Karl Radek 19241222 Die Judasse aus Prinzip und ohne Skrupel

Karl Radek: Die Judasse aus Prinzip und ohne Skrupel

(22. Dezember 1924)

[Süddeutsche Arbeiterzeitung. Organ der Kommunistischen Partei Deutschlands, Bezirk Württemberg, 30. und 31. 12. 1924

Wir veröffentlichen im Nachstehenden einen aus dem Russischen zurückübersetzten, noch vor der Urteilsverkündung im Ebertprozess geschriebenen Artikel des Genossen Radek, der die Arbeiterschaft deswegen interessieren dürfte, als er noch einmal die politischen Verhältnisse rekonstruiert, unter denen die sozialdemokratischen Führer mit Ebert an der Spitze ihren beispiellosen Verrat an dem gegen Krieg und Militarismus sich aufbäumenden deutschen Proletariat begingen.

I.

Moskau, 22. Dez 1924

Unsere Zeitungen veröffentlichen die Telegramme der Rosta über den von Herrn Ebert, dem Präsidenten der Deutschen Republik angeregten Prozess gegen eine faschistische Zeitung, die ihn des Vaterlandsverrats während des Streiks der Munitionsarbeiter im Februar 1918 beschuldigt. Allerdings werden erst die stenographischen Berichte, die verdienen, von der Komintern in allen Sprachen herausgegeben zu werden, das Bild jenes Verrates, das in das Bewusstsein der Arbeiter aller Länder ein für allemal eingeprägt werden muss, vervollständigen können.

Rufen wir uns die Verhältnisse ins Gedächtnis zurück, unter denen sich die Ereignisse, die den Gegenstand des Prozesses bilden, abgespielt haben. Dreieinhalb Jahre lang wurde das Blut der Arbeiter und Bauern in der ganzen Welt in Strömen vergossen. Die Weltbourgeoisie konnte die blutigen Knoten, die ihre Diplomatie mit ihren schwachen Händen nicht hatte entwirren können, auch mit dem Schwert nicht durchhauen. Millionen von Proletariern sind zugrunde gegangen, damit entschieden werde, wer in erster Linie die werktätigen Massen ausbeuten soll: die englischen, amerikanischen oder die deutschen Kapitalisten. Im Oktober 1917 nahmen die russischen Arbeiter und Bauern, nachdem sie die Bourgeoisie in Russland gestürzt haben, die Sache des Friedens in die Hände. „An alle!“ erging die Nachricht, dass das Proletariat in einem Staat der kriegführenden Großmächte die Macht ergriffen hat und allen Völkern den Frieden vorschlägt. Die Bourgeoisie aller Länder versuchte, die Stimme der Radiostation von Zarskoje-Selo, die zum Kampf um den Frieden aufrief, zu übertönen.

Überall gärte es unter den Arbeitermassen, am meisten in Deutschland, da die Arbeitermassen nirgends so stark unter dem Kriege gelitten haben, als in diesem von allen Seiten umzingelten Lande, wo das Brot und das Fleisch durch Rüben - Rüben zum Frühstück, zu Mittag und am Abend - ersetzt wurde. Als wir in dem so genannten plombierten Waggon durch Deutschland fuhren, durchbrachen die Soldaten in Franfurt die Kette, die sie von unsrem Waggon trennte, um uns leidenschaftlich zu fragen, wann der Friede kommen werde. Der Vorstand der deutschen Scheidemann-Sozialdemokraten, der vom ersten Tage des Krieges an nicht müde wurde, die Arbeiter zur Rettung der deutschen Bourgeoisie zu überreden, entsandte sofort, als er der Stimmung in den deutschen Arbeitermassen gewahr wurde, Parvus zur Auslandsvertretung der Bolschewiki mit dem Vorschlag, die Unterbreitung der konkreten Friedensanträge zu beschleunigen, und er (der Parteivorstand) erklärte sich bereit, einen Generalstreik ins Leben zu rufen, wenn die Kriegspartei auf den Frieden nicht einginge.

Scheidemann und Ebert sind dazu bereit,“ erklärte Parvus, „nur Legien leistet dagegen Widerstand; wir werden ihn aber beseitigen. Wenn die Frage so stehen wird: Friede oder die Herrschaft der Gewerkschaftsbürokratie, dann werden wir Legien absetzen.“

Die Friedensverhandlungen haben begonnen. Als der Augenblick zur Dechiffrierung der allgemeinen Phrasen der deutschen Delegation über den Frieden und über das Selbstbestimmungsrecht der Völker kam, da er wies es sich, dass das Selbstbestimmungsrecht für die Vertreter des deutschen Regierung nichts mehr und nichts weniger bedeutete, als die Eroberung Polens, Litauens, Lettlands und der Ukraine durch den deutschen Imperialismus. In der Brest-Litowsker Festung, die durch die Truppen des Generals Hoffmann von der ganzen Welt abgeschnitten wurde, führten die Vertreter der Sowjetmacht einen verzweifelten Kampf, nicht nur um die Interessen der russischen Arbeiter und Bauern, nicht nur um die Verteidigung der ukrainischen, lettischen, litauischen und polnischen Bauern, sondern auch um die Verteidigung des künftigen Friedens. Es war ja mehr als klar, dass, wenn der Sowjetrepublik in Brest-Litowsk ein imperialistischer Raubfriede aufgezwungen würde, dies der Weltbourgeoisie wieder ermöglichen würde, die Arbeitermassen der Entente wieder in einen „Kampf bi zum Ende“, das heißt einen Kampf ohne Ende zu stürzen.

Der Raubfriede, der in Brest-Litowsk Russland aufgezwungen wurde, bedeutete neue Millionen deutscher, französischer, englischer und italienischer Arbeiter, die für die Sache des Kapitalismus zugrunde gehen mussten. Dort, im Sitzungssaale des Brest-Litowsker Militärkasinos, versuchte die Sowjetdelegation Millionen von Proletariern buchstäblich den Klauen des Todes zu entreißen. In ihrem fürchterlichen Kampf hörte sie keinen einzigen ermunternden Zuruf der Arbeiter, und nur aus den glänzenden Augen der Offiziersdiener, aus deren Seele die wilde Kriegsdisziplin die Sehnsucht nach Frieden nicht zu bannen vermochte, konnte sie sehen, wie das Herz der deutschen Massen auf ihren Kampf reagiert.

Mit einem Male - es war am Abend des 28. oder 29. Januar - bemerkten wir, dass das deutsche Kommando uns den üblichen Radiobericht nicht zusandte. Wir haben den deutschen Verbindungsoffizier angerufen, der uns zögernd antwortete, dass in Berlin die Munitionsarbeiter in den Streik getreten seien. Plötzlich teilten sich die schweren Wolken und es war, als ob sich ein Stückchen blauen Himmels gezeigt hätte. Dem General Hoffmann ist es also nicht gelungen, uns von den deutschen Arbeitern abzuschneiden; sie haben ihr Haupt erhoben, es wird also auch in den Ententeländern die Nachricht bringen, dass es außer dem deutschen Imperialismus, der den Fuß auf den Nacken der Besiegten setzen will, auch eine deutsche Arbeiterschaft gibt! Die deutschen Arbeiter sind die Feinde des Imperialismus! Das wird auch den Kampf der Arbeiter anderer Länder ermuntern. Der Kampf erweitert sich, die Kapitalisten haben das Spiel verloren.

Nicht sie werden über Frieden und Krieg entscheiden, sondern die Arbeiter! So haben wir es uns vorgestellt. Und so haben es sich auch viele Soldaten der deutschen Ostarmee vorgestellt. Die Nachrichten über den Berliner Streik haben sich augenscheinlich schon verbreitet. Genosse Bitzenko setzte sich an den Flügel und spielte die Internationale. Wir öffneten trotz des eisigen Wetters die Fenster, und plötzlich hörten wir durch die nächtliche Stille der umschanzten Festung, dass jemand die Internationale pfeift. So antworteten uns die vorbeigehenden Soldaten.

Alle Friedensdürstenden in den Schützengräben und in den Bodenkammern und Kellerlöchern haben ihre Rechnung ohne die deutsche Sozialdemokratie gemacht. Wir hatten ja Jahre des Verrats dieser Partei hinter uns, aber in der Tiefe unserer Seele haben viele von uns, als wir sahen, wie sie die Arbeiter verrät, gelacht: „Deutschland ist umzingelt, es befindet sich zwischen dem Amboss des wilden Zarismus und dem Hammer des grausamen englischen Imperialismus; diesen Leuten raubte die Angst den Verstand, die Angst verleitete sie zu allen Niederträchtigkeiten. Wird die geringste Friedensmöglichkeit da sein, dann werden sie doch der im Kriege ermordeten Arbeiter und der vor Hunger sterbenden Arbeiterkinder gedenken.“

Nun erfahren wir aus dem Munde Eberts und Scheidemann, wie sie, die Führer der deutschen Sozialdemokratie, gedacht haben. Sie waren ja vom ersten Tage des Krieges an für die Verteidigung des Vaterlandes. Trotzki drohte mit dem Abbruch der Friedensverhandlungen.

Es musste also die Regierung unterstützt werden, der Streik wäre ein Unsinn gewesen.“

Das Vaterland, das zu verteidigen sich Ebert und Scheidemann entschlossen haben, ist bereits bis zur Drina, Beresina und bis zum Dnjepr vorgedrungen. Aber die Herren Scheidemann und Ebert sind weder Kinder noch Don Quichottes. Sie kannten die Stimmung der Massen, und obwohl sie nie etwas von Lenin gelesen haben, so waren sie dennoch gute Leninisten, nur umgekehrt. Lenin lehrte die Bolschewiki, dass man ohne Massen keine Revolution machen könne. Die Scheidemann und Ebert hatten begriffen, dass man von de Massen losgelöst, der Gegenrevolution nicht helfen kann. Sie beschlossen daher, in das Streikkomitee einzutreten, um den streik abzuwürgen, um den Friedenskampf des Weltproletariats abzuwürgen. Sie gestehen das mit einem himmelschreienden Zynismus ein.

II.

Als die englischen Kommunisten nach dem „Schwarzen Freitag“, nach der Abwürgung des großen englischen Bergarbeiterstreiks, Thomas, den englischen Ebert, dessen beschuldigten, dass er die Rolle des Judas Ischariot spielte, strengte Thomas bei Gericht eine Klage an, um vom königlichen Gericht das Zeugnis zu bekommen, dass er kein Judas sei. Ebert erklärte aber vor dem Gericht, damit es jeder hören kann:

Entscheidend für den Vorstand der SPD war, nicht zuzulassen, dass der streik den Interessen des Landes Schaden zufüge, und durch Verhandlungen mit der Regierung ihn so rasch als möglich zum Abschluss zu bringen.“

Und alle Zeugen, die vor dem Gericht Ebert verteidigen, möchten aus der Haut fahren, um nur zu beweisen, dass Ebert, Scheidemann und Braun nur deswegen an der Führung des Streiks teilgenommen hätten, um die Arbeiter zu betrügen, um sie in die Munitionsfabriken zurückzuführen, damit der deutsche Imperialismus bei der Lieferung von Zerstörungsmitteln nicht die geringste Verzögerung erleide.

Sechs Jahre sind seit dem Ende des Weltkriegs vergangen. Das internationale Proletariat konnte noch nicht die Wunden heilen, die ihm vom Weltkrieg geschlagen wurden. Der Friedenswunsch ist unter den Arbeitermassen so stark, dass die Weltbourgeoisie sich fürchtet, die Vorbereitungen zu einem neuen Kriege offen einzugestehen. Die 2. Internationale veranstaltet Maskeraden, um sich den Arbeitermassen im Kostüm des Pazifismus zu zeigen. Die Herren Ebert und Scheidemann stellen sich aber auf den Kopf, um nur ein Gerichtsurteil zu erhalten, das beweisen soll, dass sie im Weltkriege treue Kanonenfutterlieferanten waren. Niemand soll es wagen, sie dessen beschuldigen, dass für sie, wenn auch nur eine Minute lang, das Leben von -Millionen Arbeitern höher stand als das Interesse des deutschen Imperialismus.

Die Herren Ebert und Scheidemann kämpfen darum so leidenschaftlich für den Beweis ihrer Treue dem deutschen Imperialismus gegenüber, weil sie es gut wissen, dass, wenn sich der deutsche Kapitalismus erholt, er, um aus der Lage, in die er verwickelt ist, einen Ausweg zu finden, wieder zum Schwert greifen muss. Sie haben ja ihr Schicksal nicht nur vollständig mit der Wiederherstellung des deutschen Kapitalismus verbunden, sondern sie haben sich auch vollständig in den Dienst des deutschen Kapitalismus gestellt. Und nun soll man die errungene Position und das Vertrauen der Massen aufs Spiel setzen? Die pazifistischen Propagandaphrasen des Völkerbundes - dies ist gut für den Betrug der acht Millionen Wähler, deren Vertrauen sie noch haben. Aber sie brauchen vor allem den gelben Schein, damit ihnen niemand vorwerfen kann, dass sie nicht treue Diener des Imperialismus seien.

Der Ebertprozess enthüllt einen solchen Abgrund des Verrats, dass hier das Wort „Verräter“ seine Kraft verliert. Die Poeten versuchen, die Psychologie des legendenhaften Judas Ischariot zu enträtseln. Bei ihnen ist Judas ein innerlich zusammengebrochener Mensch. In der Legende endet er mit Selbstmord. Die Herren Ebert und Scheidemann haben aber nicht die geringsten Gewissensbisse: Sie fressen und laufen mit den Sklarz und mit den Barmats und anderen Schiebern. Noske begibt sich mit einer ganzen Schieberfamilie in ein Luxusbad in der Schweiz. Sie genießen den verdienten Urlaub, sie sind sich ihrer Verdienste gegenüber der Bourgeoisie bewusst und sie machen aus ihrem Herzen keine Mördergrube. Ihr Verrat ist kein Verrat, sondern ein Beruf. Um nun aus dem Reiche der Literatur ins Reich der Politik zurückzukehren, müssen wir einfach sagen: diese Herren sind aus Überzeugung von der Unerschütterlichkeit des Kapitalismus und von der Gemeinsamkeit der Interessen der Bourgeoisie und des Proletariats zu Vertretern der Interessen des Kapitalismus geworden. Sie machen das aus einer so tiefen Überzeugung, dass sie nicht einmal mehr in der Lage sind, den grenzenlosen Zynismus ihrer Erklärungen zu begreifen. Sie müssen die Arbeiterklasse den Händen der Kapitalisten ausliefern. Das ist das ziel, alles Übrige nur Mittel. Es mag gut oder schlecht sein, aber es ist nur ei Mittel zum Zweck, und daher sehen sie nichts Schlimmes in der Anerkennung dessen, dass sie die Arbeiter bewusst betrogen haben. Das ist ja doch im Namen der Verteidigung des Vaterlands geschehen, die auch „im Interesse der Arbeiter selbst lag“.

Hieraus folgt nur eine Lehre: Nur das Grab kann die Führer der Sozialdemokratie bessern: Mit diesen Leuen ist nur ein Kampf möglich, ein Kampf auf Leben und Tod.

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