Karl Radek 19111017 Aufrüstung nicht Abrüstung

Karl Radek: Aufrüstung nicht Abrüstung

(Oktober 1911)

[Bremer Bürger-Zeitung, Nr., 17. Oktober 1911, ungezeichnet, und Freie Volkszeitung (Göppingen), Nr. 241, 18. Oktober 1911, gezeichnet „K.R.“]

In der letzten Nummer der „Friedenswarte“, des Organs der bürgerlichen „Friedensfreunde“, schlägt der Großprophet dieser kleinen Gemeinde, Herr Fried, die Trommel, weil die Marokkokrise nicht mit einem Krieg endete. In seinem Jubel vergisst er natürlich, seine Meinung darüber zu äußern, dass wieder ein Stück der Welt dem freien Verkehr entrissen wird — damit doch die Geschichte endet, trotz aller Verpflichtungen, die Herr Kiderlen-Wächter im Schweiße seines Angesichts von Frankreich erschachert; er vergisst natürlich die Tatsache, dass neue Koloniallasten dem Volk auferlegt werden. Und schließlich vergisst er noch eine Kleinigkeit: nämlich, dass der Verlauf der Marokkokrise ein wichtiges Argument in den Händen der Kriegshetzer für neue Rüstungen zu Land und zur See bilden wird. Die deutsche Regierung wich von einem Kriege zurück, in erster Linie darum, weil Marokko kein Kriegsobjekt bildete, das breitere Volksmassen über die im Spiele sich befindenden Interessen täuschen könnte; sie wagte nicht einmal tüchtig mit dem Säbel zu rasseln; weil ihr die kräftige Aktion des Proletariat klar gemacht hat, dass sie dabei keine guten Geschäfte machen würde. Aber die imperialistischen Kreise trompeteten schon in die Welt hinaus: Rüsten wir, denn England störte unsere Zirkel. Die Verschärfung des deutsch-englischen Gegensatzes, das ist das erste Resultat der Marokkokrisis, deren Verlauf der bürgerliche Friedensapostel als Beweis der Fortschritte der bürgerlichen Friedensbewegung bejubelt. „Rechnung müssen wir tragen der neuen Lage insofern, als alles, was der Finanzlage des Reiches wegen vom Kriegsministerium mit schwerem Herzen an Heeresforderungen zurückgestellt wurde, nunmehr in schnellerem Tempo zur Ausführung gelangen muss“ — schreibt im „Tag“ (vom 11. d[ie]s[en] M[ona]ts) der Generalmajor z.D. v. Loebell, und er fasst die nicht nur von ihm, sondern den Militärkreisen überhaupt oftmals geäußerten Forderungen folgendermaßen zusammen: Formierung dritter Bataillone bei der Infanterie zu zwei Bataillonen, Erhöhung des Pferdeetats bei der Artillerie. „Geldopfer müssen gebracht werden sonst kann das deutsche Heer nicht auf der Höhe bleiben, die den Sieg im Kriegsfalle gewährleistet“ — schreibt der alte Knasterbart. Und wenn die Junkerpresse heute noch diese Pläne der Militär- und Marinekreise verschweigen möchte, damit bei den Wahlen die Kunde von dem unumgänglichen neuen Steuerraub, der todsicher kommen muss, wenn das Rüsten zu Land und Meer weiter lustig betrieben wird, nicht die Wähler schrecke, so lassen sich die Nationalliberalen selbst von diesem Bedenken nicht binden. „Schon die letzte Militärvorlage hat nicht nur in der Armee, sondern auch im Volke nicht befriedigt“ — erklärte vor wenigen Tagen Herr Bassermann, der im Namen des Volkes wahrscheinlich darum zu sprechen sich erfrecht, weil er seine Interessen tagtäglich mit Füßen tritt. „Das Tempo unserer Flottenrüstung verlangsamt sich kraft Gesetzes“, jammerte er weiter — „obwohl der Mangel an Kreuzern unbestreitbar ist.“ Also neue Militärvorlage, neue Flottevorlage in Deutschland, das sind die Perspektiven, die das Ende der Marokkokrise eröffnet. Dass das die Verstärkungen der englischen Rüstungen bedeuten wird, braucht man nicht weiter auseinanderzusetzen.

So sieht es an der Nordsee und in den Vogesen aus. Im Süden spielt sich ein eigentümlicher Krieg ab. Nicht nur, dass es einstweilen dabei nur eine kriegführende Partei gibt, sondern sie gibt noch das wundervolle Bild rührender Sorge, dass der von ihr bekämpfte Feind nicht von anderen Wichse bekommt. Italien will Tripolis einsacken, aber es will nicht, dass jetzt die ganze Orientfrage aufgerollt wird, denn es wäre nicht im Stande, gleichzeitig Tripolis zu behaupten und Österreich an der Besetzung Albaniens zu hindern. Es ist noch fraglich, ob vom italienisch-türkischen Kriegsfeld nicht Funken nach dem Balkan, Arabien übertragen werden. Aber selbst wenn das nicht geschieht, so wird dieser Krieg dem Rüstungswahnsinn einen Antrieb geben, dass die Völker weiß bluten werden. Erstens muss die Türkei in noch größerem Maße von allen Anläufen der Förderung wirtschaftlicher Entwicklung absehen, noch mehr Millionen auf Rüstungen verpulvern, denn sie hat sich überzeugt, dass sie von einer Welt von Feinden umgeben ist, die nur Eisen ihr fern vom Leib halten kann. Das bedeutet aber die Vergrößerung des Steuerdrucks, die Verlangsamung der sozialen Entwicklung in der Türkei, die allein nur imstande war, die in Albanien, Kurdistan, Arabien klaffenden Wunden zu heilen, weil nur die Verwandlung der Hirten, Bergräuber und Nomaden in Ackerbauern und Proletarier ihre Unabhängigkeitsbewegungen lähmen könnte. Das Ansammeln des Explosionsmaterials in der Türkei sagt aber den Großmächten, die an ihren Geschicken interessiert sind — und das sind Russland, Deutschland, Frankreich, England, Italien und Österreich — das es zu rüsten gilt für den Fall, [dass] die Tage der Türkei gezählt sein könnten. Also im günstigsten Falle, wenn der italienisch-türkische Krieg nicht weiter greift, muss das internationale Proletariat damit rechnen, dass vom Mittelmeer her über ganz Europa eine Welle von Rüstungen kommen wird.

Gleichzeitig bringt das offiziöse Wolfbüro aus Tokio die Nachricht, dass die Regierung vom Parlament die Erhöhung der Flottenausgaben um 800 Millionen Mark für die nächsten sieben Jahre fordern wird. Das ist die japanische Antwort auf das von den bürgerlichen Friedensfreunden in allen Tönen gepriesene Projekt eines englisch-amerikanischen Schiedsgerichtsvertrags. Zwar ist der Vertrag noch nicht perfekt. Es ist sehr möglich, dass er an dem Widerstand des englisch-amerikanischen Senats zugrunde gehen wird, umso mehr als der Sieg der Gegner einer Annäherung Kanadas an die Vereinigten Staaten, der Wasser auf die Mühlen des englischen Imperialismus bildet, die Zahl der Gegner eines Schiedsgerichtsverfahrens mit England in Amerika vergrößern wird. Aber die bisherigen Verhandlungen zwischen England und Amerika haben schon — wie bekannt — ein Resultat gezeitigt: England hat bei der Erneuerung seines Bündnisses mit Japan sich von der Verpflichtung befreit, Japan eventuell gegen Amerika zu unterstützen. Japan nähert sich Russland. Der Zarismus versucht, seine lahmen Glieder wieder mit Eisen zu wappnen; in nächster Zeit soll der russischen Duma eine Milliarden-Flottenvorlage zukommen. Gleichzeitig soll die japanische Flotte verstärkt werden. 150 Millionen Mark betrugen die japanischen Rüstungskosten im Jahre 1905/06, 182 im Jahre 1906/07, 384 im Jahre 1907/08, 376 im Jahre 1908/09. Im letzten Jahre verminderten sich die japanischen Rüstungsausgaben. Heuer schnellen sie wieder auf, was natürlich einen Ansporn zu amerikanischen verstärkten Flottenübungen geben wird. Da aber am Kampfe um den Stillen Ozean alle Großmächte teilnehmen — durch die Besetzung Kiautschous hat die deutsche Regierung ihre Appetite auf einen Teil des chinesischen Kuchens gemeldet —, so wird der von dort ausgehende Antrieb auf die ganze kapitalistische Welt übertragen.

Was hier geschildert wird, sind keine Spekulationen. Es sind Zusammenhänge, die niemand leugnen kann. Es ist eine eiserne Kette von Tatsachen, die einander mit mathematischen Regelmäßigkeit folgen werden. Neue ungeheure Opfer werden dem arbeitenden Volk auferlegt, und das in der Zeit der Teuerung, die den bestbezahlten Schichten des Proletariats nicht erlaubt, sich satt zu essen. Die kapitalistische Gesellschaftsordnung arbeitet fieberhaft an der Aufrüttelung der Arbeitermassen. Sie bedroht sie fast tagtäglich mit offenem Massenmord und mordet tagtäglich im Stillen die Säuglinge an der Brust der Arbeiterin und lässt Greise verhungern. Sie zeigt die Hilflosigkeit aller Palliativmittel und weist das Proletariat, auf den einzigen Ausweg hin aus der sich häufenden Not, aus dem wachsenden Elend: an den Sozialismus.

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