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Karl Radek 19180128 Offizielles Telegramm der russischen Volksregierung

Karl Radek: Offizielles Telegramm der russischen Volksregierung

[Nach Ernst Drahn (Hg.): Brest-Litowsk. Berlin 1920, S. 57-59]

Zarskoje-Selo, 28. Januar 1918.

(15. Januar russischer Zeitrechnung.)

Brest-Litowsk. Das deutsche Volk bleibt stumm, und nur deshalb konnte vor der Hauptkommission des deutschen Reichstags ein gebrechlicher Greis, Graf Hertling, auftreten und behaupten, das deutsche Volk durch das rote Meer hindurch zu einem allgemeinen Frieden führen zu wollen.

Hertling sprach über den Frieden; doch vorher wollte er durch Anführung einiger Tatsachen beweisen, dass Deutschland, mit seinen 67 Millionen Einwohnern, unter denen sich fast keine Analphabeten befinden, in diesen 3½ Jahren Krieg eine wunderbar ausgebildete Technik entfaltet hat, und dass es an Tüchtigkeit und moralischem Wert die anderen Völker überragt.

Und während dieser Zeit, in der die Kosten dieses Krieges, welcher die notwendige Folgerung aus dem zum Äußersten getriebenen Militarismus bildet, allein auf den Schultern des Volkes ruhen; während in jedem Haus ein Toter beklagt wird, während das Volk mit seinem Blute eine Unmasse Kriegsgewinnler ernährt, die die Tränen der Armut zum Perlschmuck für ihre Weiber verschachern, während dieser Zeit des Elends, wer redet da im Namen des Volkes? Ein Jesuit von über 70 Jahren, ein Professor der Philosophie, konservativ vom Scheitel bis zur Sohle, ein Freund der Junker und Pfaffen. Er wagt es, an der Friedensliebe der Vertreter des russischen Proletariats zu zweifeln; und darin offenbart er seine ganze Heuchelei. Der deutsche Kanzler weiß sehr wohl, dass die Regierung der russischen Arbeiter vor allem den Frieden liebt und will. Er weiß aber auch, dass diese Regierung das russische Volk aufs Neue in den Krieg führen kann, wenn irgend eine Gefahr die russische Revolution bedrohen sollte.

Der Reichskanzler weiß das alles sehr wohl, und wenn er sich skeptisch über die Friedensliebe der russischen Regierung ausdrückt, so tut er dies nur, um die Aufmerksamkeit des deutschen Volkes von der Tatsache abzulenken, dass die deutsche Regierung der russischen Revolution unannehmbare Friedensbedingungen gestellt hat. Hertling hat nicht einen unserer Proteste gegen die deutschen Friedensbedingungen erwähnt. Mit keinem Wort hat er von der Entrüstung gesprochen, welche diese Friedensbedingungen in Russland hervorgerufen haben. Warum hat er das alles mit Stillschweigen übergangen? Nur weil er nach einer wahrheitsgetreuen Schilderung der Lage die Schlussfolgerung nicht hätte ziehen können, welche er aus seiner Rede hätte ziehen wollen.

Der Reichskanzler hat wieder einmal dieselbe Rede halten wollen, welche seit Beginn des Jahres 1915 sämtliche deutschen Kanzler gehalten haben. Die Grundidee dieser Rede ist die folgende: „Das deutsche Reich, im Bewusstsein seiner Kraft, schlägt seinen Feinden einen gerechten Frieden vor! Aber die bösen Feinde weigern sich, diesen Frieden zu schließen, und das beweist, dass die Feinde allein die Schuld an der Verlängerung des Krieges tragen."

Doch jetzt, nachdem die Friedensbedingungen des russischen Volkes bekanntgegeben worden sind, geht es nicht mehr an, die Lage auf diese Weise auszulegen, und da der Kanzler unfähig ist, ein neues Lied aufzusetzen, so musste er so tun und so reden, als ob er die Sachlage nicht kennt.

Wenn seinerzeit die deutsche Regierung von dem gerechten Frieden redete, den sie zu erlangen wünschte, so wussten diejenigen, welche die deutsche Politik verfolgten, genau, auf welcher lügenhaften Grundlage diese Politik beruht; aber das deutsche Volk hegte damals Vertrauen zu seiner Regierung und deren Erklärungen. Jetzt aber ist dieses Märchen für immer sinnlos gemacht worden, denn die deutschen Friedensbedingungen wurden nun bekannt gegeben, und sie lauten: Die Völker Kurlands, Litauens und Polens worden zu Sklaven der preußischen Junker gemacht; dem russischen Volke wird eine Kriegskontribution auferlegt, so dass dieses arme Volk die ganze Last des preußischen Imperialismus zu tragen hat.

Wenn seinerzeit die deutschen Friedensangebote keinen Widerhall fanden unter den Volksmassen in Frankreich, in Italien, in England, so kommt das einzig und allein daher, dass diese Völker schon lange durchschaut haben, welcher schamlosen Auslegung die deutsche Regierung fähig ist, wenn sie von einem gerechten Frieden spricht.

Czernins Rede wird sowohl in Belgien wie in Frankreich ein großes Erstaunen hervorrufen. Seiner Meinung nach sollte die belgische Frage erst im Laufe des Friedenskongresses erledigt werden; auch sollte Deutschland keineswegs irgend ein Gebiet an Frankreich zurückgeben. Infolgedessen kann man auch mit Besorgnis fragen, inwiefern gedenkt Deutschland Belgiens Unabhängigkeit zu beschränken, und wieweit Deutschland in seiner Anmaßung gehen wird, wenn es bei den Friedensverhandlungen die Forderung aufstellt, mit Gewalt dem französischen Staat Gebiete zu entreißen. Kurz, die Ungewissheit, in der uns Deutschland lässt, wird Misstrauen in die Volksmassen säen. Auch Hertlings Rede bringt uns dem Frieden keinen Schritt näher; nichts in dieser Rede weist darauf hin, dass sie gehalten wurde nach den Erklärungen Österreichs, welche sogar nach der Ansicht der konservativen Zeitungen Deutschlands die Möglichkeit boten, den Friedensschluss zu erleichtern. Diese absichtliche Ignorierung des Protestes der Völker Österreichs gegen die Friedensbedingungen Deutschlands zeigt uns, wie hinfällig die Ausreden sind, auf die man sich stützt. Wenn Graf Hertling die Lage, wie sie tatsächlich ist, nicht sehen will oder so tut, als ob er sie nicht sieht, so wird das noch lange nicht die Not und die Unzufriedenheit der proletarischen Klassen in Österreich aus der Welt schaffen. Diese Unzufriedenheit und diese Not des österreichischen Proletariats wird einen um so stärkeren Ausdruck finden, als man merken wird, wie sehr die deutsche Regierung den Einfluss fürchtet, den das österreichische Proletariat auf das deutsche ausübt. Das beweist zur Genüge die Maulkorbpolitik der deutschen Regierung gegenüber der deutschen Presse in Bezug auf die Ereignisse in Österreich, die überall mit Stillschweigen übergangen werden. Der Kanzler redete, als ob wir noch am 25. Dezember 1917 wären, dabei sind wir am 25. Januar 1918 und hinter uns liegen große Ereignisse. Und in Österreich gehen wie den Märztagen entgegen.

gez. Radek.

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