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Karl Radek 19160715 Einheit oder Spaltung der Partei

Karl Radek: Einheit oder Spaltung der Partei

[Arbeiterpolitik, I. Jahrgang, Nr. 4, 5, 6, 7, 8, 10, vom 15., 22., 29. Juli, 5., 12. und 26. August 1916. Nach ders., In den Reihen der deutschen Revolution 1909-1919, S. 306-338]

Sozialdemokratie und Sozialimperialismus

Als die große Krise über den internationalen Sozialismus hereinbrach, glaubte mancher, es handle sich um eine vorübergehende Epidemie: man sprach von Kriegspsychose. Man hoffte, dass sie unter dem Einfluss der Folgen des Krieges bald vorübergehen würde. Jetzt geht schon das zweite Kriegsjahr zu Ende. Von einer Umkehr ist nicht das Geringste zu bemerken. Immer größer wird der Zusammenbruch der offiziellen Parteiinstanzen, in allen Parteien der Internationale.

Beginnen wir mit England. Die Führer der Labour Party, der Vertretung der Millionen gewerkschaftlich organisierter Arbeiter, sind in die Regierung eingetreten. Sie können nicht, wie die Franzosen sagen, sie hätten es getan, nur weil der Feind vor den Toren der Hauptstadt stand. Sie haben also eine andere Ausrede. Die Arbeiterschaft müsse helfen, den preußischen Militarismus niederzuwerfen. Und sie helfen dazu, indem sie entgegen dem Beschluss der Konferenz der eigenen Partei darauf hinarbeiten, den Militarismus in England einzuführen. Sie stimmen der Aufhebung des Streikrechts zu und helfen die Streiks niederwerfen. Sie protestieren nicht gegen den Aushungerungskrieg gegen Deutschland, sie protestieren nicht gegen die Gräuel in Irland, sie protestieren nicht einmal gegen die Verfolgung der Sozialisten. Ja, sie beginnen schon jetzt den Wirtschaftskrieg gegen Deutschland in der zukünftigen Friedenszeit zu propagieren, zu welchem Zwecke sich die konsequentesten von ihnen mit dem Schutzzoll, den die englische Arbeiterklasse bisher immer bekämpft hat, aussöhnen. Das alles tun sie, um die Stellung des englischen Kapitals in der Welt, das heißt seinen Anteil an der Welt, zu verteidigen. Die konsequentesten von ihnen sagen es auch klar, dass die „Bedeutung des englischen Namens" in der Welt nicht gemindert werden darf. In Frankreich sitzen 3 Vertreter der Sozialdemokratie in der Regierung. Einer von ihnen ist Munitionsminister: er spornt die Arbeiter an, möglichst viel Mordgeschosse zu produzieren. Mit Zustimmung seiner sozialistischen Ministerkollegen, der Guesde und Sembat, stattet dieser Thomas dem Hängezaren einen Besuch ab. Die Partei protestiert dagegen nicht. Im Lande herrscht die Polizei. Die demokratischen Rechte (Press-, Versammlungs- und Streikrechte) sind aufgehoben. In den Fabriken herrscht der weiße Terror. Auf den Schlachtfeldern verblutet Frankreich. Aber die Partei wehrt sich mit Händen und Füßen gegen jede Friedensaktion, bis der deutsche Imperialismus ein für allemal vernichtet ist. Und wer glauben würde, dass es sich für die Führer nur um eine vorübergehende Politik handelt, der lese die Artikel Hervés, die Reden von Thomas, Jouhaux, Sembat, in denen die Solidarität der Klassen auch in Zukunft propagiert wird.

In Deutschland unterstützt die Mehrheit der Parteiführer den Imperialismus nicht nur, sondern sie hat sich in dem Junibeschluss des Parteiausschusses von 1915 ein imperialistisches Programm zugelegt. Sie hat den politischen wie gewerkschaftlichen Kampf vollkommen aufgegeben und begnügt sich mit Eingaben und Verhandlungen. Wenn angesichts dessen ein Cunow den Arbeitern im „Hamburger Echo" (vom 12. Juni) vorhält, „die Wahrnehmung (der Klasseninteressen) könne gar nicht inhibiert werden, da sie ein Lebenselement der heutigen Gesellschaft seien", so ist das wahr, nur handelt es sich darum, dass die offiziellen Partei- und Gewerkschaftsinstanzen diese Wahrnehmung der Arbeiterinteressen „inhibiert" haben, so dass sich ihrer andere annehmen müssen. Denn wenn er unter Berufung auf die parlamentarischen Proteste der Sozialpatrioten gegen die Teuerung usw. sagt, nicht der Klassenkampf, sondern nur „bestimmte Formen" seien einstweilen aufgegeben, so trifft das nicht zu. Wenn man jeden Druck der Arbeitermassen auf ökonomischem und politischen Gebiete ausschaltet, ja ihm entgegenwirkt, so sind die Proteste im Parlament auch kein Klassenkampf. Und wieder erklären die konsequentesten Vertreter der Mehrheit – die Führer der Partei wie der Gewerkschaften – es handle sich nicht um eine vorübergehende Kriegspolitik, sondern der Krieg habe das Wesen der Partei ans Licht gebracht. Sie sei schon früher eine reine Reformpartei gewesen, nur habe sie sich die radikalen Phrasen nicht abgewöhnen können. Nach der Praxis der zwei Kriegsjahre werde sie jedoch einsehen müssen, dass man nur durch ein Zusammengehen mit dem Liberalismus, nur durch eine ruhige parlamentarische und gewerkschaftliche Reformarbeit vorwärts kommen könne, wobei das Proletariat sich mit der Bourgeoisie dem Auslande gegenüber als ein einig Volk von Brüdern fühlen und somit allen imperialistischen Notwendigkeiten (Rüstungen, Kolonialpolitik) zustimmen müsse.

Selbst in Russland, was man am Anfang des Krieges für unmöglich gehalten hätte, hat ein Teil der sog. Menschewiks (so die bekannten Parteischriftsteller Maslow, Potressow, Wera Sassulitsch, Plechanow) alles getan, um einen Teil der Arbeiter in die Kriegskomitees zu treiben, wo jetzt die Gwozdieffs nicht nur dafür sorgen, dass der Zar möglichst viel Munition bekommt, sondern Huldigungstelegramme an die Generäle absenden. Alles das natürlich in der Hoffnung, dass man es durch eine derartige Politik leichter haben werde, irgendwelche Zugeständnisse zu ergattern. Die Freiheit, die die russischen Arbeiter im Kampfe gegen die zarischen Bajonette bisher nicht erobert haben, hofft man durch Fabrikation der Bajonette zu ergattern. In dem Sammelwerk, das diese Politik begründet und das „Selbstverteidigung" heißt, erklären die Führer, dass, wenn die westeuropäischen Arbeiter, die 50 Jahre Sozialisten sind, sozialpatriotische Politik treiben, so wäre es eine Anmaßung, wenn die junge russische Arbeiterbewegung dies als Verrat am Sozialismus bezeichnen würde. So sieht die Politik der Sozialpatrioten und Sozialimperialisten in den hauptsächlichsten kriegführenden Ländern aus. Ihre gemeinsamen Kennzeichen sind: 1. vollkommenes Aufgeben des Klassenkampfes, 2. Unterstützung des Krieges unter der Losung der Landesverteidigung, obwohl man weiß, dass man im Falle des Sieges keine Kraft haben wird, den imperialistischen Expansionsdrang einzudämmen, 3. die wachsende Erkenntnis, dass es sich nicht um eine vorübergehende Abirrung von der bisherigen Politik handelt, sondern um den Anfang einer neuen Politik des Zusammengehens mit der Bourgeoisie. Da die Politik des Sozialpatriotismus im Widerspruch steht mit den Grundsätzen des Sozialismus, die nach einem genialen Worte von Engels nichts anderes darstellen, als die „Lehre von den Bedingungen der Befreiung des Proletariats"1, so hat sich dieser Politik ein Teil der Internationale auch in den kriegführenden Ländern entgegen gestemmt. So die Unabhängige Arbeiterpartei Englands, die italienische Sozialdemokratie, die serbischen und bulgarischen Genossen, die polnische Sozialdemokratie, die russischen radikalen Sozialdemokraten (Bolschewiks). Aber auch in der deutschen und französischen Arbeiterbewegung gab es unter der Führerschaft selbst an dem historischen Tag des Zusammenbruches einen Teil, dem es klar war, dass die neue Politik das Ende des Sozialismus bedeutet. Verblüfft, durch den Zusammenbruch der Partei vollkommen überrumpelt, haben sie sich ihm am 4. August nicht entgegen gestemmt. Sie haben dadurch den Prozess des Wiedererwachens der Partei überall verlangsamt. Aber ein Teil von ihnen suchte den Schaden gut zu machen, indem er sich sofort an die Massen wandte und sie gegen die Mehrheit der Führer aufzurütteln versuchte. So haben sich allmählich zu den dem Sozialismus treu gebliebenen Parteien Minoritäten von gleichgesinnten Genossen in den Ländern gesellt, in denen die Mehrheit der Parteiführer die Bourgeoisie unterstützt. Sie haben sich später in Zimmerwald zu einer internationalen Aktionsvereinigung zusammengeschlossen. In England führen die beiden sozialistischen Parteien den Kampf weiter. In Frankreich besteht eine aus den revolutionären Gewerkschaftlern und Sozialdemokraten gebildete Aktionsgemeinschaft. In Italien kämpft die Partei als Ganzes. Die Lage in Deutschland ist den Lesern bekannt. Wir brauchen nicht zu beweisen, dass die Partei in praktisch zwei Lager zerklüftet ist und dass die Opposition in der Partei mit jedem Tage wächst. In Russland sind die Bolschewiks tätig. Diese Sachlage bedeutet: sachlich besteht schon heute die Spaltung, im internationalen, wie im nationalen Maßstabe. Was kann die radikale russische Sozialdemokratie oder die italienische Partei gemeinsam mit dem deutschen oder französischen Parteivorstand unternehmen? Nichts. Sie treiben entgegengesetzte Politik. Die einen kämpfen gegen ihre Regierungen, die anderen bilden deren politische Stütze. Und ebenso ist es in den einzelnen Parteien, in denen die Politik der „Opposition" im strikten Gegensatz zu denen der offiziellen Instanzen steht. Diese Tatsache wird verhüllt dadurch, dass die Menschen noch nicht überall und nicht mit genügender Schärfe die Sprache der Tatsachen verstehen. Ein Teil der an Zimmerwald angeschlossenen Parteien glaubt noch, dass sich die „irrenden Brüder" zurechtfinden. Diese Parteien fordern immer wieder den Zusammentritt des bankrotten Internationalen Sozialistischen Büros in Den Haag, um durch eine Aussprache eine Verständigung der Sozialpatrioten herbeizuführen. Gleichzeitig hofft ein Teil der Opposition – in Deutschland und Frankreich, den ausschlaggebenden Ländern wird es wohl die Mehrheit der oppositionellen Führer sein – dass die sozialdemokratischen Parteien als Ganzes sich noch zurechtfinden werden. Die Folgen des Krieges werden schließlich auch die Führer zum Umschwenken zwingen. Wer von ihnen so sehr „umgelernt" hat, dass ihm der Rückweg verlegt bleibt, der wird eben draußen bleiben: aber das wird nur eine unbedeutende Absplitterung sein. Andere wieder sehen zwar klar, dass die Spaltung unvermeidlich ist, aber sie halten es für verfrüht, dies auszusprechen, um die Massen, die an der Einheit der Organisation hängen, nicht vor den Kopf zu stoßen, bevor ihnen die eigenen Erfahrungen die Unmöglichkeit der organisatorischen Einheit mit den Sozialpatrioten beweisen. Wir halten die Spaltung (im nationalen wie internationalen Maßstabe) nicht nur für unvermeidlich, sondern für eine Vorbedingung des wirklichen Wiederaufbaues der Internationale, des Wiederaufwachens der proletarischen Arbeiterbewegung. Wir halten die Vorenthaltung dieser unserer tiefen Überzeugung den Arbeitermassen gegenüber für unzulässig und schädlich. Wir wollen unsere Überzeugung in den folgenden Artikeln begründen und fordern unsere Gegner auf, uns nicht mit moralischen Beschwörungen oder Verwünschungen zu kommen, sondern unsere Darstellung der Frage sachlich Punkt für Punkt zu widerlegen.

Wir beginnen mit der Frage von dem sozialen Hintergrund der Spaltungen in der Arbeiterbewegung überhaupt, wie der jetzigen Spaltung der Internationale.

Die Spaltung in der Arbeiterbewegung

Die Geschichte der Arbeiterbewegung ist voll von Spaltungen. Die deutsche Sozialdemokratie, der es vergönnt war, vierzig Jahre lang eine Organisation aufrechtzuerhalten, hat sich gewöhnt, auf die gespaltenen Bruderparteien herabzusehen und ihre erbitterten organisatorischen Kämpfe als Kinderkrankheiten zu betrachten. Es war eine etwas sonderbare Methode, die französische Arbeiterbewegung bis in das Jahr 1905, in dem die Vereinigung der sozialistischen Fraktionen Frankreichs erfolgte, während die Gewerkschaften weiterhin feindlich der Partei gegenüberstanden, im Kindesalter zu wähnen. Es ist lächerlich, anzunehmen, dass die russischen „Gruppen und Grüppchen" – in Wirklichkeit handelt es sich um zwei Parteien – die hohe Weisheit nicht verstehen, dass es besser ist, wenn die sozialistischen Arbeiter einig sind. Nun, jetzt, da die deutsche Partei trotz ihres hohen Alters und ihrer großen Organisation es nicht hat verhüten können, dass ihre parlamentarische Vertretung, ihre Organisationen in sich bekämpfende Teile zerfallen sind, ist es Zeit, sich nach den Wesen der Spaltungen zu fragen, über die die Geschichte des Sozialismus klare Auskunft gibt. „Überall, wo die sozialistische Arbeiterbewegung sich spaltete, lagen den ideologischen Gegensätzen, um die äußerlich gekämpft wurde, soziale Gegensätze zugrunde. Die erste große moderne Arbeiterbewegung, auf deren Grund Marx sich seine taktischen Ansichten bildete, die Chartistenbewegung in England, zerfiel in zwei Teile: der eine wollte die Befreiung der Arbeiterklasse auf dem Wege der moralischen Überzeugung der Bourgeoisie erreichen, der andere proklamierte die Gewalt als den Weg zum Ziele. Die gesamte Praxis der Chartistenbewegung hallte von diesem Gegensatz wider. Die Untersuchungen von Beer, Pumpiansky, Schlüter hellten die Quellen dieses Gegensatzes auf. Auf der einen Seite stand die große Masse des Fabrikproletariats aus dem englischen Norden, der unerhörten Ausbeutung unterworfen, die Engels in seiner „Lage der arbeitenden Klassen in England" so klassisch darstellt, rücksichtslos von der Staatsgewalt niedergehalten, sobald sie sich nur rührte. Ihre Kraft sah sie nur in ihrer großen Masse. Wie konnte sie da anders auf den Sieg hoffen als durch Einsetzung ihrer physischen Macht? Auf der andern Seite standen die Arbeiter des Londoner Handwerks, verhältnismäßig gebildet, in ihren Klubs in ununterbrochener Fühlung mit den Führern des radikalen Kleinbürgertums. Eine geschlossene Macht, die durch ihre Zahl wirkte, stellten sie nicht dar: trotzdem ist es ihnen oft gelungen, die bürgerlichen radikalen Herren nach links zu treiben. Aus dieser Sachlage ergab sich ihre Überzeugung, das Hindernis liege in der mangelnden Bildung der Arbeiter, die es zu fördern gelte, wonach man durch Einwirkung auf die bürgerlichen Radikalen als ihre Bundesgenossen zum Ziele gelangen könne. Der Chartismus ging zugrunde, bevor die wirtschaftliche Entwicklung die soziale Quelle der Spaltung der Chartisten, den Unterschied zwischen der Lage der qualifizierten Handwerks- und der qualifizierten Fabrikarbeiter, verschüttet hatte.

Woran ging die erste Internationale zugrunde? An den Intrigen Bakunins, einer „politischen Verbrechernatur", erklären Freunde politischer Kinostücke. An dem Gegensatz zwischen Marxismus und Anarchismus, sagen die andern. Aber was war die Quelle dieses Gegensatzes? Es genügt, die ganz gewiss nicht sehr tief schürfenden Arbeiten von Jaeckh, Steklow, Brupbacher, kritisch zu lesen, und man sieht diese Quelle. Wie konnten sich die Lumpenproletarier Spaniens, Italiens, Arbeiter aus Ländern, in denen der Kapitalismus erst seine zerstörende Arbeit begonnen, aber noch keine Fabriken geschaffen hatte, die qualifizierten Uhrenarbeiter der stillen Juraberge, die Kunsthandwerker von Paris, die Intelligenzen dieser Länder, wie konnten diese sich befreunden mit der Lehre, die den unaufhaltsamen Konzentrationsprozess des entwickelten Kapitalismus zur Grundlage hatte, der Lehre, die nur in dem an Zahl und Geschlossenheit mit jedem Tag zunehmenden Proletariat die Kraft sah, die die Staatsgewalt der Bourgeoisie in langem, systematischem Kampfe besiegen konnte, um die konzentrierten Kräfte in ihren Dienst zu stellen. Die Konzentration der Produktion war für Italien, Spanien, einen Teil der Schweiz, Frankreich ein Märchen aus Tausend und eine Nacht. Deswegen musste auch der Gedanke an die zentralisierte sozialistische Produktion für die Arbeiter dieser Länder willkürlich scheinen, als ein Irrwahn des preußischen „Staatssozialisten" Marx, der Bismarcks Politik auf die Internationale übertrug. Nein, freie Genossenschaften freier Arbeiter, wie sie die Handwerker dieser Zeit oft bildeten, das war das Ziel, oder bestenfalls sozialistische Gemeinden ohne jede zentralisierte Gewalt, die als reine Tyrannei galt. Und wie das Ziel, das Marx der modernen Arbeiterbewegung steckte, so mussten auch die Kampfesmethoden, die er empfahl, unbrauchbar erscheinen. Für das Lumpenproletariat gibt es nur ein Hinvegetieren im Elend oder eine Revolte, wovon in den romanischen Ländern auch das Kleinbürgertum Beispiele in Hülle und Fülle gab. Für die Handwerksarbeiter war die Genossenschaft der Kampfesweg. Dem systematischen politischen Kampfe überhaupt, dem parlamentarischen Kampfe als seinem wichtigsten Mittel, mussten die genannten Arbeiterschichten fremd gegenüberstehen: sie waren zu schwach, um an einen allgemeinen Aufstieg zu glauben, zu schwach, um am politischen Kampfe mit Erfolg teilzunehmen. Und weil sie zu schwach waren, wurden sie bei jedem Versuch der Teilnahme an Wahlen usw. von kleinbürgerlichen Demagogen übers Ohr gehauen. Deshalb sahen sie in den von Marx empfohlenen Kampfmitteln Illusionen oder Trugbilder und hofften auf einen Aufstand aller Unterdrückten, Ausgebeuteten, vom Kleinbauern bis zum Dieb und der Prostituierten. Auf ihn galt es zu warten, ihn zu propagieren; und da er nicht kam, suchten sie ihn durch Putsche zu beschleunigen, Putsche, die natürlich resultatlos verliefen. Während so ein großer Teil der damaligen Arbeiterbewegung die Marxsche Politik ablehnen musste, sammelten sich die Teile, die sie später durchführen sollten, sehr langsam. Die erste Internationale zerfiel. Und es vergingen zwanzig Jahre, bis die kapitalistische Entwicklung in Frankreich, Italien, der Schweiz, Deutschland große Massen der Arbeiterbewegung schuf, deren Klassenlage sie für den Marxismus empfänglich machte. Und was lag dem Kampf der Lassalleaner und Eisenacher zugrunde? Lange bestand in der Partei die Legende, die Eisenacher seien die „Marxisten" gewesen, die Lassalleaner aber hätten eine „Sonderpolitik" entweder aus einer religiösen, sektenhaften Anbetung des Lassalleandenkens getrieben, oder weil sie der schlechte Schweitzer verhetzte, der obendrein dafür den Judaslohn von Bismarck empfing Nach den Arbeiten Mehrings, Laufenbergs, G. Maiers ist diese Legende verflogen. Jeder weiß jetzt, was die verschiedene Haltung verschiedener Teile der Arbeiterklasse zur Frage der Einigung Deutschlands verursachte. In den kapitalistisch am meisten entwickelten Teilen Deutschlands, in Berlin, Rheinland-Westfalen usw. empfand die Arbeiterschaft die Notwendigkeit des Aufräumens mit der Kleinstaaterei am lebhaftesten. Als sich die preußischen Bajonette zu lösen begannen, sagte sie – mit Recht oder Unrecht –: gut oder schlecht, der Schutt wird weggeräumt, wer es auch tun mag.

In Sachsen, Süddeutschland war der Partikularismus dank der wirtschaftlichen Zurückgebliebenheit dieser Länder noch sehr groß. Er ward auch genährt durch das Bestehen der kleinbürgerlichen Demokratie, mit der man vorwärts zu kommen hoffte, wogegen in Preußen nicht nur der Absolutismus viel stärker, sondern auch der Liberalismus viel verlotterter war. Während sich bei den Lassalleanern dank der geschilderten Lage ein gewisses Hinneigen zu Kompromissen mit der Staatsgewalt, die Deutschland in ihrer Weise zu einigen suchte, mit einem viel schärferen Klassenbewusstsein der Bourgeoisie gegenüber verband, ging bei den Eisenachern der Partikularismus mit einer demokratisch-revolutionären Stimmung Hand in Hand. Obwohl der Deutsch-Französische Krieg die aktuelle Streitfrage, das Verhältnis zur Einigung Deutschlands, erledigte, vergingen noch viele Jahre bis zur Einigung der Eisenacher und Lassalleaner, weil die Verschiedenheit des Milieus, in dem beide Fraktionen wirkten, lange noch das Sichfinden erschwerte.

Um mit dem Ausflug in die Geschichte des Sozialismus zu enden, der naturgemäß nur sehr kurz sein konnte, alle Übergänge fortlassen, die Fragen krass herausarbeiten musste, erinnern wir uns, was die Grundlage der opportunistischen Politik in der zweiten Internationale bildete, die in England, Frankreich, Italien, Bulgarien usw. direkt zur Spaltung der Partei geführt hat. Hier können wir uns ganz kurz fassen, weil den Lesern die Ereignisse frisch in Erinnerung sind und sie sie auch in dem ausgezeichneten Büchlein von Pannekoek: „Die taktischen Differenzen in der Arbeiterbewegung" beleuchtet finden können. Wer trat für die Politik des Opportunismus ein? Entweder waren es kleinbürgerliche Elemente der wirtschaftlich weniger entwickelten Länder (in Deutschland Bayern und Baden), die den unüberbrückbaren, sich immer mehr verschärfenden Gegensatz zum Kapitalismus nicht so scharf empfanden, oder es waren Intelligenzler, die kraft ihrer sozialen Lage, ihrem Berufe als Schriftsteller, Rechtsanwälte, der Bourgeoisie näher stehen und an die Möglichkeit der Mitarbeit mit ihrem linken Flügel glauben, oder es war die Arbeiterbürokratie, die dank ihrer Arbeit in den politischen und ökonomischen Vertreterkörperschaften im Kleinkampf aufging und infolge ihrer zwar nicht glänzenden, aber gesicherten sozialen Lage in scharfen Kämpfen eine Störung ihrer ruhigen, „einzig aussichtsvollen Arbeit" empfand. Die Proletariermassen der industriellen Zentren standen auf radikaler Seite, wo sie nicht, wie z. T. in Rheinland-Westfalen, noch in großen Massen frisch vom Dorfe eingewandert waren. Der Gegensatz der auf Verschärfung des Klassenkampfes hinzielenden proletarischen und der auf eine Annäherung an die Bourgeoisie hinarbeitenden opportunistischen Taktik – der in der verschiedenen sozialen Struktur der verschiedenen Bestandteile der Arbeiterbewegung begründet war – sprengte überall die Hülle der einheitlichen Arbeiterorganisation, wo nur eine der Tendenzen sich voll entwickeln konnte. In Frankreich, Italien erlaubten die demokratischen Einrichtungen den Opportunisten, direkt oder indirekt an der Regierungsgewalt teilzunehmen. Der radikale Flügel konnte die Verantwortung dafür nicht übernehmen, wenn er vor den Massen die Verantwortung für die Politik der Bourgeoisie nicht tragen konnte. Nur dort, wo, wie in Deutschland, Österreich, die politische Zurückgebliebenheit gepaart mit den schärfsten sozialen Gegensätzen, den Opportunisten nicht erlaubte, an der Regierung teilzunehmen, kam es zu keiner Spaltung. Der Krieg hat auch hier eine Änderung der Bedingungen verursacht, über die wir demnächst sprechen werden. Einstweilen unterstreichen wir zwei Schlüsse, die sich aus unseren Ausführungen ergeben: 1. die verschiedenen Richtungen in der Arbeiterbewegung waren immer in einer sozialen Verschiedenheit ihrer Bestandteile begründet, die zu Spaltungen führte; 2. diese Spaltungen konnten niemals in kurzer Zeit überwunden werden, der Einigungsprozess war immer ein langer Kampfprozess.

Die Politik des 4. August

Die Politik des 4. August, die Politik des Burgfriedens mit der Bourgeoisie und der Unterstützung ihrer imperialistischen Unternehmungen, ist, wie wir im ersten Artikel gezeigt haben, eine internationale Erscheinung. Und sie ist nicht nur eine grausam harte Tatsache zweier Jahre, sie ist auch ein Programm der Zukunft. Eine Politik, die gleichzeitig getrieben wird von London bis Petersburg, von Paris bis Wien muss schließlich gleichen Quellen entströmen. Welches sind diese Quellen?

In seinem letzten Buche „Die Sozialdemokratie, ihr Ende und Glück", das alle Erkenntnisse des Linksradikalismus mit imperialistischen Auffassungen vereinigt, um aus ihnen eine Begründung der Politik des 4. August zu fabrizieren, erklärt Paul Lensch die Haltung der englischen Trade-Unionisten und der Labour-Party in folgender Weise:

Diese Herrschaft (Englands auf dem Weltmarkt), die in den letzten Jahrzehnten nicht mehr völlig unerschüttert war, hatte allen in Betracht kommenden Gesellschaftsschichten Großbritanniens Vorteile gebracht, nicht zum mindesten auch der Arbeiterklasse. Ihre privilegierte Minderheit das heißt die Gewerkschaftswelt, steckte den größten Teil ein, aber auch die große unorganisierte Masse hatte dann und wann vorübergehend ihr Teil. Hier haben wir den Schlüssel zum Geheimnis, dass die englischen Gewerkschaften die stärksten Stützen der englischen Kriegspolitik wurden. Sie wussten sehr wohl, worum es geht, und dass sie nur ihre eigenen Privilegien, ihre eigene Ausnahmestellung in der internationalen Gewerkschaftswelt verteidigen, wenn sie Englands Weltherrschaft verteidigen. Ihre gegen kontinentale Verhältnisse immer noch beträchtlich höheren Löhne und durchschnittlich besseren materiellen Lebensverhältnisse fußten auf dieser Weltherrschaft, wer diese angriff, der griff sie selber an." Die Auffassung von Lensch ist zwar nicht neu – sie ist eine seiner bekannten Anleihen bei den radikalen Sozialdemokraten – aber sie ist ohne Zweifel richtig. Die Politik der Trade-Unions war immer die Politik der Arbeiteraristokratie, und sie bestand immer in einem Haschen nach dem Brocken, die vom Tische der weltbeherrschenden englischen Bourgeoisie fielen. So hat sie Marx, so hat sie Engels auch bewertet. Es ist klar, dass sich die englische Arbeiteraristokratie beim Ausbruch des Krieges nicht aus kurzsichtigen Nutznießern der privilegierten Lage der englischen Bourgeoisie in einen von Idealismus erfüllten Stand verwandelt hat, die für die Befreiung der „kleinen Nationen" blutet. Aber wie kommt es, dass dieselbe Politik von der deutschen Sozialdemokratie und den deutschen Gewerkschaften getrieben wird, die bisher in der Welt als der strikte Gegensatz der englischen Trade-Unionisten galten? Wo liegt der Schlüssel zu diesem Geheimnis? Dieses Geheimnis wurde schon lange vor dem Kriege entschleiert, und Lensch half einst dabei, es täglich zu tun. Der Unterschied zwischen den englischen Gewerkschaften und der deutschen „sozialdemokratischen" Arbeiteraristokratie bestand schon vor dem Kriege nur in der verschiedenen politischen Phraseologie.

Die Oberschicht der deutschen Arbeiterschaft, die dank der stürmischen Entwicklung der deutschen Industrie verhältnismäßig hohe Löhne bekam, der staatliche und gewerkschaftliche Versicherungseinrichtungen eine verhältnismäßig sichere Lebenslage boten, die gewissermaßen an der bürgerlichen Kultur teilnahm, hat durch den Mund der Revisionisten und Gewerkschaftsführer seit gut fünfzehn Jahren immer häufiger erklärt, sie habe mehr als Ketten zu verlieren, ihr langer Kampf habe bereits Erfolge gezeitigt. Im revisionistischen Lager spielten zwar die kleinbürgerlichen Elemente aus dem Süden eine bedeutende Rolle, aber die wachsende Macht des Revisionismus im Parteileben bestand eben darin, dass die Gewerkschaftsführer sich zu denselben kleinbürgerlichen Idealen bekannten.

Die Politik der Arbeiteraristokratie ist schließlich eine rein kleinbürgerliche, weil sie an den Grundlagen des Kapitalismus nicht rüttelt, sondern möglichst viel von seinen Vorteilen zu erhaschen sucht. Natürlich bekannten sich die deutschen Gewerkschaftler und Revisionisten zum Sozialismus; denn im Gegensatz zu den englischen Trade-Unionisten, die in liberalen Auffassungen aufgewachsen sind, sind sie in sozialistischen Auffassungen erzogen worden und – was noch wichtiger ist – die breiten Arbeitermassen waren in Deutschland von der sozialistischen Ideologie durchtränkt. Aber der Sozialismus ward ihnen zu einem fernen Ideal oder nur zur Phrase. Ihre tägliche Arbeit erschöpfte sich in dem Kampf um kleine Vorteile. Von diesem Standpunkt beurteilen sie auch die Politik: sie stemmen sich jedem Versuch einer Massenbewegung, die breiten Kreisen der Arbeiterschaft politische Rechte und Besserung der Lebenslage bringen sollte, entgegen. Sie begründeten ihren Protest gegen die ..Revolutionsromantik" zwar mit der angeblichen Unmöglichkeit solcher Aktionen, aber in Wirklichkeit handelte es sich um die Angst vor der Gefährdung der bisherigen Errungenschaften der Arbeiteraristokratie. Nicht um ihre Verallgemeinerung durch diese Massenbewegung, sondern um ihre Steigerung handelte es sich für die Arbeiterbürokratie, die sich aus der Arbeiteraristokratie rekrutierte und ihre Interessen vertrat. Deswegen waren sie alle Anhänger der revisionistischen Politik der Annäherung an die Bourgeoisie, die den „ruhigen, sachlich vorgehenden" Elementen Zugeständnisse machen sollte, während sie durch die „radikalen Phrasen" nur erschreckt und in die Arme der Reaktion getrieben wird. Auch hatten die Gewerkschaftsführer und die Revisionisten nichts dagegen, wenn die Bourgeoisie ihnen die Zugeständnisse auf Kosten der Volksmassen anderer Länder machen würde. Die Gewerkschaftsführer und die Revisionisten waren durch die Bank Anhänger der Kolonialpolitik, die nichts anderes ist, als die Verwendung fremder Volksmassen zu kapitalistischen Zwecken. Bewiesen sie nicht, dass die Kolonialpolitik im Interesse der deutschen Arbeiter liege? Wenn es sich um die Massen der Arbeiter handelt, um die Arbeiterklasse als Ganzes, so stimmte die Rechnung zwar nicht, aber eine kleine Schicht der qualifiziertesten Arbeiter ergattert Abfälle von den Riesenprofiten der Unternehmer. Diese Abfälle sind nicht nur das Ideal der deutschen Gewerkschaften in der Zukunft, sondern sie bildeten schon vor dem Kriege – ebenso wie in England – die Butter auf dem Brot der deutschen Arbeiteraristokratie, nur dass sie in Deutschland eine kleinere Schicht erhielt als in England. Denn das deutsche Kapital näherte sich mit Riesenschritten der Lage, die das englische Kapital bereits erobert hat: durch seinen Industrieexport, der dem englischen fast gleicht, durch seinen mit jedem Jahre wachsenden Kapitalexport, hatte sich das deutsche Kapital schon vor dem Kriege, nach England, den größten Anteil an der Weltbeute gesichert. Und auch die deutsche Arbeiteraristokratie hatte sich den Platz dicht neben der englischen erobert. Wie die deutsche Bourgeoisie in diesem Kriege versucht, durch die Erringung der „Freiheit der Meere", durch die Gründung Mitteleuropas wenigstens die gleiche Lage wie die englische zu gewinnen, träumen die Gewerkschaften von den Fleischtöpfen Ägyptens.

Wie in England, so sind auch in Deutschland Arbeiteraristokratie und -bürokratie die Träger der Politik des 4. August. In Frankreich, Italien und Russland sind diese Schichten schwächer entwickelt, wie auch diese Länder weit hinter Deutschland und England auf dem Weltmarkt her trotten. Aber auch in Frankreich stand die organisierte Arbeiteraristokratie hinter den sozialpatriotischen Führern, deren Patriotismus, wie Hervé schon in seinem Buche „Das Vaterland der Reichen" (1907) einwandfrei bewiesen hat, in der Angst vor dem Verlust der Mandate bestand, deren Erlangung von dem Kleinbürgertum abhängig ist. Das Interesse der Politikaster, die die Abgeordnetenstellung weit über ihre bisherige soziale Lage erhebt, verbindet sich mit dem ihrer Klientel, der sie kleine Beamtenstellen, Läden der Monopolverwaltung usw. zu schanzen. Den Köder für die Massen aber bildet die größere politische Freiheit in Frankreich, wie ihre revolutionären Traditionen. In Italien und Russland ist der Kreis der bevorrechteten Arbeiter sehr klein, weswegen dort die große Mehrheit der Partei dem Sozialismus treu geblieben ist. Aber selbst in diesen Ländern gruppiert sich um die Sozialpatrioten – die Reformisten und Mussolianer in Italien, die Gruppe der „Selbstverteidigung" in Russland – ein Kern qualifizierter Arbeiter, der rein reformistisch denkt und deswegen mit der Bourgeoisie geht.

Die Politik des 4. August stellt die Krönung der Politik des Opportunismus dar, wie er sich in der zweiten Internationale entwickelt und unter dem Namen des Revisionismus und Reformismus auftrat. Schon im Jahre 1903 nannte der damals auf der Höhe seines Radikalismus stehende Parvus diese Politik der Arbeiteraristokratie nationalliberale Arbeiterpolitik; denn ebenso wie die Nationalliberalen die Ziele der Bourgeoisie im Bündnis mit den Junkern, nicht im Kampfe gegen sie zu erreichen suchten, so sucht die Arbeiteraristokratie und Bürokratie ihre Ziele im Bündnis mit der Bourgeoisie zu erreichen. Dass diese Politik unvereinbar mit dem Sozialismus ist, wussten wir schon vor dem Kriege. Aber wir glaubten, dass es sich bei dieser Politik nur um Illusionen der Führer handelt, die unter dem Druck der sich verschärfenden Klassengegensätze verflattern werden. Die Erfahrung zeigte, dass wir uns geirrt haben. Erstens war diese Politik nicht nur die der Führer. Es stand hinter ihr ein Stamm von Arbeitern, der nichts anderes als die Führer wollte. Und es wäre eine verhängnisvolle Illusion, wenn wir uns einreden wollten, dass jetzt hinter diesen Führern keine Massen ständen, oder wenn sie hinter ihnen stehen, dass sie dies nur tun, weil sie nicht genügend aufgeklärt sind. Die Spaltung geht durch die Arbeitermassen selbst; überall hält ein Teil der Arbeiter zu den Sozialpatrioten, und er tut dies nicht aus mangelnder Aufklärung, sondern weil er nur Reformen will. Ohne dass man dies erkennt, ist man verurteilt, eine illusionäre Parteipolitik zu treiben, weil man die Kraft des Gegners unterschätzt.

Nun unterliegt es keinem Zweifel, dass sich die Träume der Sozialpatrioten nicht erfüllen werden: die Kosten des Krieges, der nach ihm einsetzende Konkurrenzkampf auf dem Weltmarkte, die Konzentration des Kapitals, die wachsende politische Reaktion wird in keinem Lande die Bourgeoisie geneigt machen, der Arbeiteraristokratie irgendwelche bedeutenderen Zugeständnisse zu machen. Die Tragikomödie des Sozialimperialismus besteht darin, dass er den Sozialismus verriet, um durch ein Bündnis mit der Bourgeoisie Reformen zu erlangen; zu diesem Zwecke unterstützt er sie im Kriege. Aber der Krieg zerstört alle Illusionen des Sozialimperialismus.

Nun könnte man schließen: obwohl der Sozialimperialismus den Verrat am Sozialismus darstellt, werden Arbeiteraristokratie und -bürokratie nach dem Kriege einsehen müssen, dass sie sich geirrt haben, und sie werden von neuem den Weg des Kampfes betreten. Lasst uns also nur ihre Illusionen kritisieren, wodurch wir ihr Ende beschleunigen; aber brechen wir nicht mit ihr, spalten wir die Arbeiterbewegung nicht; denn der Gang der Ereignisse wird uns recht geben und so die ganze Arbeiterschaft in geschlossenen Kolonnen in den Kampf führen.

Diese Schlüsse sind unrichtig. Das wollen wir demnächst beweisen.

Für die Spaltung

Die Sozialpatrioten und Sozialimperialisten repräsentieren die Politik der Arbeiteraristokratie, jener Schicht, die sich im letzten Vierteljahrhundert dank der wirtschaftlichen Prosperität vermittels der gewerkschaftlichen und politischen Organisation und Aktion eine verhältnismäßig hohe und sichere Lebenslage errungen hat. Aber dieselbe Entwicklung, die dieser Schicht die Besserung ihrer Lebenslage gebracht hat, wird ihr die Grundlage dafür auch wieder entziehen. Die Vervollkommnung der Technik, die Rationalisierung des Betriebes (Taylor- und verwandte Systeme) werden bei wachsender Konzentration des Kapitals, bei wachsender Masse der von Osten stammenden „Hände", bei wachsender Frauenarbeit die Lage der Arbeiteraristokratie gefährden. Die unmittelbaren Wirkungen des Krieges werden das übrige tun. Der Sieg des Sozialismus erforderte das Vorhandensein einer intelligenten, physisch nicht gänzlich aufgeriebenen Arbeiterschaft, die die Führerin der gesamten Arbeiterschaft im Kampfe sein muss. Der Aufstieg aber dieser bevorrechteten Arbeiterschaft führte zu ihrer Verspießerung. Dieser Gegensatz wird durch die kapitalistische Entwicklung in der Weise aufgehoben, dass sie die verbürgerlichte Arbeiterschicht in soziale Lebensverhältnisse versetzt, in denen diese ihre kleinbürgerlichen Methoden des Kompromisses mit der Bourgeoisie aufgeben, zum grundsätzlichen Klassenkampfe greifen muss, wenn sie nicht auf die niedrigste Stufe der Gesellschaft, zu ihren Parias, geschleudert werden will. Und somit wird dieselbe imperialistische Entwicklung, die den Sozialimperialismus geboren hat, ihm auch ein Ende bereiten.

Aber diese Entwicklung kann sich nicht in einem Jahre oder Jahrzehnt vollziehen. Eine Ideologie, die durch ein halbes Jahrhundert der Geschichte sich in einer Schicht festsetzte, die eine lange Vorgeschichte hat, die durch die bürgerliche Umgebung in der Arbeiterschaft genährt wird, eine solche Ideologie hat an und für sich schon ein zähes Leben. Dabei kommt noch in Betracht, dass die Bourgeoisie sehr gut weiß, was sie im Sozialimperialismus hat. Sie hat es sich in der ganzen Welt jahrzehntelang Opfer genug kosten lassen, um sich in den christlichen, liberalen, gelben Arbeiterorganisationen eine Truppe zu erziehen, die die Aufgabe haben, die selbständigen Bewegungen des Proletariats im Interesse des Kapitals zu durchkreuzen. Wie die Arbeiter vom Geiste des Sozialismus durchdrungen waren, hat das alles nicht viel genützt, weil sie das Ziel aller dieser „Arbeiterbewegungen" nur zu leicht erkannten. Der Sozialimperialismus aber entstand inmitten der sozialistischen Bewegung selbst; an seiner Spitze stehen Männer, die sich in jahrzehntelanger Arbeit klingende Namen in der sozialistischen Arbeiterwelt erworben haben. Die Bourgeoisie hofft, dass es den Scheidemann und Legien besser gelingen wird, die Arbeiterbewegung in einem für sie günstigen Sinne zu beeinflussen, als es den Lebius und Stegerwald gelang. Darum findet die Politik der Scheidemann und Legien ihren vollen Beifall und ihre volle Unterstützung.

In parlamentarisch regierten Ländern werden die sozialimperialistischen Führer zur Regierung, in Ländern wie Deutschland werden sie zu verschiedenen Magistraten, zu verschiedenen hohen Beiräten zugelassen; kleinere Führer erhalten Verwaltungsposten. Schon jetzt kennzeichnet sich diese Entwicklung mit aller Deutlichkeit. Der frühere radikale bremische Parteisekretär Wellmann bekommt vom Bremer Staat die Stelle des Geschäftsführers der Massenspeisungen; der Führer der Konsumgenossenschaften, Dr. August Müller, sitzt mit Batocki und dem General Braun im Lebensmittelbeirat. So wird die Bourgeoisie noch viele der bisherigen Arbeiterführer für sich gewinnen. Sie werden dann, wie es Müller schon jetzt in den „Sozialistischen Monatsheften" tut, versuchen, ihre in der Arbeiterbewegung, also im Kampfe gegen die Bourgeoisie errungene Autorität, auszunutzen, um die Arbeiter für die Interessen der Bourgeoisie zu gewinnen. Aber das wird natürlich die breiteren Kreise ihrer Anhänger nicht befriedigen können. Hier müssen politische Konzessionen helfen.

Eine „Neuorientierung" in dem Sinne, dass den Forderungen der Vorderreihen der Arbeiterschaft Genüge geschähe, wird nicht vorgenommen werden können; aber Zugeständnisse von der Art der letzten Gewerkschaftsnovelle, der Art eines Pluralwahlrechts in Preußen nach sächsischem Vorbild, werden immerhin gemacht werden.

Dann werden die sozialimperialistischen Führer jede ähnliche Reform, deren Zweck die Befriedigung eines Teils der Arbeiter, also die Zerklüftung der Arbeiterklasse ist, als einen „verheißungsvollen Anfang" darstellen und so den Prozess der Abbröckelung ihrer eigenen Anhänger aufhalten. Und je weniger Zugeständnisse die Bourgeoisie machen wird, desto inbrünstiger werden die Führer der Sozialimperialisten gegen die radikalen „Krakeeler" eifern, die die Bourgeoisie mit ihren Redensarten schrecken, desto eifriger werden sie ihren Anhängern „Mäßigung" und „Besonnenheit" predigen. Und Jahre werden vergehen, bevor sie vollkommen abwirtschaften. Wer das im Auge behält, der lässt sich nicht von Hoffnungen betören, dass, wenn einmal der Krieg zu Ende ist, wenn man wieder frei reden kann, wenn die Masse selbst wieder entscheidet: dass wir dann die Sozialimperialisten mattsetzen werden; wenn nicht auf dem ersten, so doch sicher auf dem zweiten Parteitag. Abgesehen davon, dass wir heute noch im Kriege reichlich zu tun haben, und dass wir zu dieser Arbeit eine Zentralisation unserer Kampfmittel bitter nötig gebrauchen, abgesehen davon, dass wir heute noch gar nicht wissen, wie es in den verschiedenen Ländern mit der Freiheit des Wortes und der Schrift auch nach dem Kriege bestellt sein wird, abgesehen davon, dass die Arbeitermassen selbst auch nach der „Klärung" gespalten sein werden, abgesehen von alledem vergisst man bei dieser schönen Rechnung noch zwei wichtige Umstände. Man vergisst zunächst die Tatsache, dass die Mehrheit der Partei- und Gewerkschaftsbürokraten auf der Seite des Sozialimperialismus steht, dass sie die Mehrheit der Parteipresse in der Hand hält, dass sie der Demokratisierung des Parteikörpers den verzweifeltsten Widerstand entgegensetzen und damit die Vorderreihen der Arbeiterklasse lange Zeit hindern wird, das Ruder der Partei in die eigene Hand zu bekommen. Und zweitens vergisst man etwas noch Wichtigeres: Die Aufgaben der Partei. Unsere Aufgabe kann doch nicht nur darin bestehen, dass wir mit den Sozialimperialisten kämpfen. Vielmehr fassen wir den Kampf mit ihnen nur als Vorbedingung des allgemeinen Klassenkampfes auf, da der Sozialimperialismus die Schutztruppe des Kapitalismus ist. Wenn also die formelle Einheit der Partei erhalten bleibt, und die Sozialimperialisten die Partei und ihre Politik beherrschen, so sind wir entweder genötigt, jahrelang den wirklichen Kampf gegen unsere Klassengegner aufzugeben, oder wir führen ihn ohne Rücksicht auf die Parolen der imperialistischen Instanzen. Im ersten Falle, wenn wir den wirklichen Kampf gegen die äußeren Gegner aufgeben und uns mit der Kritik an den Sozialimperialisten begnügen, verliert diese Kritik jede Bedeutung: sie wird durchkreuzt, vernichtet durch die Taten, die wir dann gemeinsam mit den Sozialimperialisten im Reichstage, in der Gewerkschaftsbewegung zu verrichten genötigt sind; durch das Fehlen der Aktion, die den Arbeitermassen die Richtigkeit unserer Kritik beweist. Im andern Falle aber werfen die Sozialimperialisten uns kurzerhand aus der Partei hinaus: denn, wie auf die Länge hin keine Parteimehrheit eine geschlossene Gruppe ertragen kann, die ihre Politik als einen Verrat an den Parteigrundsätzen geißelt, so kann sie es noch weniger dulden, dass diese Gruppe jede ihrer Aktionen durchkreuzt und die Masse zu Taten in entgegengesetzter Richtung auffordert. Eine Partei mit zwei sich bekämpfenden Reichstagsfraktionen, mit Parteigruppen, die sich allerorts scharf entgegenstehen, kann auf die Dauer nicht bestehen.

Aber gesetzt den Fall, dass es uns gelingt, entgegen all den genannten Momenten, auch auf dem Parteitag die Mehrheit zu gewinnen. Was dann? Wollen wir die Politik des 4. August durch eine bloße Resolution verdonnern, radikale Richtlinien annehmen, wie schon so oft, und ihre Ausführung den Scheidemanns und Legiens anvertrauen? Zwar ist nicht ausgeschlossen, dass diese „gewandten Politiker" oder irgendwelche ihrer Handlanger diese Aufgabe übernehmen würden, um das Ruder der Partei in der Hand zu behalten, wie die Revisionisten in Dresden2 die radikale Resolution, die die Politik des Revisionismus ablehnte, annahmen, um die revisionistische Politik desto ungestörter ausführen zu können. Jeder Arbeiter, der sah, wie der auf die Dresdener Resolution verpflichtete Parteivorstand und die Reichstagsfraktion am 4. August die in ihr festgelegten Grundsätze mit Füßen traten, wird sich sagen: opportunistische Führer an der Spitze einer revolutionären Partei, das bedeutet die dauernde Hemmung jeder Aktion dieser Partei und in der Stunde der historischen Entscheidung die Auslieferung dieser Partei an ihre Klassengegner. Wer es für möglich hält, dass wir nach den Erfahrungen des 4. August die Ebert und Scheidemann, die Legien und August Müller an der Spitze der Arbeiterbewegung dulden könnten, der ist entweder ein gutmütiger Tropf (wenn er wirklich wähnt, der Sache des Sozialismus dadurch dienen zu können) oder er ist ein bewusster Schrittmacher des Sozialimperialismus, d. h. der Bourgeoisie. Wer aber will, dass wir die Männer des 4. August vom Parteiruder verdrängen sollen, der muss es für sicher halten, dass sie sich nicht gutwillig fügen, dass sie die Partei spalten werden.

Es beweist nichts von Kühle und Besonnenheit in der Einschätzung der Verhältnisse, wenn Genossen, die annehmen, dass die Sozialimperialisten sich uns, falls wir die Mehrheit haben, nicht fügen werden, gleichzeitig erklären, es werde sich dabei nur um eine geringe Absplitterung handeln. Man lasse diese Kindereien! Hinter den Sozialimperialisten wird ein großer Teil der Arbeiter der Kleinstädte stehen, die sich unter dem starken Einfluss ihrer kleinbürgerlichen Umgebung befinden; hinter ihnen wird auch ein Teil der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter stehen. Von welcher Seite die Spaltung auch kommen mag: sie wird notwendig eine Spaltung in der Arbeitermasse selbst sein.

Wie man auch die Sache drehen mag: Die Spaltung ist nicht zu umgehen. Bilden wir die Mehrheit in der Partei, so spalten sie die Sozialimperialisten, bilden wir die Minderheit, so müssen wir sie spalten; es sei denn, dass wir uns löblich unterwerfen, die Verantwortung für die Politik des 4. August übernehmen, und nur in nebensächlichen Punkten nörgeln wollen. Aber die Spaltung ist nicht nur historisch notwendig, sie ist der Arbeitersache direkt nützlich. Ohne Spaltung mit den Sozialimperialisten ist eine einheitliche sozialdemokratische Agitation und Aktion unmöglich. Nur wenn wir durch die Spaltung die Verantwortung für die Politik des 4. August abgelehnt haben, werden wir gegen die Folgen des Weltkrieges wirken können. Nur nach der Trennung von den Sozialimperialisten wird ein Wiederaufbau der Internationale möglich sein, einer Internationale, deren Zweck nicht die Aussöhnung derer, die sich im Kriege mit dem Kapital ausgesöhnt haben, sondern die Zusammenführung des Proletariats zum gemeinsamen Kampfe sein wird. Nur wenn die Spaltung freie Bahn für den rücksichtslosen Kampf zwischen Sozialismus und Sozialimperialismus schafft, werden wir diesen besiegen können. Wer da erklärt, dass die Spaltung uns im Kampfe gegen das Kapital schwächen wird, der spekuliert auf Gedankenlosigkeit oder unklare Gedanken. Natürlich, zwei Millionen kämpfender Arbeiter sind stärker als eine Million. Aber wenn die zwei Millionen geführt werden von Leuten, die bewusst oder unbewusst Werkzeuge der Gegner sind, wenn von diesen zwei Millionen eine Million den Werkzeugen der Gegner blind gehorcht, und die zweite Million dasselbe aus unangebrachter Solidarität tut, dann kämpfen die zwei Millionen überhaupt nicht, und die eine Million kann den Kampf erst beginnen, wenn sie sich von der andern und ihren verräterischen Führern trennt.

Die Spaltung der Internationale in das sozialdemokratische und sozialimperialistische Lager ist geistig längst vollzogen; die organisatorische Spaltung wird und muss folgen. Wer das erkannt hat, der muss sie auch erstreben. Und was man als Sozialdemokrat erstrebt, das muss man den Arbeitern auch sagen. Es ist noch eine Schwäche der Linksradikalen, dass sie es nicht in allen Teilen offen sagen. Zweifellos sieht die Gruppe Internationale die Notwendigkeit der Spaltung ein. Wenn sie sie nicht in allen ihren Teilen konsequent propagiert, so weil in diesen Teilen noch damit gerechnet wird, dass auch die radikalen Arbeiter noch an der Illusion der Niederringung der Scheidemänner innerhalb der einheitlichen Partei festhalten. Man fürchtet, diese Arbeiter durch die offene Propaganda der Spaltung noch abzuschrecken. Man sucht sie zu organisatorischen Maßnahmen zu treiben, die äußerlich keine Spaltung bedeuten und trotzdem zur Spaltung führen müssen: so die Propaganda der Beitragssperre.

Aber eben die Erfahrungen dieser Propaganda beweisen, dass, wo die Arbeiter die Unversöhnbarkeit der Sozialdemokratie und des Sozialimperialismus, d. h. die Notwendigkeit der Spaltung noch nicht eingesehen haben, sie auch gegen die Beitragssperre sind. Je klarer, je rücksichtsloser man die politische wie organisatorische Unversöhnbarkeit der beiden Hauptrichtungen in der Partei den Massen zeigt, desto eher greifen sie auch zu den notwendigen organisatorischen Kampfmitteln. Aus dem Verschweigen der Tatsachen ziehen nur die Sozialimperialisten Profit, denn jeder Unsicherheit unsererseits, jedes Schwanken macht die Masse irre, erlaubt ihnen, im Trüben zu fischen.

Mag die Spaltungspropaganda momentan auch unklare Elemente gegen uns richten, sie sammelt dennoch um uns den kampffrohen und kampffähigen Teil der Arbeiter, flößt ihnen Mut ein, gibt ihnen Zielklarheit, und wenn später die Ereignisse uns und nicht den Zentrumselementen recht geben werden, werden auch die noch schwankenden Elemente unter den Arbeitern sich um uns sammeln. Die Propaganda der Spaltung bedeutet keinesfalls, dass wir jetzt aus der Partei austreten sollen. Umgekehrt: unsere Bemühungen müssen darauf gerichtet sein, alle möglichen Organisationen und Organe der Partei in die Hände zu bekommen. Sie wurden in einem halben Jahrhundert des Kampfes für den Kampf geschaffen und gehören uns auf Grund des historischen Rechts. Wir haben alles zu tun, um die Sozialimperialisten zu nötigen, für ihre neuen bürgerlichen Zwecke sich neue Organisationen zu schaffen. Unsere Pflicht ist, solange wie möglich auf den Posten auszuharren, denn je länger das geschieht, desto größer wird der Teil der Arbeiter sein, der mit uns geht, falls die Sozialimperialisten, die natürlich unsere Taktik ausgezeichnet verstehen, auch wenn wir sie verschweigen würden, uns ausschlössen. Aber wie berechtigt es auch ist, alle Machtmittel der Partei für ihre historischen Ziele aus den Händen der Sozialimperialisten zu retten, so darf dieser Wille doch nicht Selbstzweck und Selbstziel sein. Wir dürfen auf keine politische Aktion verzichten, die notwendig ist, auch wenn es deswegen schon früher zur Spaltung kommen sollte, als wir es vielleicht wünschen; denn diese Aktion ist die Quelle unserer Kraft und der Grund unserer Existenz. Und wo die Sozialimperialisten zu lokalen Ausschlüssen greifen, da müssen sofort lokale selbständige Organisationen entstehen. Ein Gebot der Stunde ist es, dass sich die auf dem Boden der Opposition stehenden lokalen Parteiorganisationen, wie die in Mehrheitsorganisationen wirkenden ergänzenden Minderheitsorganisationen zusammenschließen und eine provisorische Leitung der entschiedenen Opposition einsetzen. Der darauf hinzielende, von der Berliner Verbandsversammlung abgelehnte Antrag der Genossin Luxemburg muss von lokalen Organisationen, die auf dem Boden der entschiedenen Linken stehen, verwirklicht werden. Lokal abgesondert, nicht verbunden, sind wir ein Spielball in den Händen der Sozialimperialisten. Deswegen gilt es, alle sich bietenden Gelegenheiten zu benutzen, um die Zentralisation der Opposition durchzuführen.

Damit kommen wir zu der Frage vom Verhältnis der entschiedenen Linken zum Parteizentrum. Darüber im Schlussartikel.

Linksradikale und Zentrum

Als in Bremen die Linksradikalen um die Klärung innerhalb der Arbeiterschaft rangen, und dabei auf den Widerstand des Abgeordneten Henke stießen, höhnte die „Chemnitzer Volksstimme": Wenn man einmal die Geschicke der Partei von den Beschlüssen der Versammlungen abhängig mache, dann bekomme in ihnen derjenige die Oberhand, der sich am wildesten gebärde. Und so oft aus Berlin Nachrichten kommen über die Kämpfe zwischen den Anhängern des Zentrums und der Gruppe „Internationale", ruft die ganze sozialpatriotische Presse triumphierend: da seht ihr, wenn erst einmal die Spaltung da ist, dann gibt es kein Ende der Spaltungen, dann frisst die Montagne (die Entschiedenen) die Gironde (die Gemäßigten), und dann kommt der Terror! Also lobet den Herrn und folgt Scheidemann. Diese ganze Philosophie zeigt trefflicher als irgend etwas anderes den konterrevolutionären Charakter der sozialpatriotischen Clique, die über die Krise des Sozialismus und der Arbeiterbewegung nichts anderes zu sagen hat, als was die reaktionärsten Historiker über die Kämpfe der französischen Revolution sagten. Aus dieser, den Taines abgeguckten historischen Anschauung, spricht nicht nur eine bodenlos geringe Einschätzung der Arbeitermasse, die jedem wilden Mann zum Opfer fällt – das behauptete die bürgerliche Presse bekanntlich immer, als sie von der Verhetzung sprach –; es spricht daraus nicht nur die Überzeugung, dass nur die Bürokratie imstande ist, eine „kluge" Politik zu treiben, – die geringe Einschätzung der Masse charakterisierte noch immer jede Bürokratie. Diese Auffassung ist überhaupt nicht imstande, das Wesen der Krise zu erfassen, in der sich die Arbeiterbewegung befindet.

Die die imperialistische Ära charakterisierende Vertrustung und Kartellierung der Industrie, die Bildung der Unternehmerverbände erschwerte den abgesonderten Gewerkschaftskampf, machte die Erfolge durch ihn immer seltener. Die seit Jahren bestehende Teuerung machte die bisherigen Errungenschaften des Gewerkschaftskampfes illusorisch. Man blickte auf das Parlament: dieses sollte helfen. Aber der Konzentration des Kapitals entsprach die Zusammenballung der bürgerlichen parlamentarischen Parteien zu einer reaktionären Masse. Die wachsenden Rüstungsausgaben machten diese Reaktion für die Forderung der Sozialreformen noch unzugänglicher; die Stärkung des Militarismus bedeutete die Stärkung des Widerstandes gegen die Demokratie. Die Arbeiterbewegung stand vor einer Mauer.

Die Opportunisten redeten dem Proletariat ein, man könne sie umgehen durch ein Bündnis mit den Liberalen; die Linksradikalen sagten, dass dies unmöglich sei; erstens waren die Liberalen selbst zu schwach, um selbständig ihrerseits irgend etwas durchzusetzen; zweitens würde ein Bündnis mit den Liberalen zur Verwischung und Verwaschung des Klassenkampfes führen, also das Proletariat schwächen. Es blieb nur der Versuch, durch einen starken Druck der Massen, durch ihr Anstürmen die Mauer zu nehmen. Wie lange der Kampf dauern werde, ob die Massen bereits reif seien zur Erfüllung ihrer historischen Mission, darüber konnten wir keine Wechsel ausstellen. Wir wussten nur, dass es keinen anderen Weg gibt, und deshalb forderten wir von der Partei mit Wort und Tat zu versuchen, das Proletariat auf seine historische Aufgabe vorzubereiten. Dem widersetzte sich das Zentrum der Partei: es proklamierte die „Ermattungsstrategie", das Agitieren, Organisieren, Warten, da die Masse noch nicht weit genug sei, und ein „Putschismus" ihre Organisation gefährden könnte. Während dieser Auseinandersetzungen kam der Weltkrieg. In vierundzwanzig Stunden schwenkte die Mehrheit der Zentrumsmänner auf die Seite der Opportunisten und mit ihnen zusammen auf die Seite der Bourgeoisie. Das, was die Linksradikalen über das Zentrum vor dem Kriege behaupteten, es bestehe aus derselben Partei- und Gewerkschaftsbürokratie wie das Lager des Revisionismus, und unterscheide sich von ihm nur durch sozialistische Phrasen, bewahrheitete sich voll und ganz. Es zeigte sich, wie recht wir hatten, als wir die „Ermattungsstrategie" als Resultat der Angst vor jeder Aktion kennzeichneten, weil diese die soziale Grundlage der Existenz der Partei- und Gewerkschaftsbürokratie, die Organisation vorübergehend gefährden könnte, wobei wir dahingestellt lassen, worum es der Bürokratie mehr ging: um die eigene Existenzsicherheit oder um die Organisationen. Ein nur sehr geringer Teil der Zentrumsführer hielt sich von der Politik des 4. August fern. Aber er wagte lange Zeit keinen Kampf gegen die Sozialpatrioten. Erst als in der Arbeiterschaft selbst, dank der Arbeit der entschiedenen Linken und den Folgen des Krieges, die Gegnerschaft gegen den Sozialpatriotismus wuchs, wagten diese von Ledebour geführten Zentrumselemente einen Kampf gegen den Sozialpatriotismus. Zu ihnen schlug sich dann ein Teil der Zentrumsleute, die sich am 4. August direkt auf den Boden des Sozialpatriotismus gestellt haben. Was bedeutet diese Zentrumsopposition, was bezweckt sie? Sie erklärt, sie wolle die Hochhaltung der alten Grundsätze, der alten bewährten Taktik, aber der Kampf um sie müsse in dem Rahmen der Organisation ausgekämpft werden. Aber die alte bewährte Taktik des nur parlamentarischen Kampfes war bankrott schon vor dem Kriege! Der Weltkrieg wirft eine große Masse neuer Fragen auf, die die Entwicklung, Fortbildung der alten Ideologie („Grundsätze") erfordern! In dem Rahmen der Organisation? Aber wie kann man in dem Rahmen einer Organisation gleichzeitig für den Sozialismus und gegen ihn kämpfen? All das zeigt, dass sich das Wesen auch des Rumpfzentrums, obwohl es einen Teil seiner Führer an die Sozialimperialisten abgegeben hat, gar nicht geändert hat. Wohl befinden sich auch unter den Zentrumsführern Leute, die die Zentrumspolitik nur deswegen mitmachen, weil sie sich über die Tiefe der Krise noch nicht im Klaren sind, die aber immerhin noch zu uns kommen können. Die Mehrheit der Zentrumsführer ist unwandelbar. Die einen, weil sie trotz ihrer Uneigennützigkeit, trotz ihres redlichen Wollens Überbleibsel aus alter Zeit sind und sich in den neuen Bedingungen nicht mehr zurechtfinden können, daher an allem Alten starr festhalten – es genügt, nur Kautsky, Ledebour zu nennen, denen wir trotz aller Erbitterung des Kampfes menschlich nie nahetreten wollen –, die andern aus Rechnungsträgerei: sie wollen mit den Sozialpatrioten nicht brechen, von denen sie materiell abhängig sind, und werden solange gegen die Spaltung kämpfen, wie es nur möglich ist. Wir sind überzeugt, dass diese Behauptung eine große Entrüstung hervorrufen wird; aber es ist Zeit, dass die Arbeiterschaft lernt, mit offenen Augen die Dinge anzuschauen. Wie viele, die die „Organisationen" retten wollten und dabei nur an ihre eigene Existenz dachten. So schreien viele: Einheit der Partei! und denken dabei an ihre eigene Existenz. Wie dem aber auch sei, wie groß das zahlenmäßige Verhältnis der nur dank geistiger Erstarkung nicht mehr entwicklungsfähigen Elemente zu den „Rechnungsträgern" sein mag, objektiv, selbst unabhängig von dem Willen der Einzelpersonen, bedeutet die Politik des Zentrums eine Täuschung der Massen in dreifachem Sinne: sie täuschen die Massen über den Kapitalismus, indem sie in ihnen den Glauben erwecken, man könne ihm den Imperialismus austreiben und ihn zum Pazifismus bekehren, kurz, es sei ein Kapitalismus ohne Kriegsgefahren möglich. Sie täuschen die Massen, indem sie ihnen vorreden, man könne diese Reform des Kapitalismus gemeinsam mit den Sozialpatrioten erstreben, die sich unter dem Drucke der Massen bessern werden. Sie täuschen die Massen, indem sie ihnen vorreden, es gebe einen anderen Weg zum Ziele als den der Befreiung der Arbeiterklasse durch die Arbeiterklasse selbst. Die Propaganda der Reform des Kapitalismus an Stelle seiner Überwindung, die Propaganda der Parteieinheit, die Gegnerschaft zu Massenaktionen, diese Merkmale des Zentrums machen es notwendig, dass wir einen ununterbrochenen und rücksichtslosen Kampf gegen das Zentrum führen.

Hinter ihm stehen noch breite Massen der Arbeiterschaft, die dank der alten Autorität der Zentrumsführer, dank den alten sozialistischen Losungen, die diese gebrauchen, ihnen folgen. Dadurch werden diese Arbeitermassen von den wirklichen Aufgaben, von der wirklichen Einsicht zurückgehalten. Um sie von den Zentrumsführern zu trennen, gilt es, jeden Schritt, den das Zentrum im Kampfe gegen den Sozialpatriotismus zu führen sich genötigt sieht, zu unterstützen, aber gleichzeitig jede Halbheit zu geißeln und ihre Ursachen aufzeigen. Man lasse jede Hoffnung auf das Herüberziehen der Führer durch „pädagogische" Behandlung fahren. Nicht um die Gewinnung der Führer handelt es sich, sondern um die Gewinnung der Massen.

Aber selbst soweit es sich um die wenigen Zentrumsführer handeln kann, die zu gewinnen es sich verlohnt, so sind auch sie nur durch die schärfste Kritik zu gewinnen. In der Politik waren Prügel (natürlich geistige) noch immer das beste Erziehungsmittel. Die Arbeiterbewegung zerfällt jetzt wirklich in drei Teile: Sozialimperialisten, Zentrum, Linksradikale: erstere sind Arbeiter, die auf Brocken vom Tische der Bourgeoisie warten; die Unentschiedenen, die zwar wissen, dass es mit der Bourgeoisie für die Arbeiterklasse als Ganzes nichts zu erreichen gibt, aber noch nicht wissen, wie man gegen sie zu kämpfen hat; und solche, die wissen, dass nur im Massenkampfe gegen die Bourgeoisie ihr sozialistisches Ziel zu erreichen ist. Mit den ersten haben wir nichts zu tun, wir müssen uns von ihnen trennen. Vielleicht kommen sie später zu uns, nachdem ihnen die Bourgeoisie selbst die Illusionen der Mitarbeit durch Nackenschläge austreibt. Um die Unentschiedenen ringen wir, indem wir, ohne nach rechts und links zu schauen, unsern Weg gehen. Wir wollen versuchen, sie zu uns zu ziehen. Sollten sie aber, von der Propaganda des Zentrums demoralisiert, uns jetzt schon nicht folgen können, sollte ihre Orientierung später eintreten, als die Notwendigkeiten der Politik uns organisatorische Selbständigkeit zum Gebot machen werden, nun, dann ist dagegen nichts zu machen. Dann werden wir unsern Weg gehen müssen und ihnen überlassen, ob sie noch ein Stück Weges mit den Sozialpatrioten gehen wollen, um später, bitter enttäuscht, zu uns zu stoßen, oder ob sie sich als selbständige Partei der Mitte konstituieren wollen, einer Partei, die über kurz oder lang zwischen den Mühlsteinen der entschiedenen Rechten und Linken zerrieben werden würde. Wir hoffen, dass die Erfahrungen, der Rücksichtnahme auf das Zentrum, die in Berlin und an anderen Orten gemacht wurden, diesen Kreisen, die aus Rücksicht auf die zahlenmäßige Schwäche der Linken „Vorsicht" predigten, die Augen geöffnet haben. Das Chaos, das jetzt in der Arbeiterbewegung herrscht, kann nur dann überwunden werden, wenn wir mit offener Klarheit unsern Standpunkt entwickeln und mit voller Entschiedenheit die praktischen Konsequenzen aus ihm ziehen. Dadurch nötigen wir die Sozialpatrioten zur Klarlegung ihres Standpunktes und das Zentrum zur Aufdeckung seiner völligen Grundsatzlosigkeit. Eine Massenkraft werden wir erst, wenn die Arbeiterschaft in Fluss kommt. Dieses Ziel gefährden wir, wenn wir durch die Kompromisse mit dem Zentrum „Massen" fangen wollten. Wenn dies erreichbar wäre, so würde es uns nichts nützen, weil in diesen Massen ohne Einsicht und Kampfwillen keine Kraft stecken würde. Je klarer und entschiedener wir sind, desto schneller werden die Nebel verschwinden, werden die Arbeiter sich auf ihre historische Aufgabe besinnen.

Spaltung mit den Sozialpatrioten, Kampf gegen das Zentrum, das ist die organisatorische Aufgabe der nächsten Zukunft. Ihre Erfüllung erfordert die Einheit der Linksradikalen. Wir werden dieser Frage noch einen besonderen Artikel widmen müssen.

Die Aufgaben der Linksradikalen

Die Linksradikale Richtung in der deutschen Sozialdemokratie entstand in den letzten fünf Jahren vor dem Kriege im Kampfe gegen den Scheinradikalismus der Mehrheit der Partei, dessen Hohlheit klar wurde, als er angesichts der steigenden Reaktion auf allen Gebieten des inneren Lebens auf die Agitation für Massenaktionen, als er angesichts der wachsenden Kriegsgefahr auf ebensolche Aktionen gegen den Imperialismus verzichtete. Die Linksradikalen sahen von Anfang an, dass es sich von vornherein nicht um die Differenzen in einzelnen Punkten handelte, sondern um das Versagen einer ganzen Richtung in einer neuen Situation, in der sich die Arbeiterbewegung seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts befand. Die Neuheit der Situation bestand darin, dass die Konzentration des Kapitals, seine Zusammenfassung unter der Leitung des Finanzkapitals auf der einen, das Anschwellen der Arbeiterbewegung auf der anderen Seite die Klassengegensätze ungeheuer verschärfte, ihre wirkliche Austragung auf dem parlamentarischen Boden unmöglich machte und das Schwergewicht des Kampfes in das direkte Ringen der Klassen verlegte. Dieselben Wandlungen in dem Aufbau des Kapitalismus geben ihm Kraft zu der imperialistischen Politik, die die Gegensätze zwischen den kapitalistischen Schichten verschiedener Länder verschärfte, und wiederum war das Parlament als Mittel der Zähmung des Imperialismus ohnmächtig, wieder lag das Schwergewicht des Kampfes draußen: in den Massen. Der alte Radikalismus, dessen historische Aufgabe unter dem Sozialistengesetz und den nachfolgenden Jahren in der vorbereitenden Arbeit der Aufklärung des Proletariats über seine Klassenlage bestand, in seiner Aufklärung über die Unmöglichkeit der Kürzung des langen Kampfes vermittels der anarchistischen Putsche wie der revisionistischen Schleichwege, er konnte sich geistig der neuen Situation nicht anpassen, obwohl er in den Arbeiten Kautskys ihr Wesen erkannte. Dazu kam noch, dass die hinter den geistigen Führern des alten Radikalismus stehenden Kreise der Organisatoren und Parlamentarier ganz in der Kleinarbeit aufgingen und sich in ihr sowohl fühlten, dass sie in jeder Massenaktion ein Abenteuer sahen.

So musste der Linksradikalismus in seinem Kampf gegen den Altradikalismus in erster Linie den Arbeitern die Änderungen in den Bedingungen des Klassenkampfes ins Bewusstsein bringen, die die imperialistische Epoche charakterisieren. Die Linksradikalen fanden in der Arbeiterschaft ein starkes Echo: der Drang zu Massendemonstrationen aus Anlass des preußischen Wahlrechts zeigte, dass die linksradikale Richtung schon in ihren Anfängen kein Häuflein von Ideologen darstellte, sondern dem Gefühl weiterer Arbeiterkreise, dass man mit der „alten bewährten Taktik" nicht auskommen kann, Ausdruck gab. Aber die Selbständigkeit selbst dieser Vorderreihen war noch zu klein, die Autorität der alten Parteiführer und die Bremskraft der Parteibürokratie zu groß, als dass es gelingen konnte, die Partei auf neue Bahnen zu drängen. In seiner Vorrede zur Neuauflage der Marxschen „Klassenkämpfe in Frankreich" wies im Jahre 1911 August Bebel, der politische Vertreter der altradikalen Taktik, auf die Möglichkeit hin, dass bereits in nächster Zukunft „jene welthistorischen Momente" eintreten könnten, „die der Entwicklung eines großen zahlreichen und intelligenten Volkes, wie es das deutsche ist, neue Wege aufzwingen, mögen die herrschenden Klassen wollen oder nicht"; aber gleich darauf erklärte er: „Für die Sozialdemokratie ist die Richtschnur gegeben: sie wird sich, käme was will, von dem bisherigen Boden nicht abdrängen oder verleiten lassen, ihr bedenklich erscheinende Wege zu betreten; sie hat keinen Grund, sich ihren Feinden gegenüber zu Unbesonnenheiten und gewünschten Gewaltstreichen verleiten zu lassen". Er vergaß dabei nur, dass, wer nicht vorwärts marschiert, wie es die Verhältnisse erfordern, zurück krebst. Und er sah nicht, dass das Bündnis mit den Liberalen im Jahre 1912, die Nährung der Illusionen in der Arbeiterschaft über die Abrüstungsmöglichkeit nichts anderes war als das Verlassen des alten Bodens. Nur dass die Partei, statt zu höheren Kampfmitteln zu greifen, zu einer historisch längst überwundenen Politik zurückkehrte: durch die Hilfe eines Teils der Bourgeoisie die Arbeiterschaft vorwärts bringen zu wollen.

Was im gewissen Umfange möglich war zur Zeit der Kämpfe zwischen den feudalen Junkern und der fortschrittlichen Bourgeoisie, das war eine Utopie in der Zeit, wo die Junker ihr Leben als die Vorkämpfer der kapitalistischen Reaktion fristen. Und als angesichts der Inaktivität der Arbeiterklasse kam, was kommen musste, der Weltkrieg, da zeigte sich, dass die Mehrheit der Radikalen aus reinem Opportunismus die neuen Wege scheute, und dass deswegen von einem Verbleiben auf dem alten Boden keine Rede sein konnte: weil die Partei darauf verzichtete, die Arbeitermassen vorwärts zu bringen, wurde sie zurückgeschleudert auf den alten Boden der Klassensolidarität. Die Revisionisten, die immer die Tendenz zu dieser Politik gezeigt hatten, rissen das Ruder der Partei an sich, und jetzt treibt sie gespalten, historisch entehrt, als Wrack auf den Wellen der Geschichte, ein Spiel ihrer Launen. Die Linksradikalen begannen schon am historischen Tag des Zusammenbruchs der „alten bewährten Taktik" ihren Kampf. Nicht die Ledebours, Haases, Kautskys waren es, die die Fahne der Rebellion erhoben, sondern die Linksradikalen. Aber später, als sich die Arbeitermassen zu rühren begannen, und so den linken Flügel des Zentrums zu Protesten gegen die neue Politik des Sozialimperialismus im Namen der alten Taktik nötigten, glaubte ein Teil der Linksradikalen, diese frondierenden Zentrumsleute weiterführen zu können, wenn sie sich mit ihnen verbänden. Der bekannte Protest der Tausend im Juli 1915 war das gemeinsame Werk eines Teils der Linksradikalen und des linken Flügels des Zentrums. Und auf der Zimmerwalder Konferenz konnte man das Schauspiel erleben, dass ein Teil dieser Linksradikalen, die Vertreter der Gruppe, die im März 1915 das erste Heft der „Internationale" herausgab, mit Ledebour zusammen half, die Linksradikalen Russlands, Polens, Schwedens, Hollands und des anderen konsequenten Teils der deutschen Linksradikalen niederzustimmen. Die Folge davon war die Entstehung der Internationalen Sozialisten Deutschlands (I. S. D.), eine geistige Gemeinschaft, die von vornherein einen Strich zwischen sich und dem Zentrum zog und für eine selbständige Taktik der Linksradikalen focht. Sie war klein, ihr Einfluss numerisch nicht groß. Aber die jämmerliche Taktik des linken Flügels des Zentrums im Dezember 1915 nötigte auch den größeren Teil der Linksradikalen, die sich um die Zeitschrift „Internationale" sammelten, zur Abgrenzung von dem linken Flügel des Zentrums, die in den Leitsätzen der Internationalen Gruppe und dem Spartacusbriefe, erfolgte. Darüber erst kam es zum Bruch mit den Ledebourianern. Und wenn auch einzelne Führer der Gruppe Internationale sich noch wieder der Illusion hingaben, der Bruch sei nicht endgültig, wenn andere aus Angst vor dem „ewig gestrigen" die Vereinsamung fürchteten, so zeigten schon die nächsten Monate, dass sie irrten. Die Politik der zentrümlichen „Arbeitsgemeinschaft" bewies, dass aus der „Pappe" der alten Führerschaft kein Schwert für den proletarischen Massenkampf zu bilden ist, und andererseits sammelte sich überall, wo die Linksradikalen sich direkt an die Massen wandten, wo sie ihre Aufklärungsarbeit ausdauernd leisteten, ein tüchtiger Schlag von Arbeitern, die sich durch das Chaos und den Nebel geistig hindurchgearbeitet haben. Heute ist ein guter Teil der Gegensätze, die zur Bildung der I. S. D. führten, die die Bremer Linksradikalen veranlassten, der Internationalen Gruppe nicht beizutreten, nach unserer Meinung – wir sprechen nur im eigenen Namen – überwunden. Die Genossen aus der Internationalen Gruppe haben nicht nur durch ihren unermüdlichen Kampf gegen den Sozialpatriotismus, durch die unerschrockene allgemeine Aktion, durch die großen Opfer, die sie der Sache bringen, sich den Ruhm erworben, einer der besten praktischen Vortrupps der neuen Internationale zu sein, sondern sie haben durch die Losung der Beitragssperre, durch das Eintreten für höhere Kampfmittel, durch ihre Leitsätze bewiesen, dass sie nicht in der Rückkehr zum Alten, nicht in passivem Protest die Aufgaben des Linksradikalismus sehen, sondern in wirklichem Kampfe für die Aktivierung der Arbeiterschaft, im Kampfe für eine neue Internationale. Mögen sie noch den Fehler begehen, nicht ausdrücklich zu sagen, dass sie für die Spaltung sind, mögen einzelne ihrer besten Vertreter in einer erstaunlichen Anwandlung von Schwäche der offiziellen Parteipresse den Rat geben, die Spaltung nicht offen zu propagieren, auch da nicht, wo die Redakteure sie als unvermeidlich erkannt haben, mögen die „Leitsätze" noch manche Halbheit aufweisen, mag in den Arbeiten einzelner ihrer Mitglieder die neue historische Lage des Proletariats nicht ganz klar aufgefasst sein, mögen sie noch auf internationaler Arena bedenklich mit den Zentrumselementen operieren – das Preisen der englischen pazifistischen „Independent Labour Party", die Telegramme an Tschcheidse, den Vertreter des russischen Parteizentrums in der Duma, der keinen Kampf mit den Sozialpatrioten führt – wir werden sie freundschaftlich kritisieren, aber wir erkennen in ihnen den Kern des deutschen Linksradikalismus an. Unsere Kritik der Internationalen Gruppe gegenüber entspringt keinen Konkurrenzneigungen, sondern der Einsicht, dass in dieser Zeit der tiefen Krisis, der Notwendigkeit der Neuorientierung, diese nur durch eine offene Aussprache, einen rückhaltlosen Austausch der Gedanken zu erreichen ist.

Aber dieser Austausch der Gedanken soll angesichts der mutigen Praxis der Internationalen Gruppe kein Grund zum Kampfe gegen sie sein, umgekehrt soll er nach unserer Meinung für unsere Freunde einen Weg bilden zur rücksichtslosen Unterstützung der Internationalen Gruppe in ihrem Kampfe gegen den Sozialpatriotismus und das Zentrum. Je größer ihre Verluste sind, desto mehr gilt es, sich praktisch um sie zu scharen, gemeinsam mit ihr die Aufgaben zu erfüllen, die vor den Linksradikalen stehen. Diese Aufgaben bestehen einstweilen im Kampf um die Köpfe der Arbeiter innerhalb der Partei, und um die Auswirkung der angesammelten Kraft nach außen hin. Aus der Erfüllung dieser Aufgaben wird sich die Möglichkeit und die Notwendigkeit der Aufrichtung eines eigenen Hauses für den proletarischen Sozialismus, der Schaffung einer sozialistischen Partei, die die Politik des Linksradikalismus führen wird, ergeben.

Diese Partei wird keine Sekte sein, wie die Gegner höhnen. In der Zeit der Stürme, die die Wolken am historischen Horizont ankündigen, wird sie, dank ihrer klaren Orientierung in den Wegen und Zielen des Kampfes, dank ihrem Mut und ihrer Rücksichtslosigkeit, die Führerin der Arbeitermassen sein. Sie hat schon eine historische Probe bestanden, indem sie in der Zeit des größten Zusammenbruchs ihr Banner mutig aufpflanzte. Die Zeit, die sie jetzt durchlebt, ist die schwierigste. Noch nicht abgelöst von den Sozialpatrioten, ohne eigene Organisationskader, in dem Chaos wirkend, den der Zusammenbruch der alten Sozialdemokratie geschaffen hat, inmitten der Überbleibsel einer absterbenden Zeit, in der sich ihren Bemühungen die ganze Maschine der alten Partei entgegenstellt, muss sie wie Herkules schon in der Wiege mit der Hydra kämpfen. Aber sie wird aus diesen Kämpfen siegreich hervorgehen, denn gewitzt durch die historischen Lehren des Zusammenbruchs der Jahre der Schmach, werden die Arbeiterscharen, die sich in ihren Reihen sammeln, ihren Geist zu selbständiger Arbeit anstrengen, sie werden, indem sie der Führer beraubt, sich selbst durch das historische Dickicht hindurch zu schlagen suchen, mit jedem Tag an Kräften zunehmen.

Die Spaltung der Partei, der Kampf mit dem Zentrum, in dem Friedensduseler nur das Tohuwabohu sehen: sie sind die Geburtswehen einer neuen Partei, in der das Proletariat das Bewusstsein seiner Aufgaben in der Periode des Imperialismus finden wird. Je größer die Aufgaben, je größer die Hindernisse, je größer der Druck, desto größer müssen unsere Anstrengungen sein, und aus desto härterem Stahl werden die Waffen sein, die wir schmieden.

1 Friedrich Engels, Grundsätze des Kommunismus (1847), Marx-Engels Werke, Band 4, Seite 361-380, hier S. 361

2auf dem SPD-Parteitag im September 1903

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