misstrauen zu den Massen und eines Teiles der revolutionären Elemente besaßen. Und wie die Tat jener die russische Sozialdemokratie vor die Frage des Verhältnisses der Partei zum politischen Terror stellte, so stellt die Tat Adlers die Zimmerwalder Bewegung vor diese Frage. Denn auch in anderen Ländern können Situationen entstehen, die ähnliche Taten auszulösen imstande wären. Das tiefe menschliche Mitgefühl mit dem Genossen Adler, der einer der unsrigen war, darf uns nicht hindern, der Arbeiterschaft die Gefahren vor Augen zu führen, die ihrem Kampfe auf dem Wege drohen, den Friedrich Adler beschritt. Ja, selbst auf die Gefahr hin, viele unserer Freunde momentan gegen uns zu haben, müssen wir den Arbeitermassen sagen, was die Erfahrungen der russischen Revolution, der großen proletarischen Massenbewegung, über den politischen Terror lehren.

Kommentare