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Karl Radek 19160000 Unterm eigenen Banner

Karl Radek: Unterm eigenen Banner

(1916)

[Arbeiterpolitik, 2. Jahrgang, Nr. 7-9. Nach ders., In den Reihen der deutschen Revolution 1909-1919, S. 406-418]

“Verkleidung

Gilt auf dem Markte der Geschichte nicht,

Wo im Gewühl die Völker dich nur an

Der Rüstung und dem Abzeichen erkennen.

Drum hülle stets vom Scheitel bis zur Sohle

Dich kühn in deines eigenen Banners Farbe!

Dann probst du aus im ungeheuren Streit

Die ganze Triebkraft deines wahren Bodens

Und stehst und fällst mit deinem ganzen Können.”

Lassalle: Sickingen.

1.

Die deutsche Sozialdemokratie ist gespalten. Alle Bemühungen der Zentrumsleute, so zu tun, als ob diese historische Tatsache von größter Bedeutung nicht vollzogen wäre, sind nur ein neues Beispiel dafür, dass diese Leute noch immer nicht verstanden haben, dass es den Hals kostet, in großen Dingen schlau sein zu wollen. Die Sozialpatrioten kümmern sich nicht um die lächerlichen Bemühungen des Zentrums, “auf dem Boden der Partei” zu verbleiben: sie gründen in Berlin offen ihre eigene Organisation, treffen in allen Städten, wo sie die Mehrheit besitzen, Vorbereitungen zum Hinauswerfen der Opposition. Und die Zentrumsleute sehen das Aussichtslose ihres Versteckspiels und ergreifen im Stillen Gegenmaßregeln. Sie haben eine Leitung ihrer Organisationen in der Arbeitsgemeinschaft, sie hielten eine neue Konferenz ab, in der “Leipziger Volkszeitung” haben sie ihr Zentralorgan. Kurz und gut: sie haben eine Partei gebildet, die sich von den anderen nur dadurch unterscheidet, dass sie selbst ihre Existenz verleugnet, um als Verein verfolgter Unschuldsknaben das Leben leichter fristen zu können. Dieser äußerlich amorphe Zustand enthebt sie der Pflicht, offen das Banner ihrer Partei zu entfalten, erlaubt ihnen, vom Zwielicht zu profitieren. Für die Linksradikalen birgt dieser Zustand die Gefahr der Verwirrung der eigenen Reihen, weswegen es ihre Pflicht ist, offen und klar zu sagen, was wirklich ist und die praktischen Schlussfolgerungen daraus zu ziehen.

Es gibt in Deutschland keine einheitliche sozialistische Partei mehr, sondern es gibt drei sozialistische Parteien, nämlich: 1. die sozialdemokratische Partei Deutschlands, 2. die Partei der sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft, 3. die Partei der Spartakusgruppe”, schrieb am 22. Januar Friedrich Stampfer, der Generalstabschef Scheidemanns, in seiner Korrespondenz. Mag diese Feststellung seiner Spekulation auf die Teilung der “Opposition” entstammen, sie entspricht immerhin der Wirklichkeit. Jawohl, die ehemals einige Sozialdemokratie Deutschlands ist in drei, nicht in zwei Teile gespalten: 1. das Lager des 4. August (Sozialpatrioten und Sozialimperialisten), 2. das Zentrum, dessen parlamentarische Vertretung die Arbeitsgemeinschaft bildet, 3. die Linksradikalen, welche Richtung alle revolutionären internationalen Sozialdemokraten umfasst, die sich teils in den Gruppen der “Internationale” (Spartakus), der Internationalen Sozialisten Deutschlands (ISD.), der “Arbeiterpolitik” zusammengefunden haben, teils unorganisiert wirken. Diese Dreiteilung ist nicht künstlich, sie ist historisch, oft entgegen dem Willen der Beteiligten, entstanden und hat tiefe programmatische und faktische Ursachen zur Grundlage. Dass das Lager des 4. August ein selbständiges politisches Gebilde ist, braucht man nicht erst lang und breit auseinanderzusetzen. Es hat im Kriege den Klassenkampf aufgegeben, den Burgfrieden mit der Bourgeoisie geschlossen. An die Stelle des Kampfes um den Sozialismus hat es den Kampf um die Erhaltung des kapitalistischen Staates (Sozialpatrioten) und seiner Entwicklung zum imperialistischen Weltstaat (Sozialimperialisten) gesetzt.

Das Lager des 4. August behält zwar zwecks Irreführung der Arbeitermassen den Namen der Sozialdemokratie bei, hat aber ihr Wesen vollkommen aufgegeben. Somit hat die Spaltung mit ihm in den Augen eines jeden ernst denkenden Politikers vollkommene Berechtigung und die Männer des 4. August erkennen sie auch an indem sie sie vollziehen. Bestehen aber auch zwischen dem Zentrum der Partei und den Linksradikalen solche Unterschiede, die die Trennung notwendig machen: handelt es sich hier nicht bloß um Unterschiede im Tempo, Temperamentsdifferenz usw.?

Das kann am besten beantwortet werden, wenn man die Geschichte der Trennung der Linksradikalen vom Zentrum zu Rate zieht. Sie begann im Jahre 1910, also bereits vor dem Kriege. Die Erfahrungen der imperialistischen Epoche haben gezeigt, dass in ihr die Arbeiterklasse zu Massenaktionen übergehen muss, wenn sie auf wirtschaftlichem wie politischem Gebiete vorwärts gelangen will. Die Waffe der Wahlen, des Parlamentarismus, der Gewerkschaften wurde nicht überflüssig, aber sie stumpfte zusehends ab, wenn die Arbeitermasse nicht selbst in Bewegung trat und ihre Rolle als Produktionsfaktor nicht ausnutzte. Gegen die Propaganda für die neue Taktik zwecks Eroberung des preußischen Wahlrechts, wie der Abwehr der Kriegsgefahr wandte sich die Mehrheit der früheren Radikalen unter Kautskys, Ledebours und Haases Führung. Sie erklärten diesen Weg als verfrüht und gefährlich. Da sie aber selbst einen Weg zeigen mussten, so weckten sie in der Arbeiterklasse Hoffnungen auf einen neuen Liberalismus, der der Arbeiterklasse im Parlament Zugeständnisse machen werde: sie stimmten der Dämpfung des Wahlkampfes 1911 zu, was bereits ein teilweiser Burgfriede war. Und dieser neue Liberalismus sollte die Kriegsgefahr eindämmen durch Verständigung der kapitalistischen Regierungen. die die Rüstungen einschränken und alle Gegensätze schiedsgerichtlich schlichten sollten. Indem die früheren Radikalen, die von 1911 an Zentrum genannt wurden, an Stelle des verschärften Klassenkampfes, der Massenaktionen, das Zusammengehen mit den Liberalen, an Stelle des Hinarbeitens auf die soziale Umwälzung die Verständigung der kapitalistischen Regierungen zwecks Überwindung des Imperialismus gesetzt haben, haben sie sich praktisch mit den Revisionisten zusammengefunden. Dies drückten sie aus in der Behauptung, der Revisionismus sei eigentlich tot. Kautsky in seiner Broschüre über die taktischen Differenzen in der Sozialdemokratie, Hilferding in seinen Artikeln in der “Neuen Zeit” suchten den Tod des Revisionismus in demselben Moment zu beweisen, wo er praktisch in der Fraktion, dem Parteivorstand wie der ganzen Tätigkeit der Partei die Oberhand gewann. Somit war das Zentrum einer der Väter des 4. August. Es hat die Keime der Aktionen, die, wenn sie auch den Krieg nicht hätten verhüten können, doch gewiss einen geschlossenen, kampffähigen linken Flügel geschaffen hätten, der den vollkommenen Zusammenbruch der Internationale verhütet hätte niedertreten helfen; es hat die Masse durch die Hoffnung auf die liberale Bourgeoisie, auf ihre friedlichen Tendenzen, auf die Unschädlichkeit des Revisionismus eingelullt und verwirrt, So hat das Zentrum wenn auch ungewollt — die Auslieferung des Proletariats an die Bourgeoisie vorbereitet.

Im Kriege ging die Mehrheit der Zentrumsleute ins Lager des 4. August über. Die Minderheit, die sich dazu nicht entschließen konnte, konnte sich auch zum Bruch mit den Sozialpatrioten nicht entschließen. Während die Linksradikalen seit den ersten Kriegstagen den Kampf gegen den zum Sozialpatriotismus umgeformten Revisionismus und seine Politik des Verrats begonnen haben, — in den Organisationen wie im Parlament — haben die Zentrumsleute um Vertrauen für die Scheidemänner, Eberts und Legiens gebettelt, jeden scharfen Kampf gegen sie als Desorganisation der Partei denunziert. Sie haben die Hoffnungen auf die Umkehr der “irrenden Brüder” in den Arbeitern geweckt. Irgendwelche größere Aktionen hielten sie für ein Hirngespinst. Und da sie doch irgend einen Ausweg aus dem Kriege suchen mussten, so weckten sie wieder Hoffnungen auf die Bourgeoisie, die sich schließlich verständigen werde, wenn sie einsieht, dass der Krieg ein schlechtes Geschäft ist und die Sozialdemokratie ihr das durch parlamentarische Reden und die Bearbeitung der “öffentlichen Meinung” zu Gemüte führen werde. An diesen Auffassungen hält das Zentrum der Partei mit voller Zähigkeit fest. Von den Sozialpatrioten aus der Partei hinausbefördert, schreit es immerfort: Einheit, Einheit! Kampf um das Parteirecht, d. h. das Recht, mit den Sozialpatrioten, den Verrätern am Sozialismus, zusammen zu bleiben. Noch jetzt weckt es (siehe die Artikel der “Bergischen Arbeiterstimme”) die Hoffnung, dass die Sozialpatrioten nach dem Kriege wieder gute Sozialdemokraten werden. Schon nach dem vollkommenen Abbruch aller Aussichten auf Verständigung der kapitalistischen Staaten, arbeitet es einzig an den besten Plänen, wie der Krieg mit einer dauernden Verständigung — nicht Überwindung — des Kapitalismus beendet werden kann (siehe den Artikel Ledebours: Drei Ergänzungen zum Friedensmanifest vom 7. Januar, “Leipziger Volkszeitung” vom 30.7.). Was bedeutet das alles? Zwischen den Linksradikalen und den Zentrumsleuten bestehen Gegensätze 1. im Programm: Während die Linksradikalen die nicht nur einzig logisch mögliche, sondern historisch aktuelle Lösung der imperialistischen Gegensätze im Sozialismus sehen, stellen die Zentrumsleute als historisches Ziel des Proletariats in der kommenden Periode der Weltgeschichte die Reform des Kapitalismus, seine Umwandlung aus einem imperialistischen in einen friedlichen hin. Die Linksradikalen sind Sozialrevolutionäre, die Zentrumsleute sind Sozialpazifisten. Dieser grundlegende programmatische Gegensatz zeitigt einen unüberbrückbaren taktischen Gegensatz: d. h. andere Ziele bedingen andere Wege, eine andere Kampfesweise. Da die Linksradikalen auf Grund ihrer Ansicht von der Reife der wirtschaftlichen Entwicklung, von der Verschärfung der sozialen Gegensätze die kommende Epoche als die der Massenkämpfe um den Sozialismus betrachten, muss ihre ganze Taktik auf die Verschärfung, Vertiefung und Ausbreitung jedes Teilkampfes der Arbeiterklasse zum allgemeinen Kampfe gerichtet sein. Sie verlegen ihre Haupttätigkeit auf die Propaganda, Agitation und Organisation solcher Kämpfe, während der Parlamentarismus für sie nur insoweit eine Bedeutung hat, als er diese Ziele fördert. Für die Zentrumsleute ist der parlamentarische Kampf immer noch der wichtigste, wobei sie ihn vielmehr als Mittel der Beeinflussung der Regierenden als der Massen handhaben. Während sie immer der Regierung die Rezepte für die beste Politik geben, sagen sie niemals den Massen, was diese zu tun haben, appellieren sie nicht an das Volk. Sie sind die Kämpfer für kleine Reformen (selbst die Schutzhaft reformieren sie) nicht für die grundsätzliche Umwälzung. Weil sie an diese nicht glauben, sie nicht erstreben, sehen sie aus den Schrecknissen der imperialistischen Epoche keine andere Rettung als durch den Sprung ins Reich der pazifistischen Utopie. Bis dieses Reich aber verwirklicht ist, wagen sie nicht offen die Pflicht der Verteidigung des Bestehenden abzulehnen, sondern verbreiten einen Nebel um alle wichtigsten Fragen. Wie ihr Programm, so hat auch ihre Taktik nichts gemeinsam mit der der Linksradikalen. Eine Partei ist eine politische Kampfgenossenschaft. Sie lässt in ihren Reihen nur insofern Meinungsdifferenzen zu, als sie den Kampf für gleiche Ziele mit gleichen Mitteln nicht stören. Von einem solchen gemeinsamen Kampf kann zwischen uns und den Zentrumsleuten keine Rede sein. Das hat am besten die Konferenz des 7. Januar gezeigt. Die Linksradikalen konnten weder dem Kriegsplan der Zentrumsleute gegen die Sozialpatrioten zustimmen, noch ihren Friedensaufruf, d. h. ihrem Plan des Kampfes gegen den Imperialismus. Würden sie in der Friedensfrage einen eigenen Aufruf ausgearbeitet haben, so würde es jedem klar sein, dass ihr Ziel wie ihr Weg dem zentrümlichen entgegengesetzt ist. Wenn dem so ist, so ist der Gedanke an eine gemeinsame Parteibildung mit den Zentrumsleuten eine schädliche Utopie. Die Linksradikalen müssen, ob die Verhältnisse für sie günstig sind oder nicht, an die Bildung einer eigenen Partei gehen, wenn sie ihre historische Aufgabe erfüllen wollen.

Dies hält ein Teil der Linksradikalen für verfrüht. Mit seinen Argumenten wollen wir uns auseinandersetzen, was von selbst zur Besprechung der praktischen Schritte führen wird, die die Linksradikalen demnächst unternehmen müssen.

2.

Manche Mitglieder der entschiedenen Linken erklären: “Die Arbeitsgemeinschaft hat sich seit dem ersten Nein gegen die Kriegskredite und seiner recht opportunistischen Begründung entschieden weiter nach links entwickelt. Der überwältigende Anschauungsunterricht der Tatsachen und die Kritik der äußersten Linken haben ihre vorwärts treibende Wirkung nicht verfehlt. Aber die Fraktion hat sich noch nicht allen vom Kriege aufgeworfenen Erscheinungen und Fragen gegenüber stets mit der nötigen Schärfe und Festigkeit auf den Boden des internationalen Sozialismus gestellt, noch ist ihr grundsätzliches Bekenntnis hier und da unklar und kompromisselnd, ihr taktisches Verhalten schüchtern und zaghaft, es welkt unter dem Reif des Parlamentarismus.” (Gleichheit vom 7. Januar 1917.) “Gewiss”, fährt das Blatt weiter fort, “noch ist es zu keinem dauernden Schutz- und Trutzbündnis zwischen den verschiedenen Gruppen der Opposition gekommen. Der Selbstbesinnungsprozess im Lager der Sozialdemokratie kann nicht das Werk eines Tages sein. Es bedarf der Zeit, in der gesichtet, gewogen, gelernt werden muss, der Zeit, um alte Irrtümer gegen neue Erkenntnisse auszutauschen. Die Konferenz hat beleuchtet, dass der Selbstbesinnungsprozess voranschreitet. Die Rechte der Opposition beginnt die Scheu vor ihrem eigenen Vorgehen, ihrem eigenen Mute zu verlieren. Sie entschuldigt sich nicht mehr, sie klagt an, sie weicht nicht mehr aus, sie stellt sich zum Kampfe. Offener, unverklausulierter als bisher hat sie ausgesprochen, was ist. Sie ist innerlich und äußerlich zu der äußersten Linken gekommen und auch ohne Beschlüsse wird bei einigem guten Willen von hüben und drüben ohne Hinopferung grundsätzlicher Überzeugung ein nötiges Zusammenwirken von Fall zu Fall möglich sein.”

So die von uns allen gleich verehrte Genossin Zetkin. Wir würden uns freuen, wenn es so wäre. Leider ist es nicht so und die nächsten Freunde der Genossin Zetkin mussten sich auf der Konferenz der Opposition davon überzeugen. Dem Kampfe gegen die Sozialpatrioten wich das Zentrum auf der Konferenz aus. Wenn es die Beitragsperre ablehnte, so nicht, weil es, wie es bei der Genossin Zetkin der Fall ist, in ihr kein geeignetes Kampfmittel, sondern weil es in ihr ein zu scharfes Kampfmittel sah, da es den Bruch mit den Sozialpatrioten vermeiden wollte. Dem Imperialismus sagte es in dem Kautskyschen Friedensmanifest einen solchen “Kampf” an, dass es den Vertretern der entschiedenen Linken eine Gewissenspflicht war — wie die Genossin Zetkin schreibt — dieser Kundgebung ihre Stimme zu versagen. Also: weder organisatorisch noch politisch konnte die entschiedene Linke mit dem Zentrum gehen.

Ja, die Verschärfung des gegenwärtigen Verhältnisses der beiden Gruppen äußert sich selbst in dem Artikel der Genossin Zetkin. Während Genossin Duncker auf der Reichskonferenz ein “getrennt marschieren, aber vereint schlagen” proklamierte, tritt Genossin Zetkin nur für ein Zusammenwirken von Fall zu Fall ein, wogegen niemand in der entschiedenen Opposition ist, wenn es sich “ohne Hinopferung grundsätzlicher Überzeugung” erzielen lässt. Die Überzeugung von der Wandlung des Zentrums als Ganzes in der Richtung der entschiedenen Linken halten wir für eine völlige Illusion. Die Führer des Zentrums, die Kautsky, Bernstein, Ledebour, Haase, vertreten seit Jahren eine bestimmte Politik, die der reinen parlamentarischen Opposition, des Kampfes um die Reform des Imperialismus. Sie sind keine Kinder, keine Jünglinge und keine unaufgeklärten Arbeiter, die durch unsere Kritik eines Besseren belehrt werden könnten. Aber wenn die Ereignisse sie eines Besseren belehren werden? Die Ereignisse sind niemals eindeutig, und bevor wir nicht in der grundsätzlichen Umwälzung stecken, werden sie die Führer des Zentrums nach ihrer Auffassung deuten, die ein Resultat der ganzen vorhergehenden Epoche der friedlichen Arbeiterbewegung ist.

Ja, aber damit ist zugestanden, dass die von ihnen geführten Arbeitermassen unseren wie der Ereignisse Lehren zugänglich sind — erklärt ein anderer Teil unserer Freunde, der zwar nicht auf die Umkehr aller Zentrumsführer, aber dafür der Zentrumsmasse rechnet. Darin liegt allerdings ein Teil Wahrheit. Aber auch nur ein Teil. Wie hinter den Scheidemännern auch Arbeiterkreise stehen, die den Sozialismus für eine Taube auf dem Dache halten, der ein Sperling der bürgerlichen Zugeständnisse vorzuziehen ist, so ist auch ein Teil der Zentrumsarbeiter jedem scharfen Kampfe abgeneigt. Die Ideologie der Kautsky und Ledebour hängt auch nicht in der Luft; sie basiert auf der Stimmung von Arbeiterkreisen, die zwar den Ideen des Sozialismus Treue bewahren wollen, die aber den wirklichen Kampf scheuen, an ihn als eine nahe Möglichkeit glauben. Auf diese Kreise werden wir bis auf weiteres keinen Einfluss haben. Aber es unterliegt keinem Zweifel, dass dagegen ein anderer Teil der Arbeiterschaft hinter den Ledebours und Haases steht, nur weil er in ihnen die Führer im Kampfe sieht. Auf diese Massen dürfen und wollen wir nicht verzichten.

Es entsteht nur die Frage: Wie können wir sie erobern? Kann es geschehen, indem wir mit dem Zentrum gehen? Indem wir uns als Minorität den Beschlüssen seiner Konferenzen unterwerfen? Würden wir mit dem Zentrum eine Partei bilden, so könnte es nur unter dieser Voraussetzung geschehen. Die Spaltung der Reichstagsfraktion ist ein unwiderleglicher Beweis hierfür.

Solange sich die oppositionelle Minderheit den Beschlüssen der Mehrheit, gegen die sie in den Fraktionssitzungen sicher mit Entschiedenheit gekämpft hatte, in der Öffentlichkeit unterwarf, war es möglich, dass beide Richtungen organisatorisch zusammenblieben. Als aber schon Liebknecht seinen eigenen Weg in der Öffentlichkeit ging, musste er sich auch organisatorisch von der Fraktion trennen, und dem selbständigen Vorgehen der Achtzehn vom 21. Dezember 1915 folgte mit Notwendigkeit die Konstituierung der Arbeitsgemeinschaft. Zwei durch grundsätzliche Differenzen geschiedene Richtungen können nur solange in derselben Partei verbleiben, als die eine von beiden auf ihr selbständiges Auftreten in der Öffentlichkeit verzichtet. Wollen wir also mit dem Zentrum organisatorisch zusammenbleiben, so kann es nur geschehen, indem entweder wir oder das Zentrum auf die selbständige Aktion verzichten. Dass wir um den Preis der grundsätzlichen und taktischen Selbständigkeit, des Verzichtes auf das eigene politische Leben, die organisatorische Verbindung mit dem Zentrum eingehen sollen, ist ganz gewiss auch nicht die Meinung der Genossin Zetkin; sie will doch nur ein Zusammenwirken von Fall zu Fall ohne Gesinnungsopfer. Wenn aber die Zentrumsleute eine Partei bilden — und sie tun es, ob sie es sagen oder nicht — so können wir nur mit ihnen von Fall zu Fall zusammenwirken, wenn wir eine andere, eine linksradikale Partei bilden. Es sei denn, dass es Linksradikale geben würde, die es als höchste Taktik ansehen würden, wenn den organisierten Zentrumsleuten verstreute Linksradikale nachliefen. Davon kann keine Rede sein; nur ein organisierter klarer Kern kann auf die radikalen Zentrumsarbeiter Einfluss ausüben. Bis jetzt, solange wir auf dem Boden der alten Partei wirkten, konnte man mit der losen Verbindung einzelner Linksradikaler auskommen. Jetzt, wo nach der Spaltung in vielen Orten überhaupt keine öffentlichen Organisationen zu bilden sein werden, kann nur eine linksradikale Partei mit klarem Programm und eigenen Organen die zerstreuten Kräfte sammeln, zusammenhalten und vergrößern. Unsere Einwirkung auf die eigenen Kräfte, auf die Zentrumsarbeiter, wie die überhaupt abseits der Partei stehende, aber in Gärung begriffene Masse, kann doch nicht in bloßer Kritik der Sozialpatrioten bestehen: wir müssen durch Aktion, durch Einmischung in alle Fragen des öffentlichen Lebens auf den Gang der Ereignisse wirken. Das alles kann ohne große Vergeudung der Kräfte nur durch die Organisation der Linksradikalen in eine eigene Partei geschehen. Wir können mit dieser Organisation nicht warten, bis wir die Mehrheit der oppositionellen Arbeiter hinter uns haben, da wir diese Mehrheit nur erobern können, wenn alle linksradikalen Gruppen sich sammeln zur einheitlichen Politik.

3.

Die Bildung einer eigenen linksradikalen Partei unter Ausschluss des Parteizentrums ist ganz besonders im Hinblick auf die taktische Grundlage des Kampfes der Linksradikalen geboten. Das organisatorische Zusammengehen mit dem Parteizentrum würde nichts anderes bedeuten als die Fortsetzung der inneren Kämpfe, wie sie die Partei in ihrer letzten Epoche durchwühlt haben; denn dieselben tiefgehenden Gegensätze, die ehedem in der Partei bestanden, würden in die neue Partei der Gesamtopposition übernommen werden. Es hieße von vornherein die Partei durch innere Kämpfe in ihrer Aktionsfähigkeit nach außen schwächen, wollte man das Zentrum mit übernehmen. Es gilt aber, eine Partei zu schaffen, deren innere Gegensätze auf das denkbar geringste Maß zurückgedrängt sind, um so die Stoßkraft der Partei nach außen möglichst groß zu machen. Man erinnere sich der mit äußerster prinzipieller Schärfe geführten Auseinandersetzungen über die Frage des Massenstreiks, wie sie vor dem Kriege zwischen Kautsky und Pannekoek stattfanden; man erinnere sich des leidenschaftlichen Kampfes der Linksradikalen gegen die Dämpfungs- und Cunctatortaktik; man erinnere sich des Gegensatzes in der Frage des Imperialismus, wie er in Chemnitz hervortrat. Und in all diesen Fragen hat das Zentrum bis heute noch nicht im Mindesten umgelernt. Und wenn in der neuesten Erklärung der Arbeitsgemeinschaft zur Ablehnung der Kriegskredite die Formel der Abrüstung und der Schiedsgerichte unterdrückt wurde, so ist das dasselbe Verfahren, als wenn nach der Kritik der Geyerschen Erklärung vom 21. Dezember 1915 die haltlose Formel von der Sicherung der Grenzen und später sogar jeder Hinweis auf die Frage der Landesverteidigung in den Erklärungen der Arbeitsgemeinschaft verschwand, ohne dass etwas Positives im Sinne des Linksradikalismus an die Stelle gesetzt wurde. Man nähert sich dem Linksradikalismus nicht dadurch, dass man den wichtigsten politischen Fragen gegenüber Straußenpolitik treibt. Man hat in jeder Situation unumwunden seine Meinung zu all diesen Fragen zu sagen. Und ganz besonders haben das die sozialistischen Parlamentarier zu tun, wenn anders sie begriffen haben, in welcher Weise sie die Parlamentstribüne im Sinne des Linksradikalismus auszunutzen haben. Indem die Arbeitsgemeinschaft darauf bewusst verzichtet, beweist sie stets aufs Neue, dass zwischen ihr und uns kein gemeinsames Wirken zustande kommen kann.

Nun unterliegt keinem Zweifel, dass der Klärungsprozess zwischen dem Parteizentrum und den Linksradikalen in den Organisationen vorderhand noch nicht soweit vorgeschritten ist, dass den Arbeitern die sachlichen Gegensätze, die zwischen diesen Richtungen bestehen, hinreichend zum Bewusstsein gekommen wären. In den Arbeitern lebt vielfach noch ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl mit allen Elementen der Opposition, das ihnen das Verständnis für die Notwendigkeit auch der organisatorischen Spaltung mit dem Zentrum außerordentlich erschwert. Und ganz besonders handelt es sich dabei um die älteren Arbeiter, die noch in der Tradition des ausschließlichen Kampfes gegen den Revisionismus befangen sind, während den jüngeren Arbeitern bereits die Elemente des neuen historischen Gegensatzes zum Parteizentrum zum Bewusstsein gekommen sind; wie denn überhaupt das Hauptrekrutierungsfeld des Parteizentrums unter den älteren, in der ausschließlichen, intensiven organisatorischen Kleinarbeit ergrauten Arbeitern zu suchen ist. Diese Arbeiter sind es auch, die, erfüllt von dem rein organisatorischen Gedanken, vor einer nochmaligen Spaltung der Opposition am meisten zurückschrecken, in dieser Spaltung eine Schwächung der neuen Partei sehen. Sie sind noch ganz befangen in der Vorstellung, dass die Stärke der Organisation nur in der Zahl der Organisierten besteht. Demgegenüber erblickt der Linksradikalismus die Bedeutung der Organisationen nicht in der numerischen Größe ihrer Mitgliederzahlen, sondern in ihrer Kampffähigkeit, und die Linksradikalen sind auf Grund der Erfahrungen und der Ergebnisse der hinter uns liegenden Epoche der Arbeiterbewegung zu der Erkenntnis gelangt, dass Kampfkraft und hohe Mitgliederzahl durchaus nicht in geradem Verhältnis zu stehen brauchen.

Die Schwierigkeit der Klärung des Gegensatzes zwischen Parteizentrum und Linksradikalen ist naturgemäß da am größten, wo ganze oppositionelle Organisationen durch die sozialpatriotischen Instanzen ausgeschlossen worden sind; so in Berlin, Leipzig, Bremen. Und die Aussicht für die Linksradikalen, in diesen Organisationen den entscheidenden Einfluss zu gewinnen, ist wiederum dort am geringsten, wo eine intensive linksradikale Propaganda nicht zustande kommen konnte. So rächt sich in Berlin jetzt die Zentrumspolitik des alten “Vorwärts” an den Linksradikalen. Ebenso liegt es in Leipzig. Und in Bremen versuchte Henke rechtzeitig, die ihm so unbequeme Kritik der Linksradikalen in der “Bremer Bürger-Zeitung” zu unterbinden, was mit zur Gründung der “Arbeiterpolitik” geführt hat.

Nun lässt sich die neue Internationale Sozialistische Partei Deutschlands nicht in Zirkeln und Konventikeln von heute auf morgen organisieren. Sie kann nur das Produkt des Kampfes gegen das Zentrum sein, der wesentlich auf dem Boden der oppositionellen Organisationen ausgefochten werden muss, die aus der alten Partei ausgeschlossen wurden. Hier gilt es in der Übergangszeit, in die wir nunmehr eingetreten sind, den Kampf gegen das Zentrum weiterzuführen, um so für unsere Ideen zu wirken und die Vereine zur Entscheidung für uns oder für die Zentrumspolitik zu bringen. Zu diesem Zwecke ist es nötig, dass sich die Linksradikalen überall zusammenschließen, dass sie sich fortgesetzt untereinander verständigen, den Resolutionen und Manifesten des Zentrums ihre eigenen Entschließungen entgegenstellen. Dieser Kampf wird zur Bildung einer besonderen Partei der Internationalen Sozialdemokraten führen, in organischer, für die Arbeitermassen verständlicher Weise. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Zentrumsleute diesen Prozess durch Gewaltakte gegen die “disziplinlose” Opposition beschleunigen. Die Vorgänge in Berlin lassen damit rechnen. Aber wir brauchen derartige Gewaltakte nicht zu fürchten; sie werden den Arbeitern nur noch schneller die Augen darüber öffnen wie notwendig die Trennung von den Zentrumsleuten ist.

In den Orten aber, in denen die Linksradikalen der sozialpatriotischen Mehrheit gegenüberstehen, wo sie aber formell noch nicht ausgeschlossen wurden, gilt es, eigene linksradikale Organisationen zu gründen, was den sofortigen Ausschluss zur Folge haben wird. Zur Verständigung der Linksradikalen untereinander und zum Kampfe gegen Parteizentrum und Sozialpatrioten ist es nötig, eine eigene Presse zu schaffen. Da die äußeren Schwierigkeiten hier sehr groß sind, empfiehlt es sich, für größere Gebiete ein gemeinsames Organ zu gründen. Die speziellen lokalen Bedürfnisse könnten durch ein besonders am Orte selbst redigiertes und gedrucktes Mitteilungsblatt, das dem Hauptorgan beigelegt würde, berücksichtigt werden. Wir fassen unsere Ausführungen zusammen: zentraler und lokaler Zusammenschluss der Linksradikalen zwecks gemeinsamen Kampfes für die linksradikalen Ideen in den Oppositionsvereinen, die durch die Spaltung der Partei entstanden sind, Schaffung eigener linksradikaler Organisationen, wo die Linksradikalen der sozialpatriotischen Mehrheit gegenüber in aussichtsloser Minderheit sind, Teilnahme an den Konferenzen der Opposition zwecks Klärung der Gegensätze zwischen Linksradikalen und Parteizentrum zur Forderung des Spaltungsbeschlusses: das ist der Weg zur Bildung der linksradikalen Partei. Möge schon die bevorstehende Konferenz der Arbeitsgemeinschaft die Linksradikalen auf diesem Wege zur eigenen Partei, zum Kampfe unter dem eigenen Banner in Einigkeit voranschreiten sehen.

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