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Karl Radek 19150200 Historische Parallelen

Karl Radek: Historische Parallelen

[Lichtstrahlen, Februar 1915. Nach ders., In den Reihen der deutschen Revolution 1909-1919, S. 294-297]

Man sucht nach der historischen Formel für den Weltkrieg. Was bedeutet er, von der Warte der Weltgeschichte gesehen? Man greift zu den Handbüchern, erinnert sich an die holländisch-spanischen, englisch-spanischen, englisch-holländischen und englisch-französischen Handels- und Kolonialkriege und erklärt: es ist der Krieg Deutschlands, des jungen, rüstigen kapitalistischen Staates, der gegen die Seesuprematie des Fafners des Kapitalismus, England, Sturm läuft. So sagen es anklagend die englischen, stolz die deutschen Politiker und Historiker. Aber die Geschichte spielt sich nicht in dieser Weise ab, dass immer neue Partner dieselbe Schachpartie spielen. Die Handelskriege der Epoche der ursprünglichen Akkumulation hatten die Tatsache zur Quelle, dass das junge Handelskapital gierig nach den Kolonien griff, um die dort geraubten Schätze zur industriellen Produktion anzuwenden. Es wurde erst dank dem kolonialem Raub zu einer größeren wirtschaftlichen Macht, konnte sich erst dank ihr auf die Ausbeutung der Produktionskräfte im Mutterlande werfen. Diese Kriege bildeten die Vorbedingungen der Entwicklung des Kapitalismus. Der siegreiche Staat entwickelte wirklich Produktivkräfte, indem er an Stelle des Handwerks zuerst das Verlagssystem, dann die Manufaktur einführte, Arbeiterarmeen sammelte, sie disziplinierte, ihre Arbeitsfähigkeit steigerte. Und siegreich blieb derjenige Staat, der dank seiner geographischen Lage, dank seinen Reichtümern an Naturschätzen, dank seiner eigenartigen Geschichte die besten Bedingungen für die Rolle des Weckers der Produktivkräfte in sich trug. Das war nicht Spanien, in dem der Feudalismus die industrielle Arbeit verachtete und niedertrampelte, nicht Holland, in dem der Händler Übergewicht hatte über den Fabrikanten, nicht Frankreich, in dem das Königtum den Feudaladel mit Hilfe des Handelskapitals zuerst niederrang, um sich dann im Kampfe gegen das Bürgertum auf ihn zu stützen. England war es, in dem der Adel früh gelernt hat, sich mit dem bürgerlichen Kapital zu vereinigen, in dem das Kapital den industriellen mit dem Handelsprofit zu verbinden wusste, und in dem zuerst in der Arbeit der industriellen Arbeiter die Quelle des Wertes erkannt wurde. Der Sieg Englands, das wirtschaftlich einen großen Vorsprung am Anfange des 19. Jahrhunderts hatte, bedeutete momentan zwar die Aufrichtung eines Weltmonopols, aber das eines Staates, der durch die Entwicklung der modernen Industrie die Produktivkräfte der Menschheit mächtig entwickelt hat. Die Handelskriege des jungen Kapitalismus bedeuteten nicht nur eine Verschiebung in der Verteilung der Produktivkräfte, sie waren ein starker Faktor ihrer Entwicklung.

Da aber die Grundlagen der modernen Industrie: Dampfkraft, Maschinerie, überall herstellbar sind, wo es Kohle gibt, war das Monopol Englands auf dem Weltmarkt unhaltbar. Der Kapitalismus entwickelte sich auf dem europäischen Kontinente, in Amerika, in Asien, Australien, und so viel kapitalistische Staaten es gibt, so viel Konkurrenten erwuchsen dem englischen Kapitalismus. Es suchte sich durch die Beherrschung der Seewege, der entscheidenden strategischen Punkte der Welt die besten Bedingungen zu sichern, um für den Fall einer Neuverteilung der kapitalistisch unentwickelten Länder das größte Stück zu bekommen. Es ist eine ausgesprochen konservative Politik, die der englische Imperialismus den anderen kapitalistischen Staaten gegenüber treibt. „Wir dagegen kämpfen um die Freiheit der Meere", erklären darum die Vertreter des deutschen Imperialismus, für die Politik der offenen Tür, d. h. der freien Konkurrenz auf dem Weltmarkt. So erhebt der deutsche Imperialismus den Anspruch, dass er den wirtschaftlichen Fortschritt darstellt. Wie ist es damit bestellt? Auch England verschließt den anderen kapitalistischen Staaten den Zutritt zu seinen Kolonien nicht, denen es überhaupt Freiheit in der Erledigung ihrer Handelsangelegenheiten überlässt. Auch England fordert von China, der Türkei usw. kein ausschließliches Recht auf Kapitalanlage. Es braucht weder in seinen Kolonien noch in den Staaten, die es zu Kolonien machen möchte, die Tür zu schließen. Es begnügt sich damit, dass es in den Gegenden, in denen sein Kapital in erster Linie auftritt, auch die Möglichkeit hat, tatsächlich den größten Teil des Nutzens an sich zu reißen. Und tut Deutschland etwas anderes? In den deutschen Kolonien schöpft das deutsche Kapital den Rahm ab, insoweit man dort von Rahm überhaupt sprechen kann. In den freien Ländern, in denen das deutsche Kapital eine große Rolle spielt, wie in der Türkei, sucht es für sich besondere Konzessionen zu gewinnen. Die offene Tür Deutschlands gleicht der Englands wie ein Ei dem andern. Englands Kapital hat eine größere Macht, weil es früher über die Meere ging. Das ist alles. Aber daraus folgt nicht, dass das deutsche Kapital dem englischen gegenüber einen historischen Fortschritt repräsentiert. Es kann keine neuen Produktivkräfte entwickeln, die England nicht ebenfalls entwickeln würde.

Der historische Fortschritt ist heute an die Entwicklung keines kapitalistischen Staates gebunden. Umgekehrt: die imperialistische Politik ist nur möglich und notwendig, weil alle modernen Staaten den gegenwärtigen Wirtschaftszustand zu erhalten streben. Warum streben sie nach den Kolonien? „Weil der Lebensmittelbedarf der kapitalistisch entwickelten Staaten durch ihre Landwirtschaft nicht gedeckt wird. Die Vereinigten Staaten Amerikas, Russland, die ihn jetzt decken helfen, werden selbst allmählich zu Industriestaaten. Da müssen die kapitalistischen Staaten nach neuen Agrarländern streben." So erklären die Imperialisten und weisen damit auf eine der Quellen des Imperialismus hin. Ist aber die europäische Landwirtschaft wirklich aus natürlichen Gründen nicht imstande, mehr Lebensmittel zu beschaffen? Nein! Angesehene Agronomen haben bewiesen, dass die Ergiebigkeit der Landwirtschaft noch um vieles gesteigert werden kann. Wenn das nicht geschieht, so deshalb, weil das Kapital viel lieber in die Industrie strömt, wo es sich schneller umsetzt, größere Profite abwirft, weil so die Bauern keinen billigen Kredit zur Einführung der modernen Wirtschaftsweise bekommen, weil der Privatbesitz an Grund und Boden überhaupt die Entwicklung der Landwirtschaft hemmt. – „Wir müssen Waren exportieren, da der innere Markt immer enger wird", erklären die Imperialisten weiter. – Warum wird aber der innere Markt immer enger? Weil die Volksgenossen ihre Bedürfnisse nicht genügend zu befriedigen in der Lage sind. Man produziert Lokomotiven für Afrika, weil man nicht gute, lichte Wohnungen für die Volksmassen bauen, zu wenig Kleider für sie produzieren kann. Welches Argument des Imperialismus man auch prüft – wir haben die ersten besten herausgegriffen – immer zeigt es sich, dass die Quellen des Imperialismus darin bestehen, dass der kapitalistische Charakter der Produktion bewahrt werden soll, dass die Produktion den Bedürfnissen des Konsums nicht angepasst werden kann. Der Kapitalismus hat in den zivilisierten Ländern die Bedingungen des Sozialismus bereits entwickelt. Weil aber die kapitalistischen Schichten die Entwicklung zum Sozialismus nicht wünschen können, müssen sie den Gegensatz zwischen den nach vorwärts drängenden Produktivkräften und dem Privateigentum an Produktionsmitteln auf anderem Wege zu lösen suchen. Der Imperialismus ist ein solcher Ausweg. Er ist also eine konservative Kraft, er soll das Leben des Kapitalismus verlängern. Und der Weltkrieg des Imperialismus ist darum ein Krieg gegen den Sozialismus. Nur unter diesem Gesichtspunkt verstanden, lässt sich der Weltkrieg voll würdigen. Der Imperialismus will und kann die Produktivkräfte der Gesellschaft nicht zur vollen Entwicklung entfalten. Er erstrebt nur eine längere Lebensfrist für den Kapitalismus, und deswegen lässt sich der heutige Weltkrieg keinesfalls mit den Handelskriegen des 17. und 18. Jahrhunderts vergleichen; denn wie blutig und grauenhaft sie auch waren, so führten sie doch zu einer Entfaltung neuer Produktivkräfte. Dieser Weltkrieg dagegen ist auf einer Stufe der wirtschaftlichen Entwicklung ausgebrochen, auf der die kapitalistische Welt schon so große Produktivkräfte entwickelt hat, dass eine planmäßige Organisation der Gesamtwirtschaft möglich ist.

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