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Karl Radek 19210000 Die Frage der Weltrevolution in der Beleuchtung des internationalen Menschewismus

Karl Radek: Die Frage der Weltrevolution in der Beleuchtung des internationalen Menschewismus

[“Die Kommunistische Internationale”, Heft 15, S. 26-53]

I. Ein “neues Wort" des internationalen Menschewismus

Als die russischen Arbeiter und Bauern im Oktober 1917 die Herrschaft der Bourgeoisie vernichteten und die Macht in ihre eigenen Hände nahmen, werteten die rechten Menschewiki, die Sozialpatrioten, dieses geschichtliche Ereignis als Verbrechen, die linken Menschewiki, die Internationalisten des Typus Martow aber — als politisches Abenteuer. Nach der Pfeife der Menschewiki tanzte Karl Kautsky, und in seiner Broschüre über “Diktatur und Demokratie”, herausgegeben im Sommer 1918, verweigerte der gewesene Theoretiker der II. Internationale der russischen Revolution seine Anerkennung. Seitdem sind noch zwei Jahre ins Land gegangen. Die Sowjetmacht hat ihre Feinde einen um den anderen aufs Haupt geschlagen und ist zum wichtigsten, zum größten Faktor der internationalen Politik geworden. Der russische Menschewismus war gezwungen, die Sowjetmacht nicht nur als geschichtliche, sondern auch als progressive Tatsache anzuerkennen. Zu allen Zeiten des Ringens zwischen Sowjetmacht und Gegenrevolution waren die Menschewiki gezwungen, ihre Gesinnungsgenossen zur Verteidigung der Sowjetmacht als Organ der Revolution aufzufordern. Die Diktatur des Proletariats, sagten bisher die Menschewiki, führt zum Triumph der junkerlichen, der kapitalistischen Gegenrevolution. Jetzt ist die Sowjetmacht in ihren Augen ein Bollwerk der Arbeiterklasse gegen die kapitalistische und junkerliche Gegenrevolution, während die so genannte Demokratie in Deutschland wie in Österreich zum Sieg der Gegenrevolution führt. Gleichzeitig wachsen die Sympathien des internationalen Proletariats für die Sowjetmacht, sie wird zu seinem Leitstern.

Die nackte Verneinung der Politik der Sowjetmacht, ein Kampf, so wie ihn Kautsky geführt hat, hat nun zur Folge, dass die Arbeiter die Reihen der menschewistischen Parteien verlassen. Der internationale Menschewismus vermag nicht mehr die Stellung Kautskys zu behaupten. Er verlässt sie, um den Kampf für die Grundidee des Menschewismus geschickter zu führen, die, abgesehen von verschiedenen Iiterarisch-politischen Schattierungen in der Verteidigung der reformistischen Idee besteht: Kompromiss des Proletariats mit der Bourgeoisie als Weg zum Sozialismus. Otto Bauer, ein Schüler Kautskys, neben Rudolf Hilferding der Hauptvertreter des Kautskyanertums, hat vor einigen Monaten eine Broschüre in deutscher Sprache unter dem Titel: “Bolschewismus oder Sozialdemokratie?” herausgegeben, die ein Muster dieser neuen Form des Kampfes gegen die Ideen der russischen Revolution, gegen die Ideen des modernen Kommunismus darstellt. Der Versuch Bauers, die menschewistische Taktik “auf eine neue Art” zu begründen, ausgehend von der Anerkennung des Bolschewismus als eines progressiven Faktors für Russland und seiner Verneinung für Europa, hat, wie der Leser sehen wird, den gleichen Bankrott erlitten wie der Versuch seines Lehrers Kautsky, den Bolschewismus einfach “nicht anzuerkennen”.

II. Die Anschauungen Otto Bauers

Nach der geschichtlichen Einleitung über die soziale Entwicklung Russlands, wo Bauer durch viele Zitate und Ziffern beweist, dass er, um mit Puschkin zu sprechen “irgend etwas und irgendwie ein wenig studiert hat”, geht er zu der Betrachtung des sozialen Inhalts der russischen Revolution über und gelangt zu der Überzeugung, dass der politische Sieg des Proletariats, der Bauernschaft geholfen hat, ihre sozialen Ziele zu erreichen.

Die Bauernschaft hat dem Proletariat geholfen, die Herrschaft der Gutsherren und Kapitalisten zu vernichten, weil das Proletariat ihr geholfen hat, den junkerlichen Boden zu bekommen und die Überbleibsel des Feudalismus zu liquidieren. Das Proletariat in Person der kommunistischen Partei versuchte weiterzugehen, vom Privateigentum an Grund und Boden zur wirklichen Sozialisierung des Grund und Bodens durch Schaffung von Sowjetwirtschaften überzugehen. Als es aber auf einen energischen Widerstand der Bauernschaft stieß, ließ es von diesem Ziel ab, und auf diesem Verzicht beruht die Sowjetmacht.

Der russische Bauer ist noch kein “politisches Lebewesen”. Nur der Kampf um das Herrenland hat ihn in den Strudel der Geschichte hineinzureißen vermocht. Sobald das Herrenland erobert und sobald der neu errungene Besitz gesichert ist, fällt er wieder in den Zustand der politischen Indifferenz zurück. Lässt ihn die Sowjetmacht in seinem Dorfe ungeschoren, dann kümmert er sich nicht darum, was die Sowjetmacht in den Städten treibt. So scheidet der Sauer aus dem Getriebe der Geschichte aus; er sinkt wieder in den engen Kreis seiner rein lokalen Interessen, wieder in die Tiefe geschichtslosen Daseins zurück. Auf der Bühne der Geschichte bleibt das Proletariat mit der Bourgeoisie allein. Darauf beruht die Herrschaft des Proletariats. Und nur wenn die Proletarierherrschaft von der Konterrevolution bedroht ist, hinter deren Bataillonen der Feudalherr auf sein Landgut zurückzukehren hofft, dann erhebt sich auch der Bauer, um gemeinsam mit dem Proletariat den gemeinsamen Feind abzuwehren.” (Seite 42—43.)

Die Sowjetverfassung spiegelt nach der Meinung Bauers diese Lage wider und festigt sie gleichzeitig, indem sie den Bauern in den Sowjets weniger Rechte gibt als den Arbeitern. Aber sogar diese Verfassung könnte bei dem zahlenmäßigen Übergewicht der Bauern zu einer Waffe ihrer Herrschaft werden, wenn nicht die Tatsache bestände, dass die Sowjetmacht die Bourgeoisie so gründlich zerrieben hat, dass sie bereits nicht mehr imstande ist, zu einem organisierenden Mittelpunkt für die Bewegungen der Bauernschaft zu werden. Die Bauernschaft selbst ist aber zu wenig kulturell entwickelt, um imstande zu sein, die Herrschaft des Proletariats zu überwinden.

Jedoch in dem Maße, in dem unter dem Einfluss der Arbeit der Sowjetmacht das Bewusstsein der Bauernschaft wachsen wird, wird sie gestützt auf die Sowjetverfassung, zur Macht gelangen, wird sie in Russland die Demokratie einführen. Was wird dann die soziale Natur der Demokratie sein? Darauf antwortet Bauer mit der gewöhnlichen menschewistischen Schilderung des Entwicklungsganges der Arbeiterklasse unter der Sowjetmacht. Ein Teil der Arbeiterklasse kehrt zurück ins Dorf, ein Teil geht mit den Waffen in der Hand die Sowjetmacht verteidigend, zugrunde, ein Teil tritt in die Reihen der Sowjetbürokratie. Die übrige Masse ist nicht imstande, genügend Energie und Selbständigkeit an den Tag zu legen, die nötig wäre zur Organisation der sozialistischen Wirtschaft.

Die Sowjetregierung schafft zu diesem Zweck ein System bürokratischer Industrieverwaltung, “es ist eine sozialistische Gesellschaft, die da entsteht. Denn die Sowjetmacht hat die Arbeitsmittel den Kapitalisten entwunden, den Arbeitsprozess von der Herrschaft des Kapitals befreit, die Verfügung über den Arbeitsertrag den Kapitalisten entrissen und sie selbst organisiert, jetzt indem sie über die Arbeitsmittel und über die Arbeitskräfte des Landes nach ihrem Plan verfügt, eine planmäßige, unmittelbar gesellschaftliche Arbeit und eine planmäßige, unmittelbar gesellschaftliche Verteilung des Arbeitsertrages. Aber wenn das Sozialismus ist, so ist es doch ein Sozialismus besonderer Art, ein despotischer Sozialismus. Denn der Sozialismus bedeutet hier nicht, dass das arbeitende Volk selbst über seine Arbeitsmittel verfügt, seinen Arbeitsprozess leitet und seinen Arbeitsertrag verteilt. Er bedeutet vielmehr, dass eine aus dem Volke herausgelöste, nur eine winzige Minderheit des Volkes repräsentierende über den Volksmassen thronende Staatsgewalt über die Arbeitsmittel und über die Arbeitskraft über den Arbeitsprozess und über den Arbeitsertrag des Volkes verfüge und mit ihren Zwangsmitteln alle Kräfte des Volkes ihrem Arbeitsplan unterwirft, in ihre Arbeitsorganisation einspannt” (Seite 62-63.)

Nun und? Verneint Bauer die Notwendigkeit einer solchen Politik? Hält er sie für eine Rückkehr zu den Zeiten Araktschejews, wie es die Menschewiki während der Diskussion über die Arbeitsarmeen sagten? Nein! Mit süßsaurer Miene erklärt er das in ihm geschilderte Bild durch das niedrige Kulturniveau des jungen russischen Proletariats und schreibt: “Auch die Grundsätze der Demokratie sind nicht ewige Wahrheiten” Auch die Demokratie ist Entwicklungsprodukt und Entwicklungsphase. Nur auf bestimmter Entwicklungsstufe der Produktivkräfte der Klassenkämpfe, der kulturellen Reife der Masse ist Demokratie möglich. Wo diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, ist der Despotismus einer vorgeschrittenen Minderheit eine transitorische Notwendigkeit, ein zeitweilig unentbehrliches Instrument des historischen Fortschrittes” (Seite 63) Das, was Russland jetzt durchmacht ist gerade das, was Marx 1847 in Deutschland erwartete.

Was wird aber aus diesem despotischen Sozialismus, wenn sich kulturelle Niveau der Bauern hebt und wenn sie, wie Bauer prophezeit, ihre Herrschaft aufrichten? Weiß der Teufel antwortet Bauer, wahrscheinlich wird Russland ein Gemisch von Privateigentum an Grund und Boden und von kapitalistischem Privateigentum ausländischen Inhaber von Konzessionen und schließlich des Staatskapitalismus, den die Sowjetmacht entwickelt hat, bilden.

Das ist die neue menschewistische Philosophie, die sich in der Hauptsache auf die alte Philosophie Kautskys zurückführen lässt. Obgleich die Bauer und Hilferding und die kleineren Götter des menschewistischen Olymps Kautsky noch so verleugnen so haben doch in allem Grundlegenden seine Anschauung über die russische Revolution als Übergangsstufe zur bürgerlichen Ordnung beibehalten. Die 1918 ausgegebene menschewistische Parole “Zurück zum Kapitalismus!”, die Parole der russischen Menschewiki, von der sie sich nur in Worten losgesagt haben, erhält Bauer völlig in Kraft. Der ganze Unterschied zwischen Bauer und Kautsky besteht darin, dass Herr Bauer nach zweieinhalb Jahren siegreichen Kampfes Sowjetrusslands gegen seine Feinde gezwungen war, darauf zu verzichten, Sowjetrussland als historisches Abenteuer zu betrachten, und gezwungen war, ihm ein wissenschaftliches Attest zu geben und es als notwendige Stufe der geschichtlichen Entwicklung anzuerkennen. Vom geschichtlichen Standpunkt ausgehend, könnten wir jeglicher Polemik mit Bauer entsagen, denn ein höheres Attest als die Anerkennung der Tätigkeit der Sowjetmacht als die einzig mögliche revolutionäre Politik kann niemand fordern: eine unmögliche Politik kann ja niemand führen. Da es sich aber nicht um Atteste für die Sowjetmacht handelt, so lohnt es sich bei diesem Muster des Nichtverstehens der Geschichte, das das Haupt des europäischen Menschewismus an den Tag legt, zu verweilen.

III. Die Bauersche “Philosophie” der russischen Revolution

1. Die Agrarfrage in der russischen und in der Weltrevolution

Die Konjunktur, unter welcher die Arbeiterklasse Russlands die Macht in ihre Hände nahm, ist eine ausschließliche. Kaum wird sich jemals eine Situation wiederholen, wo der Friedensdurst und das Verlangen der bewaffneten Bauernmassen nach Grund und Boden sich mit dem Kampf des Proletariats um die Macht vereinen. In allen unseren Erklärungen der Gründe für die langsame Entwicklung der internationalen Revolution haben wir immer darauf hingewiesen, dass die Arbeiterklasse nirgends so leichte Vorbedingungen des Sieges finden wird wie in Russland. Hier ist es aber zu Ende mit der ganzen historischen Wahrheit in der Analyse der russischen Revolution durch den österreichischen Menschewik. In zwei Hauptfragen, in der Frage über das Verhalten des Proletariats zur Bauernschaft in der Weltrevolution und über den wirtschaftlichen Aufbau der proletarischen Revolution hat der Menschewik Bauer nichts verstanden, und er musste sich trotz seiner süß-sauren Phrasen über die geschichtliche Notwendigkeit des “despotischen Sozialismus” im Lager der Gegenrevolution erweisen.

Überall in der Welt ist die Bauernschaft eine noch mehr konservative, eine noch mehr durch Eigentumsinteressen bestimmte bürgerliche Masse als in Russland. Was beabsichtigt denn der Menschewismus in der europäischen Revolution mit dieser Masse zu tun? Sogar als Minderheit, wie das in Deutschland der Fall ist, bildet diese Masse eine genügende Kraft, um es dem Proletariat unmöglich zu machen, ihr eine sozialistische Produktionsmethode durch einen Akt der Staatsgewalt aufzudrängen. Daher wird es gezwungen sein, das Eigentum des Bauern an Grund und Boden vorläufig in Ruhe zu lassen. Wenn O. Bauer mit Schadenfreude sagt, wo denn der Sozialismus im russischen Dorfe sei, dann geißelt er nicht die russische, sondern die internationale Revolution, denn sie wird nirgends imstande sein, in ihrer ersten Periode die Sozialisierung der Landwirtschaft durchzuführen. In der sozialistischen Weltliteratur gibt es keinen einzigen ernsten Schriftsteller, er nicht damit rechnete. Kann aber das siegreiche Proletariat das Dorf in Ruhe lassen, die Warenproduktion und die Freiheit des Handelns mit den landwirtschaftlichen Produkten zulassen? Das kann es nicht tun, weil der Hungertod die Arbeiterrevolution bedroht, es muss daher einerseits die Bauernschaft spalten, die Diktatur über ihren kapitalistischen Teil errichten, versuchen, durch neue Anteile an Grund und Boden, wo das möglich ist, die Kleinbauernschaft auf seine Seite zu bringen und sich auf die Organisation der Kleinbauernwirtschaften zu stützen. Die politische Ungleichheit der Großbauernmasse wird auch für die Weltrevolution zur Notwendigkeit, denn sie entspricht der Tatsache, dass die Bauernschaft sich immer unter dem Druck der Stadt befand. Diese Ungleichheit, die der formellen Demokratie widerspricht, entspricht nicht nur den Klasseninteressen des Proletariats, das nicht der schönen Augen der Demokratie wegen den bäuerlichen Bourgeois gestatten kann, es zum Hungertode zu verurteilen. Diese Ungleichheit entspricht gleichzeitig auch den Interessen des geschichtlichen Fortschritts und dadurch in letzter Reihe den Interessen der mittleren Bauernschaft. Der Kapitalismus lässt es nicht zu, die Landwirtschaft schon jetzt zu einer technisch möglichen Höhe zu entwickeln und zu heben, nein, er hält sogar die wohlhabenden Bauern auf einem Niveau “idiotischen” kulturellen Lebens zurück. Nur de Aufhebung der Trennung von Stadt und Land, nach welcher der Kommunismus strebt, gibt allein der menschlichen Entwicklung der Bauernmassen genügende Breite. Das ist das geschichtliche Recht der Diktatur des Proletariats über seine bäuerlichen Gegner. Bauer selbst muss anerkennen: “wäre Russland eine demokratische Republik, so würden die kulturlosen russischen Bauern zur wehrlosen Beute jedes Schlagworts, jeder Demagogie”. (Seite 47.) Wie verhält es sich aber “mit dem kulturellen” Bauern aus Tirol oder Bayern, hat sich Bauer in seinem “demokratischen Österreich” auf die Bauernmasse stützen können? Ist er nicht zum Opfer der bürgerlichen Demagogie der Antisemiten geworden, die die Bauernschaft den europäischen Kapitalisten verkaufen? Aber, antwortet Herr Bauer, Sowjetrussland hält sich ja nur deshalb, weil es den Großbauern in Ruhe gelassen hat, weil es sich geweigert hat, seine Diktatur auszunutzen, um die Bauernräte vorwärts zum Sozialismus zu treiben. Derselbe Herr Bauer sieht in unserer Verpflegungspolitik eine Äußerung der Arbeiterdiktatur über die Bauernschaft, was auch wirklich der Fall ist. Was aber das anbetrifft, dass wir nur langsam die höchsten Formen der Agrarwirtschaft entwickeln, dass wir sogar zeitweilig auf die spezifischen Formen des Kampfes gegen die wohlhabende Bauernschaft verzichten, so ist das nur eine taktische Maßnahme.

Die Behauptung Bauers, die Bolschewiki hätten gehofft, “dass den bäuerliche Kleinbetrieb, der soeben den feudalkapitalistischen Großbesitz besiegt und zerschlagen hatte, nun in schnellerer Entwicklung in einen sozialistischen Großbetrieb übergeführt werden könne” (Seite 36) — diese Behauptung ist ganz und gar phantastisch.

An eine rasche Entwicklung des bäuerlichen Kleinbetriebs in einen sozialistischen Großbetrieb haben nur die Sozialisten-Revolutionäre gedacht. Bauer kann keinen einzigen kommunistischen Schriftsteller nennen, auf den er sich in seiner Behauptung beziehen könnte. Der Übergang vom bäuerlichen Kleinbetrieb zum sozialistischen Großbetrieb wird nur je nach dem Maße der Festigung der Arbeitermacht möglich sein. Nur in dem Maße, wie die Arbeitermacht das Getreidemonopol in vollem Umfange durchsetzt, nur in dem Maße, wie sie alle industriellen Produktionsmittel nicht nur in ihren Händen konzentriert, sondern die Produktion dermaßen vorwärts treibt, dass sie imstande wäre, dem Dorf landwirtschaftliche Maschinen zur genossenschaftlichen und gemeinsamen Ausnutzung zu geben, werden die Proletarier imstande sein, das Hinübenleiten der Landwirtschaft in sozialistische Bahnen zu beginnen.

Die russische Revolution ist noch nicht imstande gewesen, das zu tun. Als erste, von allen Seiten von kapitalistischen Feinden umzingelte Revolution war sie gezwungen, ihre Kräfte gegen den Hauptfeind zu konzentrieren, das europäische Finanzkapital zu schlagen, das vorläufig gefährlicher für sie war als der kleine Kapitalist im Dorfe. In dem Maße, in dem es gelingen wird, die Gefahr, die Sowjetrussland von dem Finanzkapital droht, mit Hilfe der Bauernschaft zu besiegen, die in der Sowjetmacht mit Recht ihre Waffe gegen die feudal-kapitalistische Gegenrevolution erblickt, in demselben Maße erwächst vor der Sowjetmacht die Frage des Kampfes für den allmählichen Übergang der Landwirtschaft zu den sozialistischen Wirtschaftsformen in ihrem ganzen Umfang. Die gesamte Tätigkeit der Sowjetmacht schafft durch die Hebung des kulturellen Niveaus der Bauernschaft diese Voraussetzung für Sozialisierung der Landwirtschaft.

Doch die höchste Stufe der bäuerlichen Kultur, erklärt der Sozialdemokrat Bauer, wird die Diktatur des Proletariats über die Bauernschaft unmöglich machen. Wir werden einstweilen nicht dabei verweilen, dass die Diktatur des Proletariats gleichzeitig auch die Diktatur eines Teils der Bauernschaft, und zwar der ärmsten Bauernschaft, bedeutet.

Interessant ist hier folgendes: Unter welchen Bedingungen könnte das Wachstum des Klassenbewusstseins der Bauernschaft die proletarische Diktatur bedrohen? Nur unter der Bedingung der Festigung des Weltkapitalismus, nur wenn es dem Weltkapital, das sich in Westeuropa gefestigt hat, gelänge, die Sowjetmacht zu schwächen, ihr Monopol des Außenhandels zu zerstören, durch Konterbande und Privathandel den russischen Bauern mit Industrieprodukten zu versehen, die von uns zerstörten Mittelpunkte der russischen bürgerlichen Gegenrevolution wiederherzustellen — nur dann würde die Hebung des kulturellen Niveaus der russischen Bauernschaft ein Wachsen der bürgerlichen Gefahr für die Arbeiterdiktatur in Russland darstellen. Und es gibt nichts Bezeichnenderes für den Menschewik Bauer, als dass er, indem er in Worten das Wachsen der internationalen Revolution und ihre Entwicklung anerkennt, sich in der Tat keine andere Umgebung der russischen Revolution vorstellen kann als den sieghaften Kapitalismus in Westeuropa.

Sowjetrussland weiß sehr gut, dass es zugrunde gehen müsste, falls der Kapitalismus in Europa siegte, und es hat sich immer als Vorhut der wachsenden Weltrevolution betrachtet, deren Schicksal damit verknüpft ist, ob die Reserven des westeuropäischen Proletariats rechtzeitig ihm zu Hilfe kommen können. Herr Bauer kann sich nicht vorstellen, dass ein solches Wunder geschehe. Wir lassen ihn in seinem menschewistischen Unglauben, aber auch er kann nicht verneinen, dass mit diesem seine Weisheit vom Siege des Großbauern über die Arbeiter in Russland steht und fällt.

Anstatt mit der Miene eines erfahrenen Kenners der Agrarverhältnisse, der weiß, dass die Pferde Hafer fressen, über die Tendenzen der Agrarentwicklung in Russland zu schreiben, könnte er seine gesamte Philosophie auf den knechtischen Ausruf beschränken: “Warum habt Ihr, russische Arbeiter, zu den Waffen gegriffen? Der Weltkapitalismus ist unbesiegbar, er wird Euch zerschmettern!”

Das war die Überzeugung des Menschewik Bauer auch 1917, als er sich als Kriegsgefangener in Russland befand und in seiner Broschüre, herausgegeben unter dem Pseudonym Weber, die Unmöglichkeit der Arbeiterdiktatur in Russland beflissen war zu beweisen. Die Arbeiterdiktatur ist nunmehr Tatsache geworden. Bauer ist gezwungen, diese Tatsache sogar für fortschrittlich zu halten. Nun, so sucht er den russischen Arbeitern zu beweisen, dass die Geschichte mit ihnen gescherzt habe, dass unter dem Anschein ihrer Diktatur die Diktatur der kommunistischen Partei über das Proletariat errichtet sei.

2. Diktatur der Klasse und der Partei

Dieses Liedchen von der Kommunistischen Partei in Russland über das russische Proletariat hat der “originelle” Wiener Denker von Kautsky übernommen. Kautsky ist dafür den russischen Menschewiki verpflichtet, die es ihrerseits der russischen Bourgeoisie entlehnt haben, die, wie bekannt, die Sage von der Kommissarenherrschaft, von der Selbstherrschaft der Kommunistischen Partei über das ganze russische Volk verbreitete.

Die Philosophie des Menschewik Bauer finden wir in allen Aufrufen von Denikin und Koltschak, nur mit dem Unterschied, dass diese Gesinnungsgenossen des Wiener menschewistischen Philosophen noch hinzufügen, dass die Partei der russischen Kommunisten, die den Willen des russischen Volkes vergewaltigt, einzig und allein aus Juden besteht. Bauer, der vor kurzem noch mit den Antisemiten im Ministerkabinett der berüchtigten österreichischen demokratischen Republik saß, die auf Rechnung der Wohltätigkeit der Entente lebt, benutzt aus natürlichem Edelmut nicht das Argument vom “jüdischen” Charakter der Sowjetdiktatur.

Darin besteht der ganze Unterschied der Bauerschen Philosophie von der Wrangelschen Philosophie der russischen Revolution. Um was handelt es sich denn? Woher diese Ähnlichkeit, die einen Teil der Menschewiki sogar zum aktiven Kampf mit den Waffen in der Hand gegen die Sowjetmacht führt? Ein Teil der Menschewiki lässt sich daher herab bis zum Koltschaktum, weil er — überzeugt von der Unmöglichkeit einer anderen Ordnung als der kapitalistischen in Russland — gezwungen ist, ob er will oder nicht, in das Lager der Bourgeoisie zu geraten. Der andere Teil der Menschewiki aber unterscheidet sich durch einen Stumpfsinn anderer, “delikaterer” Art. Er ist nicht imstande, die Rolle der revolutionären Vorhut im Verhältnis zu der Klasse, an deren Spitze sie steht, zu verstehen. Zu dieser zweiten Kategorie gehört Otto Bauer.

Wenn Wrangel über Kommissarenherrschaft lamentiert, so ist selbstverständlich, dass das nichts anderes bedeutet, als den Wunsch Wrangels, als Selbstherrscher im Namen der Großgrundbesitzerklasse zu regieren. Wenn Otto Bauer von der Diktatur der Kommunistischen Partei über das Proletariat spricht, so bedeute, das, dass er weder den Mechanismus der bürgerlichen Revolution, noch die Logik der proletarischen Revolution versteht. Hat denn in der französischen Revolution die gesamte Masse der Bourgeoisie selbst den revolutionären Kampf geführt, ihn selbst geleitet? Der ökonomisch vorgeschrittene Teil der Bourgeoisie war an die alte Ordnung gebunden, war mit dem Feudalismus dermaßen verknüpft, dass er nur eine Reform der alten Ordnung, ihre Anpassung nicht an die Bedürfnisse der kapitalistischen Entwicklung, sondern n die eigenen Gruppeninteressen der Bankiers und Großgrundbesitzer anstrebte. Die Sache der bürgerlichen Revolution befand sich in Händen der kleinbürgerlichen Massen, die die Ziele der Revolution im Kampf gegen die ökonomisch führende Schicht der Bourgeoisie verwirklichten. Es wäre aber ein Irrtum anzunehmen, dass sogar das Kleinbürgertum als Klasse in seiner Gesamtheit eine führende revolutionäre Rolle spielt. Es genügt an die Desertionen zu erinnern, gegen welche die revolutionäre Staatsgewalt einen verzweifelten Kampf zu führen hatte; und die Deserteure bildeten einen bedeutenden Teil derselben Bauernschaft, der die Revolution die Freiheit gegeben hatte. Es genügt mit der Stellung bekannt zu werden, die die kleinbürgerlichen Schichten einnehmen, die mit der Produktion von Luxusgegenständen beschäftigt sind. Es genügt an die Bewegungen zu erinnern, die durch die Teuerung hervorgerufen wurden, es genügt an die gesamte Politik der Jakobiner und der so genannten “Tollen” zu denken, um zu verstehen, dass sogar in Revolutionen, deren Aufgabe gerade die Verwirklichung der Demokratie war, die Volksmasse, in deren Interesse und in deren Namen sich der Kampf entwickelte, eine entscheidende Rolle in allen großen Revolutionskämpfen nur unter der Führung und Leitung, unter der eisernen Diktatur der Jakobinerpartei spielte. In der Revolution entscheiden die Massen. Nur die Klasse siegt, die, die Tendenzen der geschichtlichen Entwicklung vertretend, es versteht, in entscheidenden Augenblicken eine verhältnismäßige Mehrheit der Kämpfer um sich zu sammeln. Wir betonen, es handelt sich nicht um eine formelle arithmetische Mehrheit, sondern um ein verhältnismäßiges Übergewicht der aktivsten, der tatkräftigsten, der beweglichsten sozialen Elemente. Diese Elemente, geführt von einer von ihnen selbst geschaffenen Partei, unterordnen ihrer Diktatur nicht nur die feindlichen Klassen, sondern auch die eigene Klasse, wenn sie voll Unentschiedenheit schwankt, wenn sie unter dem Einfluss des Elends in Verzweiflung gerät und bereit ist, ihre eigene Sache, die Sache ihrer Zukunft zu verraten. Die Diktatur des vorgeschrittenen Teils der revolutionären Klasse widerspricht nicht der Diktatur der Klasse als Ganzes, sondern ist eine Bedingung dieser Diktatur. Erst nachdem die Bourgeoisie alle ihre Kräfte in die eiserne Faust der Jakobinerpartei versammelt hatte, erst nachdem sie sich der Diktatur dieser Partei untergeordnet hatte, konnte die Bourgeoisie die feudale Ordnung besiegen.

Wie verhält es sich aber mit der Diktatur der Bourgeoisie in einer Periode zugespitzten Kampfes? Herrscht sie dann als Ganzes, verwirklicht sie dann als Ganzes ihre Diktatur? Sie verwirklicht sie in Person der meist reaktionären, standhaftesten, entschiedensten Elemente, die zur Durchführung ihrer Politik oft gezwungen sind, Diktatoren zu sein, sogar gegen den Willen eines Teiles ihrer eigenen Klasse. Was bedeutet der Kampf der linken liberalen Elemente Englands gegen die Politik Churchills und Curzons, die Lloyd George verhüllt? Er bedeutet die Tatsache, dass ein Teil der kapitalistischen Klasse Englands, der an der Möglichkeit einer offenen Diktatur des Kapitals zweifelt, den notwendigen Maßnahmen dieser Diktatur Widerstand leistet. Die Diktatur der Bourgeoisie wird durchgeführt nicht nur als Diktatur über die Arbeiterklasse, sondern auch als Diktatur der entschiedeneren Elemente der Bourgeoisie über die weniger entschiedenen.

Kann das Verhalten des vorgeschrittenen Teils der Arbeiterklasse zu der Klasse als Ganzer während der Revolution grundsätzlich ein anderes sein als in den Epochen früherer Revolutionen? Ist die Diktatur der Arbeiterklasse als Ganzer denkbar, d. h. eine Diktatur, die nicht nur im Interesse der Arbeiterklasse als Ganzer durchgeführt wird, sondern von ihr selbst als Ganzer durchgeführt wird? Es genügt, an ein solches ABC des Marxismus, daran zu erinnern, dass der Begriff der Arbeiterklasse nur eine gewisse Kategorie von Personen zur Grundlage hat, die eine bestimmte Rolle in der Produktion der kapitalistischen Gesellschaft spielt, und zwar die Rolle der Verkäufer ihrer Arbeitskraft. Außerhalb dieses zusammenfassenden Merkmals finden wir in der Arbeiterklasse verschiedene Schichten mit verschiedenem Lebensniveau, mit verschiedener Kulturstufe, mit verschiedenen geschichtlichen Traditionen. Der Prozess der ökonomischen Entwicklung nivelliert in bedeutendem Maße die ökonomische Lage und das Geistesleben der Arbeiterklasse. Er versetzt ihre Mehrheit in die Lage einer Masse, die gleichzeitig kulturell entwickelt, voll politischen Interesses und materiell nicht versorgt ist. Dieser geschichtliche Prozess beseitigt aber nicht völlig die Existenz einer bevorzugten Schicht in dieser Klasse, die durch Vorteile und Traditionen mit der Bourgeoisie verknüpft ist und vernichtet auch nicht das Vorhandensein dermaßen unterdrückter und erniedrigter Schichten des Proletariats, dass sie sogar nicht imstande sind, an einen Kampf zu denken. Wie sollen sich nun die vorgeschrittenen Arbeiter, die Arbeitervorhut, zu den aristokratischen Schichten des Proletariats verhalten, die nicht gegen die Bourgeoisie kämpfen wollen, und zu den erniedrigten und unterdrückten Schichten, die nicht imstande sind zu kämpfen? Es versteht sich, dass die Vorhut vor allen Dingen versuchen soll, durch Agitation diese Massen zu ihrem Niveau, zum Verständnis der geschichtlichen Aufgaben im ganzen zu heben, anderseits soll sie bereit sein, die Widerstandskraft der mit der Bourgeoisie verbundenen Elemente zu brechen, endlich soll sie durch Beispiel, durch Tat den Glauben an den Sieg in den zurückgebliebenen Schichten erwecken. Die Diktatur des Proletariats in der Revolution bis zu ihrem endgültigen Siege wird die Diktatur seiner vorgeschrittenen Elemente sein. Wie stark und groß der vorgeschrittene Teil des Proletariats im Vergleich zu der gesamten Klasse sein wird, davon hängt in bedeutendem Maße die Lösung der Frage ab, ob die Revolution zum Siege oder zur Niederlage der Arbeiterklasse führen wird. Wer aber das Recht des vorgeschrittenen Teils des Proletariats, die Diktatur über die gesamte Arbeiterklasse zu verwirklichen, verneint, der verneint die Diktatur des Proletariats selbst.

Bauer kann sagen: ‚.Ja, ich bin doch ein Gegner der Diktatur des Proletariats, ich bin doch für die Demokratie.” Wir antworten ihm: “Sie irren sich, Herr Bauer. Sie haben Kant gelesen, sie haben sich mit Philosophie beschäftigt, aber mit ihrer Philosophie der russischen Revolution klappt es nicht. Sie haben ja gesagt, dass Oktoberrevolution und die durch sie geschaffene Sowjetregierung nicht nur eine geschichtliche Notwendigkeit ist, sondern der einzige Weg zur Liquidation der junkerlich-feudalen Ordnung in Russland. Wir wollen nicht mit Ihnen darüber streiten, ob es auch der einzige Weg zur Durchführung des Sozialismus in Russland ist. Wollen wir nur bei dieser geschichtlichen Aufgabe verbleiben, die Sie gnädigst für die russische Revolution anerkannt haben, und wir fragen: wie konnte man in Russland die Großgrundbesitzerordnung liquidieren ohne den Widerstand jenes Teils der Arbeiterklasse zu brechen, der der menschewistischen Partei und den Sozialrevolutionären folgte, wenn die Sozialrevolutionäre und Menschewiki, die die Koalitionspolitik trieben, mit der Großgrundbesitzerklasse verbunden waren? Sie erkennen den Sieg der Arbeiterklasse, der Sowjetmacht über die gutsherrlich-kapitalistische Gegenrevolution, über Judenitsch, Koltschak, Denikin und über die hinter ihrem Rücken stehende Entente als eine große Tat an. Wie können Sie dann aber den vorgeschrittenen Teilen des Proletariats vorwerfen, dass sie in Person der kommunistischen Partei ihre Politik den Teilen des Proletariats aufdrängen, die zurückgeblieben von ihrer Vorhut, gequält von Hunger und Kälte, auf eigene Initiative dem Feind vielleicht nicht genügend tatkräftigen Widerstand geleistet, nicht mit genügender Energie gekämpft hätten? Über die geschichtliche Notwendigkeit der Oktoberrevolution, über ihre fortschrittliche Bedeutung sprechen und gleichzeitig den fortgeschrittenen Arbeitern einen Vorwurf machen wegen der Errichtung der Diktatur der kommunistischen Partei, das heißt mit anderen Worten heucheln oder unsinniges Zeug schwatzen.

Wenn aber dieser Hauptvorwurf unbegründet ist, wenn die Diktatur der Kommunistischen Partei in Russland die Diktatur des russischen Proletariats bedeutet, dann ist alles andere, was Otto Bauer über den “despotischen Sozialismus”, über den Sieg der Bürokratie usw. sagt, leeres Geschwätz. Sowjetrussland befindet sich drei Jahre im Kriegszustande. An den Fronten ist wenigstens ein Drittel der Kommunistischen Partei, die energischsten, die besten Vertreter der Arbeiterklasse. Herr Bauer aber, der angeblich diesen Kampf mitfühlt, fragt: Wo sind denn Eure Sowjets? Die Sowjets sind der vorgeschrittenste Teil des Proletariats, die besten Organisatoren, die besten Agitatoren der russischen Arbeiterklasse. Wo sind sie? An der Front. Sie leiten dort den gesamten Heeresapparat, sie sind seine Seele. Ja, der Krieg hat in bedeutendem Maße die Sowjetform der Diktatur des Proletariats berührt, er hat alle administrativen Arbeiterorgane eingeschränkt.

Er hat eine übermütige Entwicklung des bürokratischen Apparats hervorgerufen, die jedoch nicht imstande ist, den proletarischen Charakter Sowjetrusslands zu beseitigen, denn alle Organe, die seine soziale und ökonomische äußere Politik leiten, sind aus der Arbeiterklasse erwachsen, mit ihr verbunden, stehen unter der unmittelbaren Kontrolle der Kommunistischen Partei, der Partei des revolutionären Teils des russischen Proletariats. Dass diese Partei ihren Einsatz nicht auf die revolutionäre Bürokratie, sondern auf die Organisation der Arbeiterklasse, auf die Arbeiterdemokratie setzt, beweist am besten folgende Tatsache: Sobald es scheint, dass die Flut des Krieges zurückgegangen ist, stellt die kommunistische Partei die Frage der Entfaltung der Organe der Arbeiterdiktatur auf die Tagesordnung. Die erste Frage, die sie im Frühling dieses Jahres auf die Tagesordnung stellte, als es schien, dass der Friede nicht mehr weit ist, war die Frage über die Rolle der Gewerkschaften in dem wirtschaftlichen Aufbau. Die erste Losung, mit der sie sich im Augenblick der Zerschmetterung Wrangels an das Proletariat wendet, ist die Frage der Festigung und Erweiterung der Arbeiterdemokratie, des Kampfes gegen die bürokratische Gefahr durch Festigung der Organe der Arbeiterdemokratie. Bauer weist auf die Verfassung unserer nationalisierten Industrie hin. Er behauptet, dass sie nicht Selbstverwaltung der Arbeiterklasse ist. Wenn er aber kein grundsätzlicher Gegner der Ausnutzung bürgerlicher Fachleute und Techniker in der sozialistischen Produktion ist — was nicht nur Idiotismus wäre, sondern auch allen Anschauungen Bauers widerspräche — welche andere Form der Verwaltung der Industrie könnte Bauer erfinden außer derjenigen, die in Russland besteht: die Organisation der Verwaltung, bestehend aus Vertretern des Arbeiterstaates und der Gewerkschaften. Die einzig denkbare Form, die sich von der in Russland existierenden unterscheiden würde, das wäre die Übergabe der Industrie in die Hände der Gewerkschaften. Bauer ist ja aber Kautskyaner und nicht Syndikalist, und man kann nicht annehmen, dass er Syndikalist geworden wäre. Wenn dem aber so ist, was gibt es dann Positives in seiner Kritik? Nichts als völliges Unverständnis der Revolution, nichts als Wut gegen die proletarische Revolution, versteckt unter süß-sauren Phrasen.

Ihre Presse ist voll von Enthüllungen des Bürokratismus, der den ökonomischen Sowjetaufbau Sowjetrusslands zerfrisst” — wird Herr Bauer antworten. Das beweist, dass er in Russland russisch gelernt, aber leider nicht zu denken gelernt hat. Wissen ist nicht nur Kenntnis der Tatsache, sondern auch Kenntnis der Ursachen.

Die Ursache des Geschwürs des Bürokratismus, gegen welches die Sowjetmacht und die Kommunistische Partei ankämpft, ist die Tatsache, dass sie gezwungen war, ihre besten Organisatoren nicht der Arbeit des wirtschaftlichen Aufbaues zuzuwenden, sondern der Verteidigung des Lebens der Revolution. Wer das nicht verstanden hat, der hat nichts verstanden und will nichts verstehen.

Herr Bauer ist äußerlich einen Schritt weitergegangen als Kautsky. Er hat die Sowjetrepublik als fortschrittlichen Faktor anerkannt. In der Tat hat er weder ihr Wesen, noch ihre Methoden und Perspektiven verstanden. In der Tat ist er um keinen Schritt weitergegangen als sein Lehrer. Er hat nur von der untergegangenen k. k. österreichisch-ungarischen Monarchie die liebenswürdige Heuchelei geerbt, die ihm dennoch nicht gestattet, seinen gegenrevolutionären Sinn zu verstecken. Und dieser gegenrevolutionäre Sinn bricht sich mit noch mehr Klarheit Bahn, wenn Herr Bauer von der Analyse der russischen Revolution zu den Perspektiven der Weltrevolution übergeht.

IV. Die Hindernisse der Revolution des Westens

Der zweite Teil der Bauerschen Broschüre ist den Problemen der europäischen Revolution gewidmet. In der Tat ist aber das Thema der tiefsinnigen Erörterungen dieses Revolutionärs ein ganz anderes. Unter dem Anschein des Suchens nichtrussischer Bahnen für die europäische Revolution sucht er nicht mehr und nicht minder zu beweisen, als dass die proletarische Revolution in Europa überhaupt unmöglich ist.

Bauer beginnt mit der gewöhnlichen Gegenüberstellung des Kräfteverhältnisses in Russland und Westeuropa. Bestrebt, Grund und Boden zu bekommen, folgte die Bauernschaft Russlands den Arbeitern, in Westeuropa bildet sie eine geschlossene Front, die gegen die Arbeiter gerichtet ist. In Russland, sagt Bauer, war die Bourgeoisie schlecht organisiert. Im Westen sind die Intellektuellen mit zehnmal festeren Banden mit dem Kapitalismus verknüpft als in Russland, aber “ohne Mitwirkung der Intelligenz kann kein Staat verwaltet, keine Fabrik betrieben, keine Volkswirtschaft organisiert werden” (S. 76.) Den Widerstand der Intellektuellen hält Herr Bauer für das stärkste Hindernis der proletarischen Revolution in Europa. In Russland, sagt er weiter, bilden die Arbeiter einen unbedeutenden Teil der Bevölkerung. Das landwirtschaftliche Gebiet ist ungeheuer groß und man kann sich irgendwie durch Requisitionspolitik ernähren. Anders gestaltet sich die Lage in Westeuropa. Hier fährt jede Erschütterung des komplizierten wirtschaftlichen Apparates zu einer Hungerkatastrophe, in der die Revolution untergehen wird. Die russische Revolution hat den alten Staatsmechanismus radikal vernichtet, “aber eine so gewaltsame, so langwierige, die Ununterbrochenheit der staatlichen und wirtschaftlichen Verwaltung so völlig zerreißende Operation erträgt der robuste Körper eines Agrarlandes; der empfindlichere Organismus eines Industriestaates würde an ihr zugrunde gehen. In West- und Mitteleuropa wird die proletarische Revolution darauf bedacht sein müssen, dass der gesellschaftliche Stoffwechsel nicht unterbrochen wird. Sie wird daher keine kapitalistische Organisation zerstören dürfen, ehe nicht die sozialistische Organisation bereit steht, die sie ablösen und ihre Funktionen weiter versehen soll.” (Seite 81.)

Das sind aber nur die inneren Schwierigkeiten der Revolution. Es gibt noch äußere. Wie können denn, fragt Herr Bauer, die europäischen Länder ohne amerikanische Baumwolle, ohne australische Wolle, ohne amerikanisches Gummi leben? Es fällt ihnen schon jetzt schwer, sie zu bekommen, denn die ruinierte Wirtschaft Europas liefert keine Äquivalente zum Austausch gegen die Erzeugnisse. Was würde aber erst im Falle einer gewaltsamen Revolution geschehen? Daher muss man … den Sozialismus überhaupt verabschieden? — fragen wir. Nein, Gott bewahre, antwortet Herr Bauer, man muss nur eine solche Revolution machen, die den Kapitalisten und Grundbesitzern keinen Schmerz bereitet. Er schlägt nicht mehr und nicht minder vor als eine langsame, allmähliche Nationalisierung nur derjenigen Industriezweige, die dazu völlig vorbereitet sind, wobei der Kapitalist in einigen Fällen auch weiter die Fabrik verwaltet und nur unter gesellschaftlicher Kontrolle steht, in anderen aber die Verwaltung an Staatsorgane übergeht, von denen weiter unten die Rede sein wird. Jedenfalls bekommt der Kapitalist völligen Schadenersatz, das Recht auf den Mehrwert ist ihm sichergestellt. Es versteht sich, dass alle Hypotheken, alle Bankdepositen und alles Übrige, was den Kapitalisten die Möglichkeit sichert, ohne Arbeit zu leben, unberührt bleibt. Nur auf diese Weise kann man den Untergang der Revolution durch die Anarchie vermeiden. Bevor wir die “anständige” Revolution Herrn Bauers näher betrachten, wollen wir bei seinen Voraussetzungen verweilen.

Eine Vorbedingung revolutionärer Politik ist immer die nüchterne Wertung der Wirklichkeit. Darum ist der moderne Kommunismus bestrebt, aufs Genaueste, auf das eindringendste die Eigentümlichkeiten der Lage in jedem Lande zu studieren. Er schließt niemals die Augen vor Schwierigkeiten, die die Revolution erwarten. Das nüchterne Inbetrachtziehen der wirklichen Verhältnisse ist eins, ein anderes Ding aber ist die Feigheit des durch das internationale Kapital eingeschüchterten Kleinbürgers, der den “Marxismus” nur benutzt, um sich und andere zu überzeugen, dass die Revolution unmöglich ist. Nachdem er aber diese Prozedur durchgemacht hat, erinnert er sich, dass er ja für die Revolution ist, und dann beginnt er zu schwindeln. Er unterschiebt als Revolution etwas anderes, und, zwar ein gewöhnliches kienbürgerliches Geschäft mit dem Kapitalismus.

Herr Bauer hat das eine Auge weit geöffnet und sieht, wie stark die Bourgeoisie in Westeuropa ist. Er ist aber durchaus blind auf dem anderen Auge, mit welchem er die Stärke des Proletariats sehen könnte. Und er gelangt zu der folgenden ungeheuerlichen Schlussfolgerung: Es existiert eine ungeheure Stärke der Organisation des Kapitals und keine Stärke des Proletariats, obgleich jeder, der das ABC des Marxismus gelernt hat, versteht, dass die Konzentrierung der Macht des Kapitals ohne eine entsprechende Konzentrierung der Macht des Proletariats unmöglich ist.

Herr Bauer sieht und kennt die wohlhabende Bauernschaft, die zusammengeschlossen und konservativ ist; er sieht die modernen kapitalistischen Grundbesitzer; er sieht aber nicht das Dorfproletariat, das à Ia longue ein zuverlässigerer Bundesgenosse des Proletariats ist als die Bauernschaft. Aber auch über die Bauernschaft äußert sich Herr Bauer als Bücherwurm und Doktrinär. Er erklärt offen, dass die Möglichkeit der Aufteilung von Grund und Boden an die wenig besitzenden Bauern auf Kosten des gutsherrlichen Großbetriebes ausgeschlossen sei. Dieser ehrwürdige Gelehrte weiß aus den Büchern, dass die Wirtschaft in. den Großbetrieben produktiver ist als die bäuerlichen Kleinwirtschaften. Daraus zieht er die Schlussfolgerung, dass wir im Namen des Fortschrittes, der Entwicklung der Produktivkräfte und unter Drohung eines Bannfluches keinen Grund und Boden den Bauern zuteilen dürfen. Dieser Marxismus ist kein Marxismus, denn letzterer besteht nicht darin, sich irgendeine Lehre einzupauken und dazu eine sehr oberflächliche, und zwar, dass der gutsherrschaftliche Großbetrieb ökonomisch höher steht als der bäuerliche Kleinbetrieb. Der Marxismus als Lehre über den Klassenkampf lässt die eventuelle Möglichkeit der Unterordnung der besonderen Interessen des Proletariats seinen allgemeinen Aufgaben. Und es sind Tausende von Situationen denkbar, in denen das Proletariat durchaus bewusst im Namen seines Sieges, dieser wichtigsten Vorbedingung der Hebung der Produktivkräfte der Menschheit überhaupt, auf ein politischen Kompromiss eingeht, der auf einem gewissen Gebiet, auf eine gewisse Zeit das Ersetzen einer höheren Wirtschaftsform durch eine minder hohe gewähren kann.

Noch schlimmer steht es mit den Vorstellungen Bauers über das Verhalten der Intellektuellen zur internationalen Revolution. Seine Behauptung, dass sich die intellektuellen im Westen unbedingt feindlicher gegen die proletarische Revolution verhalten werden, als das in Russland der Fall war, ist durchaus unbegründet. Er zieht nicht die Tatsache in Betracht, dass während in Russland die kapitalistische Entwicklung der letzten 10 Jahre den Intellektuellen, die bisher zur Arbeitslosigkeit und Brotlosigkeit verurteilt waren, glänzende Aussichten einer bevorzugten Lage eröffnete als Teilnehmer an der kapitalistischen Verwaltung der Wirtschaft, während die Märzrevolution ihnen Perspektiven der Ergreifung des Staatsapparats eröffnete, die Intellektuellen im kapitalistischen Europa einen Prozess der Zersetzung und Proletarisierung durchleben. Ihre wirtschaftliche Lage verschlechtert sich in unaufhaltsamem Tempo. Sie sehen, dass die kapitalistische Klasse, die den Krieg nicht zu vermeiden vermochte, nicht imstande ist, einen Frieden zu schließen, der die Wiederherstellung der Wirtschaft zuließe. Anfangs wurde dieser Zersetzungsprozess als Folge der “endlosen” Forderungen der Arbeiterklasse dargestellt. Je mehr sich aber der Klassenkampf in Westeuropa unter dem Einfluss der kapitalistischen Zersetzung und der wachsenden Teuerung verschärfte, umso mehr beginnen die bürgerlichen Intellektuellen zu verstehen, dass die Revolution ein unausbleibliches Ergebnis des Zusammenbruchs des Imperialismus ist, dass die Revolution der einzige Ausweg der Menschheit aus dem wachsenden Elend, aus der wachsenden Desorganisation, aus dem künftigen sozialen Chaos ist‚ und wir beobachten überall eine Spaltung der Intellektuellen zwischen dem Lager der feudalkapitalistischen Gegenrevolution und dem Lager der proletarischen Revolution. Die Intellektuellen machen überall eine ideologische Krise durch. Sie stehen am Scheidewege, in ihrer Mitte gären revolutionäre Ideen. Es versteht sich, dass auch der revolutionäre Teil der Intellektuellen noch nicht unser zuverlässiger Bundesgenosse ist. Es unterliegt keinem Zweifel, dass, wenn z. B. das Proletariat jetzt in Deutschland die Macht ergriffe, ein bedeutender Teil der Intellektuellen auf seiner Seite wäre.

Wenn Bauer in seinen Bedenken über die Schwierigkeiten, die die proletarische Revolution im Westen erwarten, die revolutionären Tendenzen auf dem flachen Lande und unter den Intellektuellen außer acht lässt, dann ist seine Stellungnahme in der Frage über die Hungerkatastrophe, die der europäischen Arbeiterklasse im Falle einer proletarischen Revolution droht, direkt lächerlich. Sie erinnert durchaus an die Argumentation des Gogolschen Helden Chlestakow, der, als er sich mit Appetit, aber ohne Geld in einem Hotel befindet, von dem Hotelbesitzer ein Mittagessen fordert, letzteres dadurch motivierend, dass er sonst vor den Hund kommt. Vor der ungeheuren Schwierigkeit stehend, die die Brotfrage zweifellos für die westeuropäische Revolution darstellt, sucht Bauer die Lösung dieser Frage nicht in den sich entfaltenden Kräften der Revolution, sondern wendet sich an die Kapitalisten mit der Erklärung: Meine Herren, wenn wir gegen Euch in offenen Kampf treten, dann kommen wir ganz vor den Hund. Gestatten Sie uns, Euch friedlich und allmählich zu vernichten und füttern Sie aus Dankbarkeit für unseren Edelmut die Revolution. Er stellt der Hungerkatastrophe, die seiner Meinung nach die Revolution bedroht, nicht den zweiten, sich schon zeigenden geschichtlichen Ausweg gegenüber. Er stellt ihr gegenüber seine Sehnsucht nach einer Revolution, während welcher man nicht zu hungern hätte. Wir sehen des weiteren, dass das, was Bauer als Rettungsmittel vor dem Hunger während der Revolution betrachtet, nichts anderes ist, als der feige Traum eines elenden Intellektuellen, der trotz seiner Stumpfheit und Beschränktheit vor lauter Schrecken zum Phantasten und Utopisten wird. Bauer lässt außer acht, dass das westeuropäische Proletariat, nachdem es die Macht in seine Hände genommen, von den ungeheuren militärischen und ökonomischen Reichtümern im Bunde mit Sowjetrussland Besitz ergreifen wird, die Getreidebezirke der Balkanländer, Ungarns, Rumäniens, der Ukraine, des Kubangebiets, Sibiriens zu seiner Verfügung stehen werden. Für Bauer existiert bei der Betrachtung der Perspektiven der westeuropäischen Revolution nicht der landwirtschaftliche Osten und Südosten, wie für ihn bei der Analyse der russischen Revolution nicht die Möglichkeit der Hilfe seitens des westeuropäischen Proletariats existiert. Wenn er darüber spricht, dass die proletarische Revolution in Europa der Handelsbeziehungen mit den noch existierenden kapitalistischen Staaten bedürfen wird, dann zieht er nur den Umstand in Betracht, dass die Proletarier des revolutionären Europas der amerikanischen Baumwolle, der australischen Wolle usw. benötigen werden. Er bemerkt aber nicht die Kehrseite der Medaille. Auch die Kapitalisten Amerikas und Australiens bedürfen ja des Käufers, wenn sie nicht ihre Industrie und ihren Handel einstellen und die Revolution in ihren Ländern durch Arbeitslosigkeit beschleunigen wollen.

Ja, das westeuropäische Proletariat wird viel zu leiden, auch viel zu ertragen haben, bevor es sich aus den Klauen des untergehenden Kapitalismus befreit. Wer zu ihm aber nur über die Schwierigkeiten spricht, ihm seine Kraft verschweigt, nicht auf die Aussichtslosigkeit seiner Lage im Falle des Verzichts auf die Revolution hinweist, der handelt bewusst oder unbewusst als Agent der Gegenrevolution, was Herr Bauer auch tatsächlich ist. Aber erlauben Sie, antwortet er uns, ich habe ja ein Rezept der friedlichen, blutlosen Enteignung des Kapitals, ein Rezept der friedlichen Weltrevolution.

2. Der Gildensozialismus als Rettung

Betrachten wir dieses Rezept. Vor dem Weltkriege galt Deutschland, das Land, das Marx und Engels gezeugt hat, als großes Laboratorium der revolutionären Ideen. Die revolutionären Ideen, die in Europa gesiegt haben, waren Made in Germany. Deutschland liegt jetzt in Trümmern. Herr Bauer, der bisher im Marxismus arbeitete, hat jetzt die Verbreitung der in England produzierten Waren übernommen. Warum denn nicht? Die englischen Waren sind ja die besten in Europa. Herr Bauer handelt jetzt mit den Geisteserzeugnissen des Gildensozialismus. Er muss anerkennen, dass diese Ware aus einem kleinbürgerlichen, aus einem Kleinbetrieb stammt. Wie jeder Verkäufer, muss Herr Bauer aber Reklame für seine Ware machen: so erklärt er, dass “der Gildensozialismus im letzten Jahrzehnt eine Entwicklung durchgemacht hat, die ihn befähigt hat, allmählich zur stärksten geistigen Macht innerhalb der englischen Arbeiterbewegung zu werden” (Seite 92). Jeder Charlatan, der sein einzig rettendes Mittel verkauft, ist gezwungen, darüber verschiedene Märchen zu erzählen. Dagegen ist nichts zu machen. Anders ist es ja nicht möglich, denn wie könnte man ein gewöhnliches Wässerchen als ein Lebenselixier verkaufen und dabei nicht lügen? Der Gildensozialismus hat gar keinen Einfluss auf die englischen Arbeitermassen, das ist einfach eine Strömung, die Sympathien unter den englischen sozialliberalen Intellektuellen und unter einem unbedeutenden Teil der englischen Gewerkschaftsführer findet, sofern diese ehrenwerten Leute außer Whisky noch anderer “geistiger Genüsse” bedürfen. Die Gildensozialisten, die Herren Penty, Cole und die ganze übrige Sippschaft, diese Schüler des alten Fabianischen Spezialisten in der Arbeiterfrage, Sidney Webb, getäuscht in ihren Hoffungen, die Arbeiter durch Versprechungen liberaler Reformen zu betrügen, bemühen sich nun, den Bestrebungen der Arbeiter zur Befreiung von der kapitalistischen Ausbeutung näher zu kommen. Diese Kleinbürger haben folgende Kombination ausgeklügelt. Die Produktionsmittel gehören dem Staat, er zahlt den jetzigen Inhabern ihre Rente. Jeder Industriezweig ist Nationalgut und wird von den Vertretern der entsprechenden Gewerkschaft verwaltet. Der Produktionsplan und die Preise der Erzeugnisse werden von der Gewerkschaft gemeinsam mit den Vertretern des Staates, der Organe der Stadtverwaltungen und der Konsumenten bestimmt.

Das alles zusammen ist nun die “Selbstverwaltung der Industrie” durch die Arbeiter und sichert ihnen die Freiheit. Während in Russland, sagt Herr Bauer, die Industrie von der revolutionären Bürokratie verwaltet wird, legt der Gildensozialismus die Verwaltung der Industrie in die Hände der Arbeiterorganisationen. “Der Bolschewismus ist der Sozialismus der Ideologen der Arbeiterbewegung, denen die Massenbewegung des Proletariats nur das Instrument zur Verwirklichung eines sozialen Ideals ist und die, wie sie selbst, im revolutionären Kampf kein Opfer gescheut haben, ihr Ideal verwirklichen wollen um jeden Preis, auch wenn die Masse zuerst durch eine Wüste des Hungers, der Kälte, der Staatsknechtschaft, des Krieges hindurchgehen muss, um das gelobte Land zu erreichen.

Der Gedanke der industriellen Demokratie dagegen wuchs aus den Kämpfen der Arbeiterklasse selbst heraus. Wenn die Arbeiterschaft in der Praxis des gewerkschaftlichen Kampfes ihren Einfluss auf die Industrie stetig verstärkt, erwächst in ihr der Gedanke, die Kontrolle über die Industrie stetig soweit auszudehnen, bis sie selbst die Industrie ganz übernehmen kann, und wie die Arbeiterschaft ihre gewerkschaftliche Aktion verstärkt durch die politische Aktion der Partei, zu der sich die einzelnen Gewerkschaften unter voller Wahrung ihrer Autonomie in industriellen Dingen vereinigen, so denkt sie sich auch den sozialen Staat der Zukunft als eine Föderation von autonomen “nationalen Gilden”. Das ist nicht der Sozialismus von Ideologen, denen das Proletariat nur das Instrument der Idee ist, sondern der Sozialismus der Arbeiterbewegung selbst, die sich in der und aus der täglichen Praxis des Kampfes in der Werkstätte ihre eigene Idee formt.” (Seite 96.)

Nachdem er so die kleinbürgerliche Idee der Gildensozialisten, die in dem intellektuellen Kreise von einem halben Dutzend Schriftsteller entstanden ist, als Kind der Arbeiterbewegung, als Ausdruck ihres Kampfes dargestellt hat, begibt sich Bauer nun auf das Gebiet der nationalen Philosophie. Der englische Arbeiter, sagt er, der in einem alten Kulturlande aufgewachsen ist, ist eine Persönlichkeit, erfüllt von Freiheitsbestrebungen. Er hat die Idee des freien Sozialismus in den Vordergrund gerückt. Der russische Proletarier, der Sohn des gestrigen Leibeigenen, ist ein Instrument in den Händen eines Häufleins von Ideologen, sehr ehrlicher Leute, die im Namen der Arbeiterklasse Opfer bringen, aber — es lässt sich nichts dabei tun — revolutionärer Bürokraten. Diese Philosophie Bauers hat zwei Lücken: 1. Gildensozialismus ist, wie wir gesagt haben, nicht die Widerspiegelung der Entwicklung der englischen Arbeiterbewegung, sondern eine Idee, die entstanden ist in den Oberschichten dieser Masse unter einem Häuflein von Intellektuellen, die von der Arbeitermasse absolut losgerissen sind; 2. den englischen Arbeiter nach der Epoche des Chartismus als Persönlichkeit, die nach Freiheit strebt, darzustellen, heißt, einem Lakaien der Bourgeoisie, der alte Kleider und Zylinder seines Herrn kauft, für die Verkörperung eines freien Menschen zu halten. Einst hat Kautsky in seinen Artikeln über den russischen und amerikanischen Arbeiter, den Kämpfer für die Revolution, den russischen Arbeiter, dem englischen Knecht, dem Arbeiteraristokraten gegenübergestellt. Andere Zeiten — andere Lieder. Das in den Sumpf der Gegenrevolution geratene Kautskyanertum klammert sich an eine, wie wir sehen werden, tote Utopie der verächtlichen, halbliberalen englischen Intellektuellen und erklärt, in ihren geistigen Exkrementen wühlend: Das ist die Schöpfung des freiesten Teils des Proletariats, das ist die Schöpfung des englischen Proletariers, dieses bekannten Champions der Freiheit. Zu Ehren des revolutionären Teils des englischen Proletariats muss gesagt werden, dass es nichts gemein hat mit der Idee, die den kapitalistischen Staat unberührt an seinem alten Platze lässt, die der bürgerlichen Klasse Ganzes das Recht der Auspressung des Mehrwerts aus dem Arbeiter erhält, die den Vertretern der bürgerlichen Regierung das Recht gibt, gemeinsam mit anderen Vertretern der Bourgeoisie den Wirtschaftsplan auszuarbeiten und die Preise zu bestimmen, in der Tat also der Bourgeoisie die gesamte Macht überlässt. Das revolutionäre Proletariat Englands würde dieser Idee den Rücken wenden, wenn es sie kennen würde, denn das ist nur eine frisch aufgewärmte, alte, banale, Fabianische Idee über die Erhaltung des Kapitalismus durch die so genannte Konstitution im Betrieb, d. h. dadurch, dass den Arbeitern das Recht gewährt wird, über die Industrieverwaltung zu — reden, während in Wirklichkeit die Bourgeoisie sie leitet.

Wir lassen Herrn Bauer mit Entzücken den “Rücken” des englischen Proletariats als aufgehende Sonne des Gildensozialismus betrachten. Auch der unglückliche Ritter von la Mancha hielt ja die stinkende Heldin aus dem Pferdestall in der Überzeugung in den Armen, dass das die wunderschöne Königstochter Dulcinea sei. Wir fragen aber unseren Don Quichotte des Gildensozialismus: Wo sehen Sie wenigstens die geringsten Anzeichen dessen, dass die englische Bourgeoisie auf dieses kleine Zugeständnis eingeht, das der Gildensozialismus vorschlägt?

Wenn wir Kommunisten versuchen, die Arbeiter zu überzeugen, dass die Welt den Weg gehen wird, den wir voraussagen, dann weisen wir, ob schlecht oder recht, auf die Entwicklungstendenzen, auf Tatsachen hin. Wir wiesen auf den wirtschaftlichen Verfall der kapitalistischen Welt hin. Wir zeigten die Unfähigkeit der Bourgeoisie, ihn aufzuhalten. Wir wiesen hin auf die Verschärfung der Klassengegensätze, auf ihre Steigerung bis zum Bürgerkriege, auf die vollkommene Unfähigkeit der Bourgeoisie, auch angesichts der Gefahr der sozialen Revolution eine internationale Front gegen das Proletariat herzustellen. Die kommunistische Perspektive, die kommunistische Zielsetzung war also kein Ausdruck unserer Ungeduld, kein Resultat unserer frommen Wünsche. Sie war objektiv begründet. Bauer geht ganz anders vor. Er erklärt: Die soziale Revolution “nach russischem Muster” ist ein Gräuel, und darum — hoch der Gildensozialismus! Man könnte Bauer unter die Presse setzen, aber man könnte aus ihm keinen einzigen Beweis ausquetschen, der zeigen würde, dass die Entwicklung auch nur in England allein sich in der Richtung seines, mit Respekt zu sagen, demokratischen Sozialismus bewegt. Schauen wir uns nur die Ereignisse der letzten Zeit außerhalb Russlands an: in Deutsch-Österreich rutschen die Herren Sozialdemokraten vom Regierungssessel herunter, die kapitalistische Reaktion tritt offen und klar auf und reicht dem ungarischen Henker Horthy die Hand. In Deutschland hat die Sozialdemokratie eine Wahlniederlage erlitten, dank der sie aus der Regierung ausscheiden musste. Deutschland hat eine kapitalistische gegenrevolutionäre Regierung bekommen, gegen die sich die revolutionären Arbeitermassen zu einer großen kommunistischen Kampfpartei zusammenballen. Das Zentrum der Arbeiterbewegung, die Unabhängige Sozialdemokratie, ist in seiner proletarischen Mehrheit auf die Seite des Kommunismus getreten. Die in Bauers Fußtapfen wandelnde Minderheit hat nur die Wahl zwischen dem Tode in Einsamkeit oder dem Tode in den Umarmungen von Scheidemann. In Italien gehen die Kämpfe zwischen Proletariat und Bourgeoisie immer mehr der Austragung entgegen. Italien steht vor der Oktoberrevolution. Bauers geistigen Brüder, die Turati, Treves, D‘Aragona, können diesen Prozess verschleppen, aufhalten können sie ihn nicht. In Frankreich wütet die kapitalistische Diktatur und gewinnt die Köpfe und Herzen der Arbeiterschaft für die Idee der proletarischen Diktatur. Und wie sieht es in England aus, wo der Stern des Gildensozialismus zuerst am Himmel erschienen ist? Herr Bauer hat im Sommer 1919 eine anonyme Broschüre über die Weltrevolution erscheinen lassen (er war damals deutsch-österreichischer Minister und wagte aus Angst vor der Entente nicht unter seinem Namen zu schreiben). In dieser Broschüre behauptete er, die englische Bourgeoisie sei gewillt, getreu ihrer alten, klugen Kompromisspolitik, der Arbeiterschaft ein Zugeständnis nach dem anderen zu machen. Er behauptete, die Kohlenindustrie werde nationalisiert und vieles andere solle geschehen, was eine langsame, aber sichere Entthronung des englischen Kapitals bedeutet. Seit dieser Zeit sind 11/3 Jahre ins Land gegangen, und nichts ist von alledem, was Bauer voraussagte, eingetreten. Die englische Bourgeoisie hat dem Proletariat nicht die geringsten Zugeständnisse gemacht, ihm nicht den geringsten Einfluss auf die Leitung der Industrie zuerkannt. Die sozialen Konflikte in England werden immer größer. Die Bourgeoisie und das Proletariat treten immer entschiedener gegeneinander auf. Auf eine kurze Formel gebracht, lässt sich die internationale Situation charakterisieren als wachsende Zuspitzung der Gegensätze, die keinen Kompromiss, sondern nur eine gewaltsame Lösung voraussehen lassen.

3. Der demokratische Weg oder das Sieb aus bloßen Löchern.

Herrn Bauer schwant Unheil. Und nachdem er alle Reize der Demokratie dargestellt hat, erklärt er: “Auch wenn das Proletariat die politische Macht mit den Mitteln der Demokratie erobert, wird sich die Bourgeoisie seiner Herrschaft widersetzen. Sie wird sich gegen den demokratischen Staat auflehnen, sie wird seinen Gesetzen den Gehorsam verweigern, sie wird seine Verwaltung sabotieren, sobald die Demokratie zur proletarischen Demokratie geworden sein wird. Auch ein demokratisches Parlament wird diktatorische Machtmittel für sich in Anspruch nehmen müssen, es wird die Sabotage, vielleicht den aktiven Widerstand der Bourgeoisie mit diktatorischen, vielleicht auch mit terroristischen Mitteln zu brechen haben, sobald dieses Parlament zum Herrschaftsinstrument der Arbeiterklasse geworden sein wird.” (Seite 113.) Siehe da! Siehe da! Was wird aus der “Kontinuität des gesellschaftlichen Stoffwechsels”, was wird aus der Hungerkatastrophe, die Bauer als Resultat des Bürgerkrieges als unausbleiblich dargestellt hat? Nun, die Katastrophe schrumpft zusammen zu einer Erschütterung, aber die Erschütterung, so prophezeit Bauer, wird nicht so schwer sein, weil die Kanonen im Lande der Demokratie auffahren werden, denn, falls die Arbeiterklasse auf demokratischem Wege zur Macht gelangt, d. h. wenn sie die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich hat, dann “vergewaltigt in diesem Fahle die Gewalt des Proletariats die sozialen Machtfaktoren nicht, sondern sie setzt ihre Geltung gegen die Gewalt einer Minderheit durch, die sich ihr entgegensetzt.” (Seite 113.) Was bedeutet dieses “soziologische” Geschwätz? Bauer spricht doch von den Entwicklungstendenzen in den Industrieländern, in denen das Proletariat und die sozial zu ihm gravierenden Schichten die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen. Kommt das Proletariat zur Gewalt durch einen Wahlsieg, so schafft diese Tatsache die Gegnerschaft der Bourgeoisie nicht aus der Welt. Die Diktatur des Proletariats wird also auch in dem Falle, wenn sie auf demokratischem Wege zustande kommt, den Zweck verfolgen, das soziale Machtverhältnis zu vergewaltigen, um das Kauderwelsch Bauers zu gebrauchen. Das Proletariat wird versuchen, der Bourgeoisie die Produktionsmittel zu entreißen. Warum soll der Widerstand der Bourgeoisie in diesem Falle geringer, der Bürgerkrieg weniger bitter sein? Warum soll das ausländische Kapital seinen bedrückten Brüdern nicht zu Hilfe eilen? Nur darum, weil die Enteignung der Bourgeoisie durch ein Parlament beschlossen worden ist? Herr Bauer überträgt den parlamentarischen Kretinismus von sich auf die Kohlen- Eisen- und Baumwollkönige, die wahrlich nicht verdient haben, als so demokratische Ochsen zu gelten, wie sie Herr Bauer der staunenden Welt darstellt.

Aber Herrn Bauer schwant noch ein größeres Unglück. Er sieht noch ein zweites Loch in seiner demokratischen Rechnung. Er schreibt: “Freilich, es ist keineswegs sicher, dass die Geschichte dem Proletariat erlauben wird, seine Diktatur erst nach der Eroberung der politischen Macht mit den Mitteln der Demokratie, also in der Form der Diktatur eines demokratischen Parlaments und lokaler demokratischer Selbstverwaltungskörper aufzurichten. Es kann sehr wohl geschehen, dass die Entwicklung der Klassenkämpfe das Proletariat zu vorübergehender Diktatur schon in einer Phase zwingt, in der es noch nicht mit den Mitteln der Demokratie herrschen kann. In der Periode der entscheidenden Machtkämpfe zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat wird der Klassengegensatz überaus verschärft. Die Schärfe des Klassengegensatzes kann die Demokratie sprengen. Es kann eine Lage eintreten, in der die Bourgeoisie nicht mehr stark genug ist, das Proletariat aber noch nicht stark genug ist, die Bourgeoisie mit den Mitteln der Demokratie zu beherrschen, und in der doch auch die Machtverteilung zwischen beiden Klassen —. etwa in der Form einen Koalition zwischen Bourgeoisie und proletarischen Parteien, wie in Deutsch-Österreich oder in der Form einer freiwilligen Duldung der Bourgeoisherrschaft durch das Proletariat, wie in Italien — an der Schroffheit der Klassengegensätze scheitert. Kann der demokratische Apparat nicht mehr funktionieren, so muss entweder die Bourgeoisie oder das Proletariat mit den Mitteln der Gewalt seine Klassenherrschaft aufrichten. Die Diktatur des Proletariats wird in diesem Falle zum einzigen Mittel, die brutale, konterrevolutionäre Diktatur der Bourgeoisie zu verhindern” (Seite 113-114). Herr Bauer glaubt besonders schlau zu sein, auf alle Fälle gerüstet, indem er mit unschuldiger Miene auch die Möglichkeit ins Auge fasst, dass die Bourgeoisie keinesfalls gewillt sein wird, sich bis in dem Moment ruhig zu verhalten, da das Proletariat sie in der friedlichen demokratischen Soße verspeisen wird. In Wirklichkeit liefert er sich mit diesen Feststellungen mit dem Kopfe aus. Denn die proletarische Partei ist doch kein Kiebitz, der dem Kartenspiel zuschaut und den Kartenspielern Ratschläge für alle Fälle gibt. Sie muss gerüstet sein auf den schlechtesten Fall, auf den schwereren, gefährlicheren Waffengang. Gibt ihr die Geschichte günstigere Bedingungen des Kampfes, nun — desto besser. Dann wird sie von ihren Waffen keinen Gebrauch machen müssen, aber Waffen muss sie besitzen. Wir Kommunisten haben niemals behauptet, dass das Proletariat in jedem Lande nur durch scharfen Bürgerkrieg zur Macht gelangen kann. Ist es doch z. B. in Russland, um gar nicht von Ungarn zu sprechen, wo die Diktatur des Proletariats sozusagen legal aufgerichtet worden ist, ohne schweren Bürgerkrieg zur Macht gelangt. Wir haben es z. B. für möglich gehalten, dass in einzelnen halbagrarischen Ländern, wo die Bauern mit der Herrschaft des Kapitals unzufrieden sind, die Arbeiterschaft sogar auf dem Wege des Wahlsieges zur Macht gelangen kann. Die Frage ist nur: wie kann sich die Arbeiterklasse an der Macht erhalten? Auf diese Frage antworten wir: in jedem Falle durch die Anwendung der Gewaltmittel gegen die Bourgeoisie. Und wie beantwortet Herr Bauer diese Frage? Er hält die Machtergreifung des Proletariats auf demokratischem Wege für den wahrscheinlichsten und erwünschten Fall, aber er lässt auch die Möglichkeit zu, dass es genötigt wird, auf dem gewaltsamen Wege die Macht zu ergreifen; in welcher Weise wird es aber seine Macht aufrecht zu erhalten haben? Herr Bauer antwortet, dass das Proletariat sich in beiden Fällen nur durch die Diktatur an der Macht halten kann. Herr Bauer hat ein großes Wort gelassen ausgesprochen, und dieses Wort lautet: Herr Bauer und seine Sippschaft sind ordinäre Verräter an der Sache des Proletariats, denn man bedenke nur: der gelahrte Marxist hat in seiner tiefsten Seele die Überzeugung, dass das Proletariat nur auf dem Wege des Bürgerkrieges siegen kann, und mit dieser Überzeugung im Herzen suchen seine Partei und sein internationaler Klüngel die Arbeiterschaft zu überzeugen, die Propaganda der Diktatur, die Bereitschaft, die Gewalt der Bourgeoisie mit proletarischer Gewalt zu brechen, kurz und gut, die kommunistische Politik schädige das Proletariat. Herr Bauer entwaffnet das Proletariat angesichts des bewaffneten Feindes vor großen kommenden Schlachten. Jeder General, der das tun würde, würde dafür an die Wand gestellt werden. Herr Bauer wird sich aber ganz gewiss beleidigt fühlen, dass wir ihn einen Verräter nennen. Wir zweifeln nicht, dass er sich allen Ernstes als verleumdete Unschuld fühlt. Wir sagten in der Einleitung, dass Bauers Broschüre, obwohl sie von der internationalen zentristischen Presse gefeiert wurde, um keinen Schritt über Kautsky hinausgeht. Wir modifizieren unser Urteil. Bauer hat den Kautskyanismus zum vollen Zusammenbruch geführt. Denn nachdem er auf 100 Seiten seiner Broschüre die Kautskysche Analyse wiederholt hat, hat er am Schluss sich aus der Sackgasse der Widersprüche, in die er sich verrannt hat, durch einen Sprung zu retten versucht, der ihn zur Anerkennung nicht nur der Diktatur des Proletariats, sondern sogar des Terrorismus geführt hat. Damit hat er bewiesen, dass der Standpunkt, den er und sein Meister dem kommunistischen entgegenzusetzen suchten, unhaltbar ist. Der Schüler Kautskys hat seinen Meister begraben, hat Kautskys und den eigenen Konstruktionen sogar den Charakter eines ehrlichen politischen Glaubens genommen. Er hat den Kautskyanismus als eine Scharlatanerie entlarvt, die selbst die Verkünder nicht ernst nehmen.

4. Auf den Knien vor der Entente

Und darum nimmt es auch kein Wunder, wenn dieses Produkt der kleinbürgerlichen Angst vor der Revolution und vor der Konterrevolution dort endet, wo heute die feigsten, die elendsten Elemente der deutschen Bourgeoisie stehen. Herr Bauer endet seine Broschüre mit einer Rede an die deutsche Nation. Die deutsche Bourgeoisie, der deutsche Imperialismus haben das deutsche Volk durch ihre Gewaltpolitik an den Abgrund gebracht. Die deutschen Arbeiter sollen jetzt Sklaven des deutschen und des Ententekapitals werden. Die einzige Rettung des deutschen Proletariats ist die proletarische Revolution, die, indem sie das Joch des Kapitals in Deutschland abschüttelt, gleichzeitig die Revolution in den Ententeländern beschleunigen würde. Natürlich kann diese Befreiung nicht ohne große Opfer erreicht werden. Für Bauer ist sie eine Tollheit, denn sie würde nach seiner Überzeugung Deutschland nur zum Kriegsschauplatz “der Russen und der Franzosen” machen. Er wettert gegen die Allianz von Ludendorff und Lenin. Wir fragen den gestrigen Alliierten der Wiener Antisemiten: Was denken Sie, Herr Bauer, über die Allianz der deutschen Proletarier mit den russischen Proletariern? Auch gegen diesen Gedanken wehrt sich Herr Bauer mit Händen und Füßen. Der gemeinsame Befreiungskampf des deutschen und russischen Proletariats würde Deutschland dem Hunger, dem Bürgerkrieg und der Invasion preisgeben, erklärt er. Also, Proletarier, Deutschlands, überlasst auch weiterhin die Initiative der Orgesch, lasst Euch aushungern durch die demokratischen Spekulanten, duldet die französische Invasion ohne zu mucksen — das ist der Weg, der zum Gildensozialismus und zur friedlichen demokratischen Entwicklung führt. Und wenn ihr auf diesem Wege nicht zum demokratischen Sozialismus, sondern dazu gelangt, dass Deutschland zur Kolonie der Entente wird, so werdet Ihr das stolze Bewusstsein haben, dass Ihr Euch von dem “Aberglauben an die Allmacht der Gewalt und an die Allgewalt des Staates” befreit habt. Der neue Fichte predigt Euch den Kultus der Persönlichkeit. Die könnt Ihr auch dann behalten, wenn Euch das Ententekapital in Ketten schlägt.

Herr Bauer will, dass man ihm in Weimar ein Denkmal neben Goethe errichtete, dem Napoleon, der Zertrümmerer Deutschlands, große Verehrung zollte. Napoleon führte mit sich Werthers Leiden. Wir glauben nicht, dass Marschall Foch die Broschüre Bauers mit sich in seinem Gepäck herumträgt, aber er würde der Broschüre, wenn er sie lesen würde, seinen Beifall nicht versagen. Der deutsche Sozialdemokrat, der dem zweifach — von der eigenen und der fremden Bourgeoisie — geknechteten Proletariat den Gedanken der revolutionären Erhebung als ein Erbe des ostelbischen, des Potsdamer Geistes denunziert, er verdient ganz gewiss eine Auszeichnung seitens der Entente. Der Kniefall vor der Entente gehört logisch zu dem Eunuchensystem der Bauerschen Broschüre, zu dem System des internationalen Menschewismus, der‚ aus Unglauben an die Kraft des Proletariats geboren, zu der Kapitulation vor der Bourgeoisie im nationalen und im internationalen Maßstab führt. Und auch in diesem Schlussstück des Gedankengebäudes von Bauer zeigt er sich als ein Schüler Kautskys. Gleichzeitig mit der Propaganda gegen die Diktatur des Proletariats begann auch Kautsky seine Propaganda des Wilsonismus. Herr Bauer kann natürlich nach dem Versailler Frieden das Lob des braven Paralytikers nicht fortsetzen, aber er kann eins fortsetzen, — die Propaganda des ängstlichen Bangens, des ängstlichen Schwankens, das niemand retten, niemand freimachen kann, und er wird die fortsetzen, solange er noch Gehör bei den Proletariern findet. Wir hoffen, dass dies nicht mehr lange dauern wird.

Karl Radek.

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